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Prolog

Sechs Jahre zuvor.

Das Getümmel in den oberen Stockwerken unseres Hauses ließ langsam nach und zum ersten Mal seit gefühlten Stunden wagte ich es, die Hände von meinen Ohren zu nehmen. Ich stellte fest, dass die Schreie und das Tosen verstummt waren.

Vorsichtig kletterte ich unter der Couch hervor, unter der ich mich verkrochen hatte, als die Tür zu unserem Haus eingetreten worden und fremde Wesen eingedrungen waren. Mein Bruder hatte mich hinunter in unseren Keller gebracht und, nachdem er mich hier alleine zurückgelassen hatte, die Tür hinter sich verschlossen. Wie wild hatte ich dagegen gehämmert und gerufen, er solle mich nicht alleine lassen, doch er hatte nicht auf mich gehört.

Nun, wo alles vorbei zu sein schien, wartete ich darauf, dass Oliver zurückkam und mich hier rausholte, doch er kam nicht. Eine Weile lang saß ich reglos, mit auf dem Schoß gefalteten Händen auf der Couch und wartete. Vielleicht will er zuvor noch die Überreste des Kampfes beseitigen, sagte ich mir. Er hatte immer versucht, diesen Teil unseres Lebens so weit wie möglich von mir fernzuhalten, bestimmt war das auch jetzt der Fall. Aber egal, wie oft ich versuchte, mir das einzureden, die Spannung fiel doch nicht von mir ab. Zwar schlug mein Herz mittlerweile wieder in regelmäßigen Abständen, und auch das beklemmende Gefühl der Angst in meiner Brust hatte sich wie Nebel früh am Morgen gelichtet, doch trotzdem spürte ich, dass etwas nicht stimmte.

Erst da fiel mir ein, dass hier drin ein Zweitschlüssel versteckt war. Er befand sich unter dem Bücherregal, für den Fall, dass Oliver und ich uns wieder einmal gegenseitig einschlossen und dann aufeinander vergaßen. Schnell suchte ich den Schlüssel und öffnete dann vorsichtig, um keine unnötigen Geräusche zu erzeugen, die Tür.

Es war völlig still im Haus, ich konnte nur noch das leise Ticken der Küchenuhr hören, was mir im Moment allerdings so laut wie Feuerwerksraketen vorkam. Oben angekommen sah ich mich um: Alles sah aus wie sonst, was meine Hoffnung, mein Bruder hätte nur auf mich vergessen, um das Chaos zu beseitigen, bestärkte.

Ich rief seinen Namen, doch ich bekam keine Antwort. Im gesamten Haus war niemand vorzufinden und nichts deutete auch nur mehr im Geringsten auf einen Kampf hin. Erst als ich Olivers Zimmer betrat, um dort nach ihm zu suchen, entdeckte ich etwas, das mir bewies, mir das alles nicht nur eingebildet zu haben: Die Wand, die gegenüber der Tür lag, war merkwürdig schwarz verfärbt. Es sah aus, als wäre sie verbrannt worden, doch ich konnte sonst nirgendwo Anzeichen für ein Feuer finden.

Bei genauerem Hinsehen bemerkte ich, dass inmitten des schwarzen Fleckes etwas schimmerte, das aussah, wie Öl. Vorsichtig näherte ich mich der Wand und legte meinen Kopf schief, um das Ganze aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Es machte den Anschein, als wären Buchstaben mit Öl an die Wand gemalt worden, allerdings konnte ich nicht entziffern, was da stehen sollte.

Auch nach diesem Fund suchte ich weiter nach meinem Bruder – erfolglos.

Kapitel 1

1.

Mathematik und das wahre Leben.

 

 

Juli.

»Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich dich vermissen werde.« Karla sah mich mit einem wehmütigen Blick an. Ihre langen, dunklen Haare hatte sie mithilfe eines Bandes, welches die gleiche fliederne Farbe wie ihr Kleid hatte, zu einem Fischgrätenzopf zusammengebunden. Mit vor der Brust verschränkten Armen musterte sie mich eingehend, als würde mich das dazu bringen, meine Meinung zu ändern. »Ich meine, die Schule wird nicht das Gleiche sein ohne dich.« Ihre Stimme bebte, als würde sie jeden Moment anfangen, zu heulen, doch dann änderte sich ihre Stimmung mit einem Schlag und sie funkelte mich aus ihren olivgrünen Augen verärgert an. »Wie kannst du es wagen, die Schule zu wechseln und mich hier alleine zu lassen?«

Ich seufzte tief und ließ mich in meinem Sessel zurücksinken, während alle anderen bereits damit beschäftigt waren, ihre Stühle und Tische aus dem Klassenzimmer zu tragen und am Gang zu stapeln. Für sie konnte es nicht schnell genug gehen, der Sommer rief und sie wollten seinem Ruf folgen. Genauso wie ich, nur dass meine beste Freundin das nicht zu interessieren schien. Seit Monaten versuchte sie, mich davon zu überzeugen, zu bleiben. Dass das bereits viel zu spät und ich bereits auf einer anderen Schule angemeldet war, schien ihr herzlich egal zu sein. Eigentlich hatte ich vorgehabt, ihren Vortrag nur stumm über mich ergehen zu lassen und einfach nichts dazu zu sagen, immerhin hatte ich schon viel zu viel Zeit damit verschwendet, ihr zu erklären zu versuchen, was meine genauen Beweggründe waren. Sie kannte sie vermutlich bereits in und auswendig, trotzdem hatte ich das Gefühl, sie wollte mich einfach nicht verstehen.

»Du bist doch nicht alleine, es sei denn, du gehst davon aus, dass die anderen zwanzig Schüler aus dieser Klasse über die Ferien auf seltsame Weise spurlos verschwinden«, gab ich zu bedenken, da das meiner Erfahrung nach in dieser Stadt nicht gerade unwahrscheinlich war. Doch außer einem erbosten Blick erntete ich für diese Bemerkung rein gar nichts. Also atmete ich noch einmal tief durch und versuchte dann, etwas diplomatischer an die Sache ranzugehen: »Ich bin doch nicht die Einzige, die geht. Es sind noch mindestens fünf andere, die beschlossen haben, die Schule zu wechseln.«

»Das kann man doch gar nicht vergleichen, Liz«, erwiderte sie mir mit einem bitteren Unterton in der Stimme und ging vor mir im Klassenzimmer auf und ab. Mittlerweile hatte sich dieses komplett geleert, sogar der Lehrer war bereits auf und davon, nur Karla, ich und der Stuhl, auf dem ich saß, waren noch übrig geblieben. Langsam fragte ich mich allerdings, warum ich mir Karlas Drama überhaupt antat. Ich hätte einfach gemeinsam mit allen anderen Schülern verschwinden sollen, als ich die Möglichkeit dazu gehabt hatte. Stattdessen beobachtete ich nun Karla, wie sie ihre Runden drehte, und fächerte mir dabei mit meinem Zeugnis, welches der Lehrer vorhin noch ausgeteilt hatte, Luft zu. Ich hatte das Gefühl, dass heute der heißeste Tag des Jahrhunderts war, und hätte nichts lieber getan, als nur nach Hause zu gehen und den lieben, langen Tag im kühlen Wasser zu verbringen. »Es interessiert mich aber nicht, was die anderen tun. Sie wissen genau, dass sie nicht gut genug sind, um diese Schule zu schaffen, nur deshalb nutzen sie die Chance, um zu wechseln.«

