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1.



Mit Tränen in den Augen lag ich auf meinem Bett. Das Gesicht in dem Kissen vergraben. Mir ging es elend. Mein Herz fühlte sich zerschmettert an, seine kleinen Scherben stachen immer von neuem in meine Brust.
Herzschmerz. Eine viel zu selten erforschte Krankheit, auch wenn sie Tag täglich vorkommt.

Meine Hand wanderte wie von allein auf den Nachttisch und fischte ein weiteres Kosmetiktuch aus der schon fast leeren Schachtel. Geräuschvoll schniefte ich hinein. Versuchte verzweifelt die Rinnsale der Tränen wegzuwischen. Meine Augen fühlten sich ganz dick und angeschwollen an.
Total erledigt ließ ich mich zurück ins Kissen sinken. Zuckte zusammen, als ich etwas unangenehm Kühl-nasses berührte. Wütend schmiss ich das Kissen gegen den Schrank. 'Er liebt mich nicht' und die Tränen brachen wieder aus.
Irgendwann muss ich dann wohl doch in einen traumlosen Schlaf gefallen sein. Denn ich hatte für einen Moment im Innersten gehofft, dass ich das alles nur geträumt hatte. Doch dem war natürlich nicht so.
Mein Schädel pochte. Mein Mund fühlte sich trockener als die Sahara-Wüste an.
Noch schlaftrunken stapfte ich zur Zimmertür. Drückte die kalte Schlänge hinunter und trat auf den kleine Flur.
Mit verschwommenem Blick ertastete ich hauptsächlich den Weg bis zu Badezimmer.


Kühles Nass schlug in kleinen Wellen über meinen Kopf. Die Zimmerdecke über mir wirkte verzerrt.
Mein Arm hing genauso wie die Beine hilflos über dem Beckenrand der viel zu kleinen Badewanne. Ich spürte, wie sich meine Lungen langsam zusammen zogen. Sie wollten Luft, sie wollten Leben. Ich wollte dies nicht mehr. Ich wollte diesen Schmerz nicht mehr spüren.
Den Blick starr auf das rettende Frei gerichtet ließ ich mich noch weiter in die Tiefen des kühlen Erlösens sinken.
Der Schmerz unter meiner Schädeldecke verebbte langsam. Meine Sinne fuhren sich langsam herunter. Keinen einzigen Finger konnte ich nun noch bewegen. Das vorhin noch vorhandene Rauschen wurde leiser und ein schrilles Pfeifen nahm seinen platzt ein. Doch auch das wurde leiser und Stille breitete sich in dem Wasser aus. Ich riss das letzte Mal meine Augen angstvoll auf. Warf einen letzten Blick auf das nur allzu vertraute Leben hier draußen. Dann verschwammen die Farben, bis alles so aussah, als würde ich durch ein Kaleidoskop sehen. Auch die verschwommenen Farben verblassten, und wurden dunkler. Ich versank in ein dunkles Schwarz. Ein Schwarz, in das ich vielleicht für immer eingehüllt sein werde.

Erschrocken fuhr ich hoch... Nein so wollte ich nicht enden. Ich klatschte mir wieder eine nasse handvoll Wasser ins Gesicht. Sah auf in den Spiegel. Ein Monster blickte von dort zurück. Nichts Menschenähnliches sondern ein Etwas, das aussah wie ein Zombie oder zumindest die Resident Evil Version davon. Ok ich gib zu so schlimm war es nun auch nicht. Meine Augen waren nur Rot umrandet und meine Lippen sahen aus wie der Grand Canyon auf den man eine bisschen Blut verteilt hatte. Auch meine Nasenflügel waren gerötet.

