Meine Mutter hatte mir nie gesagt, wer mein Vater war. Sie hatte immer gesagt, ich wäre noch zu jung, um nach ihm zu fragen oder die Hintergründe zu verstehen und mir ginge es auch ohne ihn gut genug. Aber ich wollte unbedingt wissen, wem ich dieses Leben zu verdanken hatte. Ein Leben im Himmel – und das meine ich wortwörtlich.
Ich hätte sie nicht dazu drängen sollen, mir zu verraten, wer mein Vater war, dann wäre jetzt alles so, wie es sein sollte. Ich säße dann immer noch mit meinen Freunden an den schönsten Orten, die man sich nur vorstellen konnte und würde an nichts anderes denken, als irgendwelche anstehenden Prüfungen oder die nächste Feier, die bei uns gegeben wurde. Dann wäre ich jetzt nicht hier an diesem grausamen Ort. An diesem Ort voller Schmerz und Leid. Hätte ich meine Mutter nicht dazu gedrängt, mir zu verraten, wer mein leiblicher Vater war, würde ich noch immer nur die schönen Seiten des Lebens kennen und hätte wohl nie einen Gedanken darüber verschwendet, dass es auch schlechte und grauenvolle Seiten gab. Aber hätte ich sie nicht dazu gedrängt, dann hätte ich nie in meinem ganzen Leben Sam kennengelernt. Und das würde ich für nichts in meinem Leben rückgängig machen wollen.
Es war mein 18. Geburtstag. 18. Jung, begabt und endlich frei. Normalerweise hätte ich einen Scheiß auf diesen Tag gegeben und meinen Fuß nicht aus dem Haus gesetzt, aber meine Mutter hatte mich dazu überredet, eine kleine Feiern zu organisieren. Sie hatte gerade zu darauf bestanden, dass ich etwas mit meinen Freunden und der Familie machte, was mich ein wenig irritierte, weil sie im Grunde kein großer Fan von Geburtstagen und Feiern war. Ihr zu liebe stellte ich also eine kleine Runde zusammen, mit denen ich meinen Geburtstag verbringen wollte, dekorierte das Haus und unseren kleinen Garten mit Girlanden und anderen Geburtstagsdekorationen und versuchte, Kuchen und Getränke zu organisieren. Musik gab es reichlich und auch Sitzmöglichkeiten, dachte ich jedenfalls. Ich war mir ziemlich sicher gewesen, dass wir nicht mehr als zehn Leute gewesen waren, aber trotzdem reichten die Stühle nicht und der Garten und die Terrasse füllten sich immer mehr mit Bekannten, die mich in die Arme schlossen oder mir zur Gratulation die Hand reichten. Eigentlich hätte es mir viel früher bewusst werden müssen, dass dort mehr Leute waren, als ich eigentlich erwartet hatte. Aber aus irgendeinem Grund ist es mir erst aufgefallen, als ich sah, wie sich meine Mutter mit meinem Schulleiter unterhielt.
„Cas?“ Ich stieß meinen Ellenbogen in die Seite meines besten Freundes, der gerade mit einer Bekannten sprach. Mitten im Gespräch zuckte er zusammen und verschüttete dabei das Getränk, das in dem Becher in seiner rechten Hand war, fluchte leise und wischte seine Hand am Oberschenkel ab, bevor er sich mir mit einem vorwurfsvollen Blick zuwandte.
„Kannst du etwas aufpassen?“ Er stellte seinen Becher auf den Tisch neben sich und fing dann an, in seinen Taschen nach etwas zu suchen. Wohl nach dem Taschentuch, das er immer mit sich trug.