»Du redest Blödsinn«, unterbrach ich Karla, woraufhin sie stehen blieb und mich überrascht ansah. Es schien ihr nicht zu gefallen, dass ich ihren Monolog unterbrochen hatte, aber das war mir egal. Jemand musste ihr schließlich sagen, dass ihr engstirniges Elitedenken absoluter Müll war. Wenn es nach ihren Ansprüchen ginge, würden achtzig Prozent der Schüler Sonderschulen besuchen. Niemand war etwas Besseres, nur weil er gute Noten hatte, Karla sollte das eigentlich wissen. Sonst war sie auch nicht so abwertend und überheblich, doch der Gedanke an die Schule brachte sie jedes Mal wieder aus der Fassung. Vermutlich wäre es ihr das Liebste, wenn das hier auch noch eine Schule für überdurchschnittlich Begabte wäre und nur Einser-Kandidaten zuließe, doch was würde das bringen? Theoretisches Wissen war schön und gut, aber Schule sollte doch eine Vorbereitung auf das zukünftige Leben sein. »Es stimmt schon, manche haben sich diese Schule vielleicht einfacher vorgestellt, aber die Schule zu wechseln bedeutet nicht gleichzeitig, aufzugeben. Nicht jeder kann, so wie du, ständig nur Höchstleistungen erzielen.«

Karla räusperte sich und wandte den Blick von mir ab. »Aber was ist mit dir? Du könntest die letzten paar Jahre hier mit links hinter dich bringen.«

»Aber genau das ist es, was ich nicht will, Karla«, sagte ich. »Ich will die nächsten Jahre nicht hinter mich bringen und dann mit nichts dastehen. Außerdem habe ich dir schon tausendmal gesagt, warum ich die Schule wechseln möchte.«

Sie nickte stumm. Langsam schienen ihr die Argumente auszugehen, um mich zum Bleiben zu überreden, und das war mir auch äußerst recht so. Seufzend ließ sie sich vor mir auf den Boden sinken und sah mich an. »Ist dir auch so heiß wie mir?«

Ich nickte ebenfalls. Die heiße Luft machte mich müde und es fiel mir schwer, noch ein Wort hervorzubringen. Wenn ich nicht Angst gehabt hätte, hier vergessen und die Ferien über eingesperrt zu werden, hätte ich sofort und auf der Stelle ein Nickerchen gemacht. Auch Karl gähnte und streckte sich ausgiebig. Ich merkte, wie ihre Augenlieder schwer wurden und sie förmlich durch mich hindurchzusehen schien. Erst dann schreckte ich hoch und sprang von dem Sessel.

»Wir müssen hier weg«, stieß ich hervor und griff nach Karlas Hand, um sie vom Boden hochzuziehen, doch sie bewegte sich keinen Millimeter.

»Die werden uns hier schon nicht einschließen«, murmelte sie verschlafen. »Und selbst wenn, ist es mir egal, ich will einfach nur schlafen. Wenn nötig klettere ich später einfach aus dem Fenster.«

»Wir befinden uns im zweiten Stock«, gab ich zu bedenken. Auch wenn Karla unheimlich klug war, sie war bestimmt nicht in der Lage, sich einen sicheren Weg aus dem Gebäude zu suchen, dazu fehlte ihr einfach eine gesunde Portion Menschenverstand. Ich zerrte weiter an ihrem Arm, um sie zum Aufstehen zu bewegen. »Komm schon, Karla. Ich meine es ernst, wir müssen hier so schnell wie möglich weg.«

Ich warf einen Blick zur offenen Tür hinaus. Im gesamten Schulgebäude war es so still, dass man sogar eine Nadel hätte fallen hören können, was bedeuten musste, dass wir die einzigen noch Anwesenden waren. Auf der einen Seite beruhigte mich das etwas, doch auf der anderen Seite war das auch ein sehr, sehr schlechtes Zeichen.

Mein Blick wanderte zurück zu Karla, die bereits die Augen geschlossen hatte und auf dem Fußboden vor sich hindöste. Ich zögerte einen Moment, doch dann fluchte ich und lief zur Tür hinaus und die Treppen hinunter. Ich musste mich beeilen, so viel war mir klar – auch wenn ich nicht genau wusste, wo ich hinmusste. Ich merkte, wie die Temperatur mit jeder Stufe, die ich nahm, stieg. Ich war also auf der richtigen Spur.