Müde schritt ich die große Treppe unseres palastartigen Hauses hinunter. Es war noch sehr früh. Das bläuliche Morgenlicht fiel geschmeidig durch die großen Fenster, streckte die Schatten in die Länge. Als ich endlich den ausladenden Speisesaal erreicht hatte sah ich, dass außer mir noch jemand wach war. Wie angewurzelt hielt ich im Türrahmen inne. Leise versuchte ich einen Schritt nach hinten machen.
"Leiste deinem Großvater doch ein bisschen Gesellschaft." die samt weiche, alte Stimme meines Großvaters ließ mich zusammenzucken. Ich hatte nicht erwartet, dass er mich bemerkt hatte. Verwirrt trat ich aber dennoch auf ihn zu.

"Komm schon Kleine. Setz dich doch." mit der falten-schlagenden Hand klopfte er auf einen der dick gepolsterten Stühle. Mechanisch nahm ich auf dem grässlichen Stickblumenmuster platz. "Was bedrückt dich denn?" der gewohnte allwissende Ton seiner Stimme schwang mit. Er schien immer die ganze Welt zu verstehen, oder er hatte einfach die geschwollenen Augen gesehen. "Glaub nicht immer das, was dir deine Mum erzählt, ich kann gut zuhören." Obwohl ich nicht wollte zauberte er mit diesen Worten ein Lächeln auf die Lippen. Mein Großvater war ein wirklich grauenhafter Zuhörer, außer, wenn es um seine Geschichten ging.
Doch plötzlich verspürte ich das Gefühl, dass wenn ich diese Wut, diese Trauer noch länger mit mir herumtragen würde platzen würde.
So fing ich erst zögernd an zu reden, bis dann die Worte nur so aus mir heraussprudelten.
"Kyle,... mein Freund" fügte ich nach einem fragenden Blick hinzu. "hat mit mir Schluss gemacht,..." Ich machte eine Pause, um die Tränen mit dem Saum meines Ärmels wegzuwischen. Diese Pause nutzte mein Großvater um mir einen gestellten mitleidigen Blick zu zuwerfen. "Warum das denn meine Liebe?"
"Er hat eine Neue" brachte ich unter heftigem Geschluchze hervor. "Diese Sophie.. sie scheint in allem so perfekt zu sein.." Ich bewegte weiterhin meine Lippen, auch wenn keine Worte mehr über sie kamen.
"Kein Mensch kann so perfekt zu sein wie du." Wow mein Großvater hat gerade wirklich tröstende Worte von sich gegeben.
"Du hast sie doch nicht einmal gesehen." schniefte ich
"Na und, aber ich sehe dich doch jeden Tag" ein Lächeln lag auf seinen Lippen.
"Das zählt nicht, Opa. Sie ist um ein paar Zentimeter größer und trägt immer nur die neuesten Klamotten." "Papalapap.. du redest dich doch nur selbst schlecht... Und wer dich nicht so liebt, wie du bist, der soll mir nicht zu nah kommen." Wie einer dieser Matchoschlägern aus dem Fernsehen hob er die geballte Hand und drohte der Luft mit Schlägen. Ich musste unwillkürlich lachen. "Das ist mein Mädchen." sagte er und zog mich zu sich, und drückte mich einmal fest. "So und damit du morgen wieder in die Schule gehen kannst, musst du jetzt aber ins Bett"

