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Die Geisterstadt

James McKenzie fuhr an diesem 8. Juli die Interstate 10 in Richtung El Paso, New Mexiko nun schon seit mehreren Stunden. Vor zwei Tagen war er in Los Angeles gestartet, mit dem Auftrag den alten Buick Baujahr 1942 zu einem Sammler nahe der mexikanischen Grenze zu bringen. Man hatte ihm dafür fünfhundert Dollar versprochen und die Hälfte vorab angeboten. Eigentlich möchte er solche Jobs nicht und hatte sich selbst geschworen nie wieder so etwas zu machen, nachdem er einmal auf dem Weg nach Seattle von einer Streife der Highway Patrol kurz nach der Staatsgrenze vom Washington angehalten worden war. Der Wagen, den er überführen sollte, hatte sich als gestohlen herausgestellt und er hatte seine lieb Müh´ gehabt, nicht im Gefängnis zu landen. Trotzdem hatte er den jetzigen Auftrag angenommen, zum einen weil er extrem pleite war, zum anderen weil dieses goldene Schmuckstück der amerikanischen Autobauer ein Gefühl von Romantik vermittelte, das fast nur Männer verstanden. Die alten Zeiten, die Freiheit auf dem Highway und der einsame-Mann-Charakter. Nun verfluchte er seine Entscheidung.

Am diesem Morgen war er von Phoenix aus zur letzten Etappe aufgebrochen und fuhr nun schon seit Stunden durch die scheinbar endlose Wüste.

New Mexiko hatte er noch nie wirklich gemocht, hier gab es nichts außer Hitze und Sand und jede Menge Giftschlangen. Mittlerweile war es 16 Uhr nachmittags und er war müde, die Außentemperatur betrug über 40°C, was nun im August nichts Ungewöhnliches war.

Die Straße vor ihm flimmerte in der Hitze und er schwitze erbärmlich, sein Rücken war schon lange klitschnass. Der Buick Century hatte keine Klimaanlage und der Fahrtwind, der durch die heruntergekurbelten Fenster hereinströmte, brachte nur wenig Linderung.

Während er immer wieder Trucks überholte und durch diese öde Landschaft fuhr, bekam er langsam aber sicher Hunger und eine Toilette müsste er auch einmal aufsuchen. Während er nach der nächsten Ausfahrt mit einem Fast Food Restaurant suchte, verschlechterte sich seine Laune noch weiter. Da er sich eh schon unwohl fühlte, spürte er noch intensiver das Spannen seines Hosenbundes über dem kleinen Bauch. Mit Anfang vierzig sah er noch recht gut aus, groß wie er war, doch das kleine Bäuchlein störte ihn seit geraumer Zeit. Auch kam seine raubeinige Art eines Straßenkaters nicht mehr so gut wie früher bei den ganzen Karrierefrauen in Los Angeles an. Dreitagebart, Jeans und Cowboystiefel waren halt nicht mehr angesagt und dass er noch nie in seinem Leben eine wirkliche Arbeit gehabt hatte, stieß nur bei wenigen auf Verständnis.

Was solls, sagte er sich, vielleicht war es einfach Zeit, der Stadt den Rücken zu kehren. Er hatte vor, in seine alte Heimat Montana zurückzukehren und auf einer Farm zu arbeiten. Aber erst einmal musste er diesen Job zu Ende bringen.

Endlich eine Ausfahrt die vielversprechend aussah. Eine Texaco Tankstelle und ein Restaurant. Er parkte vor diesem und schon traf ihn die Hitze mit voller Wucht.

Er schaute zu dem Restaurant auf und stutzte. Es handelte sich dabei um ein Diner im Stil der 40er oder 50er Jahre. Dunkelrot angestrichen war es wahrer Farbtupfer in dieser Einöde. Es hieß „Rosies Diner“ – wie originell. Als er durch die Tür ging, dachte er, er sei schnurstracks in die Vergangenheit zurück katapultiert worden. Alles war perfekt Retro. Der schwarz-weiß karierte Fliesenboden, die roten Resopaltische und die mit Kunstleder bespannten roten Sitzbänke. Das Speiseangebot war noch handgeschrieben und während er sich setzte, drehten sich langsam Ventilatoren an der Decke. Sogar die gelangweilt aussehende, hübsche Bedienung sah aus wie aus einen altem Film mit ihren toupierten Haaren und den roten Lippen. Wie es aussah, war James der einzige Gast, also setzte er sich einfach an den Tresen. Sofort kam die Bedienung mit einer Kaffeekanne in der Hand zu ihm hinüber herübergeschlendert.

