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1

 

Der heutige Tag erschien sogar noch trostloser und dunkler, als normalerweise. Es war unfassbar kalt, was die Arbeit nur noch erschwerte, da die Erde dadurch fast gefroren war. Bei diesem Wetter nach etwas zu graben, war beinahe ein Ding der Unmöglichkeit.

Mit Schwung steckte Theodor die Schaufel, mit der er gerade noch nach den heißbegehrten Bodenschätzen gegraben hatte, in die Erde und lehnte sich erschöpft gegen den hölzernen Griff. Mit der anderen Hand strich er sich die vom Schweiß feuchten Haare aus dem Gesicht. Die Arbeit schien von Tag zu Tag schwerer zu werden und das, obwohl er schon seit Wochen nichts mehr in der staubigen, bröckeligen Erde gefunden hatte – so wie jeder andere Arbeiter auch. Es gab hier nichts mehr zu finden, da einfach nichts mehr übrig war. Sie hatten bereits alles, was das Land hergab, an die Gesandten des Königs übergeben. Es war nichts mehr übrig. Die ganze, anstrengende Arbeit war völlig um sonst. Die Arbeiter wussten das und auch der König, doch es war ihm egal. Er wollte nicht wahrhaben, dass ihr Reich dem Untergang geweiht war.

„Theo“, hörte er plötzlich jemanden seinen Namen flüstern. Die Stimme, die zu ihm sprach, war so leise, dass er sie beinahe nicht gehört hätte. Es fiel ihm sogar schwer, zuzuordnen, von wo das Flüstern gekommen war.

Theodor richtete sich wieder auf und sah sich um: Rund um ihn herum war nichts außer halbgefrorener, rötlicher Erde, in die hunderte von Arbeitern gerade Löcher schlugen und schaufelten. Alle waren völlig in ihre Arbeit vertieft, da keiner den Mut dazu hatte, auch nur für eine Sekunde ihr Werkzeug zur Seite zu legen und das, obwohl die Wachen nicht einmal in der Nähe waren.

„Theo“, hörte er die Stimme noch einmal, nun etwas lauter und auch deutlicher. In diesem Moment erkannte Theodor, zu wem die Stimme gehörte und fuhr herum, um seinen Schwager unter der Menschenmasse zu suchen.

„Was?“, fragte er zurück, als er ihn endlich gefunden hatte. Im Gegensatz zu Stefan machte er sich nicht die Mühe, leise zu sprechen, da er ganz genau wusste, dass keine Gefahr drohte. Er ließ die Schaufel zu Boden fallen und näherte sich ihm, doch Stefan hatte sich bereits wieder seiner Arbeit gewidmet. Mit Schwung stieß er die Schaufel in Richtung Boden, prallte jedoch auf der betongleichen Erde ab. Er fluchte und strich sich dabei die schweißnassen, blonden Haarsträhnen aus dem Gesicht. Er atmete schwer, wobei sein Atem kleine Rauchwolken in die eisige Luft zauberte. Stefan war das absolute Gegenteil von ihm, dachte Theodor. Nicht nur charakterlich, sondern auch Äußerlich. Während er eher schmal gebaut war und dunkle Augen und Haare besaß, war Stefan ein richtiger Kraftprotz. Seine Muskeln traten deutlich hervor, während er immer und immer wieder die Schaufel gegen den Boden stemmte, jedoch ohne Erfolg. Wenn nicht einmal ein Muskelpaket wie Stefan es schaffte, durch die Erde zu dringen, wie sollte dann jemand anderer dazu in der Lage sein?

„Was ist denn?“, fragte Theodor noch einmal, als er keine Antwort bekam. Langsam fragte er sich, warum Stefan ihn überhaupt gerufen hatte, wenn er ihn doch nur ignorierte.