Mein Weg führte mich ins Sekretariat, welches sich im Erdgeschoss des Gebäudes befand. Dort gab es einen Raum, in dem die Unterrichtsutensilien aufbewahrt wurden. Ich war mir nicht ganz sicher, wonach ich genau suchte – ich konnte wohl kaum davon ausgehen, irgendwo in der Schule Waffen oder Ähnliches zu finden. Schon öfters hatte ich mir überlegt, einiger meiner Favoriten hier im Gebäude zu verstecken – nur für den Fall –, hatte es mir dann aber anders überlegt, da ich davon ausgegangen war, sie nie brauchen zu werden. Im Nachhinein gesehen ziemlich leichtsinnig und ich rügte mich dafür selbst.

Planlos stand ich vor der Kammer und ließ meinen Blick über die zusammengerollten Landkarten, Overhead-Projektor und Kreiden-Schachteln schweifen, bis er an einem überdimensionalen Geodreieck hängen blieb, mit dem unser Mathematiklehrer stets seine millimetergenauen Zeichnungen an die Tafel gemalt hatte. Dieses Ding war zwar nicht besonders gefährlich, aber immerhin bot es mir Schutz und angesichts der Tatsache, dass ich ansonsten rein gar nichts hatte, um mich zu verteidigen, war das gar nicht so schlecht.

Mit dem durchsichtigen Dreieck bewaffnet lief ich zurück in die Aula. Zwar war ich mir immer noch nicht sicher, wohin ich genau musste und was ich eigentlich suchte, doch ich folgte einfach der Hitzewelle. Schon nach wenigen Schritten bildeten sich Schweißperlen auf meiner Stirn und meine Haare klebten in meinem Nacken fest – ein eindeutiges Zeichen dafür, dass ich auf dem richtigen Weg war.

Als ich die Tür öffnete, die zu dem Gang führte, in dem sich die Umkleidekabinen für den Turnunterricht befanden – den ich, nebenbei bemerkt, am allerwenigsten vermissen würde – verlangsamte ich mein Tempo und sah mich nach jedem Schritt um, um nicht überrascht werden zu können. Am Ende des Ganges schien die Sonne durch eine Glastür, die in den Schulhof führte, und brannte wie Feuer in meinen Augen. Nach kurzem Zögern entschied ich aber trotzdem, diesen Weg einzuschlagen und hinaus ins Freie zu gehen. Schon als ich die Tür öffnete, schlug mir eine Hitzewelle entgegen, die sich anfühlte, als hätte ich einen Backofen auf zweihundert Grad mit dem Gesicht vorausgeöffnet.

»Was zum-«, stieß ich hervor, brach den Satz aber schnell wieder ab, da mir einfiel, dass ich völlig alleine hier war und ich nicht unnötig die Aufmerksamkeit dessen auf mich ziehen wollte, das diese unerträgliche Hitze verursachte. Ich musste mir die Hand schützend vor die Augen halten, um im grellen Licht der Sonne überhaupt etwas erkennen zu können. Ich hatte nicht den Eindruck, hier auf jemanden oder etwas zu stoßen, aber was ich hier sehen konnte, war auch nur ein kleiner Teil des Hofes. Ich biss mir auf die Lippe und machte widerwillig die ersten Schritte hinaus auf die metallene Rampe, die von der Tür zum Boden des Schulhofes führte. Dabei streifte mein Arm unabsichtlich das förmlich glühende Geländer und ich zuckte vor Schmerz entsetzt zusammen. Es hätte mich nicht gewundert, wenn die Rampe unter der brennenden Hitze auch noch zu schmelzen begonnen hätte.

Ich atmete tief durch und wischte mir mit meinem T-Shirt den Schweiß von der Stirn, damit er mir nicht in die Augen rinnen und mir die Sicht verschleiern konnte. Ich erinnerte mich an Karla, die in unserem Klassenzimmer lag und schlief, alleine und ohne Schutz, und gab mir selbst einen Stoß, um nicht zu viel Zeit zu vertrödeln, auch wenn selbst die kleinste Bewegung bei dieser Hitze größte Anstrengung verursachte.

