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Prolog

 

Durch den starken Schneefall und den blendenden Schein der Laternen war es unheimlich schwer, die Straße noch auszumachen. Auch wenn die Scheinwerfer ihres Autos die schneebedeckte Fahrbahn so gut wie möglich ausleuchteten, gestaltete es sich schwierig, zu sagen, wo die Straße aufhörte und wo der Gehsteig begann.
Zum Glück war der Weg nicht weit und Laura hatte das Haus ihrer besten Freundin schnell erreicht. Sie wusste nicht einmal, warum sie um diese Uhrzeit hierher gerufen worden war – sie hatte lediglich eine Nachricht erhalten, so schnell wie möglich zu kommen. Grace hatte auf keine Nachricht und keinen Anruf reagiert, was sie stutzig gemacht hatte.
Nachdem Laura das Auto am Straßenrand abgestellt hatte, eilte sie auf das einzige Haus in der Siedlung zu, in dem noch Licht brannte. Komisch, wenn man bedachte, dass es schon fast zwei Uhr morgens war. Normalerweise schlief man doch um diese Zeit, sogar an Weihnachten. Laura hatte kein gutes Gefühl, als sie sich dem Eingang näherte.
Der Schnee vor der Haustür und auf der Veranda war schmutzig und platt getreten, als ob jemand ein paar Mal darüber getrampelt wäre. Die Haustür stand einen Spalt weit offen, doch es herrschte völlige Stille. Bis auf den Wind, der ihr die blonden Haare vors Gesicht wehte, konnte sie kein Geräusch wahrnehmen.
Vorsichtig drückte Laura die Tür auf und blieb wie angewurzelt im Eingang stehen, als ihr etwas in die Nase stieg: Der Geruch von Blut lag in der Luft.
Sie zögerte einen Moment, da sie nichts Gutes ahnte. Mit jeder Sekunde, die verstrich, schlug ihr Herz vor Aufregung schneller. »Grace?«, rief sie den Namen ihrer besten Freundin durch das Haus. »Bist du da? Ich bin es, Laura.«
Laura wartete auf eine Antwort, doch als keine kam, beschloss sie, einfach in das Haus hineinzugehen – immerhin war sie ja hierher bestellt worden. Sie folgte den nassen Fußspuren quer durch den Vorraum in die Küche. Das Erste, was ihr dort ins Auge stach, war der leblos am Boden liegende Körper eines Mannes. Eine rote Lache hatte sich um ihn gebildet. Erschrocken wich sie zurück. Dann erst folgte der starke Blutgeruch, der ihren Magen zum Rebellieren brachte. Fassungslos schlug sie sich die Hand vor das Gesicht, als sich ihre Befürchtung bestätigte.
»Grace!«, rief sie noch einmal verzweifelt durch das Haus, ohne dabei den Blick von der Leiche abzuwenden. Es war Arthur, der Mann ihrer besten Freundin. Wenn er tot war und sich niemand auf ihr Rufen meldete, dann bedeutete das doch, dass ...
»Ich war es nicht«, hörte sie da eine männliche Stimme hinter sich und wirbelte herum. Im Türrahmen zum Wohnzimmer stand Jesse, Grace’ ältester Sohn, der das Internat besuchte, das von Lauras Mann geleitet wurde. Seine Kleidung war blutverschmiert und seine sonst dunkelbraunen Augen hatten sich schwarz verfärbt. Auch durch die schwache Beleuchtung in der Küche konnte sie sehen, dass Tränen über seine Wangen liefen. »Auch wenn es irgendwie stark danach aussieht.«
»Ich glaube dir, Jesse«, beeilte sie sich, zu sagen. Vor allem deswegen, um selbst nicht auch noch zu weinen zu beginnen. Mit der Zeit hatte sie sich an Blut und tote Menschen gewöhnt, doch es war etwas völlig anderes, die Opfer zu kennen ... Aber wer war es dann?, wollte sie fragen, kam aber nicht dazu.
Mit einem Mal wirkte Jesse, als wäre er aus einem Traum aufgewacht. Die Farbe seiner Augen wurde wieder heller und auch seine Muskeln spannten sich an. »Mein Bruder«, sagte er mit plötzlicher Aufregung in der Stimme. »Ich hatte keine andere Wahl, er wäre gestorben.«
Das klang nicht gut. Vielleicht sollte sie besser ihren Mann rufen ... Andererseits, bis dieser hier war, könnte es bereits zu spät sein.
Laura schluckte, bevor sie an Jesse vorbeiging. Als sie seinen jüngeren Bruder am Boden des Wohnzimmers entdeckte, blieb sie kurz stehen und warf einen Blick auf Jesse. Nun, wo sie sich wieder in einem beleuchteten Raum befanden, konnte Laura erst erkennen, wie blass seine Haut war. Verständlich, immerhin machte sein Bruder auf sie keinen sehr lebendigen Eindruck. Im Gegensatz zu Jesse kannte sie ihn kaum, doch das bedeutete nicht, dass sie keine Angst um ihn hatte.
»Du hast ihn verwandelt?«, fragte sie Jesse, bemüht, ihre Stimme nicht zittern zu lassen. Sie dachte an Grace und daran, dass sie vermutlich tot war. Und sie dachte an ihren eigenen Sohn. Wenn Laura etwas zustoßen würde, dann würde sie wollen, dass sich jemand um ihn kümmerte.
Auf ihre Frage hin nickte Jesse, doch er wirkte dabei nicht gerade überzeugt. Er atmete tief durch. »Ich meine, das dachte ich zumindest. Aber er wacht nicht auf. Er müsste doch aufwachen, oder?«