„Was darf es sein?“, fragte sie kaugummikauend.

„Ein Hamburger und eine kalte Coke, bitte.“

Sie nickte und wackelte zum Kühlschrank, um das Hamburgerfleisch herauszuholen. Während es briet, kam sie wieder zu mir und stellte eine Flasche Coke vor mich.

„Sind sie auf der Durchreise?“, fragte sie ihn, anscheinend war sie wirklich an der Antwort interessiert.

Er betrachtete sie daraufhin eingehender. Sie war nicht mehr so jung wie er angenommen hatte, vielleicht Ende dreißig. Feine Fältchen hatten sich schon um die Augen und auf der Stirn gebildet. Jetzt fiel ihm auf, dass auch der Lippenstift schon leicht verschmiert war.

Er las ihr Namensschild: Marilyn, dann dachte er kurz über ihre Frage nach. Meinte sie die wirklich ernst?

„Ja, nur auf der Durchreise, Marilyn!“

Was auch sonst, denn hier war nichts, dass jemanden zum Bleiben hätte überreden können. Nicht einmal ein Motel.

Sie nickte und ging zurück zum Hamburger-Bräter, um die Fleischscheibe zu wenden und das Brötchen aufzubacken.

Er nahm einen tiefen Schluck Cola. Himmel, das tat gut. Dann schaute er durch die Fenster nach draußen. Das Licht und der Himmel hatten sich verändert, es erschien draußen dunkler, bedrohlicher. Die Sonne war durch den sich bildenden Dunst kaum noch zu sehen. Wo kamen die Wolken auf einmal her?  Starker Wind begann an den Fenstern zu rütteln.

„Oh, nein.“, hauchte die Bedienung und lief schnell zur Tür, um sie fest zu verschließen.

Die Uhr zeigte16.45 Uhr.

Der Wind wurde immer stärker und drückte förmlich die Glasfront ein und da verstand James endlich, was los war; das waren keine Wolken, das war Sand. Sand, der nun rasend schnell durch die Luft gewirbelt wurde.

Verdammt, er befand sich mitten in einem Sandsturm. Er hasste New Mexiko. Der Buick, keine zwei Meter vor dem Lokal geparkt war schon nicht mehr zu erkennen. Das Licht flackerte kurz und fiel dann ganz aus.

James wusste wie gefährlich solche Sandstürme mitten in der flachen Wüste sein konnten, vor allem wenn man auf dem Highway unterwegs war. Die Sicht sank innerhalb von Sekunden auf null und schwere Unfälle waren die Folge. Der Wind wurde bis zu 70 Meilen pro Stunde schnell und schmirgelte sämtliche Flächen, an die er angriff, glatter als jeder Sandstrahler.

Es war seltsam dunkel im Lokal und der Wind heulte immer lauter. Vor dem Lokal nur eine Wand aus Sand, undurchdringlich. Die Bedienung jammerte, doch die Fensterfront hielt.

Dann war es auf einmal alles vorbei. Eine unheimliche Stille senkte über uns. Der Sand lichtete sich langsam und schwebte zu Boden. Draußen auf der Straße wurden regelrechte Dünen sichtbar.

James konnte nun auch endlich wieder den Buick sehen. Er fluchte laut los, die ganze Fahrerseite war blank poliert, der grüne Lack abgetragen.

Es war schon ein recht merkwürdiges Bild, wie der zweifarbige Buick in den Zwielicht auftauchte, die Räder in kleinen Sanddünen. James war sich sicher, der Wagen war hinüber.

Und er saß hier – verdammt noch mal – mitten in der Pampa fest!

Die Bedienung lief zur Tür um sich die Schaden, den das Diner abbekommen hatte zu begutachten. Während er ihr folgte, legte sich auch der letzte Wind, die sengende Hitze kehrte mit voller Wucht zurück und die Sonne schien weiter erbarmungslos.

Seltsam, wie schnell der Sturm wieder fort war, ebenso schnell wie er aufgekommen war.

Als er ins Sonnenlicht trat und sich die Augen mit der Hand abschirmte, dachte er, er muss verrückt geworden sein.

Wo vorher nichts gewesen war, außer trockner Wüste und einer Dornenböschung, erstreckten sich jetzt zu beiden Seiten kleine Häuser mit Geschäften und Wohnungen die Straße hinab.