Ich erwachte im Bett. Die Sonne schien durch das Fenster auf den Boden. Ich schielte auf den Wecker und sah, dass ich noch genügend Zeit hatte um noch ein bisschen zu schlafen. Mit geschlossenen Augen wechselte ich die Seite, auf der ich lag, und kuschelte mich ganz tief in die Wärme meiner Bettdecke ein.
Ein Klopfen an meiner Tür riss mich aus meinem Schlummer. Meine kleine Schwester rief immer wieder von draußen, dass ich endlich aufstehen solle. Nur mit Mühe konnte ich die Augen überhaupt aufschlagen. Mein Kopf dröhnte, als ich mich aufsetzte. Mit den Händen massierte ich mir die Schläfen und tapte auf die Tür zu. Ich öffnete diese und prallte beinahe mit meiner Schwester zusammen. Ich hatte sie kaum berührt und schon fing sie an zu jammern. Dicke Tränen kullerten aus ihren Augen. Ich hörte wie Schritte die Treppe hinauf eilten. Kurz bevor unsere Mum uns erreichte, breitete sich kurz ein fieses Lächeln auf den Lippen meiner kleinen Schwester aus und das Geplärr ging weiter. Da ich schon gar keine Lust mehr auf dieses total bekloppte Spielchen hatte, drehte ich mich um und ging zielstrebig die Treppe hinunter.
Als ich wütend die Türe des Speisesaals zuwarf, sah ich, dass ich nicht die einzige im Raum war. Meine Großmutter sah mich mit hochgezogener Augenbraue, erstaunt durch ihre altmodische Hornbrille an. Mein Großvater, der nur lächelnd neben ihr saß. Wie versteinert stand ich da. Den Blick auf den über und über mit Essen bedeckten Tisch. Nur eine Sache hinderte mich daran, mich darauf zustürzen. Und nein, das war nicht der Blick meiner Großmutter, auch wenn er glatt töten könnte.

Mein Magen knurrte. Wir hatten erst die zweite Stunde, doch ich hatte es nicht länger mit all diesen Erinnerungen ausgehalten, das machte sich jetzt bemerkbar, denn meine Freundin neben mir flüsterte mir schon halbbeleidigende Worte zu. Ich versuchte dagegen einfach nur stur an die Tafel zu starren. Und Ihn, der nur zwei Reihen entfernt saß zu ignorieren. Doch das war schwieriger als ich dachte. Dauern schweifte mein Blick in seine Richtung. Als hätte ich es nicht schwer genug musste er mir auch noch immer ein gewinnerisches Lächeln zuwerfen... oder galt es etwas Sophie, die nur ein paar Stühle weiter links von mir saß?..
Ich war so in Grübeleien vertieft, dass ich nicht bemerkte, dass der Lehrer mir eine Frage gestellt hatte, erst als Lindy, meine Freundin mir in die Seite boxte fuhr ich erschrocken zusammen. Die ganze Klasse lachte, doch ich hätte mich am liebsten unter meinem Tisch versteckt und wäre nie wieder hervor gekommen. "Na Cortese, wären sie nun endlich so freundlich mir zu beantworten, wann der zweite Weltkrieg endete." Sein Spott war unüberhörbar, und ich wurde dadurch nur noch kleiner auf meinem Stuhl. "1945" sagte jemand aus den hinteren Reihen. "Wie bitte?" fuhr der Lehrer ihn an. "1945 endete der zweite Weltkrieg. Am achten Mai, wenn ich mich nicht irre." Mir blieb der Mund offen stehen. So mutig war noch nie jemand gewesen. Meistens freuten sich die anderen Schüler einfach, dass sie nicht beim vor-sich-hindösen erwischt wurden. "So Mister....." der Lehrer ließ eine Pause. Anfangs dachte ich einfach, er wollte nicht mehr weiter fahren, doch als er nach einer Weile immer noch den Mund öffnete und schloss, wie ein Fisch, fiel mir auf, wie angestrengt der Lehrer nach dem Namen des Schülers suchte. "Morgan" Vervollständigte der Schüler selbst den Satz. Ich wandte mich nach hinten, um zu sehen, wer mein Retter in der 'Not' ist. Völlig unvorbereitet fand ich ihn. Ganz hinten, weit entfernt von den Anderen. Die Hälfte seines Gesichts war unter einer abgetragenen Basecap versteckt, doch auch die größte Mütze der Welt konnte seine ungeformte Nase und die bläulich, grüne Stelle an der Seite seines Kinns nicht verdecken.
Erstauntes Einatmen war zu hören, als sich diese einfach erhob. Sich direkt vor den Augen des Lehrers die Tasche schnappte und einfach aus der Tür spazierte. Die Türe flog mit einem Krach wieder zu, und Leben schien wieder in den Raum zu kommen.
Danach war der Unterricht nicht mehr so streng, denn der Geschichtslehrer verlor immer wieder den Faden, und brabbelte dann total sinnloses Zeug vor sich her. Als die Klingel ertönte, konnte man ihm ansehen, wie froh er war uns endlich los zu werden.

