Johanna stürmt in die Küche und ruft: „Wo sind meine Erdbeeren?“ „Wieso deine?“, frage ich ganz beiläufig, denn ich stand heute morgen eine halbe Stunde lang im Regen und habe sie gepflückt, bevor ich sie gewaschen, vom Grünzeug befreit und klein geschnitten habe. Das aber nur nebenbei. „Du hast doch heute Mittag gesagt, du hast Erdbeeren fertig gemacht.“ Ich sehe meine Tochter an und sage ganz gelassen: „Ja, das war heute Mittag, jetzt ist es später Abend. Wenn keine mehr in der Küche stehen, dann wird sie wohl Papa gegessen haben. Oder dein Bruder. Ich war es bestimmt nicht.“ Beleidigt und enttäuscht zugleich dackelt sie zurück in ihr Zimmer. Die Werbepause im Fernsehen ist sicher gleich vorbei, so ersparen wir uns eine überflüssige Diskussion zum Thema persönliche Anrechte auf Erdbeeren. Augenblicklich muss ich schmunzeln und unweigerlich an meine eigene Kindheit zurückdenken.
Meine Mutter hatte ein paar Erdbeerpflänzchen im Garten, „weil die süßen Früchte so teuer sind, wenn man sie kaufen muss“. Dabei ist das Wort „teuer“ ein sehr relativer Begriff. Sind Erdbeeren wirklich teuer? Dann wären sicher viele Leute nicht in der finanziellen Lage, dieses köstliche Gut zu erwerben. Nun, meine Mutter sah das damals eben anders. Wir waren drei Kinder und für einen Fünf-Personen-Haushalt wäre sie mit einem Schälchen handelsüblicher Erdbeeren nicht weit gekommen. Sie hätte folglich zwei oder mehr Schälchen kaufen müssen und das wiederum bedingt eine erhöhte Ausgabe an Haushaltsgeld. Nur so kann ich es mir erklären, dass sie sich jedes Jahr diese mühevolle Arbeit machte, eine kleine Sonnenecke im Garten mit Erdbeerpflanzen zu kultivieren. Unsere Erdbeeren waren meist nicht größer als fette Erbsen aus der Dose, aber das war kein Wunder, denn ich habe in meiner gesamten Kindheit meine Mutter nie Erdbeerpflanzen neu kaufen sehen. Das hätte Geld gekostet. Sie hat stattdessen gerne Pflanzenableger aus der Nachbarschaft angenommen, die vermutlich ebenfalls von alten Pflanzen stammten, denn die Ernte im Folgejahr war keineswegs besser und die Früchte nicht größer. Ich habe die Erdbeerzucht stets belustigt beobachtet, denn ich habe mir schon damals nichts aus Erdbeeren gemacht. Es war mir völlig egal, ob sie gezuckert, mit Sahne oder Vanillesoße serviert wurden. Sie schmecken eben süß und nach Erdbeere. Wenn ich allerdings einmal eine Unbehandelte naschen wollte, weil mir das viel natürlicher erschien, wurde ich gleich geschimpft, dass ich nicht vorher alle Beeren wegessen sollte.
Bei uns ging es stets gerecht zu und jeder bekam seinen Anteil, ähnlich wie unsere Joghurtarmee im Kühlschrank. Ich habe nie eine andere Familie kennengelernt, in deren Kühlschrank die Joghurts wie in einer Turnriege in Dreierreihen nach Frucht sortiert aufgestellt waren. Wir Kinder durften nicht selbst entscheiden welchen Fruchtgeschmack wir täglich essen wollten, das gab uns die Riege vor. Immer schön von vorne nach hinten durchgegessen. Als wir nach Jahren endlich geklärt hatten, dass wir eigentlich nur den Haselnussgeschmack wollten, wurde es bedeutend einfacher.
Jetzt bin ich glatt vom Thema abgekommen. Es geht immer noch um die Erdbeeren. Einer meiner Brüder liebte Erdbeeren besonders, das ist mir nicht verborgen geblieben, weil meine Mutter es oft genug betonte. Der Rest der Familie aß gezuckerte Erdbeeren ebenfalls gerne, nur ich war die Ausnahme. Als meine Mutter eines Tages sah, dass mein Erdbeerschälchen noch unberührt in der Küche stand, erinnerte sie mich netterweise daran. Sie wies mich darauf hin, dass ich es auch meinem Bruder geben könne. Der würde sich bestimmt darüber freuen. Konnte ich das zulassen? Nein, natürlich nicht. Nicht, ohne dafür eine Entschädigung zu bekommen, aber so weit hatte meine Mutter nie gedacht. Für mich war Entschädigung allerdings der Inbegriff von Gerechtigkeit. Wenn ich etwas von dem mir zustehenden Anteil abgebe, dann habe ich Anspruch auf einen Ersatz. Zum Beispiel einen Nussjoghurt aus Arnes Reihe. Ich versuchte es einmal, aber meine Mutter konnte dem leider nicht zustimmen, denn dann hätte der kleine Arne doch einen Jogi weniger. Tja, so war es von mir gedacht. Er hätte dafür schließlich meine Erdbeeren bekommen!
Von diesem Zeitpunkt an, habe ich immer brav meinen Anteil Erdbeeren selbst gegessen. Mein Motto: Hau weg das Zeug. Hauptsache mein Bruder kriegt es nicht!
Heute stehen in meinem Garten ebenfalls Erdbeerpflanzen. Bei meinem Mann und den Kindern sind sie sehr beliebt. Sie machen viel Arbeit, aber der Ertrag ist hoch. Ich mag Erdbeeren noch immer nicht und ich mag sie nicht pflegen. Würden wir die Menge, die unsere Familie täglich isst, kaufen, hätte ich eine Menge Zeit eingespart. Alle drei Jahre gibt es neue Pflanzen. Deswegen sind unsere Erdbeeren zum Teil so groß wie Aprikosen. Alle sind begeistert. Im nächsten Jahr sind wieder drei Jahre um. Ich finde, es wird Zeit für ein bisschen mehr Rasenfläche. Die Farbe grün gefällt mir sowieso besser als rot. Wenn ich zwei Schälchen kaufe, haben wir eine ordentliche Portion. Meine Familie wird den Unterschied nicht merken. Die Kinder gehen nicht mehr in den Garten. Dort gibt es keinen
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 08.01.2017
ISBN: 978-3-7396-9229-6
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