Sie nimmt die Post aus dem Briefkasten und steigt mit der Brötchentüte die Treppe herauf. Was für ein schöner Morgen. Ach, hätte ihre Wohnung doch einen Balkon zur Ostseite heraus, dann könnte sie jetzt dort im Sonnenschein die Zeitung lesen und die Post sortieren. Aber nein, der kleine Balkon geht Richtung Westen. Da wird das Frühstück wohl oder übel am Küchentisch bei geöffnetem Fenster stattfinden. Beim Durchsehen der Post erweckt ein giftig gelber Briefumschlag ihr Interesse. Das ist kein Werbeschreiben oder eine Rechnung, das sieht nach etwas Privatem aus. Die Farbe ist so furchtbar gelb, dass sich auf dem Weg die Treppe hoch, gleich mehrere Insekten darauf niederlassen. Gewitterfliegengelb nennt Karla diese Farbe, der sie nichts abgewinnen kann. Der Umschlag trägt keinen Absender und die Adresse ist handgeschrieben. Sie kennt niemanden, der ihr schreiben könnte. Sie hat keine Angehörigen mehr. All ihre Freunde schreiben altersgemäß entweder e-mails oder „whatsen“ sie einfach an. In der Küche angekommen, nimmt sie ein langes Messer zur Hand und schlitzt den Umschlag auf. Sie entnimmt ihm einen Zettel und liest stumm:
Ich werde dich drankriegen, das verspreche ich dir! Irgendwann machst du einen Fehler. Ich liege auf der Lauer und warte darauf. Du wirst von mir hören!
Soll das ein schlechter Witz sein? Wer will sie für was drankriegen? Fassungslos schüttelt sie den Kopf und wirft das Schreiben achtlos in den Mülleimer. Kein Grund sich ein Frühstück am offenen Fenster in der Sonne vermiesen zu lassen.
Karla und Leon stellen ihre Körbe voller Pilze auf dem Küchentisch ab. Es ist Ende Juni, kurz vor Semesterende und Leon wartet schon seit Monaten ganz ungeduldig auf die Pilzsaison.
„Toll, dass wir heute endlich Glück hatten.“
„Ja, das ist der erste Fund in diesem Jahr und dann so ergiebig. Das haben wir alles den milden Temperaturen und dem vielen Regen zu verdanken.“
„In diesem Fall bin ich dem Regen wirklich dankbar, auch wenn ich ihn sonst eher nicht mag. Und jetzt, wie geht es weiter?“
„Nur Geduld Leon, nur Geduld.“
Leon kann seit Monaten an nichts Anderes mehr denken, als an Rache an seiner Frau zu nehmen. Er hat zu viel bittere Dinge erfahren müssen, die er als angehender Jurist, vielleicht späterer Richter, nicht ungesühnt durchgehen lassen kann. Zu stark ist der Schmerz und die Enttäuschung, wie seine Frau Britta ihn hintergangen hat. Ein so perfider Plan, der sicher nicht ans Licht gekommen wäre, hätte nicht Karla ihrerseits reagiert, indem sie ihren eigenen Mann umbrachte. Leon hat dieses Thema nicht mehr zur Sprache gebracht, denn es ist eindeutig Karla gewesen, die Randolf vergiftet hat und nicht der besagte Fisch aus einem Bergrestaurant eines brasilianischen Inseldorfes.
„Zunächst werden wir die Pilze sortieren, dann säubern und zubereiten. Du übernimmst das Putzen der essbaren Mischung und ich kümmere mich um den Kahlen Krempling.“
Karla ist im Umgang mit diesem Pilz bereits geübt. Über ein halbes Duzend Personen sind diesem Pilz, von Karla geschickt verabreicht, zum Oper gefallen. Leon weiß nur von drei Fällen: Karlas Mutter, Karlas Schwester und Randolf, ihr nun toter Ehemann. Es ist schlimm genug, dass Leon über diese Opfer Bescheid weiß, aber mehr wird sie ihm sicher nicht verraten. Die Wirkungsweise des Giftes bleibt ebenfalls ihr Geheimnis. Leon nimmt an, dass die einmalige Einnahme bereits tödlich endet, aber dem ist nicht so. Man muss diesen Pilz mehrfach essen, um daran zu sterben. Gut durchgegart ist er das erste Mal ganz bekömmlich. Leon und Britta haben Karlas Mettbällchen seinerzeit sehr gut geschmeckt. Karla behält es sich in ihrem Leben vor, einen bestimmten Personenkreis mit dem Pilz zu „infizieren“. Sie will sich dabei absichern, dass ihr niemand in der Zukunft Schaden zufügen kann, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden.