Ich ging um das Gebäude herum, bis ich zu dem kleinen Teich kam, der hinter der Schule lag. Eigentlich handelte es sich bei dem Gewässer mehr um einen Tümpel, als um einen Teich. Er war völlig mit Seerosen und anderen Pflanzen zugewachsen, so dass man das schmutzige, braune Wasser darunter nicht einmal sehen konnte. Ein hölzerner Steg führte bis in die Mitte des Teiches, zumindest hatte ich das Bild so in Erinnerung, denn als ich mich dem Biotop näherte, blieb ich abrupt stehen. Mein Blick war auf die Wasseroberfläche geheftet. Ich hatte erwartet, viel weniger Wasser in dem Erdloch vorzufinden, da unter den sengenden Strahlen der Sonne alles verdunstet war, doch das war nicht der Fall. Im Gegenteil, ich hatte noch nie so viel Wasser darin gesehen.

Ich habe also gefunden, was ich gesucht habe, dachte ich und näherte mich langsam. Als ich den Steg betrat, der unter meinem Gewicht knirschte, als würde er jeden Moment einbrechen, begann die Wasseroberfläche Wellen zu schlagen, als wären Tropfen darauf gefallen. Regen?

Mein Blick wanderte hoch zum Himmel, wo nun langsam Wolken aufzogen. Noch bevor ich merkte, dass ich mich mal wieder zu leicht ablenken hatte lassen, fühlte ich, dass die Hitze mit einem Schlag verschwunden war und ich mich plötzlich im Schatten befand. Schlagartig richtete ich meinen Blick wieder auf den Tümpel, der inzwischen nicht mehr so ruhig und idyllisch dalag: In der Mitte des Wassers hatte sich etwas Großes, Dunkles aufgebaut, es dauerte allerdings einen Moment, bis ich Genaueres ausnehmen konnte, da sich meine Augen erst an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnen mussten. Als ich endlich erkannte, was da vor mir war, weiteten sich meine Augen unwillkürlich und ich machte vor Schreck einen Schritt zurück, wobei ich fast das Geodreieck, welches mir im Moment einfach nur lächerlich und unnütz vorkam, fallen gelassen hätte. Schnell festigte ich meinen Griff darum und hielt es schützend vor meinen Körper, während ich das aalglatte, schlangenartige Ungetüm genauer betrachtete. Eine Schlange, warum musste es ausgerechnet eine Schlange sein? Ich schüttelte den Kopf. Das ist keine Schlange, sagte ich mir. Keine Schlange, zumindest keine, die hier in dieser Gegend beheimatet war, konnte sich auf eine Höhe von drei Metern aufrichten, und sie hatten auch keine Hörner auf dem Schädel. Außerdem wirkte dieses Ding viel zu plump und ungeschickt für eine Schlange, bei diesem Gedanken kehrte der Mut in meinen Körper zurück und ich straffte den Rücken.

»Du bist also für dieses verrückte Wetter verantwortlich«, sagte ich zu dem Ungeheuer, dessen rot glühende Augen mich interessiert musterten. »Wie soll ich dich nennen? Du musst wissen, dass ich gerne über meine Triumphe Buch führe. Es gibt ja Jäger, die sich die Schädelknochen ihrer Opfer zuhause aufhängen, ich bin da anders. Da von euch Ungetümen nicht viel überbleibt, wenn ich euch erst einmal erledigt habe, musste ich einen anderen Weg finden, um keinen von euch zu vergessen.« Es war überraschend, wie unterschiedlich diese Monster waren: Manche sahen mich nur mit leeren, ausdruckslosen Augen an, doch bei diesem hier hatte ich wirklich das Gefühl, es würde mich verstehen. Was allerdings nichts an der Tatsache änderte, dass es vernichtet werden musste, bevor es noch jemanden ein Leid antat. »Du scheinst mir sehr klug zu sein, wie wäre es mit Falk? Als Namen, meine ich. Du weißt schon, wie der Falke, Falken sind klug. Andererseits fressen sie auch Schlangen, aber du bist ja keine Schlange, nicht wahr?«