Er blinzelte, doch die Halluzinationen blieben. Neben dem Diner, wo vorher nur eine freie Fläche gewesen war, war jetzt eine altmodische Apotheke. Er stützte sich schnell am Türpfosten ab, dann ging er zum nächsten Haus und berührte es. Holz, fest, real.

Er musste den Verstand verlieren, eine Folge eines Hitzschlages oder ähnlichem. Oder er war einfach auf dem Highway eingeschlafen und hatte einen Unfall gehabt und träumte jetzt.

Langsam kam auf der Straße Bewegung auf, Menschen kamen mit Besen bewaffnet aus den Häusern und begannen, die Bürgersteige zu fegen.

Sie sahen erschreckend real aus, lachten und sprachen miteinander. Sie trugen seltsame Kleidung. Die Frauen Blusen und Wadenlange, teils ausgestellte Röcke. Ich war mir sicher, dass waren Kleidungsstücke aus den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts.

„Hey, Mister. Mister. Ist Ihnen nicht gut?“, drang eine Stimme zu ihm durch.

Er schaute auf. Ein kleiner Junge stand vor ihm, der ihn eher interessiert, denn besorgt aussah.

„Nein, alles okay mit mir.“

„Sie sehen komisch aus, von wo kommen Sie?“

Bevor er auf die Frage antworten konnte, kam eine Frau hinzu, wahrscheinlich die Mutter. Die hingegen sah ihn nun eindeutig skeptisch an.

„Komm, Denny, wir gehen.“

Damit schnappte sie die Hand des Kindes und zog es weiter.

James rappelte sich endlich wieder auf. Er lief langsam die Straße entlang. Er wusste nicht, was er tun sollte. Bis ihm einfiel, dass er ja sein Handy benutzen könnte. Er kramte unauffällig in seinen Hosentaschen, bis er das kleine schwarze Hightech-Spielzeug fand. Dann der nächste Schock, das Handy war aus und ging auch nach wiederholten Versuchen nicht mehr an. Was sollte er nun tun? Ob es hier schon Telefone gab? Aber wen sollte er anrufen, wenn er wirklich in einer anderen Zeit war?

Dieser Sandsturm war wirklich ein Fluch. Jetzt brauchte er Gewissheit, aber einen Bewohner der Stadt wollte er nicht ansprechen. In der Post fand er schließlich einen Stapel Zeitungen der Washington Post. Er schaute als erstes auf das Datum und schluckte schwer.

 

8.Juni 1947

 

Bevor er weiter nachdenken konnte, hörte er Schreie von der Straße und lief hinaus um nachzusehen, was los war. Sein Verstand arbeitete auf Hochtouren, vielleicht ein zweiter Sandsturm, der ihn in seine Zeit zurückbringen würde?

Auf der Straße hatten sich aufgeregte Menschen versammelt, die aufgeregt in den Himmel zeigten, keiner beachtete ihn mehr.

Er stellte sich dazu und versuchte mit zusammengekniffenen Augen etwas am Himmel zu erkennen. Er schaute ganz angestrengt und da war es. Ein Blitzen und Glitzern, wie bei einer Reflexion. In nicht allzu großer Höhe flogen glitzernde Objekte über die Stadt hinweg. Drei oder vier silberne, vielleicht weiße Objekte, die zu schweben schienen.

Er schaute automatisch auf seine Uhr, es war nun fast achtzehn Uhr. In drei Stunden schon würde die Sonne untergehen. Er musste einen Weg von hier weg finden. Er hatte eine innere Unruhe, die ihn zur Eile trieb, eine Art Vorahnung, obwohl er an so was eigentlich nicht glaubte. Denn da ging ihm ein Licht auf. Er war nicht irgendwo im Jahr 1947, er war am Tag des angeblichen UFO-Absturzes.

Das war kein Wetterphänomen oder ein Flugzeug und er wollte nun wirklich nicht in diese Geschichte hereingezogen werden.

Wenn nur die Hälfte der Gerüchte um diesen Tag stimmten, hätte er große Erklärungsnot, wenn hier das Militär für eine Vertuschungsaktion auftauchen und man bei ihm vielleicht noch sein Handy finden würde.

Was er über das Projekt, genannt Roswell-Zwischenfall, wusste, rekapitulierte er im Geiste:

 

Am 8.Juli 1947 sei in Roswell, New Mexiko, gar nicht weit von hier, ein unbekanntes Flugobjekt abgestürzt. Das hat zumindest der dortige Luftwaffenstützpunkt bekannt gegeben. Vom übergeordneten Stützpunkt Fort Worth, Texas kam am nächsten Tag die Meldung, es hätte sich nur um einen Wetter Ballon gehandelt.

