Mein Name ist Scarlett Barrymore. Manche nennen mich eine Hexe.
Vielleicht liegt das daran, dass ich auch eine bin. Zumindest war meine Großmutter eine, das steht schon einmal fest. Und obwohl sie der festen Überzeugung war, mir ihre Kräfte weitergegeben zu haben, kann ich an mir nichts Magisches entdecken. Ich kann weder auf einem Besen durch die Luft fliegen noch mich unsichtbar machen oder tolle Zaubersprüche sprechen. Alles, was ich kann, ist über das Schicksal anderer Menschen zu entscheiden, und das reicht mir.
Man sagt, alles Schlechte hat auch etwas Gutes, man muss es nur finden. Und das habe ich. Ich habe mein Glück im Unglück in drei Rosenbüschen gefunden, als ich nach dem Tod meiner Großeltern in ihr Haus eingezogen bin.
Für meine Großmutter waren ihre Rosenbüsche das Wichtigste. Sie hatte drei davon.
Meine liebe Scarlett,
ich schreibe dir diesen Brief, um dir einige Fragen zu beantworten.
27. Oktober
Wie jeden Tag verlasse ich mein Haus heute um kurz nach zwei, um rechtzeitig vor drei Uhr in der Arbeit zu sein und sicher zu gehen, dass ich noch genügend Zeit habe, um alles für den Abend vorzubereiten. Ich bin gerne diejenige, die etwas früher kommt, den Laden aufschließt und in Ruhe alle Arbeiten erledigt, die noch erledigt werden müssen. Ich lebe alleine, also was soll ich sonst den ganzen Tag lang tun? Meine Arbeit ist sozusagen mein Leben – oder zumindest die eine Hälfte meines Lebens, den anderen Teil nimmt mein Garten ein. Aber anders als mein Garten, würde in der Bar, in der ich arbeite, ohne mir alles drunter und drüber gehen, immerhin gehört mir der Laden. Alle verlassen sich dort auf mich und bauen darauf, dass ich wie jeden Tag etwas früher komme und dafür sorge, dass alles glatt läuft. Immerhin ist das mein Job.
Es ist nicht dein Job. Du hältst es nur nicht aus, nicht alles zu kontrollieren, höre ich die Stimme meiner Großmutter in meinem Kopf. Ich weiß nicht, ob ich mir dieses Flüstern nur einbilde, aber seit ihrem Tod höre ich ständig ihre Stimme, die zu mir spricht. Sie hat zwar gesagt, sie würde immer in meiner Nähe sein, aber man kann es auch übertreiben. Anfangs fand ich es unheimlich, die Stimme meiner toten Großmutter zu hören. Mit der Zeit wurden ihre ständigen Einwürfe nervig, aber mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt.
Auf dem Weg zu meinem Auto – einem roten Audi A4 –, das wie immer brav in der Auffahrt zu meinem Haus parkt, kann ich aus den Augenwinkeln erkennen, dass etwas nicht stimmt. Sofort bleibe ich stehen und sehe mich um, um herauszufinden, was anders ist, als sonst, bis ich es entdecke.
Schnell krame ich den Schlüssel noch einmal aus meiner Handtasche und sperre damit das Schloss meines Gartentores auf. Ja, es ist etwas ungewöhnlich, sein Gartenschloss abzuschließen, doch wenn einem etwas derart viel bedeutet, dann will man es um jeden Preis schützen.
Ich spreche von den Rosen meiner Großmutter. Seit ihrem Tod musste ich zusehen, wie der Garten immer mehr verwilderte, da sich niemand darum gekümmert hat. Deshalb habe ich eines Tages den Entschluss getroffen, mich selbst um ihn zu kümmern, wie meine Großmutter es damals getan hatte.
Nun bin ich zweiundzwanzig Jahre alt und wohne alleine in dem großen, alten Haus. Meine Eltern haben beschlossen, sich ein Ferienhaus am Meer zu kaufen, wo sie nun die meiste Zeit ihres Lebens verbringen. Es stört mich nicht, alleine zu leben, denn ich habe meine Rosen. Das klingt vielleicht verrückt und einsam, doch die Rosenbüsche, die im hintersten Bereich meines Gartens wachsen, bereiten mir mehr Freuden, als man denkt. Vor nicht allzu langer Zeit erst, habe ich das so wohl behütete Geheimnis dieser majestätischen Blumen herausgefunden. Jetzt verstehe ich auch, warum Großmutter so viel an ihnen lag. Mit diesen Rosen kann ich das Leben so gestalten, wie ich es will: Die weiße Rose gibt mir die Macht, Leben zu schenken. Die Schwarze, Leben zu nehmen und die Rote trägt den süßen Fluch der Liebe.
Den Weg zu meinen Rosen lege ich schon fast im Laufschritt zurück, um auch ja keine Sekunde mehr zu verlieren. Von einer der dunkelroten Blüten, die ich am liebsten mag, ist ein Blatt abgefallen und zu Boden gesegelt. Früher habe ich jedes Mal, wenn das passiert ist, sofort gespürt, wie mein Herz in meiner Brust vor Aufregung begonnen hat, schneller zu schlagen. Besonders an windigen Tagen habe ich keine Ruhe gefunden, weshalb ich vor jedem Sturm ein Netz über meine Rosen gespannt habe, damit auch ja kein Blatt verloren geht. Nachdem ich nächtelang kein Auge mehr zugemacht habe, habe ich dann beschlossen, eine Art großen Vogelkäfig um meine Rosen aufzubauen, dessen Stäbe so knapp aneinander gesetzt sind, dass kein Blütenblatt entwischen kann. Seitdem habe ich einen weitaus ruhigeren Schlaf und die merkwürdigen Blicke der Nachbarn ignoriere ich geflissentlich.
Vorsichtig hebe ich das Blütenblatt vom Boden auf und streiche behutsam mit dem Daumen darüber. Es fühlt sich samtig weich und angenehm an, was ein weiterer Grund dafür ist, dass dieser Rosenstock mein Liebling ist. Der Hauptgrund ist natürlich – wie sollte es anders sein – die Farbe. Das tiefe, sinnliche rot steht stellvertretend für die Liebe und mir gefällt der Gedanke, dass eine Einzige dieser Blüten ausreicht, um jemanden dazu zu bringen, sich zu verlieben.
Obwohl der Oktober sich schon dem Ende zuneigt, trägt dieser eine Rosenstock noch Blüten. Vermutlich ist das der Grund, warum meine Nachbarn mich als Hexe bezeichnen, überlege ich. Aber ich kann nichts für das Durchhaltevermögen dieser Pflanze. Nicht ich habe sie gepflanzt, sondern meine Großmutter, lange vor ihrem Tod.
Und es freut mich, dass sie dir noch nicht eingegangen sind.
Ich sehe mich um. Normalerweise bringe ich die abgefallenen Blüten sofort ins Haus, wo ich sie in verschiedenen Glasbehältern aufbewahre, doch heute habe ich nicht die Zeit dazu, immerhin habe ich hier schon genug Zeit verschwendet. Ich werde das Blatt wohl oder übel mit in die Arbeit nehmen müssen. Das kann was werden, denke ich. Ich seufze und sehe mich dabei noch einmal um, während ich die Gittertür zu meinen Rosen wieder schließe.