Das Monster beugte sich weiter zu mir herab, wobei ich noch einen Schritt zurückmachte. Nicht, weil ich Angst hatte. In meinem Leben hatte ich bereits genug solche Monster getroffen und – zumindest bis jetzt – hatten sie immer den Kürzeren gezogen. Mein Problem war nur, dass mir der Anblick eine Gänsehaut verursachte: die glatte Haut, auf der sich keine einzige Schuppe befand. Die lange, dünne, gespaltene Zunge, die ständig aus dem Maul hervor glitt, als wollte sie mir damit zuwinken, und die rot glühenden Augen, die aussahen, als würde sich dahinter ein loderndes Feuer befinden.

»Gefällt dir der Name?« Mit dem nächsten Schritt, den ich zurückmachte, trat ich aus dem Schatten der Kreatur heraus und wurde völlig unerwartet wieder von der Sonne geblendet. Gerade noch rechtzeitig erkannte ich, wie der Kopf des Monsters auf mich zu geschnellt kam, und riss das Dreieck in die Höhe, um es ihm mit beiden Händen entgegenzuhalten. Der Schädel des Ungeheuers traf mit solcher Wucht gegen das dünne Plastik, dass es mich von den Beinen riss und das Lineal in meinen Händen in zwei Teile zersplitterte. Schnell rappelte ich mich auf, um für den nächsten Angriff besser gewappnet zu sein.

Falk öffnete den Mund und zischte mich an, wobei mir etwas auffiel, das mir sehr gelegen kam. Ich spürte, wie sich die Anspannung langsam aus meinem Körper verflüchtigte. Er hatte keine Zähne, welches ernstzunehmende Monster hatte bitte keine Zähne? Gut, er konnte mich zwar immer noch mit den Hörnern auf seinem Kopf aufspießen, mit seinem endloslang scheinenden Körper erdrücken oder einfach verschlucken, doch meine größte Sorge schien wie weggeblasen. Erleichtert atmete ich tief durch, als auch schon der nächste Angriff erfolgte. Schnell ließ ich mich zur Seite fallen, wobei ich mit der zerbärsten Seite des Geodreiecks nach Falk ausholte und es tatsächlich schaffte, einen Schnitt in seine glatte Hautoberfläche zu machen, aus der sofort eine dunkle, pechartige Flüssigkeit sickerte.

»Wer hätte gedacht, dass Mathematik mir im wirklichen Leben mal nützen würde?«, murmelte ich, während ich mich wieder vom Boden aufhievte, jedoch nicht ohne das Monster dabei aus den Augen zu lassen, welches den Schnitt direkt hinter seinem Schädelknochen nicht einmal zu bemerken schien. Unwillkürlich wünschte ich, so einfach programmiert zu sein, wie diese Wesen: Einfach nur Unheil stiften und töten, kein Schmerz, kein Problem. Wenn doch nur alles so einfach wäre, dachte ich und richtete mich auf. Leider war ich etwas anders als Falk – meine Schulter schmerzte vom Aufprall auf dem Boden und die Haut an meinem Ellbogen war aufgeschürft. Mit der Zeit hatte ich gelernt, diese kleinen Wehwehchen während des Kampfes auszublenden, trotzdem wäre ich für einen etwas robusteren Körper sehr dankbar.

Ich betrachtete Falk eine Weile lang und er betrachtete auch mich, allerdings blieb er dabei völlig starr, als wäre er aus Stein. Es machte nicht den Anschein, als würde er so schnell noch einmal angreifen.