„'Tschuldige. Aber – was sucht unser Schulleiter hier?“
„Nathaniel ist hier? Wo?“, mit fragendem Blick drehte er sich um seine eigene Achse und suchte nach dem Gesicht in der nun erheblich großen Menschenmenge. Immer noch verwundert zeigte ich in die Richtung, in der meine Mutter sich mit unserem Schulleiter unterhielt. Sie schien angespannt und nervös. Als sie in meine Richtung schaute und sah, dass ich sie ebenfalls ansah, lächelte, winkte und schaute dann zu Boden. Ich kannte meine Mutter. Ich kannte ihre Körpersprache. Augenblicklich konnte ich erkennen, dass sie etwas zu verbergen hatte. Immer, wenn sie versuchte etwas vor jemandem geheim zu halten, wurde sie unruhig und strahlte diese innere Unruhe auch durch Körperhaltung und Mimik aus. Sie lachte übertrieben, fuhr sich durch ihre lockigen, roten Haare und kratzte sich an ihrem Nacken. Während sie lachte, drehte sie sich von Nathaniel weg und blickte durch den Garten. Suchend, sehnend, flehend. Ihr Blick erinnerte mich an ein kleines Kind, das nicht das Geschenk unter dem Weihnachtsbaum liegen sah, was es eigentlich haben wollte. Wieder fuhr sie sich durch ihre Haare und drehte sich zurück zu Nathaniel. Ihre zarten Lippen flüsterten etwas, doch selbst mit meinem empfindlichen Gehör konnte ich nichts verstehen, dafür war es viel zu laut um mich herum. Da mein Gehör aus irgendeinem Grund nicht ganz so gut war wie das meiner Familie oder Freunde – meine Mutter hat mir mal gesagt, dass ich als kleines Kind zu laut Musik gehört habe und mein Gehör deshalb nicht mehr vollkommen funktionierte, aber ich habe ihr das nicht eine Sekunde geglaubt – hatte ich Lippenlesen gelernt. Doch wie es das Schicksal wollte, fielen die feinen Locken meiner Mutter über ihre Schulter und verdeckten so Mitten im Satz ihren Mund. Frustriert stampfte ich mit einem Fuß auf den Rasen und drehte mich zu Cas um, der wieder im Gespräch mit seiner Freundin vertieft war. Er lehnte mit einem Arm über ihrem Kopf gegen die Wand und lächelte sie von oben herab an, lachte leise auf und schloss dabei die Augen, ehe er sie wieder gebannt ansah. Sie lachte ebenfalls, schlug ihre langen schwarzen Wimpern auf und lächelte dieses umwerfende Lächeln, dem so gut wie jedes männliche und auch weibliche Wesen verfallen war, doch aus irgendeinem Grund hatte sie beschlossen, dass mein bester Freund der Auserwählte war, mit dem sie ihre Zeit verbringen wollte. Bevor er ihr allerdings auf eine Frage antworten konnte, murmelte ich eine leise Entschuldigung in ihre Richtung und zerrte Cas am Ärmel von ihr weg.
„Was -“ Er ließ seinen Becher zu Boden fallen und versuchte sich aus meinem Griff zu befreien, aber ich war schon immer kräftiger gewesen als er. Nach wenigen verzweifelten Rucken an meiner Hand, die den Stoff seines Pullovers umklammerte, gab er auf und folgte mir ohne weitere Worte. Erst als wir wirklich alleine und ungestört in meinem Zimmer ankamen, ließ ich ihn los und ließ mich auf die Matratze in der einen Ecke des Raumes fallen. Auffordernd schaute ich ihm in seine hellblauen Augen, doch er schien nicht zu verstehen, was ich von ihm wollte, also klopfte ich neben mich und verdrehte dabei die Augen. „Ehm, willst du jetzt mit mir rummachen? Ich hab da eine feste Freundin, die unten auf mich wartet.“ Noch bevor er den Satz beenden konnte, schmiss ich ein Kissen nach ihm, was er lachend mit beiden Händen abwehrte und sich dann neben mich setzte. „Schwachkopf. Das hättest du wohl gerne, was?