Aus den Augenwinkeln kann ich dabei in einem der Fenster des Nachbarhauses einen weißen Haarschopf erkennen. Sofort setze ich mein bestes falsches Lächeln auf und winke der Dame zu, die neben mir wohnt. Als sie merkt, dass ich sie entdeckt habe, lässt sie schnell den Vorhang, den sie immer in der Hand hält, wenn sie mich beobachtet, wieder fallen und verschwindet vom Fenster, als würde ich dadurch vergessen, dass ich sie gesehen habe. Noch im selben Moment verschwindet mein Lächeln wieder, da ohnehin meine Backen bereits zu schmerzen angefangen haben, und wende mich von dem Haus ab.
Ignoriere sie einfach.
Ich weiß ja, dass mein Verhalten, was meine Rosen angeht, für meine Nachbarn etwas… nun ja, eigenwillig erscheinen mag, doch wenn sie wüssten, was ich weiß, dann würden sie es bestimmt verstehen. So wundern sie sich nur, treffen sich gemeinsam auf eine Tasse Kaffee und reden über die merkwürdige Neue, die die ganze Nacht lang wegbleibt und tagsüber nichts Besseres zu tun hat, als akribisch nach abgefallenen Blütenblättern zu suchen. Komischerweise hat mich noch keiner von ihnen gefragt, warum es mir so wichtig ist, mich um diese Pflanzen zu kümmern – vermutlich ist es ihnen auch egal, sie brauchen nur etwas, über das sie reden können und ich, als jüngste in der Straße, komme ihnen da ganz gelegen.
Meine Nachbarn halten mich für eine Hexe.
Mich haben sie auch eine Hexe genannt…
Aber bei dir war es nicht weithergeholt, Großmutter, denke ich. Ich bin immerhin keine Hexe. Ich arbeite in einer Bar namens „Black Rose“, weshalb ich die ganze Nacht lang auf den Beinen bin und tagsüber meistens schlafe. Es wundert mich ja, warum sie mich nicht eher für einen Vampir halten…
Gedankenverloren schlendere ich zurück zu meinem Auto, sperre das Gartentor hinter mir ab und mache mich ausnahmsweise mit einer kleinen Verspätung auf den Weg zur Arbeit.
Du bist eine Hexe, Scarlett, so wie ich eine bin.
Die Autofahrt zur Bar dauert eine knappe Viertelstunde, ich parke wie immer direkt vor dem Hintereingang des Gebäudes, was der Vorteil daran ist, sein eigener Herr zu sein.
Ich habe die Bar vor einem guten Jahr übernommen, damals war ich einundzwanzig. Zugegeben, im Nachhinein gesehen ist mir klar, dass ich die Entscheidung, selbstständig zu sein, etwas überstürzt getroffen habe. Damals habe ich noch nicht gewusst, was alles auf mich zukommen würde. Immer noch muss ich schmunzeln, wenn ich an diese Zeit zurückdenke. Ich habe es mir eindeutig einfacher vorgestellt, ein Lokal zu führen. Wenn ich mich nicht hundertprozentig auf meine Freunde, die als Kellner in der Bar arbeiten, verlassen hätte können, dann wäre die ganze Angelegenheit ganz schnell den Bach runtergegangen. Nur durch ihre Unterstützung konnte sich langsam alles nach und nach einpendeln.
Mittlerweile habe ich keine Probleme mehr damit, die Getränke zu bestellen, die Dienstpläne zu schreiben, dafür zu sorgen, dass jemand montagmorgens das Chaos beseitigt und, und, und. Alles läuft mittlerweile wie geschmiert, ich kann mich wirklich nicht beschweren.
Zufrieden sehe ich mich im „Black Rose“, wie ich die Bar nach der Neueröffnung getauft habe, um. Direkt gegenüber des Eingangs, auf der anderen Seite des langen Raumes, befindet sich die aus dunklem Holz geschnitzte Theke, auf der die mit rotem Samt überzogenen Barhocker noch aufgestellt sind. Das gläserne Regal hinter der Theke, auf dem diverse Gläser und Flaschen stehen, ist in einem sanften Rot beleuchtet, das dem gesamten Lokal einen mystischen Touch verleiht.
Ich finde es zu dunkel.
Ich verdrehe genervt die Augen. Natürlich ist mir klar, dass das kein Laden ist, in den meine Großmutter gegangen wäre. Also ignoriere ich ihren Einwurf und lasse meinen Blick weiter über die Einrichtung schweifen: Rechts vor der Theke befindet sich eine geschwungene Treppe, die zu dem oberen Rang führt. Dieser erstreckt sich über die kleinen, separaten Nischen, die sich links und rechts im Erdgeschoß befinden. Getrennt werden sie durch Wände, die mit einer dunkelroten Tapete mit schwarzem Blumenmuster darauf überzogen sind. Links und rechts neben dem Eingang befindet sich jeweils ein Kleiderständer, der die Form eines schwarzen, kahlen Baumgerüsts hat und bis zum oberen Rang hochreicht. Beleuchtet wird der Raum fast ausschließlich durch hohe Salzsteinlampen, die der ganzen Atmosphäre etwas Wärme verleihen.
Ich liebe die Einrichtung, auch wenn der Umbau beinahe das gesamte Erbe meiner Großeltern verschluckt hat. Zwar kommt das Geld mit den täglichen Einnahmen langsam wieder rein, aber eben nur langsam. Ich habe jedoch keinerlei Zweifel daran, dass sich die Umgestaltung der Bar gelohnt hat: seitdem brummt der Laden nur so. Die ausgefallene Einrichtung, der ausgewogene Musikmix und die Nischen, in denen kleine Gruppen etwas abgeschiedener Sitzen können, ziehen die unterschiedlichsten Leute an. Genau das ist es, was ich an meinem Beruf liebe: die Vielfalt. Keine Nacht ist wie die andere, kein Gast ist wie der andere.
Gedankenversunken wische ich mit einem feuchten Tuch über die Theke, auf der noch ganz eindeutig die klebrigen Ränder der Gläser zu sehen sind, die gestern dort gestanden haben. Ich muss unbedingt ein ernstes Wort mit Aline sprechen, denke ich dabei. Ich verstehe zwar, dass der Schlussdienst sonntagabends alles andere als eine Freude ist, doch solange ihre Arbeit nicht getan ist, darf sie nicht nach Hause gehen – so einfach ist das. Das habe ich ihr nun schon mehr als einmal gesagt.
Als ich mich umdrehe, um das Tuch in dem kleinen Waschbecken in der Ecke auszuwaschen, beobachte ich meine Reflexion in den Spiegeln, die die Rückseite des Regals bilden, das sich hinter der Bar erstreckt. Meine hellblonden Haare habe ich zu einem Pferdeschwanz gebunden, aus dem sich bereits die ersten Strähnen wieder lösen. Ich habe keine Lust dazu, sie erneut zusammenzubinden, die Frisur wird den Abend schon überstehen. Immerhin ist mein Make-Up perfekt und lässt meine grünen Augen strahlen, das ist das Wichtigste.
Du sollst nicht immer nach dem Äußeren gehen, Scarlett.
Ich greife in meine Hosentasche, um zu überprüfen, ob das Blütenblatt auch sicher noch da ist. Man sollte meinen, dass es bereits verrunzelt, braun geworden oder verwelkt sein müsste, doch das ist es nicht. Ich weiß nicht genau, wie diese Rosen das machen, doch sie bleiben in genau dem Zustand, in dem sie von der Blüte gefallen sind. Zumindest so lange, wie ich das will.