Später hat allerdings der mit der Bergung der Trümmerteile betraute Geheimdienstoffizier Jesse Marcel ausgesagt, dass es sich um außergewöhnliche Trümmerteile gehandelt habe, die sicher nicht von einem Wetterballon gestammt hätten. Auch die US Air Force meldete sich zu Wort und sprach von einem Projekt, dass „Mogul“ genannt wurde und damals atomaren Test durch die Sowjets entdecken sollte.

Insgesamt blieben viele Fragen offen, sodass sich seit 1980 bis heute Verschwörungstheorien von UFO-Forschern halten können., denn es wurde angeblich auch in Militärkreisen von silbernen fliegenden Scheiben gesprochen und von Leichen von Außerirdischen die 1947 eine Krankenschwester im Krankenhaus des Militärflugplatzes Roswell gesehen haben will.

Die einen glauben an eine Verschwörung des Militärs um das Wahrheit in der Zeit des Kalten Krieges sowohl vor der eigenen Bevölkerung, als auch vor der Sowjetunion geheim zu halten. Andere glauben bis heute an die Vertuschung für die Existenz außerirdischen Lebens.

 

James glaubte eher an die erste Variante. Während die Menschen dieses verlassenen Ortes noch völlig fasziniert in den Himmel blickten, arbeitete James verstand auf Hochtouren weiter. Wie konnte er von hier verschwinden? Da kam ihm eine Idee. Der Buick.

An das Auto hatte er gar nicht mehr gedacht, vielleicht konnte er damit aus dieser unsäglichen Stadt entkommen. Der Wagen war zeitgemäß und sollte daher auch niemand hier besonders auffallen. Zudem war dort auch noch keine Elektronik verbaut, die wie bei seinem Handy in dieser Zeit nicht mehr funktionieren würde. So zumindest seine Theorie.

Also lief er schnell von der Post zurück zum Diner und schloss den Wagen auf.

Mit klopfendem Herzen setzte er sich hinter das Steuer und steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Würde nur noch fehlen, dass er das Ding ankurbeln müsste, dachte er ironisch.

Er drehte den Zündschlüssel um und startete den Wagen. Doch nur ein Klick war zu hören. Ihm rutschte das Herz in die Hose. Dann packte ihn die Wut. Diese verdammte Karre, brachte auch nichts außer Unglück.

Er stieg aus und trat gegen das Auto. Schlagartig traten im Tränen in die Augen. Er hatte sie doch tatsächlich den Fuß gestoßen.

Humpeln ging er zurück ins Diner, er brauchte jetzt dringend einen Whiskey. Zumindest der Dollar sollte hier noch Wert haben.

„Hallo, da sind sie ja wieder.“, begrüßte ihn die Bedienung, als wären sie alte Freunde.

„Ja.“, brummte er. „Kann ich bitten einen Whiskey on the Rocks haben? Einen Doppelten?“

„Natürlich. Haben sie auch dieses Leuchten am Himmel gesehen? Was das wohl wahr? Ich will es eigentlich auch gar nicht wissen. Es bedeutet bestimmt Ärger. Die Leute da draußen reden von Außerirdischen“, beantwortete sie ihre Frage selbst und schnaubte dabei verächtlich.

„Keine Ahnung. Sagen Sie mal, wie komme ich aus dieser Stadt raus?“

„Ihr Wagen hat wohl den Geist aufgegeben?“

Wie scharfsinnig von ihr, James verlor langsam die Geduld.

„Ja. Also?“

„Die Antwort ist gar nicht. Es sei denn jemand nimmt sie mit oder es kommt mal ein Bus hier vorbei. Wissen sie, es ist als ob man unsere Stadt vergessen hätte.“

„Ja, das glaube ich auch.“, murmelte er leise und kippte seinen Whiskey runter.

„Aber die Straße runter ist eine Werkstatt, vielleicht ist Joe da, er würde sich ihren Wagen bestimmt ansehen.“

Er dankte ihr, warf ein paar auf den Tresen und machte sich zwangsläufig zu Fuß auf den Weg zu Joe´s Werkstatt.

Dabei schaute er sich das Kaff in dem er nun festsaß einmal etwas genauer an. Abgesehen von der tödlichen Hitze und dem Fehlen von grünen Vorgärten, war es eine typische Kleinstadt im mittleren Westen in den 40er Jahren. Erste moderne Geräte waren zu sehen und auch einige Autos fuhren an ihm vorbei. Vornehmlich Farmlaster, was ihm sagte, dass im Umfeld der Stadt Ranchen oder Farmen seien mussten.

