Mir ist heiß und kalt zugleich. Ich fühle mich benebelt, kann nicht mehr klar denken und weiß genau, dass ich schon wieder zu viele Shots erwischt habe. Meine schlechte Laune und mein Frust haben mich an diesem viel zu kalten Oktoberabend wieder einmal ins Zeppelin, dem heruntergekommenen Club am Stadtrand, getrieben. Hauptsächlich Teenager sind hier unterwegs, aber mit meinen 22 Jahren bin ich keinesfalls die Älteste. Wenn man mir auf der Straße begegnet und mich eines kurzen Blickes würdigt, bin ich zwar keineswegs der Typ, den man glaubt in einem Club wiederzutreffen, jedoch liebe ich es andere zu überraschen. Fast jedes Mal wenn ich mich dazu entscheide einen Sprung in die Bar zu schauen, halte ich mich stundenlang hier auf und trinke mindestens fünf Shots oder zwei Cocktails zu viel. Oder beides, was natürlich noch schlimmer ist. Eigentlich bin ich gar nicht der Typ dafür. Sich volllaufen lassen, seinen Frust in Alkohol tränken um den Schmerz im Inneren zu mindern. Eigentlich hasse ich es, aber ich mache immer wieder denselben Fehler, den ich dann am nächsten Tag büßen muss.
Der Barkeeper Jack ist mir ebenfalls nie eine große Hilfe, weil er mich fast dazu drängt noch einen Kurzen zu trinken. Eigentlich ist er ein ganz netter Typ, aber seine Geldsorgen machen ihm zu schaffen. Und wer ist schon ein besseres Geschäft als ein paar besoffene Jugendliche oder eine stockbetrunkene Tara Delaney? Außerdem habe ich manchmal das Gefühl, dass er mich gerne abschleppen würde. Ich finde die Vorstellung schrecklich und muss mich jedes Mal bei dem Gedanken winden. Jack ist überhaupt nicht mein Typ und mindestens 20 Jahre älter. Ausschlusskriterium Nummer eins für mich. Er ist extrem groß, etwa 1,95 Meter und mager. Mit seinen orange-blonden Haaren, von denen er sowieso nicht mehr viele besitzt und dem Stoppelbart ist er das genaue Gegenteil meines Beuteschemas. Aber zum Unterhalten und Drinks ausschenken ist er allemal gut genug. Und ich muss zugeben, dass ich mich gerne mit ihm unterhalte. Zumindest dann, wenn er nicht gerade versucht mir zu schmeicheln. Das mit uns wird nie etwas werden und das weiß er auch genau. Ich habe es ihm mehr als einmal deutlich gemacht. Dennoch mag ich ihn und manchmal habe ich sogar das Gefühl, er kennt mich besser als manche meiner Freunde, die ich sowieso an einer Hand abzählen kann.
Obwohl sein Club nicht schlecht besucht ist, hat er viel Zeit zum Reden. Da ich meistens alleine hierher komme, wie gesagt ich mache das nur, wenn ich Frust abbauen muss, unterhält er sich meist nur mit mir, weil ich die einzige Kundschaft bin, die nicht damit beschäftigt ist mit jemand anderem zu plaudern oder sich auf der Tanzfläche herumräkelt um sich an irgendwelche betrunkenen oder notgeilen Männer heranzumachen.
„Tara? Noch einen?“ Er reißt mich abrupt aus meinen Gedanken.
„Was?“
„Ob du noch einen Shot möchtest?“, hakt Jack nach. Er blickt mich mit so einem durchdringenden Blick an, dass sich mir ruckartig der Magen umdreht. Jedoch kann ich nicht sicher deuten, ob das nicht doch die Wirkung des Alkohols ist.
„Nein, danke“, bringe ich gerade noch so heraus. Ich muss dringend auf die Toilette. Mir ist schwindelig und speiübel. Toll. Hektisch rutsche ich vom Barhocker auf meine wackeligen Beine und taumele augenblicklich an einen mir unbekannten Typen in einem weißen Shirt.
„Naaa? Alles in Ordnung?“ Er sieht mich mit einem abfälligen Grinsen an. Keine Ahnung ob er gut aussieht, mein Blick ist verschleiert. Wie ich solche Typen hasse, die es sich erlauben einen sofort anzuquatschen nur weil man sie berührt hat. Ich nicke nur kurz und taumele weiter, als er plötzlich nach meinem Arm greift und mich heftig zurückzieht. Der unsanfte Ruck bringt mich fast aus dem Gleichgewicht und ich fliege nahezu mitten in seine Arme.