Es dauerte auch noch eine ganze Weile, bis er sich an Theodor wandte, wenn auch nur für eine Sekunde. „Willst du nicht arbeiten?“, fragte er ihn, völlig außer Atem. „Oder legst du es wieder darauf an, Ärger zu bekommen?“

Theodor verdrehte die Augen. Stefans Sorgen waren bestimmt nicht unbegründet, aber er ließ die Angst vor den Wachen sein Leben bestimmen. Er lebte in ständiger Furcht, sogar zuhause befürchtete er ständig, etwas falschzumachen. Leider war er damit – wenn man sich hier so umsah – nicht der Einzige.

„So kann das nicht weitergehen“, sagte Theodor dann, als ihm das bewusst wurde. „Wir können nicht den ganzen Tag damit verschwenden, hier nach etwas zu suchen, was gar nicht da ist.“

„Hör auf“, unterbrach Stefan ihn mit strenger Stimme, wobei er kurz mit seiner Arbeit innehielt, um ihn anzusehen. „So etwas darfst du nicht sagen.“

„Warum? Weil es dem König nicht gefällt? Er muss langsam einsehen, dass das alles keinen Sinn mehr hat. Wir schuften uns hier noch zu Tode und wozu?“

„Theodor“, ermahnte sein Schwager ihn noch einmal, während er nach seiner Schaufel griff, um mit seiner Arbeit fortzufahren. „Geh wieder an die Arbeit.“

„Aber-“

„Wenn du dir Ärger einhandeln willst, dann tu, was du nicht lassen kannst. Aber halt mich aus dieser Sache raus.“ Mit diesen Worten kehrte Stefan ihm den Rücken zu und machte sich wieder an die Arbeit. Theodor wusste, dass es keinen Sinn hatte, weiter mit ihm zu diskutieren. Für Stefan war das Gespräch nun offiziell zu Ende. Aber für ihn nicht. „Weißt du, Stefan, genau dieses Verhalten ist schuld daran, dass sich hier nichts ändert.“

„Und dein Verhalten wird schon bald daran schuld sein, dass du im Verlies des Königs landest.“

„Aber-“, setzte er an, brach den Satz aber ab, da plötzlich ein markerschütternder Schrei die eisige Luft durschnitt wie Butter. Theodor richtete sich kerzengerade auf und sah sich um, um herauszufinden, woher der Schrei gekommen war. Er merkte, dass auch die anderen Arbeiter in ihrer Bewegung kurz innhielten und aufsahen, wenn auch nicht für lange. Noch bevor er herausfinden konnte, was passiert war, drückte Stefan ihm auch schon einen Beil in die Hand und machte sich selbst schnell an die Arbeit, was nur bedeuten konnte, dass die Wachen in der Nähe waren. Und da sah er sie auch schon: einige Meter von ihm entfernt standen drei von ihnen um einen Mann herum gruppiert, der auf dem Boden lag. Theodor konnte sich bereits denken, was dort geschah, denn dieses Szenario sah er nicht zum ersten Mal. Nur dieses Mal würde er nicht tatenlos zusehen. Er ließ den Beil fallen, den Stefan ihm in die Hand gedrückt hatte, straffte den Rücken und wollte auf die Männer zugehen, als sein Schwager ihn mit festen Griff zurückzog und ihm die Hand auf den Mund legte.

„Du mischst dich da nicht ein, hast du verstanden?“

Als Theodor nur etwas Unverständliches in Stefans Hand murmelte und dabei beobachtete, wie die Männer den völlig zerschundenen Mann mit sich schleiften, ließ er ihn los. „Gott, Stefan, was soll das? Ich will nicht länger nur zusehen.“

„Das musst du aber“, erwiderte Stefan ihm streng. „Denk an Sierra und das Baby. Wenn du meine sie im Stich lässt, nur um deinen übertriebenen Sinn für Gerechtigkeit auszuüben, dann wirst du dir noch wünschen, im Verlies des Königs zu enden, das kannst du mir glauben.“

Theodor merkte, wie sich vor Wut seine Kieferknochen anspannten. Er hatte nicht vor, sie im Stich zu lassen, weder Sierra, noch ihr Kind. Aber das bedeutete nicht, tatenlos mitanzusehen, wie ständig Leute verschleppt und wegen nichts gefangen genommen oder sogar getötet wurden. Auch sie hatten eine Familie, so wie er. „Das sagst du jetzt“, erwiderte er Stefan, als er den Großteil seiner Wut hinuntergeschluckt hatte. „Und wenn du der nächste bist? Erwartest du dann auch von mir, stumm dazustehen und zuzusehen?“