Noch immer standen die Leute auf der Straße zusammen und unterhielten sich über die nun verschwundenen Objekte. Immer wieder schnappte er das Wort Militär auf und jedes Mal beschleunigte es seine Schritte. Es war nun schon halb sieben und er wollte schnell von hier fort.

Dann blieb er schlagartig stehen. Wohin sollte er? Er war anscheinend in dieser Zeit gefangen und ein Heimweg aller „Zurück in die Zukunft“ fiel ihm auch nicht ein. Er hatte schließlich keinen Flux-Generator.

Je länger er darüber nachdachte, umso auswegloser erschien ihm seine Situation.

Dieser Ort war entweder verflucht, in einer Zeitschleife oder, weiß der Teufel, was auch immer.

Er musste mit jemanden reden. Nur mit wem?

Da hörte er plötzlich das Dröhnen von Motoren, vieler Motoren. Jemand oder eine Gruppe von Wagen war auf dem Weg in die Stadt. Eine Staubwolke im Osten zeugte davon, dass dieser jemand nicht die Straße benutzte, sondern quer durch die Wüste fuhr. Das Dröhnen kam sehr schnell näher. Es klang strak nach Jeeps.

Oh nein, das Militär war wirklich gekommen. Während die Menschen auf der Straße neugierig in Richtung des Lärmes schauten, rannte er in eine Seitengasse und versteckte sich hinter einem riesigen Müllcontainer. Es stank zwar abartig, doch seine innere Stimme sagte ihm, dass er hier bleiben sollte.

Er hörte nur selten auf sie, die ihn vergeblich vor Drogen, Frauen und krummen Geschäften gewarnt hatte, doch für seinen Überlebensinstinkt hatte sie bisher immer gut funktioniert.

Von seinem Versteck aus konnte er einen Teil der Straße sehen. Er wartete, der Lärm kam immer näher, die Leute wurden unruhig, genau wie eine Herde, die langsam eine Gefahr witterte.

Dann erklangen die ersten Schüsse, gefolgt von Schreien der Angst und dem leisen Gurgeln, der Getroffenen.

Wer auch immer es war, sie brachten die Leute auf offener Straße um.

Jetzt raste der erste Jeep auf der Straße an seinem Versteck vorbei. Ein Soldat lenkte das Gefährt, ein zweiter bediente ein aufgebautes Maschinengewehr und feuerte ringsum. Eine junge Frau, die durch die Gasse fliehen wollte, wurde regelrecht durchsiebt.

Sie fiel nicht weit von seinem Versteck leblos zu Boden, Blut sickerte unter ihrem Körper hervor.

James wurde übel und er hätte sich fast übergeben, doch er hatte Angst sich zu verraten. Also hielt er die Luft an. Weitere Jeeps rasten vorbei, doch sie feuerten nicht mehr. Bald hörten die Schüsse auf, keine Schreien waren mehr zu hören.

Er konnte es zwar nicht sehen, aber unweit der Gasse hörte er einen Jeep stoppen. Dann ertönte eine laute männliche Stimme. Sie rief Befehle, die Jeeps kamen zurück und fuhren wieder an der Gasse vorbei, diesmal langsamer. Ein Jeep hielt genau vor der Gasse.

„Zuhören.“, tönte die Stimme wieder, diesmal deutlich. Es musste sich dabei wohl um den Befehlshaber oder zumindest Anführer der Gruppe handeln.

„Durchsucht die Häuser und jeden Winkel, keiner darf uns entkommen. Saubere und vor allem schnelle Arbeit, klar? Noch Fragen?“

„Nein, Sir.“, tönten sie einstimmig, doch den Rang des Mannes konnte er nichtheraushören.

Die Soldaten strömten in Dreiertrupps aus und suchten wahrscheinlich die Häuser systematisch ab. Er hörte in dem Haus an dessen wand er gelehnt dasaß, schwere Arbeitsstiefel auf den Dielenböden stampfen.

Hin und wieder ertönte ein Schrei gefolgt von Gewehrschüssen.

Bei jedem einzelnen zuckte James zusammen, dann nach einiger Zeit hörte er die schweren Schritte am Anfang der Gasse.