»Was ist denn los, Falk?«, fragte ich ihn überrascht. »War das schon alles?«

Eine Sekunde lang dachte ich, ein Lächeln über das Gesicht – wenn man das so nennen konnte – des Ungeheuers huschen zu sehen und noch bevor ich mich fragen konnte, was das sollte, spürte ich einen Schlag von hinten. Falk hatte seinen langen Körper um mich geschlungen, und noch bevor ich reagieren oder auch nur schreien konnte, zog er mich damit zurück in den Teich.

Das Wasser war viel kälter, als ich es erwartet hatte und einen Moment lang fühlte ich Stiche auf meiner Haut, als hätte ich mich ohne Winterbekleidung in frischen Schnee gelegt, dann erst wurde mir klar, dass ich nicht atmen konnte und das Gefühl der Kälte machte der Panik Platz.

Ich öffnete die Augen, sah aber nichts außer einer braunen Drecksuppe, die in meinen Augen brannte. Mit aller Kraft versuchte ich, mich aus der Umklammerung des glatten Körpers zu befreien, und bohrte dabei meine Fingernägel so tief wie möglich in die Haut des Ungeheuers, auch wenn ihm das nicht gerade viel auszumachen schien. Zu meinem Pech hatte ich bei dem Sturz ins Wasser auch noch das Lineal fallen lassen, also konnte ich das Ungetüm auch nicht einfach in zwei Hälften schneiden.

Gerade, als ich dachte, die Luft nicht eine Sekunde länger anhalten zu können, wurde ich wieder in die Höhe gerissen, aus dem Wasser hinaus, und auf den harten Boden geschleudert. Vor Schmerzen stöhnte ich auf und drehte mich auf den Rücken. Als ich die Augen öffnete, blickte ich direkt in das Schlangengesicht. Falk war knapp über mich gebeugt und sah mich ruhig an, als würde er auf meinen nächsten Zug warten. Ich ließ meine Hände über das von der Sonne aufgeheizte Gras wandern, auf der Suche nach irgendetwas, das mir helfen konnte, doch ich fand nichts. Das schien auch das Ungeheuer zu bemerken: Es zog seinen Kopf zurück, um Schwung für einen Angriff zu nehmen. Im letzten Moment konnte ich mich noch zur Seite rollen und zusehen, wie sich sein Schädel in den Schmutz bohrte, was mir ein kleines Lachen entlockte. Allerdings bereute ich das sofort, da dabei meine Rippen unangenehm schmerzten.

Ich nutzte die Zeit, die Falk brauchte, um seinen Kopf zu schütteln und nach mir zu suchen, um zu der zweiten, noch von Monsterblut unbefleckten Hälfte des Geodreiecks zu laufen und mich dann damit auf das Ungeheuer zu stürzen. Ich schwang mich auf seinen Rücken und stach ihm das spitzeste Ende mit aller Kraft in das Fleisch.

Dieses Mal blieb der Schmerz von Falk offenbar nicht unbemerkt – er wand sich und versuchte, mich abzuschütteln, doch ich stach noch ein weiteres Mal zu und auch als er den Teil seines Körpers, auf dem ich saß, anhob ich von ihm rutschte, ließ ich das Geodreieck nicht los. Es steckte tief in Falks Fleisch, doch es gab nach. Durch mein Gewicht wurde es nach unten gezogen und schnitt damit eine tiefe Furche in seine Haut. Als Falk begann, sich wilder zu winden, ließ ich das Lineal doch noch los und landete mehr oder weniger sanft auf dem Boden. Ich merkte, wie das Ungeheuer sich wand und dabei versuchte, den Plastiksplitter aus seiner Haut zu bekommen, es jedoch nicht schaffte. Ja, dachte ich, jetzt wäre es praktisch, Hände zu haben. Eine Sekunde lang beobachtete ich noch seine verzweifelten Befreiungsversuche, doch dann beschloss ich, dem Ganzen ein Ende zu setzen.

 

Impressum

Texte: Nina Hirschlehner
Bildmaterialien: Nina Hirschlehner
Tag der Veröffentlichung: 24.08.2014

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