“ Ich zog eine Augenbraue hoch und schaute ihm einen Augenblick lang in seine abgrundtiefen Augen. Der Mensch, der behauptet hat, die Augen einer Person seien die Fenster zur Seele, lag vollkommen daneben. Durch Fenster bekam man definitiv nicht einen so tiefen Einblick ins Innere einer Person. Es mussten schon die Türe, die Pforten oder viel mehr der Abgrund sein, der einen, wenn man nicht aufpasste und sich an der Außenwelt festklammerte, geradewegs zu verschlingen drohte. Um nicht in diesen Abgrund zu fallen, blinzelte ich ein-, zweimal und schaute dann auf die Fotowand vor uns, die bestückt war mir etlichen Fotos von meinen Freunden, Familien und mir. „Und weshalb genau hast du mich jetzt von Caelis weggeholt? Ich hab mich gerade mit ihr unterhalten, falls du das nicht bemerkt hattest.“ Ich hörte sein Lächeln in seiner Stimme. Er lächelte immer, egal in welcher Situation er sich befand. Zumindest hatte ich ihn noch nie nicht lächeln gesehen. „Ich weiß nicht. Ich musste da raus. Es sind mir zu viele Personen anwesend. Du weißt ja, ich komm nicht so gut klar mit großen Menschenmassen.“ Mit der Schulter zuckend drehte ich mich wieder zu ihm, lächelte leicht und ließ mich dann auf meinen Rücken fallen. Die Decke meines Zimmer war unspektakulär. Einige wenige Risse konnte man im Zement sehen und bis auf die Lichterkette, die ich nachts immer an hatte, war dort sonst nichts zu sehen. Aber ich konnte auch nicht wegsehen. Ich spürte, wie sich die Matratze neben mir bewegte und zunächst dachte ich, Cas wäre aufgestanden und würde jeden Augenblick gehen, um sich wieder zu seiner Freundin zu gesellen, doch als ich mich auf meine Ellenbogen abstützte und zur Seite schaute, war sein Gesicht nur Zentimeter von meinem entfernt.
„Hat dir heute eigentlich mal jemand gesagt, dass du wunderschön aussiehst?“, flüsterte er und lächelte sein altbekanntes Lächeln. Seine Augen fesselten meine und ließen mich nicht mehr wegsehen. Erst als ich ein leises Klopfen an der Tür wahrnahm, schaute ich weg und schob ihn beiseite, ein leises Lachen aus seiner Richtung hörend. „Idiot.“, murmelte ich, atmete einmal mit geschlossenen Augen ein und setzte mich dann normal auf die Kante meines Bettes. „Wer stört?“ „Grace, Liebling, kommt ihr runter? Die Anderen haben schon alle angefangen ohne euch zu essen.“ Die Stimme meiner Mutter war dumpf von der anderen Seite der massiven Holztür zu hören. Sie trat nie ein, bevor ich es ihr nicht ausdrücklich erlaubt hatte. Manchmal fand ich es gut, manchmal war es einfach nur nervend. Es ist ja nicht so, dass ich irgendwas vor ihr zu verstecken hatte, aber sie wollte mir unbedingt meine Privatsphäre gönnen. Ich stöhnte leise auf und ließ mich mit dem Handrücken über meinen Augenlidern zurück auf die weiche Matratze fallen. Ich war noch nicht dazu bereit wieder zurück in die Menschenmasse zu gehen, aber ich hatte wohl keine andere Wahl, schließlich waren es meine Gäste, die dort unten warteten. Ein dumpfes Pochen breitete sich unter meinen Schläfen aus und je mehr ich mich darauf konzentrierte, desto schmerzhafter schien das Pochen zu werden. Wie von alleine bewegten sich meine Hände zu den schmerzenden Kopfseiten und begannen sie in kreisförmigen Bewegungen zu massieren, darauf hoffend, die Kopfschmerz würden dadurch gelindert. Doch dem war nicht so.
Ohne Vorwarnung spürte ich Cas' kühle Hand durch meine Haare streichen. Ich zuckte leicht zusammen, war nicht vorbereitet auf die unerwartete Berührung.