Ein Soldat, vermummt mit Sturmhaube, Schritt langsam durch die Gasse. Sein Sturmgewehr immer im Anschlag. Er näherte sich der Leiche der jungen Frau und somit auch James versteckt. James hielt den Atem an, während der Soldat die Leiche mit dem Fuß umdrehte und kalt auf sie herunterblickte. Er war so nah, das James seine grünen Augen sehen konnte. Er ging noch einen Schritt vor, stand nun direkt vor dem Müllcontainer.

James war sich sicher, dass der Soldat sein vor Angst und sprachlosem entsetzen hämmerndes Herz hören konnte.

Dann feuerte er zwei Salben durch die Gasse, auch auf dem Müllcontainer. James riss in seinem Versteck den Mund zu einem wortlosen Schrei auf, doch wie durch ein Wunder verfehlten ihn die Kugeln.

Dann drehte sich der Soldat um und kehrte zu seinen sich sammelnden Kumpanen zurück.

James hatte sich in die Hose gemacht, das Blut in seinen Ohren rauschte, doch vor der Gasse konnte er das Lachen der Soldaten hören. Diese hirnlosen Drohnen machten auch noch scherze, nachdem sie eine ganze Stadt ausgelöscht hatten. James war fassungslos.

Sie steigen auf einen gebellten Befehl ihres Anführers wieder auf die Wagen und verließen die Stadt mit demselben dröhnenden Geräusch, dass das Unglück gebracht hatte.

James konnte nicht sagen wie lange er noch reglos hinter dem Container gekauert hatte.

Doch als er aufblickte, hatte der Himmel schon eine rötliche Färbung, passend zu dem Blut, dass hier vergossen worden war.

Er rappelte sich auf und verließ sich an der Wand abstützend die Gasse. Eine neue Welle von Übelkeit schwappte über ihn, als er in aufgerissenen Augen der toten Frau sah und er musste sich übergeben.

Irgendwann hörte er auf zu würgen und schleppte sich mit schweißüberströmtem Gesicht weiter.

Er ging blicklos an den Leichen vorbei, die bald vom Sand begraben werden würden. Er stieg über sie hinweg.

Jetzt, in dieser unheimlichen Stille, viel ihm zum ersten Mal auf, das in dieser Stadt keine Spur von einem Tier gewesen war, kein Hundegebell, keine Katze, geschweige denn ein Pferd, ja nicht einmal das Zirpen einer Zikade. Warum war ihm das nicht schon früher aufgefallen?

Er ging weiter und hörte auf einmal ein Wimmern. Eine Hand griff nach seinem Hosenbein und heilt in fest. Er zuckte zurück und sah hinunter auf einen älteren Mann der blutend auf dem Boden lag.

„Hilf mir.“, flehte er mit gebrochener Stimme, dann erlosch das Licht in seinen Augen und er sackte zusammen.

Der Mann schien jetzt schnell zu verblassen, wie eine Halluzination, löste er sich langsam auf.

Hektisch sah James sich um, auch die anderen Leichen verschwanden, je weiter die Sonne am Horizont unterging. Ein Schatten berührte die Leiche des Mannes und er verschwand daraufhin vollends.

James schrie auf und rannte los, mit letzter Kraft in Richtung Sonnenuntergang. Die Angst vor den Schatten trieb ihn an.

Doch am Stadtrand war keine Straße mehr. Vor ihm lag nur Wüste und am Horizont stand die blutrote Sonne. Er ging noch einige Schritte, dann schaute er zu Boden.

Nun draußen vor der Stadt, aus der es kein Entkommen gab und die vom Militär niedergemetzelt worden war, fand er das Stadtschild halb im Sand versteckt.

Er nahm es hoch.

 

Willkommen in der Stadt

 

DUST

 

im Staub erbaut, soll sie im Staub vergehen

 

Er sah zurück zur der stillen Stadt, auch die Straße, die auf der anderen Seite hinausführte, war mittlerweile von den sich ausbreitenden Schatten verschluckt worden.

Er verstand die Bedeutung dessen; an diesem Ort war etwas Entsetzliches und Unverzeihliches geschehen. Er war Zeuge einer vergessenen Stadt und ihrer tragischen Geschichte geworden.

Niemand würde es je erfahren, doch die Geister der Toten kamen jedes Jahr zurück um ihr grausiges Schicksal wieder und wieder zu erleben.

Mit einem Mal wurde James ganz ruhig. Er setzte sich hin und sah der untergehenden Sonne zu, während die Geisterstadt mit ihm in den immer länger werdenden Schatten verschwand.

 

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Tag der Veröffentlichung: 04.07.2014

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