In diesem Moment fliegt die Tür auf und Aline kommt hereinspaziert. Erschrocken werfe ich einen kurzen Blick auf meine Armbanduhr – die Zeit ist viel zu schnell vergangen. Deswegen komme ich lieber früher. Wenn ich heute nicht etwas spät dran gewesen wäre, dann wäre ich jetzt schon mit allem fertig. So muss ich noch die Stühle von den Tischen nehmen, die Aschenbecher verteilen, die Getränke auffüllen und so weiter. Ich weiß nicht genau, warum ich ein solches Problem damit habe, mir von Aline und meinen anderen Angestellten helfen zu lassen. Eigentlich sind es ja mehr als Angestellte, es sind meine Freunde und trotzdem ist es mir lieber, mich selbst um alles zu kümmern und sicherzugehen, dass auch alles korrekt abläuft. Vielleicht liegt es ja daran, dass ich ziemlich viel Geld in die Bar gesteckt habe und daher befürchte, alles so hart Erarbeitete zu verlieren. Zwar bin ich mir nicht ganz sicher, inwiefern etwas Hilfe so etwas bewirken könnte, doch ich kann dieses Gefühl einfach nicht abstellen.
„Schon wieder eine?“, fragt Aline mich lächelnd, mit dem Blick auf das Blütenblatt geheftet. „Wie viele hast du denn von den Dingern?“
„Genug“, gebe ich zurück. „Die gehen mir nicht so schnell aus.“
„Dachte ich mir schon.“ Fröhlich hüpft sie an mir vorbei, wobei ihre knallroten Haare, die sie zu einem Pferdeschwanz gebunden hat, nur so durch die Luft fliegen. Aline ist vermutlich auch einer der Gründe, warum der Laden so gut läuft, überlege ich, als ich sie dabei beobachte. Sie ist sehr hübsch, das ist schon einmal ein großes Plus. Außerdem kommt ihre fröhliche und aufgeschlossene Art unheimlich gut an, und ihre Piercings, die bunten Haare und ihre tätowierten Arme locken alle möglichen Kulturkreise an. Gut, ich bin auch tätowiert, aber die drei Rosen, die von meinem linken Schlüsselbein bis zur Schulter gezeichnet sind, werden meistens von T-Shirts oder ähnlichem überdeckt. Es gibt nur sehr wenige Menschen auf diesem Planeten, die von meinem Tattoo wissen, ich halte es aber auch gut versteckt. Nur die Leute, denen ich am meisten vertraue, erfahren davon. Aline kennt mein Tattoo.
„Sei ehrlich“, fügt sie hinzu, nachdem sie ihre Tasche im Hinterzimmer abgelegt hat und zu mir zurückkommt, um mir zu helfen. „Was begeistert dich nur so an den Rosen? Das würde mich echt mal interessieren.“
Ich zucke so gleichgültig wie möglich mit den Schultern. „Sie können Leute verzaubern“, gebe ich dann zurück, ohne sie dabei anzusehen. Das dunkelrote Blütenblatt habe ich bereits wieder eingesteckt, um es nicht zu verlieren. Mittlerweile bin ich dabei, die sauberen Aschenbecher auf den Tischen rund um die Bar zu verteilen, da Aline das gestern Nach auch nicht mehr getan hat. Doch im Moment habe ich einfach keine Lust dazu, sie darauf anzusprechen – ein anderes Mal bestimmt.
Aline muss lachen, als sie sich daran macht, mir zu helfen. „Ach, können sie das, ja?“
Ich werfe ihr einen kurzen Blick zu. „Du glaubst mir nicht?“ Als sie nur lachend den Kopf schüttelt, ziehe ich das Blütenblatt erneut hervor und hebe es demonstrativ in die Luft, damit Aline es auch deutlich sehen kann. „Ich werde es dir beweisen. Dank diesem Blatt hier wird sich heute Nacht jemand verlieben.“
Die Anzeichen habe ich schon früh erkannt.
In den letzten Stunden hat sich die Bar schnell gefüllt und obwohl mit mir nun schon drei Kellner am Werk sind, haben wir immer noch alle Hände voll zu tun, um nicht die Kontrolle über den Laden zu verlieren. Dass wir die einzige Bar in der näheren Umgebung sind, die auch unter der Woche geöffnet hat und Alkohol ausschenkt, ist zu gleichen Teilen gut wie auch schlecht. Zum einen ist der Andrang kaum zu bändigen – nicht nur die versteckten Nischen, für die Michael verantwortlich ist, sondern auch die Bar an sich ist völlig überfüllt – und jede Nacht erfordert von unserem Team Höchstleistungen, doch zum anderen sind die Einnahmen unter der Woche nicht unbeträchtlich. Zwar sind diese nicht so hoch wie am Wochenende, aber der zusätzliche Gewinn ist definitiv nicht schlecht. Besonders, wenn ich daran denke, was ich um dieses Geld kaufen könnte: neue Gläser, hübsche Kellneruniformen,…
„Scar“, höre ich Michael, einen meiner Kellner, meinen Namen rufen und hebe gerade noch rechtzeitig den Kopf, um zu sehen, wie er mir eine Flasche Rum zuwirft, die ich geschickt aus der Luft fange. Auch wenn ich dieses Benehmen bereits von ihm gewöhnt bin, werfe ich ihm einen strengen Blick zu, der eindeutig sagt, dass so etwas nicht noch einmal vorkommen soll. Michael scheint das allerdings nicht weiter zu stören. Er grinst mich nur an, wobei seine grünen, katzenartigen Augen im Licht der Scheinwerfer, die durch den Raum wandern, aufblitzen, und ruft: „Zwei mal Cuba Libre.“
Kopfschüttelnd mache ich mich daran, die Getränke zuzubereiten, obwohl er das bestimmt auch alleine ganz gut zusammengebracht hätte. Immerhin ist das nicht mehr sein erster Tag, ich habe ihm das Mixen von Cocktails schon lange beigebracht und trotzdem scheint es ihm lieber zu sein, sich mit vollgefüllten Tabletts unter die Gäste zu mischen, anstatt selbst Getränke zuzubereiten. Mir soll es recht sein, dann muss ich mich zumindest nicht abmühen. Mit Schwung schiebe ich die beiden gefüllten Gläser zu Michael hinüber, der sie lächelnd entgegennimmt und mir kurz zuzwinkert, bevor er sie auf ein großes, bereits bis zum Rand gefülltes Tablett stellt und sich damit auf den Weg macht.
Zugegeben, Michael sieht nicht schlecht aus und bestimmt sind einige der weiblichen Gäste nur wegen ihm und John, der heute frei hat, hier. Michael – Mick – ist ein ziemlich großer, muskulöser Typ mit kurzen blonden Haaren und zwei breiten, schwarzen Ringen um den linken Oberarm tätowiert, von denen ich mich immer noch frage, was sie zu bedeuten haben. Doch ich würde ihn nie danach fragen, vermutlich weil ich befürchte, eine enttäuschende Antwort zu erhalten – Mick ist nicht gerade der hellste, aber er hat Charme und das ist es meiner Meinung nach, was einen guten Kellner ausmacht. Das und die Tatsache, dass er in seinem kleinen Finger mehr Kraft hat, als ich in meinem Leben je haben werde.