„Lass uns was essen gehen.“ Seine tiefe, ruhige Stimme war direkt neben meinem Ohr und als ich meine Augen öffnete, konnte ich nur ein Teil seines Gesichts erkennen, das wenige Zentimeter vor meinem ruhte. Durch sein breites Grinsen hatten sich kleine Einkerbungen unter seinen Augen und Grübchen an seiner unteren Wangenhälfte gebildet und seine Augen schienen noch mehr zu strahlen als sonst auch schon. Bevor er sich bewegen konnte, überbrückte ich den kurzen Abstand, biss ihm sanft in die Nasenspitze und schob ihn dann beiseite, so dass ich mich wieder aufrecht hinsetzen konnte. Verdattert starrte er mich an, unfähig sich zu regen.
„Damit hast du nicht gerechnet, was?“ Ich grinste und versuchte mein Lachen zu unterdrücken, scheiterte allerdings kläglich, als Cas sich immer noch nicht zu rühren schien. Mit einem kräftigen Schlag auf die Schulter katapultierte ich ihn wieder ins Diesseits.
„Nicht wirklich.“, seine Antwort war nicht mehr als ein Flüstern, „Lass uns jetzt gehen.“
„Auf das Geburtstagskind!“, bot meine Mutter den wartenden Gästen an.
„Auf das Geburtstagskind!“, hallte die Antwort. Gläser klirrten, als sie aneinandergestoßen wurden und dann herrschte für einen Augenblick stille, als jeder einen kleinen Schluck Wein trank. Ich konnte meine Mutter gerade so davon abhalten, ihre alljährliche Rede zu meinem Geburtstag vor all den Freunden und Bekannten zu halten, doch meine Freunde konnten es sich nicht nehmen lassen, ein Geburtstagsständchen zu plärren. Mit hochrotem Kopf und den Händen vor dem Gesicht saß ich auf meinem Platz, von dem aus mich alle Gäste beobachten konnten. Lautes Lachen war zu hören, als ich ergebend meine Hände hoch hielt und sie bat, uns mit ihren musikalischen Künsten zu verschonen.
„Niemals!“, rief Caelis, den einen Arm um Cas' Hüfte geschlungen und in der anderen Hand ein halb leer getrunkenes Glas Wein. Ihr Lachen glich einem Glockenspiel im Wind, es war sanft und schien unaufhaltsam. Erst als Cas seine Lippen auf ihre presste, verstummte sie. Wieder lachten die Gäste, den Blick auf das sich sichtlich liebende Pärchen.
Nach und nach vertieften sich alle in Privatgespräche und schwelgten in Erinnerung. Während sich die allgemeine Aufmerksamkeit von mir abwandte, wurde ich wieder ruhiger, entspannte mich regelrecht. Ich setzte mich neben meine Mutter, abseits vom eigentlichen Geschehen und lehnte meinen Kopf gegen ihre Schulter. Ihre roten Haare fielen etwas über mein Gesicht und kitzelten meine Nase, doch es störte mich nicht. Ich hatte ihre Haare schon immer geliebt. Sei es die kräftige rote Farbe, die sie von Natur aus hatte, oder der Duft, der von ihnen auszugehen schien. Als kleines Kind hatte ich mich gerne in die Haare meiner Mutter gelegt. Sie reichten ihr bis hin zur Mitte ihres Rückens und boten somit ein perfektes Versteck. Abends, wenn sie zu mir ins Bett kam um mir eine Gutenachtgeschichte vorzulesen, hatte ich die Zeit immer dazu genutzt, um mir eine kleine Höhle in den roten Locken zu bauen und sie mit meinen kleinen Fingern zu durchkämmen. Ich schloss meine Augen und genoss die Nähe zu ihr. Wie damals vergrub ich mein nun viel größeres Gesicht in ihren seidigen Haaren, nahm den Duft in mich auf, ließ die feinen Strähnen durch meine Finger gleiten und vergaß alles um mich herum. Bis mir etwas in den Sinn kam.
„Mama?“ Ich hatte meine Augen immer noch geschlossen und einzelne Strähnen in meinen Händen, was es ihr nicht leichter machte, ihr Gesicht zu mir zu drehen. „Ja, mein Liebling?“, ihre Stimme war genau so ruhig wie meine zuvor.