„Wie genau gehen wir jetzt vor?“
„Ich schneide die Kremplinge in Scheiben und werde sie im Ofen trocknen. Das wird bei dieser Menge bestimmt ein bis zwei Tage dauern. Sie haben sehr viel Feuchtigkeit und ich darf die Temperatur nicht zu hoch wählen, damit das Gift nicht zerstört wird. Sind sie erst einmal richtig gedörrt, werde ich sie im Mörser zerkleinern, je feiner desto besser. Anschließend werde ich sie verpacken und verwahren bis der richtige Augenblick gekommen ist.“
„Wie lange hält das Pulver?“
„Ich weiß es nicht. Bestimmt ewig. Kein Grund zur Beunruhigung. Den Krempling findest du noch bis in den November hinein. Die Pilzsaison fängt gerade erst an. Du meinst es nach wie vor ernst?“
„Allerdings.“
„Vielleicht hat sich Britta geändert?“
„Es ist keine Frage des sich Änderns. Sie wird es nie wieder gut machen können. Jedesmal, wenn ich ihr in die Augen blicke, werde ich daran erinnert, dass sie mir sein Kind unterschieben wollte. Ich spüre diesen grenzenlosen Hass in mir, und ich werde nicht eher zur Ruhe kommen, bis ich sie unter der Erde weiß, direkt neben Randolf, wo sie hingehört!“
Harte Worte, die Leon von sich gibt. Seine Frau Britta hatte nach dem überraschenden Tod von Karlas Ehemann Randolf einen Nervenzusammenbruch. Unbemerkte Magersucht gepaart mit einer mittelschweren Depression ließen Leon keine Wahl, und er hat Britta in einer psychiatrischen Klinik untergebracht. Nach und nach kamen Sachen ans Tageslicht, die weder Karla noch Leon vermutet hätten. Nicht nur, dass die beiden sich seit ihrer Schulzeit kannten und früher ein Traumpaar waren, sondern dass diese Liebe ein Comeback feierte, während sie mit anderen Partnern verheiratet waren. Hätte es sich nur um eine Affäre gehandelt, wäre so manches noch zu retten gewesen, aber Randolf und Britta hatten einen ganz anderen Plan, nachdem Britta ungeplant von Randolf schwanger wurde. Randolf und Britta wollten sich mit Karlas Geld absetzten und irgendwo ganz neu beginnen. Kein Wunder, dass Britta die Panik packte, als sie zusammen mit Karla in einer Londoner Hotellobby Randolf beschatteten, der dort mit einer fremden Blondine abgestiegen war. Die Panik legte sich, Randolf fand zurück in seine alte Spur und spielte Karla weiter den liebenden Ehemann. Aber Karla lässt sich von niemandem hinters Licht führen und hatte ganz andere Pläne. Hätte sie anders gehandelt, wenn sie gewusst hätte, dass ihr Britta auf die Schliche kommt? Nein. Denn Britta weiß gar nichts, außer dass sie Karla die Schuld an Randolfs Tod gibt. Aber wer glaubt schon einer psychisch kranken Frau? Die eigentliche Gefahr ging von Leon aus, der sofort die richtige Schlussfolgerung zog, und dabei auf ihre Mutter und Schwester hinwies. Ein Segen, dass er sich zum eiskalten Racheengel gewandelt hat, der Britta nun nach dem Leben trachtet. Karla unterstützt ihn, wo und wie es nur geht, denn damit haben sie sich gegenseitig in der Hand und werden bis an ihr Lebensende über die rätselhaften Todesfälle Stillschweigen bewahren. Die Zukunft sieht somit nicht ganz so düster aus.
Karla füllt rote Gelatinekapseln mit dem getrockneten pulverisieren Pilzpulver. Leon sitzt ihr gegenüber und grübelt.
„Wir brauchen einen Plan. Wir können sie nicht hier umbringen. Wie lange dauert es, bis die tödliche Wirkung einsetzt?“
„Ich weiß es nicht, ich habe nicht auf die Uhr geschaut.“
„Okay, dann rollen wir den Fall noch mal von hinten auf. Deine Mutter und Schwester hast du an Heiligabend besucht und mit ihnen am Nachmittag den giftigen Sektcocktail getrunken. Dann bist du gegen Abend weggegangen. Deiner Mutter ging es bereits schlecht. Sie war angeschlagen und in schlechter körperlicher Verfassung. Rina ging es ebenfalls schlecht genug, um mir abzusagen.“
„Mhm.“
„Also können
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 29.05.2016
ISBN: 978-3-7396-5769-1
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Covergestaltung: Dotte Norkauer