Schnell wende ich den Blick von ihm ab, um nicht zu vergessen, weshalb ich eigentlich hier bin: zum Arbeiten. Immer mehr wartende Gäste drängen sich an Aline und mich zur Bar heran und rufen uns Getränkebestellungen zu, die wir in Windeseile zubereiten und hinausgeben. Meine Blase drückt schon seit über einer Stunde, doch es ist keine Zeit, um kurz auf die Toilette zu verschwinden, ich kann Aline hier nicht alleine lassen, besonders, da Mick sich vehement weigert, hinter der Bar auszuhelfen. In meinem Kopf stelle ich mir immer wieder den Haufen an Geldscheinen vor, den wir heute Abend einnehmen werden, woraufhin es mir augenblicklich besser geht.
„Und, hat sich schon jemand dank deiner Rose verliebt?“, ruft mir Aline über den Lärm und die laute Musik hinweg zu, während sie eine leere Plastikflasche an mir vorbei in den Mülleimer wirft.
Grinsend schüttle ich den Kopf, das Rosenblatt ist immer noch sicher in meiner Hosentasche verwahrt – der Zauber ist noch nicht gesprochen. „Noch nicht. Aber bald.“
Aus den Augenwinkeln kann ich sehen, wie Aline ungläubig aber trotzdem lachend den Kopf schüttelt und sich ein Tablett schnappt, auf dem ein Stapel sauberer Aschenbecher und ein feuchtes Tuch liegen, mit dem sie immer wieder die verklebten Tische abwischt. Mit dem Tablett hoch über ihrem Kopf gestreckt drängt sie sich durch die beinahe undurchdringbare Menge, während ich weiterhin Getränke zubereite, jedoch nicht ohne ihr von Zeit zu Zeit einen prüfenden Blick zuzuwerfen. Ich vertraue Aline, keine Frage. Von den fünf Leuten, die im „Black Rose“ aushelfen, ist sie mir die Liebste, nicht nur wegen ihrer liebenswerten, aufgedrehten Art oder der Tatsache, dass sie sich in Situationen wie dieser nicht aus der Ruhe bringen lässt. Ich mag sie als Freundin, sie ist einer dieser wenigen Menschen, auf die man sich bedingungslos verlassen kann. Ich weiß, dass sie mich niemals im Stich lassen würde, genauso wie ich sie niemals im Stich lassen würde.
Es tut mir in der Seele weh, dass ich sie belügen muss.
Dann sag ihr die Wahrheit.
So weit bin ich noch nicht.
„Ich glaube, jetzt haben wir es langsam geschafft“, meint Mick, der die leeren Gläser neben mir in den Korb für den Gläserwäscher einräumt.
Mit einem Blick auf die immer weniger werdenden Gäste, die an der Bar lehnen und allesamt bereits ein Getränk in der Hand haben, nicke ich. „Das wird auch langsam Zeit“, sage ich, als ich mich zu ihm umdrehe. „Man sollte meinen, die müssen morgen alle arbeiten.“
„Arbeit wird überschätzt. Lieber Geld ausgeben, als einnehmen.“
„Solange sie das bei uns tun, habe ich kein Problem damit“, rufe ich Michael nach, als er sich bereits wieder auf den Weg zu den Gästen macht. An seiner Stelle taucht Aline aus dem Gewühl auf, die mich breit angrinst. „Schon jemand verliebt?“
Ich seufze und lasse mich neben ihr gegen die Bar sinken, wobei ich meinen Blick über die Menge wandern lasse. „Wen hättest du denn gerne?“
Sie zeigt mit dem Kinn auf einen jungen Mann, der ungefähr so alt ist, wie ich.
Der gefällt mir. Großmutter, bitte. Allerdings hat sie nicht ganz unrecht.
Das Erste, was mir an ihm auffällt, sind seine hellblauen Augen, die suchend durch die Bar schweifen. Zugegeben, er sieht ganz gut aus, aber auch etwas verloren und das ist etwas, das ich an Männern ganz und gar nicht ausstehen kann. Auch seine Kleidung ist nicht wirklich mein Fall: er trägt eine dunkle Hose und ein hellblaues Hemd, als würde er gerade von seinem langweiligen Bürojob kommen. Unwillkürlich frage ich mich, was jemand wie er wohl arbeitet.
„Der da“, meint Aline bestimmt.
„Okay.“ Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Ich liebe es, Leute zu verzaubern. „Und in wen soll er sich verlieben?“
Zwischen Alines Augen entstehen tiefe Falten, als sie sich in der Bar umsieht, auf der Suche nach einer Partnerin für den verlorenen Jungen. Als sie jemanden ins Auge gefasst hat, drängt sie sich näher an mich, ohne sie dabei aus den Augen zu lassen. „Die dort, mit den dunklen Haaren. Siehst du sie?“
Ich nicke und verziehe dabei das Gesicht. Ich sehe sie nicht nur, ich kenne sie sogar. Mehr oder weniger zumindest. Ihr Name ist Vanessa – Vanessa Allington – sie ist einer unserer Stammgäste und geht jeden Abend mit einer neuen Eroberung nach Hause. Ich kann sie nicht ausstehen. „Willst du den armen Jungen quälen?“, frage ich Aline, wobei ich ihr einen kurzen Blick zuwerfe. Natürlich denkt sie, dass das alles ohnehin nur Unsinn ist, doch ich weiß es besser. Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich eine gute Idee ist. Ich kenne den Mann nicht, ich will ihm nicht sein Leben zerstören, nur weil ich ihn dazu bringe, sich ich Vanessa Allington zu verlieben. Sie wird ihm das Herz aus der Brust reißen und darauf herumtrampeln, ich sehe es schon ganz deutlich vor mir.
„Na klar“, meint Aline, wobei ihre Stimme mit einem Mal ganz aufgeregt klingt. Es ist ihr also wirklich ernst – der Ärmste.
Überleg es dir gut, Scarlett.
Ich seufze und richte mich wieder auf, als der junge Mann, den Aline mit ihrer Wahl ins Verderben stürzen möchte, auf die Bar zugeschlendert kommt. Ich werfe ihr noch einen kurzen Blick zu, um zu sagen „und jetzt pass gut auf“, dann wende ich mich mit einem einladenden Lächeln an ihn. „Hi“, sage ich, um ihn wissen zu lassen, dass ich ihn nicht übersehen habe. „Was kann ich für dich tun?“
Er zögert eine Sekunde, als wüsste er das selbst nicht so genau, und fährt sich mit einer Hand ratlos durch das dunkelbraune, dichte Haar. Einen Moment lang frage ich mich, ob er überhaupt etwas bestellen möchte, doch dann kommt er näher an die Bar, um nicht wie ich laut durch den Raum schreien zu müssen, und sagt: „Ich hätte gerne eine Tasse Tee, Schwarztee, wenn es geht.“
Ich lege die Stirn in Falten und bin kurz davor, ihn zu fragen, ob das sein Ernst ist. Wer kommt in eine Bar, um dort Tee zu trinken? Doch dann besinne ich mich eines Besseren, zucke kurz mit den Schultern und gebe Aline ein Zeichen, damit sie ihm seinen Schwarztee zubereitet, was sie auch ohne zu zögern tut.