„Wer ist mein Vater?“ Diese Frage brannte mir schon seit einigen Jahren auf der Zunge. Immer wieder hatte ich meine Mutter nach meinen leiblichen Vater gefragt. Immer wieder hatte sie mich mit der gleichen Antwort abgespeist. Ich sei zu jung, um all das zu verstehen und ich solle sie fragen, wenn ich älter bin. Und nun war ich älter. Alt genug, um den ersten Rang an unserer Schule erreichen zu können. Alt genug, um mir mein eigenes kleines Leben aufzubauen. Und definitiv alt genug, um endlich zu erfahren, wer mein Vater war. Mir hatte es nie wirklich etwas gemacht, ohne ihn aufzuwachsen. Die Vaterrolle hatte seither mein Onkel übernommen. Er hatte mir so vieles beigebracht, was meine Mutter nicht konnte. Dazugehörten das Verständnis in gewissen Sportarten, wie man ordentlich reitet, Schimpfwörter und wie ich mich zu wehren hatte, wenn jemand versuchen sollte, mich zu verletzen. Allerdings brachte er mir auch das Tanzen und Backen bei. Ohne seine Hilfe hätte ich mich wohl auf den Bällen, die unsere Schule hin und wieder mal veranstaltete, gehörig blamiert. Er brachte mir nicht nur die Grundschritte zum langsamen Walzer oder den Rumba bei, sondern zeigt mir auch, wie ich anspruchsvollere Tänze wie den Paso Doble oder den Salsa meistern konnte. Und obwohl mir nie wirklich eine Vaterrolle gefehlt hatte, wollte ich unbedingt wissen, wer denn mein leiblicher Vater war. Man wird nun mal neugierig, wenn man merkt, dass die anderen Kinder in der Schule nicht nur von der Mutter, sondern auch von einem Vater großgezogen wurden.
„Grace...“, unterbrach meine Mutter meine Gedanken. Sie atmete tief ein. „Hatten wir nicht gesagt, dass wir warten, bis du alt genug für dieses Thema bist?“ Mit einem Ruck setzte ich mich gerade hin, Augen in das Gesicht meiner Mutter gerichtet. Sie war merklich verwundert über meine ruckartige Bewegung, strich ihr dunkles Kleid an ihren Knien glatt und schaute dabei ihren Händen zu, die immer wieder über den glatten Stoff streiften.
„Mutter.“, sie verzog das Gesicht, als ich sie so nannte.
„Ich bin achtzehn Jahre alt. Ich bin alt genug.“ Ohne ein Wort zu erwidern schüttelte sie nur ihre Kopf, was dazu führte, dass ihr ihre Locken nach vorne fielen und somit ihr Gesicht verdeckten.
Einen Moment sagte keiner von uns beiden etwas. Mit einer flüchtigen Handbewegung strich meine Mutter sich die Haare hinters Ohr und lehnte sich weiter zurück, so dass sie nach oben schaute. Sie schien darüber nachzudenken, was sie sagen sollte. Ob sie es mir nun verriet oder nicht. Ich wollte sie nicht bei ihrem Denkprozess stören, also blieb ich ruhig und beobachtete die anderen Personen um uns herum. Allerdings gab es dort nichts Spannendes zu sehen. Mein Onkel hatte sich mal wieder die beste Freundin meiner Mutter unter den Nagel gerissen und tanzte mit ihr leichtfüßig zu der angenehmen Hintergrundmusik. Ich konnte nicht erkennen, was für einen Tanz es war. Wahrscheinlich war es nicht mal ein Bestimmter, sondern irgendwelche aneinandergereihte Tanzschritte aus zig verschiedenen Tänzen. Dennoch sah es gut aus. In einer anderen Ecke des Gartens stand Cas zusammen mit Caelis und unterhielt sich angeregt mit ihr, die Augen stets auf ihre vollen Lippen, ein breites Grinsen im Gesicht.