2.



Wir hatten genau fünf Minuten, um von dem Ostflügel unserer Schule in den im Westen zu kommen. Mit Lindy rannte ich die Flure entlang. Wir hatten nur noch ein paar Sekunden, da wir den Großteil damit verbracht haben uns über den Vorfall im Geschichtsunterricht zu unterhalten. Im Laufschritt jagten wir auf die Tür zu, die unsere Lehrerin gerade genüsslich schloss. Unter einem strengen Blick ihrerseits rasselten wir gerade noch durch den Türspalt.
"Ahh wie schön, dass Sie uns auch mit ihrer Anwesenheit beehren.. Und nun auf die Plätze aber dalli!!"
Heute war ganz sicher nicht mein Tag. Missmutig ließen wir uns auf die noch freie Bank gleiten.
"Unser Thema für die nächsten zwei Stunden ist.." mit lautem quietschen schrieb sie `Literatur der Klassik´ an die Tafel. Erwartungsvoll blickte sie in die gelangweilten Gesichter ihrer Schüler. "Na kommt schon. Eure Gehirne werden doch heute Morgen nicht in den Toaster gefallen sein." Als sich immer noch niemand freiwillig meldete fing sie an ihre Namensliste hervorzukramen. Willkürlich rief sie irgendwelche Namen auf. "APorta! Was können Sie mir denn über die klassische Literatur sagen." Ihr Blick irrte suchend umher, was noch einmal unterstützte, dass sie uns überhaupt nicht wirklich kannte, auch wenn sie uns schon drei Jahre lang in Deutsch hatte. Lindy wurde neben mir auf einmal ganz klein. Sie rutschte tiefer unter ihren Tisch, als die anderen, die gerade von der Lehrerin taxiert wurden.
Ich beschloss mich weiter in Selbstmitleid zu suhlen.. und schon schweiften meine Gedanken in ein undeutlich Gewirr aus Gefühlen, Gedanken, Wünsche..
Warum sind Mädchen immer auf der Suche nach ihrem Traumprinz? Der auf einem weißen Pferd daher geritten kommt, nach ihr die Hand ausstreckt und sie hinauf auf sein Ross zieht. Gemeinsam würden dann beide in den Sonnenuntergang reiten. Auf einer Wiese mit taufeuchtem Gras. Liebe auf den ersten Blick. Für immer zusammen sein… Das alles existiert nicht! Falls ich euch jetzt enttäuschen muss. So etwas gibt es nicht… nur in Geschichten, die von unglücklichen Menschen geschrieben werden, die es einfach nicht übers Herz bringen, die Wahrheit zu sagen. Seien wir doch einfach mal realistisch. Ein Pferd wär eh viel zu teuer. Und welcher Typ kann heut zu tage noch reiten?!... Und damit hätten wir auch schon den ersten Punkt abgehakt. Liebe auf den Ersten Blick… wenn sich der Typ nicht gerade in den Arsch des Mädchens verliebt, dann gutnacht… Wie viele Menschen heut zu Tage haben nicht schon mehr als einen Freund/eine Freundin gehabt. Das hätten wir nun.
Doch warum wollen wir das alles nicht wahr haben. Warum denken wir, dass es da draußen doch diesen einen geben wird, und nur diesen einen einzigen, der anders ist all diese blöden Machos die die Welt übernommen haben. Warum klammern wir uns so sehr an diesen Gedanken?
Das zuklappen der Bücher befreite mich aus dem Grübeln.
Schüler schwirrten an meinem Tisch vorbei auf die Türe im hinteren Teil des Klassenzimmers zu. Taschen streiften mich, als ich versuchte mich in das Gedränge einzugliedern. Satzteile des fröhlichen Geplappers über die unterschiedlichsten Themen, angefangen von irgendeinem Jungen bis hin zum nächsten Footballspiel, wurde auf den überfüllten Gängen lautstark diskutiert. Lindy redete auf mich ein mit irgendeinem Test, vor dem sie so was von überhaupt nicht gelernt hatte, doch ihre Stimme schien ganz dumpf zu klingen und die Worte waren so verzerrt, das ich mir mühegeben musste ihr überhaupt zu folgen. Die rot und gelb gestrichenen Wände schienen plötzlich greller zu leuchten. Die Gesichter der Schüler verschwammen vor meinen Augen. Und der ganze Gang begann sich zu drehen. Immer schneller immer schneller, bis alles nur noch aus einem Wirbel aus orange und undefinierbaren dunkeln Punkten wurde.
Ich fühlte wie meine Beine nach gaben, doch es war so, als sei ich nicht wirklich da, so als sei ich nur ein Zuschauer aus einiger Entfernung. Einem letzten Versuch, meinen Fall abzufangen klammerte ich mich an die nächst beste Schulter. Dann wurde alles schwarz um mich herum, ein Raum, der aus Nichts zu bestehen schien.
Als ich langsam wieder zu mir kam war das erste, was ich hörte, ein leises Flüstern an meinem Ohr. Sanfte, wohlgewählte Worte. Wohltuende Wärme breitete sich in meinem Körper aus. Dann bemerkte ich, dass nicht einfach zu mir gesprochen wurde. Jemand sang. Ein leises, trauriges Lied.