„Hey, was soll das?“, motze ich. „Lass mich gefälligst los du Spast.“
Ich bin stinksauer. Was bildet sich dieser Typ ein? Er kommt mir gefährlich nahe und raunt mir etwas ins Ohr, bevor ich mich von ihm losreißen kann.
„Pass mal auf Süße. Du siehst ziemlich gut aus und ich finde es ziemlich tapfer, wie du versuchst dich zu wehren. Wird nur leider nicht klappen, du bist zu betrunken um etwas dagegen zu tun. Und selbst wenn du es nicht wärst, hättest du keine Chance, denn ich bin ein kräftiger Mann und du nur ein kleines süßes Mädchen.“
Ich schnaube. Er hat auch noch den Mumm dazu eine junge erwachsene Frau wie mich ein kleines Mädchen zu nennen. Wie kann man nur so ein Arsch sein? Aber er hat Recht und das macht mir Angst, also beginne ich sofort nachzudenken, was ich tun könnte. In meinem Hirn dreht sich alles, doch ich bin noch soweit bei Bewusstsein um ein paar klare Gedanken zu fassen. Ich muss irgendwie von diesem Ekel wegkommen, also setze ich mein Vorhaben in die Realität um und drehe mich in seinen Armen zu ihm.
„Okay, ich hab schon verstanden was du willst. Und eigentlich ist es mir auch komplett egal. Ich hoffe nur, dass ich morgen nichts mehr davon weiß aber hey, ich stehe dir zur Verfügung.“ Ich merke, dass ich schon etwas nuschele aber er scheint mich verstanden zu haben, denn sein Blick weitet sich und er sieht mich etwas verdutzt an. Damit hat er wohl nicht gerechnet und in dem Moment weiß ich, dass mein Plan klappen wird. Der Sekundenbruchteil seiner Fassungslosigkeit ist meine Chance. Ich setze mein süßestes Lächeln auf und ziehe währenddessen mein Bein leicht nach hinten bevor ich mein Knie ruckartig und mit aller Kraft in sein bestes Stück ramme. Reflexartig gehen seine Hände nach unten und er krümmt sich. So schnell ich kann drehe ich mich um und renne davon, was sich jedoch als nicht sehr einfach erweist. Meine schwarzen Heels bereiten mir Schwierigkeiten in meinem trunkenen Zustand und es stehen mir Unmengen an Leuten im Weg, durch die ich erstmal durchmuss. Mir bleibt nichts anderes übrig als meine Ellbogen zu verwenden und alle, die mir im Weg stehen, zu stoßen. Normalerweise würde ich so etwas nicht tun und ich bin die Erste die sich extrem darüber beschwert, wenn mir jemand seinen Ellbogen in die Rippen rammt. Heute allerdings ist das ein Notfall.
Ich bin heilfroh, dass ich schon einige Male im Zeppelin gewesen bin, somit weiß ich sofort wo sich die Toiletten befinden. Ich hoffe nur, dass sich der Typ hier nicht ganz so gut auskennt, denn ich glaube kaum dass er dumm ist. Etwas unterbelichtet ja, aber nicht dumm. Die meisten sehen die Toiletten als erstbeste Fluchtmöglichkeit, deshalb wird er auch dorthin laufen und sich für meine Aktion rächen. Wie er sich dafür rächen wird, möchte ich mir lieber nicht ausmalen, also dränge ich den Gedanken daran so schnell wie möglich beiseite.
Der Weg zu den Klos ist lang, ewig lang und gerade jetzt kommt er mir schier endlos vor. Man muss fast eine ganze Runde außerhalb des Clubs in einem dunklen Gang mit nur wenigen von der Decke hängenden Leuchten laufen, um an sein Ziel zu gelangen. Eilig darf man es hier nicht haben. Dumme Raumaufteilung. Ansonsten wurde beim Umbau aber das bestmöglichste rausgeholt. Es gibt eine riesige Tanzfläche mit Bars auf beiden Seiten, eine Lounge neben der rechten Bar und noch einen extra Raum dahinter, der von den meisten Chill-Out-Area genannt wird. Was dort bereits alles passiert ist will ich jedoch nicht so genau wissen. Erzählungen nach auf jeden Fall mehr als in so manchen Pornos. Heruntergekommen ist der Club auf jeden Fall, aber für das Alter ist er dennoch ganz gut erhalten.