„Schwarztee, wie außergewöhnlich“, wende ich mich unterdessen wieder an unseren Auserwählten, der mich mit seinen eisblauen Augen fragend ansieht, als wüsste er nicht, was ich damit meine. Ich kann nicht anders, als ihn anzulächeln. Auch wenn ich seine Unsicherheit anfangs als No-Go betrachtete habe, muss ich jetzt jedoch sagen, dass er irgendwie süß wirkt. Er macht den Anschein, als würde er einfach nicht hierher gehören – das ist nicht seine Welt. „Wenn du mir deinen Namen verrätst, dann geht der Tee aufs Haus.“
Er lächelt, lässt den Blick aber schnell wieder sinken, als hätte er Angst, rot zu werden. „Louis“, sagt er dann leise. „Louis Grantham.“
„Also dann, Louis Grantham“, wiederhole ich seinen Namen, um ihn nicht so schnell zu vergessen. Dabei nehme ich Aline das kleine Tablett ab, auf dem sich der Tee, etwas Milch und Zucker befinden. „Ich beglückwünsche Sie hiermit zu einer völlig kostenfreien und hoffentlich deliziösen Tasse Schwarztees. Lassen Sie ihn sich schmecken.“
Immer noch lächelt er ohne mich dabei anzusehen und nimmt mir seine Bestellung ab. „Vielen Dank.“ Gerade dreht er sich um und ich stecke bereits meine Hand in meine Hosentasche, um das Rosenblatt hervorzuziehen, als er noch einmal stehen bleibt und sich halb in meine Richtung wendet. Er zögert, doch dann fragt er etwas verunsichert: „Wie ist eigentlich dein Name?“
„Scar.“
„-lett“, fügt Aline hinzu, als sie sich zu mir drängt. „Ihr Name ist Scarlett.“
Louis nickt etwas verwirrt, bevor er sich umdreht und endgültig davon spaziert, auf einen inzwischen leer gewordenen Tisch zu, um den herum schwere, dunkle Ledersessel stehen. Vorsichtig stellt er seine Tasse auf dem niedrigen Tisch ab und setzt sich. Ich frage mich immer noch, was mit ihm nicht stimmt, doch ich komme nicht dazu, noch länger darüber nachzudenken, da Aline mir plötzlich einen Stoß mit dem Ellbogen verpasst.
„Au.“ Verärgert wende ich mich an sie. „Was sollte das?“
„Ich dachte, er soll sich in Vanessa verlieben und nicht in dich.“
Meine Augen verengen sich automatisch, als sie das sagt. Was soll das heißen? Es ist ja nicht so, als hätte ich es darauf abgesehen, dass er sich in mich verliebt, ich wollte nur seinen Namen erfahren, damit der Zauber auch wirken kann. Ohne seinem Namen bringt mir das Blütenblatt in meiner Tasche rein gar nichts. „Das wird er“, versichere ich ihr noch einmal und füge dann etwas beleidigt hinzu: „Außerdem ist er gar nicht mein Typ, wie er dort sitzt und… liest?“ Ich kann meinen Augen nicht trauen, als ich meinen Blick noch einmal zu ihm schweifen lasse und dabei sehe, wie er dort sitzt, an seiner Teetasse nippt und in ein Buch vertieft scheint. Ganz ehrlich, wie soll man bei diesem Lärm lesen? Verständnislos schüttle ich den Kopf.
Du solltest auch mehr lesen, meine Kleine.
„Da hast du vielleicht recht“, meint Aline etwas nachdenklich. Sie hat sich mit den Ellbogen auf der Bar abgestützt und ihren Kopf auf ihren Händen platziert, so beobachtet nun auch sie Louis. „Aber Mick ist dein Typ.“
Ungläubig wandert mein Blick zu ihr, doch sie scheint mich nicht einmal zu beachten. „Wie bitte?“
Auf meine Worte hin sieht sie mich kurz an. „Ach, ich bitte dich. Da läuft doch was, oder?“
Völlig perplex schüttle ich den Kopf und will ihr gerade erklären, dass es mir nie im Leben in den Sinn käme, etwas mit einem Frauenhelden wie Michael anzufangen, als er auch schon auf uns zugesteuert kommt und weiter den Gläserspüler einräumt. „Na, um wen geht es diesmal?“, fragt er dabei über seine Schulter. „Ihr habt doch schon wieder an irgendjemandem etwas auszusetzen.“
„Ja“, erwidere ich ihm schnell, bevor Aline dazu kommt, etwas zu sagen. „Dieser Typ da hinten hat ernsthaft Tee bestellt und jetzt liest er ein Buch.“
Mit gerunzelter Stirn dreht Mick sich zu uns um und blickt mich völlig ernst an. „Soll ich den Mistkerl rauswerfen?“
Genervt verdrehe ich die Augen und wende mich wieder genau diesem Mistkerl zu. Es scheint ihn wirklich nicht zu stören, dass das der denkbar ungünstigste Ort ist, um zu lesen.
„Nein, der ist schon genug gestraft“, erklärt Aline Mick inzwischen, der sich mit einem Stapel frischer Aschenbecher bereits wieder auf den Weg macht. „Der wird sich heute noch in Van Allington verlieben.“
Ach ja, da war doch noch was. Augenblicklich richte ich mich kerzengerade auf und greife nach dem Rosenblatt in meiner hinteren Hosentasche.
Überleg es dir, Scarlett.
„Bist du bereit?“, frage ich Aline, die sich wieder neben mich gestellt hat und nun aufgeregt nickt. Ich lege das Blatt auf meine flache Hand und flüstere „Louis Grantham. Vanessa Allington“, bevor ich Luft hole und das Blatt von meiner Handfläche puste. Noch während es sich in die Luft erhebt, beginnt es langsam zu zerbröckeln und zerfällt zu Staub.
„Wow“, flüstert Aline neben mir. „Also schon alleine mit dem Trick könntest du im Zirkus arbeiten.“
Ich muss lächeln. „Wart’s nur ab“, sage ich. „Das war noch lange nicht alles.“
„Du glaubst doch nicht wirklich, dass sich die beiden verlieben werden, oder? Ich meine, die kommen aus völlig verschiedenen Welten: das Partygirl und der britische Gentleman, das kann einfach nicht gut gehen.“
„Wart’s ab“, wiederhole ich, als ich merke, wie Vanessa an Louis vorbeischleicht, auf dem Weg zur Toilette, und er mit einem Mal sein Buch sinken lässt, als wäre es ohnehin nur Dekoration gewesen. Vorhin hat er niemanden in der Bar länger als fünf Sekunden ansehen können, doch nun sieht er Vanessa hinterher, als seien seine Augen magnetisch mit ihr verbunden. Um ehrlich zu sein, gefällt mir das nicht. Ich kenne Louis nicht. Ich weiß nicht, ob ich er eine Freundin hat oder ob Vanessa überhaupt sein Typ ist. Womöglich habe ich gerade eben sein ganzes Leben zerstört: Van wird ihn mit hinunterziehen, das ist schon einmal klar. Sie wird ihn benutzen und wenn sie ihren Spaß gehabt hat, wird sie ihn fallen lassen, wie eine heiße Kartoffel.
„Und was genau soll ich abwarten?“, fragt Aline mich, als Vanessa zurückkehrt und an ihm vorbeigeht, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. Er zögert einen Moment, doch dann steht er von seinem Sessel auf und folgt ihr, genauso, wie ich es erwartet habe.
„Das Ende von Louis Grantham, dem Jungen, der in eine Bar geht, um zu lesen.“
Hexen haben eine ausgeprägte Gefühlwahrnehmung.
28. Oktober
Der Zauber von gestern Nacht geht mir einfach nicht aus dem Kopf.
Ich hab dir gesagt, du sollst es dir noch einmal überlegen.