Das müsste er. Aber was, wenn es nicht funktioniert hatte? Was sollte sie ihm dann sagen? Heute Nacht noch ein Familienmitglied zu verlieren, würde er bestimmt nicht verkraften. Niemand würde das.
Laura zögerte, doch dann kniete sie sich neben Jesses Bruder auf den Boden, um zu überprüfen, ob er noch am Leben war.
»Sie sind alle tot«, hörte sie Jesse dabei hinter sich sagen und versuchte, sich von seinen Worten nicht beunruhigen zu lassen. Wieder hatte sie Grace vor Augen. »Alle.«
»Nicht alle«, stellte sie nach ein paar Sekunden erleichtert fest und atmete tief durch, als zumindest ein Teil der Anspannung von ihr abfiel. Die Wunde am Hals des Jungen begann langsam zu heilen, doch eine Narbe würde bestimmt zurückbleiben. Allerdings war das wohl das geringste Übel, wenn man bedachte, dass auch er hätte tot sein können. »Jesse«, sagte Laura, wobei sie sich die größte Mühe gab, ihre Stimme fest klingen zu lassen und Jesse das Gefühl zu geben, dass alles gut werden würde. »Könntest du deinem Bruder ein Glas Wasser aus der Küche holen? Wenn er aufwacht, hat er bestimmt Durst.«
»Bestimmt«, gab Jesse trocken zurück. Durch die Nachricht, dass sein Bruder nicht tot war, schien die Nervosität völlig von ihm abgefallen zu sein. Stattdessen glaubte sie, eher so etwas wie Wut in seiner Stimme mitschwingen zu hören. Sie konnte ihm aber kaum verübeln, dass seine Gefühle etwas verrücktspielten. »Aber er wird kein Wasser wollen.«
»Jesse«, setzte sie an, kam aber nicht dazu, den Satz zu Ende zu sprechen.
»Schon gut«, meinte er, bevor er ihr den Rücken zuwandte und in die Küche verschwand.
Einen Moment lang sah Laura sich im Wohnzimmer um: Es war völlig zerstört, als ob hier ein heftiger Kampf gewütet hätte. Der riesige, voll geschmückte Weihnachtsbaum lag umgekippt in einer Ecke. Sie wollte wissen, was passiert war, doch es war wohl nicht der richtige Moment, um Jesse danach zu fragen. Besonders, da sie spürte, wie der Herzschlag seines Bruders immer regelmäßiger wurde, bis er hochschreckte und sich umsah.
»Was ist passiert?«, fragte er, als er sie entdeckte. »Was waren das für Leute? Wo ... wo ist meine Schwester?«
»Es ist alles in Ordnung«, versicherte Laura ihm, und griff nach seiner Hand, da sie ihm keine seiner Fragen beantworten konnte. Jesse könnte das, doch er war vermutlich im Moment nicht dazu in der Verfassung. Daher musste sie die Aufgabe übernehmen, ihn zu beruhigen. »Dein Bruder hat dir das Leben gerettet.«
»Aber-« Seine meerblauen Augen musterten sie verunsichert. Sie konnte ganz eindeutig die aufsteigende Angst und Panik darin erkennen. »-meine Schwester ...«
»Es tut mir leid.« Jesse war wieder im Türrahmen aufgetaucht. Er sprach langsam und gedehnt, als ob er sichergehen wollte, dass sein Bruder ihn auch wirklich verstand. Doch seine Bemühungen schienen umsonst: Die Verwirrung war ihm nur zu deutlich ins Gesicht geschrieben. »Aber zumindest bist du noch am Leben.«
»Zumindest?« Langsam schienen die Worte seines Bruders nun doch zu ihm durchzudringen, denn auf seinem Gesicht machte sich Verzweiflung breit. Er schüttelte den Kopf. »Was lässt dich denken, dass ich so leben will? Ohne unsere Schwester?«
Warum fragte er nicht nach seinen Eltern?
»Entschuldige, aber ich dachte, dein Leben wäre dir etwas wert.« Jesse beobachtete seinen Bruder dabei, wie er aufstand. Allerdings musste er sich mit beiden Händen an der Wand festhalten, um nicht umzufallen. Der Blutverlust zeigte immer noch seine Nachwirkungen, auch wenn die Wunde bereits verheilt war.
»Aber nicht so viel, wie das von Summer, Jesse«, erklärte er ernst. Irgendwie verstand Laura ihn ja, auch wenn seine Worte ihr im Herz wehtaten. Die ganze Situation war wie ein wahrgewordener Albtraum. Besonders für die beiden.
Laura merkte, dass Jesse etwas sagen wollte, doch sie griff nach seinem Arm, um ihn davon abzuhalten. Er wollte seinen Bruder trösten, das wusste sie, aber sie befürchtete auch, dass er nicht die richtigen Worte finden würde. Zumindest in seinem aktuellen Zustand nicht. »Sag nichts«, bat sie ihn im Flüsterton mit einem Blick auf seinen Bruder, der inzwischen mit dem Rücken zu ihnen stand und den Kopf gegen die Wand gelegt hatte.
Laura spürte, wie Jesse sich neben ihr anspannte und auch ihr Griff um seinen Arm festigte sich, als sie die Tätowierung im Nacken des Jungen entdeckte. »Siehst du das auch?«, fragte sie Jesse, woraufhin er nickte. »Wir müssen ihn ins Internat bringen. Kalin wird wissen, was zu tun ist.«
Jesse lachte sarkastisch. »Ja, viel Glück dabei, ihn von hier wegzubekommen.«

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 02.07.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meine Cousine, Chrs.

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