Es dauerte unheimlich lange, bis Stefan ihm eine Antwort gab. Eine gefühlte Ewigkeit lang sah er ihn nur ausdruckslos an und Theodor kam nicht um den Gedanken herum, dass Stefan wohl noch nie eine so lange Pause von seiner Arbeit gemacht hatte, wie jetzt gerade. Schließlich ließ er seinen Blick sinken und festigte den Griff um seine Schaufel. „Wenn ich der nächste sein sollte, dann soll es wohl so sein.“

Theodor schluckte. Mit dieser Antwort hatte er beim besten Willen nicht gerechnet. Stefan wusste doch genauso gut wie er, dass er das nicht tun konnte. Er war nicht nur sein Freund, sondern auch Teil seiner Familie, warum konnte Stefan das nicht begreifen?

Als Theodor weiterhin schwieg, griff Stefan erneut nach dem Spaten, den Theodor fallen gelassen hatte und hielt ihn ihm erneut entgegen. „Und jetzt mach dich wieder an die Arbeit, die Wachen können jeden Moment zurückkommen und ich will nicht, dass sie dich als nächsten mitnehmen.“

Theodor nahm ihm stumm das Werkzeug ab. Die Lust, mit ihm zu streiten, war ihm eindeutig vergangen. Während Stefan sich wieder daran machte, für nichts und wieder nichts mit der Schaufel in die betonartige Erde einzustechen, legte Theodor den Kopf in den Nacken und betrachtete die rot-bräunliche, steinerne Decke, die sich über das gesamte Land erstreckte. Irgendwann, dachte er. Irgendwann würde er von hier verschwinden und die anderen würden ihm folgen. Dann würden sie endlich sehen, dass das, dieses Leben, nicht alles war. Es konnte nicht alles sein. Es musste noch eine Welt geben, außerhalb von dieser Hölle, anders konnte er es sich nicht vorstellen.

Theodor seufzte und machte sich wieder auf den Weg zurück zu dem Platz, wo er seine Werkzeuge zurückgelassen hatte, ließ Stefans Spaten zu Boden fallen und nahm seine eigene Schaufel wieder in die Hand, jedoch nur, um sie gleich darauf wieder zu Boden zu werfen. Langsam hatte er genug davon, jeden Tag dieselbe, anstrengende und vor allem nutzlose Arbeit zu machen. Sie führte ohnehin zu nichts. Etwas musste geschehen. Doch noch bevor Theodor sich überlegen konnte, was genau das sein sollte, machte sich eine plötzliche Unruhe unter den Arbeitenden breit. Das konnte nur eines bedeuten: Die Wachen kehrten zurück.

Widerstrebend bückte Theo sich, um wieder nach seinem Werkzeug zu greifen. Auch wenn er nicht viel von dieser Arbeit hielt, musste er sie doch ausführen, um bei dem König nicht in Ungnade zu fallen. Das war das letzte, was er wollte, denn es würde bedeuten, nicht mehr zur Versorgung seiner Familie beitragen zu können. Er beobachtete die Wachen in ihren Uniformen, wie sie durch die arbeitenden Massen schlichen, auf der Suche nach jemandem, der aus der Reihe tanzte, um ihn festnehmen zu können. Sie waren auf der Suche nach jemandem wie ihm.

 

2

 

Die Lichter der Stadt wurden langsam ausgelöscht, als Theodor sich schließlich auf den Weg nach Hause machte. Jeden Tag verließ er das Haus bevor die Öllampen am Straßenrand angezündet wurden und auch den Rückweg brachte er in beinahe völliger Dunkelheit hinter sich. Der einzige Trost war, dass er nicht der Einzige war, den dieses Schicksal ereilte. Das gesamte Dorf, in dem er und seine Familie lebten, kannte nichts anderes als Arbeit, was eigentlich traurig war, wenn er es sich recht überlegte. Aber was blieb den Dorfbewohnern andere übrig? Ohne Arbeit kein Geld – ohne Geld, kein Essen. Und ohne Essen, keine Dorfbewohner.