Heute ist einer der wenigen Tage, an denen ich ausschlafen kann und mir keine Gedanken darum machen muss, in die Arbeit zu gehen: Eigentlich habe ich frei, doch trotzdem hängen meine Gedanken im „Black Rose“.
Schon zum fünften Mal diesen Morgen werfe ich einen Blick auf mein Handy, um zu sehen, wie spät es ist, da ich diese Nacht kaum ein Auge zugemacht habe. Schlechtes Gewissen, sagt meine Vernunft, doch ich rede mir ein, dass es an etwas anderem liegen muss. Vielleicht liegt es daran, dass ich mich bei dem Gedanken, heute nicht selbst hinter der Bar zu stehen, nicht wohl fühle. Ich weiß, dass Aline mich gut vertreten wird und dass sie mich anruft, sobald etwas nicht in Ordnung ist, trotzdem lässt mich das Gefühl nicht los, dass etwas nicht stimmt.
Was kann das wohl sein?
Ich werfe einen weiteren Blick auf mein Handy. Es ist erst kurz nach sieben Uhr am Morgen und ich halte es schon nicht mehr aus, auch nur eine Sekunde länger im Bett zu liegen und nichts zu tun. Ich muss mich ablenken. Mit einem tiefen Stöhnen klettere ich aus dem Bett, schlüpfe in meinen Bademantel und schleiche unruhig durch das Haus. Manche Leute verschwinden morgens als allererstes ins Bad – ich mache mich auf den Weg zu meinem Wintergarten, von dem aus ich freie Sicht auf meine Rosenstöcke habe, um zu überprüfen, ob auch noch kein weiteres Blatt abgefallen ist. Es liegt keines auf dem Boden, das war also nicht der Grund für meine Unruhe. Nur was ist es dann? Eigentlich liegt der Grund ja auf der Hand: Ich habe schlechtes Gewissen wegen Louis. Er scheint ein wirklich netter Kerl zu sein und ich bringe ihn dazu, sich in ein Männer fressendes Ungeheuer zu verlieben. Vielleicht sollte ich den Fluch wieder aufheben, überlege ich. Ich will ihm ja nichts Böses. Die Rose der Liebe ist ja eigentlich dazu gedacht, Leute glücklich zu machen, und nicht, sie ins Unglück zu stürzen.
Ich gehe zurück in die Küche, wo ich mir zuallererst einmal eine Tasse Kaffee zubereite, um richtig wach zu werden. Während ich darauf warte, dass die heiße, dunkle Flüssigkeit in meine Tasse rinnt, lasse ich meinen Blick über die Glasbehältnisse auf einem meiner Küchenregale wandern, in denen ich die abgefallenen Blütenblätter aufbewahre. Ganz vorne stehen die drei Gefäße, in denen sich die Blüten der Rosen befinden, die meine Großmutter damals eigenhändig eingesetzt hat: rot, weiß und schwarz. Sie stehen für Liebe, Leben und den Tod. Die weiße und die schwarze Rose tragen jedes Jahr nur jeweils eine einzige Blüte, auf sie muss ich am meisten aufpassen. Nicht auszudenken, wenn jemand, der ihre Kräfte nicht kennt, die Blätter in die Finger bekommt.
Die anderen Sorten, wie gelb, pink oder orange, habe ich selbst gezüchtet. Es ist gar nicht so einfach, diese Rosen zu züchten, immerhin sollen sie ja auch ihren Zweck erfüllen.
Leider gibt es keine Rose, die einem dabei hilft, eine Entscheidung zu treffen – das wäre es, was ich im Moment brauche. So einfach ist das Ganze nicht. Ich seufze und wende den Blick von den Blütenblättern ab. Eigentlich sollte mir die Entscheidung, das Richtige zu tun, gar nicht schwer fallen, überlege ich.
Mein Blick wandert durch das Fenster erneut hinaus zu den Rosenstöcken. Ich müsste nur ein Blatt abreißen und Louis erneut damit verzaubern und alles wäre wieder wie zuvor. Er würde aufwachen und sich fragen, was er nur in jemandem wie Vanessa gesehen hat. Dann würde er sein Leben weiterleben wie zuvor und jemanden finden, der wirklich zu ihm passt.
Ich bin unschlüssig, was ich tun soll. Normalerweise stelle ich meine Entscheidungen nicht in Frage. Ich weiß, was ich tue, nur dieses Mal ist es anders. Ich habe schon von Anfang an kein gutes Gefühl bei der Sache gehabt. Vielleicht liegt das nur daran, dass dieser Zauber nicht meine Idee gewesen ist, vielleicht empfinde ich aber auch nur Mitleid mit Louis. Warum weiß ich allerdings selbst nicht, mittlerweile zaubere ich nun schon seit mehreren Jahren mit meinen Rosenblättern und bisher war es mir immer egal, wen der Fluch getroffen hat. Darum bin ich auch noch nie in die Verlegenheit gekommen, einen Zauber rückgängig machen zu müssen. Blätter von einem Rosenbusch abzureißen ist meiner Meinung nach Verschwendung, da sie dann das Gegenteil ihrer eigentlichen Aufgabe erfüllen. Das bedeutet, die dunkelrote Rose, die dafür gedacht ist, Menschen dazu zu bringen, sich zu verlieben, würde diese Liebe augenblicklich verpuffen lassen. Unter normalen Umständen würde ich es nicht einmal in Erwägung ziehen, eines der Blütenblätter abzureißen, doch vielleicht ist das in diesem Fall das Beste…
Ich verstehe es einfach nicht. Diese kleinen Zauber dienten mir bisher immer nur dazu, meinen Spaß zu haben, nichts weiter. Ich habe es jede Woche mit hunderten von Leuten zu tun – irgendwann verliert man den Überblick und das Interesse daran, wie es diesen Menschen geht. Es ist mir egal, ob sich jemand meinetwegen verliebt, eifersüchtig wird oder sonst etwas. Bleibt nur die Frage: Was ist der Unterschied zwischen all diesen Leuten und Louis? Das Buch alleine kann es wohl nicht sein. Was er wohl gelesen hat? Ich beiße die Zähne zusammen und schließe einen Moment lang die Augen. Es reicht.
Hättest du nur auf mich gehört, Scarlett.
Ich schlinge den Bademantel dichter um meinen Körper, für den Fall, dass es draußen kalt sein sollte, und mache mich ohne auf die Worte meiner Großmutter einzugehen auf den Weg in den Garten. Doch als ich vor dem dunkelroten Rosenbusch stehe und bereits die Hand nach einer der Blüten ausstrecke, zögere ich. Was interessiert es mich, ob er mit Vanessa glücklich wird oder nicht? Es geht mich nichts an, vermutlich werde ich ihn nie wieder sehen – ich muss ihn nur aus meinem Kopf verbannen… Ich seufze und lasse die Hand wieder sinken. Diese Unschlüssigkeit ist etwas völlig Neues für mich. Normalerweise halte ich mich an die Regel: wenn ich mir nicht sofort sicher bin, dann lasse ich es. Also sollte ich es lassen.
Ich hätte gerne eine Tasse Tee, Schwarztee, wenn es geht. Seine Worte gehen mir einfach nicht mehr aus dem Kopf.
Für einen Moment schließe ich die Augen. Hätte er sein dummes Buch nicht einfach zuhause lesen können? So wie jeder andere auch? Entweder man will ausgehen und Spaß haben oder man will seine Ruhe haben, aber doch nicht beides!