Endlich habe ich mein Ziel erreicht. Ich stoße die Tür zu den Toiletten auf und stelle mich tief durchatmend vor den ersten der zwei vorhandenen Spiegel. Er ist etwas dreckig und ein Teil davon ist auch schon herausgebrochen. Obwohl so ein lächerlicher kleiner Spiegel nicht die Welt kosten kann, liegt es nicht in Jacks Macht einen Neuen zu besorgen. Er braucht sein Geld, das ihm sowieso jeden Monat knapper wird, wie er mir vorhin erzählt hat, für etwas anderes.
Ich sehe schrecklich aus. Wie meistens in einer wilden alkoholreichen Nacht. Meine rotbraunen brustlangen Haare sind alles andere als glatt, obwohl ich sie zuhause schnurgerade geglättet habe und mein Make-Up ist auch schon nicht mehr dort wo es sein sollte. Meine Augen sind rot, mein Blick verschleiert und ich sehe todmüde aus. Und stockbesoffen, wie ich es eben bin. Immer wenn ich Alkohol trinke nehmen meine Augen eine leicht andere Farbe an. Sie werden dunkler und es sieht so aus als würden sich wenige, zarte grüne Sprenkel in meinen Pupillen bilden. Ich mag meine Augen. Normalerweise sind sie blau-grau und jetzt sind sie eben dunkelgrau mit grünen Sprenkeln. Komisch.
Über den Typ von vorher mache ich mir kaum noch Gedanken, denn mein Aussehen beschäftigt mich im Moment um einiges mehr. Verstärkt durch die beiden perfekt gestylten blonden Püppchen, die gerade durch die Tür kommen und kichern. Wie alt mögen die beiden sein? 16? Wenn es gut kommt wahrscheinlich. Naja, Jack lässt schließlich jeden in den Club also brauche ich mich nicht zu wundern. Neben den beiden sehe ich nur noch schrecklicher aus, heruntergekommen. Ich passe im Moment perfekt zur Umgebung, in der ich mich befinde. Ich habe keine Lust und auch keine Kraft mehr noch länger auf den Beinen zu bleiben. Ob ich noch Geld für ein Taxi nachhause habe, ist die nächste Frage. Ansonsten werde ich eben irgendwo schlafen. Was kann mir schon passieren, außer dass ich krank werde. Immerhin sind es draußen vielleicht fünf Grad und ich habe nur ein kurzes schwarzes Kleid an. Die Entscheidung ein Taxi zu nehmen oder draußen zu nächtigen wird mir später jedoch abgenommen.
Ich krame in meiner Tasche nach meiner Geldbörse und öffne sie. Hmm, einen Fünfeuroschein habe ich noch einstecken. Könnte sich ausgehen. Meine Tasche sowie meine Geldbörse sind genau wie mein Kleid und meine Heels schwarz. Meine Beinahe-Lieblingsfarbe. Was mir jedoch noch ein bisschen besser gefällt ist dunkelblau. Es ist irgendwie geheimnisvoller und passt einen Ticken besser zu meinen Augen.
Ich stopfe meine Geldbörse wieder zurück in meine Tasche und suche nach etwas anderem, meinem Kamm, den ich immer dabei habe. Fast immer. Heute habe ich ihn natürlich vergessen. Fluchend schließe ich den Knopf meiner Clutch wieder.
„Jetzt ist es auch schon egal.“ Ich rede mit mir selbst, was ich oft tue und zwar nicht nur in betrunkenem Zustand. Meistens dann, wenn mich etwas nervt und ja, es nervt mich gewaltig, dass ich meinen Kamm zuhause vergessen habe. Ich gehe mit meinen Fingern behutsam durch meine langen Haare um sie zu bändigen und nicht auszusehen als wäre ich gerade am Klo gevögelt worden. Alle, die mich vorher nicht gesehen haben, können ja nicht wissen, dass ich schon eine ganze Weile so abgefuckt bin. Hauptsächlich wahrscheinlich wegen diesem Typen. Da fällt er mir wieder ein. Ich habe ihn fast vergessen oder eher gesagt verdrängt, weil ich mich in seinem Griff so geekelt habe. Gerochen hat er übrigens auch nicht gut. Sein Parfüm biss in meiner Nase und er roch nach Schweiß. Totaler Abturn in meinen Augen. Ich habe immer ein Deo oder ein kleines Fläschchen Parfüm dabei um so etwas zu vermeiden. Dieser Mann scheint sich jedoch nicht sehr um die Hygiene seiner selbst zu kümmern.