Vor seinem Zuhause blieb Theodor stehen und betrachtete es eine Weile. Es war rund und aus großen, grauen Steinblöcken gebaut. Das Dach bestand aus zusammengeflochtenem Stroh, genauso wie die Haustür. Vor den Fenstern befand sich keinerlei Schutz, so dass die Kälte ungehindert eindringen konnte. Erst wenn die Kälte unerträglich wurde, ließ sich ihr Vater dazu breitschlagen, sie Bretter davor schlagen zu lassen. Das Haus war nicht besonders groß, doch im Gegensatz zu den anderen Häusern in der Umgebung wirkte es gerade zu riesig. Wenn man allerdings bedachte, wie viele Menschen in diesem einen Haus wohnten, war es doch relativ beschaulich. Der kleine Vorraum, direkt hinter der Tür, war leer, als Theodor ihn betrat. Sein Blick wanderte die Leiter hoch, die zu dem kleinen Raum unter dem Dach führte, in dem sich die Schlafplätze befanden.

„Siera“, rief er in die Dunkelheit, die im Haus vorherrschte. Er wartete auf eine Antwort, doch als er keine bekam, öffnete er die Tür, die zum Wohnraum führte. Das erste, was Theodor dabei auffiel, war, dass kein Feuer in der Feuerstelle vor sich hin knisterte. Hier drin war es zwar etwas wärmer als draußen, trotzdem war es auch keine angenehme Temperatur zum Leben.

Theodor kniete sich vor der Feuerstelle auf den kalten, schmutzigen Steinboden und begann, das Feuer erneut anzufachen. Es dauerte nicht lange, bis die Flammen vor ihm aufloderten und sofort angenehme Wärme spendeten.

„Wenn ich Feuer haben wollte, dann hätte ich welches gemacht“, ertönte eine raue, tiefe und vor allem müde klingende Stimme von der Seite.

Theodor schmunzelte und stand auf, um sich zu seinem Vater umzudrehen. Er saß, wie die meiste Zeit, auf der massiven Holzbank am Tisch, seinen Gehstock in der Hand, und sah seinen Sohn prüfend an, auch wenn er vermutlich kaum etwas erkennen konnte. Trotz des Feuers war es immer noch dunkel im Haus und durch das Alter waren seine Augen nun einmal geschwächt, das war ganz normal. „Das ist mir klar“, gab Theo dann zurück. „Aber ich glaube, mit zwanzig Jahren bin ich alt genug, um zu entscheiden, ob es hier drin warm oder kalt ist.“

Sein Vater ließ den Blick zu Boden sinken. Er saß in völliger Finsternis, nur das Feuer, welches Theodor gerade gemacht hatte, warf einen leichten Schein auf sein Profil. Durch die Schatten wirkten die Falten in seinem Gesicht weitaus tiefer, als sie eigentlich waren. Er wirkte älter und gebrechlicher als sonst, was Theo ein mulmiges Gefühl im Magen verschaffte und er begann auch noch die Kerzen anzuzünden, um etwas Licht in das Gemäuer zu bringen und so den müden Ausdruck auf dem Gesicht seines Vaters verschwinden zu lassen. Danach ließ er seinen Vater hinter sich und machte sich auf den Weg zum hinteren Teil des Raumes, wo sich der Schlafplatz seiner Eltern befand, vor der sich eine notdürftig zusammengebaute Wiege befand. Nachdem er sich versichert hatte, dass das kleine Mädchen darin tief und fest schlief, hob er die Wiege hoch und platzierte sie näher an der Feuerstelle, damit sie es zumindest warm hatte.

„Wo sind die anderen?“, fragte Theo seinen Vater schließlich, nachdem er sich einen der Stühle neben die Wiege gestellt und sich gesetzt hatte.

