Wie jede Nacht blieb das Mädchen wie verzaubert in der eisigen, wolkenverhangenen Dunkelheit stehen. Als sich die grauen Wolken nach einiger Zeit verzogen, legte sich ihr undurchdringlicher Blick auf den strahlenden Vollmond. Er zog die Schöne wie magisch an. In ihrem Gedächtnis setzte die Erinnerung, die sie jahrelang verloren geglaubt hatte, wieder ein. Im sachten Windstoß wehte ihr glänzendes schwarzes Haar anmutig und verführerisch. Das leicht blasse, aber sehr fein geschnittene Gesicht schaute in den Himmel empor und ihr Blick wirkte geheimnisvoll. An dem Felsen, worauf sie stand, schlug ununterbrochen die Brandung und die Gischt spritzte hoch hinaus. Ihre Geschichte, das wusste sie, war unglaubwürdig, doch sie war nicht erfunden. Und nun erinnerte sie sich...
Als es begann, war sie siebzehn Jahre alt. Damals musste sie im Laden ihrer Mutter arbeiten, was nicht einfach war, da ihr das Fachgebiet gar nicht lag. „Mutter, könnte ich nicht nach Hause? Schau, die Dunkelheit bricht ein und ich habe noch einen langen Weg bis dorthin.“ Das gütige Gesicht der Mutter lächelte sie an. „Meinetwegen, Marlene. Aber bleib morgen früh nicht zu lang weg!“ Sofort nahm sie ihre Sachen und machte sich auf den langen, beschwerlichen Heimweg. Marlene hatte es gehasst, wenn ihre Mutter ihren vollen Namen aussprach. „Doch so sind Mütter.“ flüsterte sie fast unhörbar. Ganz plötzlich wurde es merklich kälter und die darauffolgende Dunkelheit wirkte irgendwie unnatürlich. Marlene zog ihren Mantel enger um ihren sehr dünnen Körper, doch es nützte nichts: Diese Kälte drang in jede Pore ihres Körpers ein und so fing sie an zu zittern. So schnell wie die Dunkelheit erschienen war, so zog sie sich zurück. Auch die Kälte ließ nun etwas nach. Erleichtert wollte Marlene weitergehen, doch irgendetwas hielt sie zurück. Als das Mädchen sich umdrehte, stand ein Mann vor ihr. Er war der schönste Mensch, der ihr in ihrem gesamten Leben begegnet war. Langsam schritt er näher, den Blick auf sie geheftet. Dann, nachdem er sie ausführlich angeschaut hatte, kam er noch mehr Schritte an sie heran.
Irritiert rührte sie sich nicht. Jetzt war er ihrem Gesicht sehr nahe. Er wisperte: „Du gefällst mir. Komm mit mir.“ Zu ihrem Entsetzen ging sie vorwärts, obwohl sie sich von sich aus nicht hatte bewegen wollen. Um eine Erklärung dafür zu finden, dachte sie an Hypnose. „Offensichtlich setzt er sie bei mir ein“ dachte sie voller Unbehagen. Nach einiger Zeit blieben sie auf dem nahegelegenen Friedhof stehen.
„Was wollen sie?“ fragte Marlene mit zittriger Stimme. Bevor er ihr antwortete, legte er ihren Hals frei und strich mit seinen Fingern darüber. „Du hast weiche Haut!“ stellte er zufrieden fest. „Das wird es für uns beide einfacher machen.“
Angstvoll wollte sie davonlaufen, konnte sich jedoch keinen Zentimeter vom Fleck rühren. Mit seiner Zunge leckte er über ihren Hals, küsste ihn, sodass sie Gänsehaut bekam. „Es wird kaum wehtun, meine Süße.“
Ein sinnlicher Schmerz breitete sich vom Hals bis in die Zehenspitzen aus. Nun wusste sie, wer oder was er war. Das es sie gibt, hätte sie bis eben nicht geglaubt. Ein Vampir! Nach mehreren Minuten schien er sich satt an ihr getrunken zu haben. Doch Marlene merkte, das irgendetwas nicht stimmte. Ihre rosige Haut wirkte auf einmal blasser als vorher. Dann fühlte sie den heftigsten Schmerz, den sie je erlebt hatte. Es fühlte sich an, als ob ihr ganzer Körper starb. „Was passiert mit mir?“ schrie sie keuchend unter dem grausamen Gefühl. „ Du stirbst...“ meinte der Vampir, doch der Ausdruck in seinen dunklen Augen verriet ihr, dass sie ein Vampir wie er werden würde. Der Schmerz klang ab und mit ihm gingen einige Empfindungen und Gedanken. Nun erwachte in ihr ein sehnlicher Hunger, und sie wollte ihn so schnell wie nur möglich stillen. All ihr bisheriges Denken und Handeln hatte sich auf Vampirart gewandelt. Marlenes Sinne waren circa um das zwanzigfache geschärft worden, deshalb vernahmen ihre Ohren nun ein Rascheln im Laub, das zehn Kilometer entfernt war und ein köstlicher Geruch von lebender Beute lag in der Luft. Der andere Vampir stellte sich vor. „Mein Name ist darkBlood. Wir Vampire haben alle solche Decknamen, um uns gegenseitig zu erkennen. Dein Name ist von nun an blackRose. Ich werde fünfhundert Jahre dein Begleiter sein. Jahrelang habe ich nach dir gesucht.“ Das herbstliche Laub raschelte im Wind, während beide auf Jagd gingen...
Die Geschichte ihrer Verwandlung und ihrem Begleiter würde sie nie mehr loslassen, dachte blackRose, die ihren leiblichen Namen nicht vergessen konnte. Zudem hatten sich beide bis jetzt nicht getrennt, da sie gute Freunde geworden waren.Nach einiger Zeit fiel ihr ein, dass sie sich ja um Mitternacht mit ihm verabredet hatte. So beeilte sie sich und kam schließlich an den Platz, wo er schon auf sie wartete. Zu ihrer freudigen Überraschung hatte er zwei verängstigte Jugendliche zum Essen mitgebracht.
Tag der Veröffentlichung: 30.12.2008
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