Als ich die Augen wieder öffne, sehe ich wieder einmal den weißen Haarschopf meiner Nachbarin hinter dem Spitzenvorhang hervorblitzen und ich spüre eine plötzlich austeigende Wut in mir. Hat sie denn wirklich nichts Besseres zu tun, als mir ständig hinterher zu spionieren? Hat sie in ihren neunzig Jahren, die sie bereits auf dieser Erde verbracht hat, noch nicht genug Blondinen gesehen, die im Bademantel in ihrem Garten herumschleichen?
Du solltest dich geehrt fühlen, dass du offenbar spannender bist als der Rest ihres Lebens, Scarlett. Ärgere dich nicht über sie.
Leichter gesagt, als getan. Mein Blick wandert zu der schwarzen Rose, an der nur noch drei Blütenblätter lose am Stiel hängen und jeden Tag abfallen können, und ich beschließe einen Deal mit dem Schicksal zu machen. Fall, denke ich, während ich die Blätter weiter beobachte. Wenn eines der Blütenblätter fällt, werde ich nicht zögern, es einzusetzen. Wenn nicht, dann hatte die alte Dame noch einmal Glück.
Ein kalter Windstoß fährt mir durchs Haar und bringt die Rosenbüsche gefährlich zum Schwanken. Für einen Moment schließe ich die Augen, da ich die losen Blätter in meinem Kopf bereits fallen sehe, und stelle widerstrebend fest, dass ich mir wünsche, keine der schwarzen Blätter würde fallen. Es ist nicht so, als ob ich sie noch nie benutzt hätte, aber bisher dienten sie mir immer nur dazu, Spinnen oder Insekten in meinem Haus zu erlegen – ich habe sie noch nie für Menschen benutzt. Vielleicht wird das gleich das erste Mal werden. Mein Herz macht bei dem Gedanken einen empörten Satz, doch das ignoriere ich.
Ich halte meine Augen eine Sekunde länger als nötig geschlossen, bevor ich sie wieder öffne und das Gras vor meinen Füßen absuche. Mein Blick wandert zu der schwarzen Rose: drei Blütenblätter, keines ist abgefallen. Es ist eine merkwürdige Mischung aus Erleichterung und Enttäuschung, die ich bei dieser Erkenntnis verspüre. Irgendwann muss das erste Mal sein, sagt ein Teil in mir, doch ein anderer widerspricht. Ich will doch niemanden mit den Rosen umbringen, sondern nur meinen Spaß haben!
Ich wende mich wieder zu dem Haus meiner Nachbarin, die immer noch deutlich hinter dem Fenster zu sehen ist. Dieses Mal macht sie sich nicht einmal die Mühe, so zu tun, als würde sie mich nichts beobachten. Glück gehabt, alte Frau, denke ich und wende mich von ihr ab. Beim Gehen reiße ich noch beiläufig eines der dunkelroten Blätter ab. Das Schicksal hat gesprochen.
Ich weiß, dass du einen starken Sinn für Gerechtigkeit hast, Scarlett.
Mit vollen Einkaufstaschen beladen marschiere ich auf das „Black Rose“ zu, das sich in einem alten Gemäuer einer Nebenstraße befindet. Ausnahmsweise kann ich heute nicht direkt vor dem Hintereingang der Bar parken, da dieser Parkplatz bereits besetzt ist – Aline kann nicht wissen, dass ich an meinem freien Tag vorbeischauen werde, also nehme ich es ihr nicht übel, dass sie ihr Auto auf meinem Parkplatz abstellt.
Mittlerweile ist es bereits finster und der Weg hinter der Bar wird nur spärlich mit Straßenlaternen beleuchtet, aber daran bin ich schon gewöhnt. Ich weiß, wo ich hinsteigen muss, um mir nicht den Knöcheln in einem Loch im Asphalt zu verstauchen oder gegen den Randstein zu laufen. Immerhin tappe ich diesen Weg jeden Tag blind entlang.
Mit dem Rücken stoße ich die schwere Tür auf, die meistens nur angelehnt ist, und zwänge mich durch den engen Heizungsraum, in dem sich auch die Müllcontainer befinden – mit den vielen Einkaufstüten gestaltet sich das allerdings als schwierig. Hier drin brennt Licht, was mich allerdings nicht weiter verwundert. Es ist Herbst, Aline hat also die Heizung eingeschalten. Dadurch, dass sich die Bar in einem sehr alten Gemäuer mit dicken Wänden befindet, ist es darin ohne Heizung schnell kalt. Man darf also auf gar keinen Fall vergessen, die Türen ordentlich zu verschließen.
Ich stoße die letzte Tür auf, durch die man direkt hinter die Theke gelangt, und stelle die Tüten links von mir auf dem Gläserwäscher ab, da ich langsam das Gefühl habe, meine Hände fallen jeden Moment ab, so schwer sind sie.
„Scar, was machst du denn hier?“ Alines Stimme klingt schon fast schockiert, als sie mich entdeckt. Vermutlich hat sie das Gefühl, ich würde ihr nicht genug vertrauen, um ihr den Laden für eine Nacht zu überlassen, aber das stimmt nicht. Ich habe sie schon oft im „Black Rose“ alleine gelassen und bisher hat es noch nie Schwierigkeiten gegeben. Ich bin auch nicht hier, um sie zu überwachen, sondern um den Zauber rückgängig zu machen.
„Ich war einkaufen und hab gleich was für die Bar mitgenommen“, erkläre ich ihr, während ich meinen Blick über die wenigen Gäste an den Tischen schweifen lasse. Es ist noch sehr früh, keine Frage, aber für Vanessa ist es nie zu früh, um Spaß zu haben. Erst als ich weder sie noch Louis irgendwo entdecken kann, wende ich mich an Aline. Sie hat die Hände in die Hüften gestemmt und sieht mich an, doch ich ignoriere ihren fragenden Blick. „Ist Van schon hier?“
Aline seufzt und lässt die Arme sinken. „Nein. Aber wenn sie jetzt noch nicht da ist, dann wird sie auch nicht mehr kommen.“
Ich nicke, weil ich weiß, dass sie recht hat, aber es gefällt mir nicht. Ich muss mindestens einen der beiden vor mir haben, um den Fluch aufzuheben. Aber was, wenn das gar nicht nötig ist? Wenn die Tatsache, dass Vanessa heute nicht hier ist, um jemanden mit nach Hause zu nehmen, bedeutet, dass sie dort schon jemanden hat? Ich wollte doch nur, dass Louis sich verliebt, nicht Vanessa.
Aber wenn ich mich nun geirrt habe und die beiden wirklich für einander bestimmt sind?