Das laute Räuspern meiner Mutter ließ mich kurz zusammenzucken. Mit der Hand über meinem Brustkorb und einem erschrockenem Blick drehte ich mich wieder in ihre Richtung und wartete, dass sie etwas sagte, allerdings dauerte es wieder einige Sekunden bis sie sprach. „Grace.“, fing sie an. Sie hatte ihren Blick immer noch auf ihre Hände in ihrem Schoß gerichtet und zupfte am dunklen Stoff. „Du musst wissen, dass ich dir alles erzählen und erklären würde, wenn ich es könnte. Ich habe meine Gründe, warum ich dir nicht verrate, wer dein leiblicher Vater ist.“ Mit einem entschuldigendem Lächeln auf den Lippen hob sie ihren Kopf und schaute mir fest in die Augen. Mir war bewusst, dass sie es nicht ohne gutem Grund vor mir geheim gehalten hatte, dennoch konnte ich nicht verstehen, was für ein Grund so schwerwiegend sein konnte. Ich konnte nicht nachvollziehen, was so schlimm an meinem Vater sein konnte, dass ich nicht erfahren sollte, wer er war. Ich nickte stumm, den Blick auf ihre Hände. Es machte einfach keinen Sinn. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, warum sie es mir nicht sagen konnte. Jedes Wesen hatte doch wohl ein Recht darauf zu erfahren, wer sein leiblicher Vater war, oder?
„Du musst mir ja nicht mal seinen Namen nennen.", flüsterte ich leise. Ich war mir sicher, dass ich diesen Satz nur gedacht hatte, doch ohne es zu wissen, hatte ich ihn laut ausgesprochen. Bin in Sekunden versteinerte sich der Gesichtsausdruck meiner Mutter und wechselte von den sonst sanften und einfühlsamen Gesichtszügen zu einer harten steinernen Maske. Sie seufzte laut, klang beinahe schon genervt und fuhr sich mit der Hand durch ihre Haare.
„Ich kann dir aber nichts von ihm erzählen. Gar nichts. Warum verstehst du das denn nicht und lässt dieses leidige Thema einfach fallen? Dein Vater war ohnehin ein Versager!" Der scharfe Ton, in dem sie mit mir sprach, schnitt tief in meine Haut. So hatte sie noch nie mit mir gesprochen. Noch nicht einmal, als ich mit Cas für eine Woche von der Schule suspendiert wurde, weil wir ein Labor in die Luft gejagt haben. Augenblicklich fing mein Blut unter der Haut an zu brodeln und ohne es zu wollen, ballten sich meine Hände auf meinen Oberschenkeln zu Fäusten. Tränen der Wut fingen an sich in meinen Augenwinkeln zu sammeln. Es war eine Eigenschaft, die ich an mir hasste. Man konnte schließlich nicht ernst genommen werden, wenn man rot vor Wut und mit Tränen in den Augen eine Argumentation führte. Ich schaute ihr nicht ins Gesicht, schließlich wollte ich ihr nicht zeigen, wie schwach mein Körper eigentlich war.
Es waren keine zwei Sekunden vergangen, nachdem sie mich mit diesem Ton ruhig gestellt hatte, da sprang ich auch schon von meinem Stuhl auf, der laut klappernd zu Boden fiel. Die Gäste um uns herum verstummten und schauten in unsere Richtung. Ihre Blicke brannten unter meiner Haut. Ich hasste es, der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu sein, weshalb ich auch sofort die Flucht ergriff. Ich wollte nicht, dass mich alle anstarren. Ich wollte nicht, dass sie sahen, dass mir die Tränen an den Wangen entlang liefen und dass der Grund dafür meine Mutter war. Als ich versuchte, mir einen Weg durch diese Masse zu kämpfen, hörte ich Cas' Stimme, der meinen Namen aus der gleichen Ecke rief, in der ich ihn zuvor mit Caelis gesehen hatte. Er fragte über die Mengen hinweg, ob alles bei uns in Ordnung wäre. Ich antwortete nicht, sondern drückte mich an meinen Freunden und Bekannten vorbei, unfähig zu sprechen. Sie hatten mittlerweile wieder angefangen, leise miteinander zu reden und auch die Musik hatte wieder angefangen zu spielen, was mich beruhigte. Keiner hatte wohl irgendwas mitbekommen. Kurz bevor ich die Gartenpforte erreicht hatte, spürte ich, wie sich die heiße Hand meiner Mutter um mein Handgelenk legte. Ich drehte mich um, schaute ihr eindringlich ins Gesicht und versuchte mich aus dem Griff zu befreien.