„Einkaufen“, erwiderte dieser matt. Er atmete tief durch und fügte dann hinzu: „Am Abend sind nie so viele Menschen auf dem Markt und dadurch gibt es auch weniger Drängelei.“

„Dafür sind auch nur noch die Reste übrig“, fügte Theodor nebenbei hinzu.

„Aber sie sind billig.“ Sein Vater hievte sich mithilfe seines Gehstocks umständlich auf die Beine und näherte sich ihm langsam. „Und was ist mit Stefan? Warum ist er noch nicht zuhause? Ich dachte, ihr beide würdet heute zur gleichen Zeit aufhören.“

„Das dachte ich auch. Aber Stefan hat beschlossen, noch eine extra Schicht zu schieben.“

„Gar keine schlechte Idee“, sagte der alte Mann leise. Es war nur ein einfacher Satz, doch der Vorwurf, der hinter seinen Worten versteckt war, war kaum zu überhören. Theodor wusste, was er ihm damit sagen wollte. Er hätte seine Gedanken nicht noch weiter ausführen müssen, doch er tat es trotzdem: „Du könntest dir ruhig ein Vorbild an ihm nehmen, mein Sohn. Gerade du kannst das Geld gut gebrauchen, um deine Familie zu versorgen.“

„Es reicht doch, oder?“ Theodor drehte sich zu seinem Vater um und sah ihn an. „Ich verdiene genauso viel Geld wie jeder andere hier. Bis jetzt hat es immer gereicht und-“

Plötzlich hörte Theodor ein Rumpeln aus dem vorderen Teil des Hauses, welches ihn zum Verstummen brachte. Vermutlich war es von der Haustür erzeugt worden. Irgendjemand war nach Hause gekommen. Sein Blick wanderte in die Richtung der Strohtür, die den Eingangsbereich von dem Wohnraum trennte. Es dauerte einen Moment, bis sie sich öffnete, doch dann kam seine Mutter zum Vorschein, gefolgt von Theodors Schwester und Siera. Sie alle waren in schwere Mäntel gehüllt und trugen zahlreiche Körbe gefüllt mit Lebensmittel mit sich.

„Ich wusste nicht, dass du schon zuhause bist, Theodor“, sagte seine Mutter, obwohl sie nicht weiter überrascht klang. Sie stellte ihre Körbe auf dem Boden neben der Feuerstelle ab und begann dann damit, die Einkäufe in den dafür vorgesehenen Schrank zu räumen. „Du hast bestimmt Hunger. Ist Stefan noch nicht da?“

„Nein“, erwiderte sein Vater an Theodors Stelle, wobei er ihm einen kurzen Blick von der Seite zuwarf, bevor er sich wieder stöhnend auf die Bank sinken ließ. „Er arbeitet noch.“

Theo wechselte einen kurzen Blick mit seiner Mutter, dann seufzte sie und sagte: „Na schön, bis das Essen fertig ist, wird er wohl hier sein, oder?“

„Bestimmt“, versicherte seine Schwester, Maria, ihr, während sie sich ebenfalls daran machte, die Einkäufe zu verstauen.

„Wie war dein Tag?“, fragte Siera ihn, als sie sich neben ihn auf den hölzernen Stuhl setzte. Er legte ihr den Arm um die Hüfte, damit sie nicht hinunterfallen und er sie wärmen konnte. Ihre blonden Haare schimmerten wie Bernstein im Licht der leise knisternden Flammen und ihre Augen nahmen eine dunklere, fast grünlichere Farbe an.

„Genauso wie jeder andere auch“, erwiderte er ihr leise, um die anderen Gespräche damit nicht zu unterbrechen, die vom Einkauf, den Leuten auf dem Markt und Geldsorgen handelten – so wie immer. Er ließ seinen Blick durch den Raum wandern und betrachtete dabei den Rest seiner Familie. Sein Vater saß wieder am Tisch und beobachtete seine Frau und seine Tochter dabei, wie sie wild diskutierend das Abendessen zubereiteten. Wie jeden Abend.