I don't remember much of anything
Of those years,
Kind of strange and kind of sad
Considering all the laughs
and all the tears.
Could it be this quiet cul-de-sac
Or the cynical moon?
Could it be the neighbor's cat watching
Me from the living room?
Either way, these days I feel so strange.
I remember you; so strange.
Do you remember me secretly?

So I comb the depths of the ocean floor
Of my memory; grasping onto some
Shell, some piece some evidence
Of you and me:
Sunlight streams in morning
Your head in the sheets
Dancing naked in the living room
I still practice secretly.

I remember you secretly.
Do you remember me secretly?
I remember you secretly.
Do you remember me secretly?


Ich hätte dem wunderschönen Gesang gerne noch länger Gelauscht, doch der Sänger wurde durch das Öffnen einer Türe unterbrochen. Eilig entfernten sich die Schritte. Schnell versuchte ich noch einen Blick auf ihn zu werfen, doch außer einen Rücken, ein abgewetztes T-Shirt, eine Blue Jean konnte ich nicht viel mehr erkennen.
„Alice, wie geht’s dir, Spätzchen?“ das besorgte Gesicht meiner Mum beugte sich über mich. „Alles okay Mum. Mir geht’s gut.“
Sie wandte sich zu der Schulkrankenschwester, fragte diese, was sie empfehlen würde. Ich achtete nicht weiter auf dieses besorgte Geschwafel. In Gedanken hing ich immer noch an dem Lied, besser gesagt an dem Sänger des Liedes. Seine Stimme ging mir nicht mehr aus dem Kopf. So viel Wärme, Zuneigung hatte ich schon lange nicht mehr genossen.

Heimlich versuchte ich den Text und die Melodie in Gedanken zu wiederholen. Doch es war einfach verschwunden, nicht ein Mal ein einziges Wort, kein einziger Ton hatte ich mir gemerkt. War ich wirklich so sehr auf den Sänger konzentriert gewesen, dass ich nur auf ihn geachtet hatte?