„Es gibt keinen Grund für dich, deine eigene Feier zu verlassen!", immer noch sprach sie in diesem scharfen Ton.
„Lass mich los." Ich sprach nicht laut, wollte nicht, dass irgendjemand etwas mitbekam.
„Nein. Erst wenn du mir versicherst, dass alles okay ist." Ich schüttelte meinen Kopf.
„Um Himmelswillen, Grace! Mach es mir doch nicht noch schwerer, als es ohnehin schon ist!"
„Ich sehe hier keine Schwierigkeit, Mutter. Sag mir doch einfach, wer mein gottverdammter Vater ist! Mehr will ich doch gar nicht! Wo liegt denn dabei das Problem?"
„Er ist ein Mensch! Das ist das Problem!"
„Er ist ein Mensch!“, diese Worte sollten mein Leben komplett auf den Kopf stellen. Diese vier Worte. Vier unscheinbare, sonst so unbedeutende Worte. Sie hingen wie Blei in der Luft, schienen mich beinahe zu erdrücken und zu ersticken. Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Hatte vergessen, wie man atmete. Hatte vergessen, wie man sich bewegte. Die Musik um uns herum war verstummt und auch die Gespräche waren eingestellt worden. Meine Mutter hatte keinesfalls leise gesprochen. Sie hatte es mir geradewegs ins Gesicht geschrien. Einen Moment lang war es komplett ruhig. Keiner sagte etwas. Niemand schien zu atmen, niemand bewegte sich. Es lag eine Spannung in der Luft, die beinahe schon zu knistern begann. Ich schaute mich um, betrachtete die Gesichter der um uns Stehenden. Jedem der Gesichter war das Gleiche abzulesen. Sie bildeten eine Maske. Eine Maske der Verwirrung und Entsetzen. Cas stand immer noch neben Caelis, eine Hand an ihrem Oberarm, ein Schritt in meine Richtung und die Hand nach uns ausgestreckt, als wollte er mich festhalten, mich mental und emotional auffangen.
„Grace...“, die nun ruhige Stimme meiner Mutter und die unerwartete Berührung an meinem Oberarm ließen mich zusammenzucken. Ich schaute in ihr Gesicht, unfähig etwas zu sagen. Mit Tränen in den Augen schaute sie mich an und musterte mein Gesichtsausdruck, dem bis auf die Überreste der Tränen nichts anzusehen war. Ich hatte diese besondere Gabe, meine Gefühle nicht durch Mimik zu verraten. Noch nie hatte meine Mutter anhand dessen erahnen können, was wirklich in mir vor sich ging. Dennoch versuchte sie es jedes Mal.
„Grace, ich...“, sie suchte nach Worte. Worte, die die Situation entschärfen würden. Worte, die mich im Notfall beruhigen oder besänftigen sollten. Ihre Augen wanderten von meinem Gesicht über die der umstehenden Menge und dann zum Boden. Sie holte tief Luft, verstärkte ihren Griff an meinem Oberarm und setzte zum Sprechen an, doch noch bevor sie etwas sagen konnte, schüttelte ich ihre Hand ab und rannte davon.
Nicht zu uns Nachhause. Nicht zu irgendeinem Ort, an dem ich bereits gewesen war. Ich wusste nicht, wohin genau ich rannte, ich wollte einfach nur weg von dort. Ich rannte. Soweit ich konnte. Soweit mich meine Beine trugen. Nur noch weg.