„Du musst diese Arbeit nicht machen, wenn sie dich unglücklich macht. Das weißt du doch, oder?“

Theodor schüttelte den Kopf, als er sich wieder an Siera wandte. „Doch, das muss ich. Es gibt keinen anderen Ausweg. Wir brauchen das Geld. Und etwas anderes, als dort zu arbeiten, kann ich wohl schlecht machen.“

Siera ließ den Blick auf die Wiege sinken und betrachtete ihre schlafende Tochter eine Weile, wobei die Flammen tanzende Schatten auf ihr makelloses Gesicht zauberten. Er hätte Stunden lang hier sitzen können, überlegte Theodor. Nur hier zu sitzen und Siera anzusehen – am Bett seiner Tochter –, hätte ihm bereits gereicht, um sein Leben als perfekt zu beschreiben. Doch leider kehrte da die Realität in Form eines Knurren seines Magens zurück, das ihn daran erinnerte, dass er heute bis auf ein Stück trockenes Brot vom Vortag noch nichts gegessen hatte.

Auch Siera schien die Rebellion seines Magens gehört zu haben, denn sie hob den Blick und sah ihn an. „Ich fürchte, du hast recht. So sehr ich mir auch wünschen würde, dass es eine andere Lösung gäbe. Ich meine, das kann doch nicht das ganze Leben sein.“

Was sie sagte, entsprach genau dem, was Theodor auch dachte, nur leider standen die beiden mit ihrer Meinung alleine da. „Das glaube ich auch“, erwiderte er ihr schließlich. „Es gibt ein anderes Leben. Ganz bestimmt. Aber nicht so und vor allem nicht hier.“

„Theodor“, ermahnte Siera ihn, da seine Stimme bereits weit über ein leises Flüstern hinausging. Bei dem Klang ihrer Stimme drehte sich Maria zu den beiden um und musterte sie skeptisch. Er wusste ja, was sie von seinen Fantasien von einem anderen, besseren Leben hielt. „Sprich nicht so laut“, fügte sie dann hinzu, als Theodors Schwester sich wieder ihrer Arbeit zugewandt hatte. „Wenn dich nun jemand hört.“

„Was dann?“, fragte Theodor zurück. „Warum habt ihr alle solche Angst davor, eure Meinung zu sagen?“

„Weil es irrsinnig ist, von so etwas zu träumen. Das hier ist alles, was wir haben und darüber sollten wir froh sein. Wir haben um einiges mehr als manch andere hier.“

„Aber-“

„Theodor, du weißt, dass ich gerne diese Geschichten von einer anderen, besseren Welt glauben würde, aber das kann ich nicht. Das würde bedeuten, von der Realität in ein Märchen zu fliehen und das kann ich nicht zulassen. Wir haben Verantwortung unserer Familie und vor allem unserer Tochter gegenüber.“

„Ich weiß“, flüsterte er und ließ den Blick sinken. Natürlich hatte sie recht, doch der Glaube daran, dass sich alles eines Tages ändern würde, war das Einzige, was ihn noch weitermachen ließ. Er konnte sich nicht vorstellen, wie die anderen es schafften, jeden Tag aufzustehen und denselben, grauen Alltag zu leben, ohne dabei verrückt zu werden. Er dachte an seine Eltern, schon ihr ganzes Leben hatten sie hier verbracht und gearbeitet und gespart. Sie hatten dieses Haus gebaut und mit dem verdienten Geld die Familie ernährt. Jede einzelne Münze, die am Ende des Tages in ihre Hände gelangte, wurde für Essen ausgegeben, um nicht zu verhungern. Das war genau das Leben, das auch ihm bevorstand: bis an sein Lebensende zu arbeiten und Geld für die Familie zu verdienen und eines Tages, wenn seine Tochter alt genug war, würde auch sie dieses trostlose Leben führen. Doch das wollte er nicht, er wollte ihr mehr bieten. Er wollte, dass sie eines Tages ein glückliches, freies Leben führen konnte, fern von allen Zwängen und Ängsten.

Er spürte, wie Siera ihm die Hand an den Hals legte, damit er sie ansah. „Du weißt, dass ich immer an deiner Seite sein werde, Theodor. Ganz egal, was du vorhast. Selbst, wenn du eine Revolution anzetteln würdest.“ Sie lächelte, dann zog sie ihn näher an sich heran, um ihn zu küssen.