Wüsste ich nur, wer er war. Es muss jemand sein, der wahrscheinlich öfter etwas sang. Mitglied einer Band vielleicht. Und er geht ganz sicher auf unsere Schule, denn warum sonst sollte er einen Besuch in der Krankenstation machen. Vielleicht ging es ihm ja selber schlecht…

„Alice? Hey..“ das Gesicht meiner Mum tauchte vor mir auf. Ihre gebräunte Haut war von feinen Falten durchzogen. Eine widerspenstige, schwarze Ponysträhne fiel ihr in die Augen, als sie sich zu mir nach unten beugte. Besorgnis spiegelte sich in ihrem Blick wieder. „komm schon wir wurden für heute entlassen.“ Versuchte sie mich aufzuheitern. Trotz des lahmen Scherzes lächelte ich gezwungen. „Yeah.“ Helfende Hände halfen mir beim Aufstehen, was sich schwieriger erwies als ich es für möglich gehalten hatte. Meine Beine gaben bei dem ersten Schritt plötzlich nach. Kurz darauf fand ich mich auf dem Boden kniend wieder. Der Weg bis zu dem Parkplatz war noch nie so lang gewesen.  Während der Fahrt nach Hause war ich eingeschlafen. Im Halbschlaf wurde ich durch die Haustür bugsiert und weiter die Treppen hinauf, bis in mein Zimmer.

Eingekuschelt in Unmengen von Decken schlummerte ich ein.

In meinen Träumen sah ich ihn wieder. Die selbe Jeanshose, das selbe Shirt. Seine dunklen braunen Haare schimmern im dem Leuchten des wunderschönen Lichts der Frühjahrssonne. Ich ging auf ihn zu. Streckte die Hand nach ihm aus. Meine Fingerspitzen berühren seinen Arm schon beinahe. Als ich meinen Griff geschlossen hatte und wieder aufsah, hielt ich nur eine leuchtend blaue Blume in der Hand. Exotisch, wie nicht von dieser Welt. So zart ihre feinen Blütenblätter durchzogen von kleinen lilanen und blauen Adern, reiskorngroße lila rote Erhellungen sind unregelmäßig verteilt. So etwas Wunderschönes habe ich noch nie in meinem Leben gesehen. Ich würde sie gerne noch länger in meiner Hand halten, noch länger bewundern, doch mir fehlt die Zeit dazu, denn ich merke, wie der Traum mir entgleitet.  Das Bild verändert sich, verdunkelt sich. Die Gegenstände beginnen sich zu transformieren, werden größer, kleiner, verzerrter. Ich fand mich in einen völlig unbekannten Raum wieder. Eine nackte Glühbirne erleuchtete spärlich den kleinen Raum. Eine Matratze  wurde achtlos in eine der vier Ecken geschoben. Das Leintuch war versifft, die Bettwäsche zerknittert. Direkt unter Lampe, sprich mitten im Raum, stand ein altmodischer Schreibtisch. Blätter liegen auf gewaltig schiefen Stapeln.  Hinter dieser Wand lugte ein mir inzwischen schon allzu bekannter Hinterkopf auf. Weit vorgebeugt über ein weiteres Blattpapier. Das kratzende Geräusch eines Stiftes erfüllte den kleinen Raum. Mein Blick fiel auf die anderen Blätter und alle zeigten das Selbe. Ein trauriges Mädchen blickte mir entgegen. Dicke Tränen kullern aus ihren Augen. Ein leichtes Lächeln umspielt aber dennoch ihren Mund.  „Wow“ entfährt es mir. So ein schönes Gemälde habe ich noch nie gesehen. Es zeigte zwar mich, doch ich selbst würde nie so hinreißend aussehen.

„Alice. Alice!“ Die rufe meiner Mutter schienen von ganz weit her zu kommen. Immer noch sah ich gebannt auf das Bild, aber ich bemerkte nun, dass sich der Raum verändert. Nicht in seinem Aussehen, sondern in seiner Realität. Mir wird bewusst, dass das Gesamtbild nicht stimmen kann. Die Ecken sind zu spitz als dass der Raum hätte viereckig sein können. Die Farben kamen mir auf einmal viel zu intensiv vor. 

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Tag der Veröffentlichung: 22.04.2011

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