Ungläubig schüttle ich den Kopf. „Das ist doch unfassbar.“
„Das ist es allerdings“, stimmt Aline mir bei. „Sie setzt hier gerade ihren Rekord aufs Spiel. Bisher war sie an jedem Tag, an dem wir geöffnet hatten, hier, und jetzt… Vielleicht ist sie ja krank.“ Als ich Aline nichts erwidere, fügt sie lachend hinzu: „Oder dein Zauber hat wirklich funktioniert und sie hat es aufgegeben, auf Beutezug zu gehen.“
Ich bemühe mich um ein möglichst ungezwungenes Lächeln, als ich Aline kurz ansehe, bevor ich mich daran mache, die Einkaufstüten auszupacken. „Und du hast mir nicht geglaubt“, sage ich dabei. „Ich habe dir doch gesagt, dass diese Rosenblätter es in sich haben.“
Aline verdreht die Augen. „Noch ist nicht bewiesen, dass er sich wirklich in Van verliebt hat. Dass er mit ihr nach Hause gegangen ist, ist dafür kein eindeutiges Zeichen. Ansonsten wäre ja die halbe Stadt in Vanessa verliebt.“ Sie grinst, doch ich gehe nicht darauf ein. Ich versuche, mir meine Anspannung nicht anmerken zu lassen. Er ist mit ihr nach Hause gegangen, das ist doch wohl Beweis genug. Ein Mann, der mit Hemd und Buch in eine Bar geht und dort Tee bestellt, ist nicht darauf aus, abgeschleppt zu werden. Aber ich verzichte darauf, meine Gedanken weiter auszuführen. Besonders, da Aline bereits fortfährt: „Aber andererseits, ich hätte gewettet, dass sie bei ihm abblitzt. Ich meine, was sollte jemand wie er von Van wollen?“
Das frage ich mich allerdings auch, doch ich sage nichts dazu.
„Ich verstehe ja, was Vanessa in ihm sieht. Du kannst nicht behaupten, dass er nicht unheimlich süß ist.“
„Kann ich nicht“, erwidere ich ihr, während ich die leere Einkaufstüte zerknülle und in den Mülleimer stopfe. Als ich mich umdrehe, steht Aline mit einem Mal vor mir und mustert mich mit einem berechnenden Lächeln auf den Lippen. „Was?“, frage ich sie. „Was ist los?“
„Du bist verknallt“, stellt sie fest. „In einen Jungen, der Tee trinkt.“
Fassungslos schüttle ich den Kopf, doch ich kann nicht verhindern, dass meine Wangen rot werden, darum wende ich mich schnell von Aline ab. Mein Blick wandert über die Theke vor mir. Es muss doch irgendetwas zu tun geben, um mich abzulenken. Irgendetwas ist immer zu tun. Schließlich entscheide ich mich dazu, die ohnehin sauberen Aschenbecher neben dem Gläserspüler in den Korb einzuschlichten. „Das, meine Liebe, ist völliger Unsinn“, sage ich dabei, ohne Aline anzusehen.
Du kannst uns nichts vormachen, Scarlett.
„Ach.“ Aline lehnt sich neben mir an die Wand und mustert mich eingehend. Wenn sie die Worte meiner Großmutter eben gehört hätte, dann würde sie ihr nun voller Überzeugung zustimmen. „Deshalb bist du also in Wahrheit hier. Du hoffst, dass Van ihn mitnimmt.“
„Wäre doch toll“, erwidere ich ihr, immer noch ohne sie anzusehen. „Mehr Gäste, mehr Geld.“
„Ich soll dir glauben, dass es dir nur um den Umsatz geht? Der Tee-Junge interessiert dich nicht?“ Als ich den Kopf schüttle, fügt Aline hinzu: „Dann interessiert es dich bestimmt auch nicht, dass Camille gerade gekommen ist.“
Automatisch hebe ich den Kopf, um zu sehen, ob das auch stimmt. Ihre wasserstoffblonden Haare kann ich sogar von hier aus sehen. Camille ist sozusagen Vans Fan Nummer eins, oder ihre beste Freundin, je nachdem. Normalerweise macht sie ohne Vanessa nicht einen Schritt, doch heute ist es anders: Camille ist alleine.
Ich werfe Aline einen kurzen Blick zu, die mich erwartungsvoll mustert. Was erwartet sie sich? Dass ich enttäuscht bin? Bin ich auch, aber zum einen würde ich das nie zugeben und zum anderen hat das einen ganz anderen Grund, als sie denkt. Es hat zwar mit Van und Louis zu tun, aber es liegt bestimmt nicht daran, dass ich in ihn verknallt bin. Ich will doch nur den Fluch rückgängig machen, sonst nichts.
Rede dir das nur ein.
Es ist die Wahrheit, Großmutter, denke ich, bevor ich mich an Aline wende.
„Hast du nichts zu arbeiten?“, frage ich sie, bevor ich ihr den Rücken kehre und auf Camille zu spaziere, um ihr die Getränkekarte zu überreichen. Sie ist, wie Van, einer unserer Stammgäste und ich weiß natürlich, was sie trinken will, doch die Karte ist auch nur ein Vorwand, um mit ihr ins Gespräch zu kommen. „Bist du heute alleine, Cam?“
Sie nimmt mir die Karte ab, legt sie allerdings sofort wieder auf dem Tisch ab, da sie sie nicht braucht. In Gedanken bereite ich ihr bereits ihren Martini zu. „Die anderen kommen noch“, erwidert sie mir mit ihrer piepsigen Stimme, die einem ziemlich auf die Nerven gehen kann. Zwar klingt Camille kurz angebunden, doch an der Art, wie sie mich ansieht, merke ich, dass sie hofft, ich würde nicht sofort wieder gehen. Das habe ich auch nicht vor – zumindest nicht, bis ich weiß, was ich wissen will.
„Ich habe mich schon gewundert, dass Van noch gar nicht da ist“, sage ich so nebenbei wie möglich, um Camille keinen Verdacht schöpfen zu lassen. Andererseits, Cam ist nicht sonderlich clever. Sie würde auch nicht stutzig werden, wenn ich sie direkt nach Vanessas gestriger Eroberung fragen würde.
Camille zuckt mit den Schultern. „Ich denke, sie wird heute nicht kommen. Sie meinte, sie will den Tag mit ihrem neuen Freund verbringen.“
„Ihrem Freund?“ Meine Stimme klingt ungewollt erschrockener, als ich geplant habe. Warum das so ist, weiß ich allerdings nicht. Ich bin einfach überrascht, das Ganze ging ja unheimlich schnell. Der Zauber hat gewirkt, keine Frage.
Natürlich hat er das, auf meine Rosen ist eben Verlass.
„Warum überrascht das bloß jeden?“ Cam schüttelt verständnislos den Kopf. „Ich weiß, Van macht nicht den Anschein danach, aber tief in ihrem Inneren hat sie schon länger den Wunsch nach einer festen Beziehung und endlich hat sie jemanden gefunden, der ihr gut tut.“
„Moment“, unterbreche ich sie, da Camille gerade spricht, als würden Vanessa und ihr neuer Freund sich bereits seit Jahren kennen. Vielleicht ist es ja gar nicht Louis Grantham. Ich ignoriere Alines Blicke in meinem Rücken und auch diesen merkwürdigen Hoffnungsschimmer, der sich bei diesem Gedanken in mir breit macht, und rede einfach weiter: „Wir reden hier aber schon von dem Jungen, den sie gestern mit nach Hause genommen hat, oder? Ich meine, den, mit dem Buch.“
Etwas verwirrt nickt Camille. „Ja, genau der. Warum fragst du?“
„Weil sie sich gestern erst kennengelernt haben. Wie können sie jetzt schon in einer Beziehung sein?“ Bilde ich mir das nur ein oder klingt meine Stimme etwas gereizt? Ich muss mich beruhigen, immerhin kann Camille nichts für Vanessas Verhalten.
„Tja“, höre ich Aline hinter mir sagen, die Cam bereits ihren Martini serviert, obwohl sie noch nicht einmal bestellt hat. „Wenn es passt, dann passt es eben. Die Macht der Liebe, nicht wahr, Scar?“
Tag der Veröffentlichung: 13.11.2014
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