Als die Tür sich öffnete und Stefan hereinkam, stand Theodor auf und reichte Siera die Hand, um ihr aufzuhelfen. „Das weiß ich natürlich“, sagte er. „Und genau dafür liebe ich dich.“

„Stefan, wie war die Arbeit?“, fragte Theodors Vater, als sich alle um den Esstisch versammelt hatten.

„Anstrengend“, gab dieser zurück. Er hatte sich neben Maria auf seinen Stammplatz am Ende der Tafel gesetzt, der früher Theodors und Marias Vater gehört hatte, und hielt ihre Hand. Obwohl er nur der Schwiegersohn war, hatte ihr Vater ihn bereits als Art neues Familienoberhaupt akzeptiert. Theodor hatte damit kein Problem: Stefan war stärker als er, größer, verdiente mehr Geld und war schon seit Jahren mit seiner älteren Schwester zusammen. Es war also nur logisch, dass er den Platz am Kopfende des Tisches bekam. „Wie jeden Tag, aber wem erzähle ich das? Du weißt ja nur zu gut, wie diese Arbeit ist, Gregor.“

Theodor verdrehte die Augen. Stefan wusste, was er sagen musste, damit er bei seinem Vater punkten konnte. Wobei er glaubte, dass Stefan es gar nicht darauf abgesehen hatte, Sympathie zu sammeln. Es war einfach seine Art: Stefan kam mit jedem klar.

„Das ist allerdings wahr“, murmelte Theodors Vater, während er naserümpfend die Suppe betrachtete, die seine Frau vor ihm abstellte. Es war eine trübe Brühe, in der kleine Stücke aus Gemüse schwammen. Immer noch fragte Theodor sich, woher dieses Zeug kam. Die Frauen auf dem Markt behaupteten, dass es in der Erde wuchs, doch das konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen, denn bei ihnen wuchs absolut rein gar nichts. Wie auch? Der Boden war die meiste Zeit über steinhart und gefroren. Wenn die Arbeiter schon die größte Mühe damit hatten, ihn mit ihren Schaufeln zu durchdringen, wie sollte es dann dieses Gemüse schaffen? Als er diese Geschichte zum ersten Mal gehört hatte, hatte sich ein merkwürdiges Gefühl der Aufregung in seinem Magen breitgemacht. Das musste bedeuten, dass es einen Ort gab, an dem die Erde weich war, hatte er gesagt. Einen Ort, an dem es nicht so kalt und trostlos war, doch seine Mutter hatte ihm diese Gedanken sofort verboten. Das war alles Unsinn, hatte sie gesagt, er solle sich diese Hirngespinste aus dem Kopf schlagen. Und nach einigen Jahren hatte er das auch getan. Mittlerweile hielt er den Mythos, dass dieses bunte Zeug aus dem Boden wachsen sollte, auch für Unsinn. Trotzdem konnte er nicht anders, als sich jedes Mal aufs Neue zu fragen, wo es herkam. So gut wie alles, was sie zum Leben brauchten – das Holz für den Kamin, das Stroh für das Dach, ihre Kleidung – kam mit Wagen zu ihnen transportiert. Das alles musste doch irgendwo herkommen…

„Wie viele wurden heute verschleppt?“, fragte sein Vater da nebenbei, bevor er sich einen weiteren Löffel Suppe in den Mund schob. Für ihn waren das ganz normale Tischgespräche. Er selbst hatte Jahrzehnte lang als Arbeiter da draußen geschuftet, es war sozusagen sein gesamter Lebensinhalt – er kannte nichts anderes.

Theodor und Stefan wechselten einen kurzen Blick, wobei er inständig hoffte, dass Stefan nichts von ihrem heutigen Streit erwähnen würde. „Ich habe vier gezählt“, sagte Stefan schließlich, wobei er den Blick wieder auf seinen Teller sinken ließ. „Vermutlich waren es aber mehr.“

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Tag der Veröffentlichung: 28.09.2014

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