Es fühlte sich an, als wäre ich Stunden gelaufen. Die Umgebung um mich herum färbte sich bereits dunkelblau, als sich der Tag zur Nacht neigte und die Sonne ihre letzten Strahlen über die Baumkronen legte und sie somit golden strahlen ließ. Der Wald, durch den ich schon eine ganze Weile lief, wurde immer dunkler, bis die Sonne komplett unterging und das restliche Tageslicht mit sich zog. Die Tannen und Laubbäume raschelten von dem aufkommenden Wind, der sich sanft um meinen Körper legte und meine Haare durcheinander brachte. Aber all das war mir in diesem Moment einerlei. Noch immer hallten die Worte meiner Mutter in meinem Kopf. Nach einiger Zeit wurden sie jedoch von etwas anderem übertönt. Ein enormes Rauschen ganz in meiner Nähe hatte meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen und schließlich hielt ich an. Lauschte. Suchte nach der Richtung, aus der das Geräusch zu kommen schien und folgte diesem.
Nach wenigen Metern kam ich an einen Felsvorsprung an, den ich noch nie zuvor gesehen hatte. Mit vorsichtigen Schritten trat ich immer näher an den Rand des Vorsprungs. Kleine Steine knirschten bei jedem Schritt unter meinen Sohlen. Ich tastete mich an den Bäumen bis hin zum Ende des Vorsprungs. Die letzten Schritte traute ich mich nicht mehr zu machen, stattdessen schob ich meine Füße über den steinernen Boden unter mir, bis ich den Rand des Felsens spürte. Leises Aufschlagen von Stein auf Stein verriet mir, dass ich Kiesel von der Oberfläche des Vorsprungs über die Kante geschoben hatte. Fasziniert von dem Anblick, der sich mir offenbarte, schaute ich in die atemberaubende Tiefe vor mir. Es schien, als erstreckte sich ein bodenloses Loch unter diesem Felsen, so dunkel war es. Nur wenige Hügel ragten hier und da aus dem schwarzen Nichts, bewachsen mit Moos, Farn und etlichen anderen Pflanzen, dessen Namen mir nicht bekannt waren. Links und rechts von mir tosten gewaltige Wasserfälle, die unbeschreibliche Mengen an Wasser in die Tiefe schleusten. Das Rauschen war ohrenbetäubend, half allerdings auch dabei, mich nicht darauf zu konzentrieren, was geschehen war.
Ich schloss für einen Augenblick meine Augen, eine Hand noch immer an dem Baumstamm neben mir, damit ich nicht das Gleichgewicht verlor, und holte tief Luft. Das aufgeregte Pochen meines Herzens ebbte langsam ab und normalisierte sich, während der Wind noch immer um mich herum peitschte und mir einzelne Haarsträhnen ins Gesicht fegte. Die Blätter und Äste der Bäume hinter mir raschelten, knackten und knarzten. Mit einem weiteren tiefen Atemzug öffnete ich wieder meine Augen, trat näher an den Baum, an dem ich mich die ganze Zeit festgehalten hatte, und ließ mich neben dem harzigen Baumstamm nieder. Meine Beine hingen über dem Vorsprung und wurden durch den Wind, der überall zu sein und von allen Richtungen zu kommen schien, hin und her geschaukelt. Ich lehnte meinen Kopf gegen den Stamm und blickte gen Sternenhimmel, der so nah zu sein schien, wie noch nie zuvor. Die Sterne funkelten und schienen im Kontrast zu dem pechschwarzen Nachthimmel. Schon als kleines Kind hatte ich es geliebt, nachts die blinkenden weißen Punkte am Firmament zu beobachten. Es gab mir ein Gefühl der Geborgenheit. Das Gefühl, nicht vollkommen allein zu sein, während mir all meine Bekannten und Freunde um mich herum so fremd schienen. Nun wusste ich auch, weshalb sie mir fremd zu sein schienen. Schließlich war ich nur zum Teil einer von ihnen.
Tag der Veröffentlichung: 31.03.2015
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