Als ich meine Haare wieder etwas im Griff habe trete ich einen Schritt vom Spiegel zurück und nicke mir selbst zu um mir klarzumachen, dass ich bereit bin, um nachhause zu fahren. Ich mache auf dem Absatz kehrt, öffne die Tür und dränge mich an einer etwas älteren Frau, die mir gerade entgegenkommt, vorbei auf den dunklen schmalen Gang, der zurück in den Hauptbereich des Clubs führt. Ich streiche mein Kleid glatt und bin schon bereit die ersten Schritte in die richtige Richtung zu setzen als mich eine tiefe Stimme auffahren lässt.
„Da bist du ja wieder.“
Shit. Ich weiß ganz genau wer es ist und die Angst die ich ebenfalls in seinen Armen verspürt habe kommt wieder hoch und setzt mir einen Kloß in den Hals, der mich am Sprechen hindert. Kopfnickend drehe ich mich zu ihm um, er hat gleich direkt hinter der Toilettentür gewartet. Was auch sonst. Er wusste genau, dass ich wieder herauskommen würde und hinter der Tür ist eben die beste Möglichkeit, um sich zu verstecken und mir danach einen Heidenschrecken einzujagen. Sein finsterer Blick liegt auf mir. In seinen Augen spiegelt sich eine enorme Wut. Kein Wunder, ich habe ziemlich fest zugetreten.
Im nächsten Moment gehe ich zu Boden und spüre einen harten Schlag auf meinem Kopf. Ich kann nicht genau sagen, ob der Schlag kam bevor meine Beine nachgaben oder umgekehrt. Entweder er hat mir ziemlich fest eine drübergezogen oder ich bin wegen meines übermäßigen Alkoholkonsums und der tief in mir sitzenden Angst zusammengebrochen. Mehr weiß ich nicht mehr, aber es ist klar was mir jetzt blüht. An mehr kann ich mich nicht erinnern, denn innerhalb kürzester Zeit sehe ich schwarz vor Augen und verliere das Bewusstsein.
Als ich aufwache dröhnt mein Kopf. Zuerst spüre ich ein Pochen an meinen Schläfen. Kater hoch zehn. Danach lässt mich ein stechender Schmerz an meinem Hinterkopf zusammenzucken. Was zum..? Ich blinzele kurz und fühle mich als hätte ich noch immer mindestens ein Promille, womit ich wahrscheinlich gar nicht so falsch liege. Langsam kann ich meine Augen vollends offen halten, wenn auch nur mit großer Anstrengung. Ich bin komplett fertig. Das ist meistens so. Wenn ich am Vortag zu heftig gefeiert habe, quälen mich meine Kopfschmerzen am nächsten Tag bis tief in den Abend hinein. Die meiste Zeit liege ich im Bett und hoffe inständig darauf, mich nicht zu übergeben. Aber diesmal ist es anders. Mein Unterbewusstsein drängt meine Übelkeit in den Hintergrund. Ich habe überhaupt keine Ahnung wo ich mich eigentlich befinde, ich weiß nur, dass ich nicht zu Hause bin. Scheiße. Wahrscheinlich hat mich irgendein Typ abgeschleppt und vergewaltigt. Mit einem Blick unter meine Bettdecke will ich mich vergewissern. Mein schwarzes Kleid habe ich definitiv nicht mehr an, meine Unterwäsche trage ich jedoch nach wie vor. Das erleichtert mich ein wenig und ich versuche mich wieder auf meine Umgebung zu konzentrieren. Ich liege in einem Bett, das in etwa so groß wie das in meiner Wohnung ist, so um die 140 Zentimeter schätze ich. Ich liege ziemlich bequem auf einer weichen Decke, die schon etwas schmuddelig ist. Was nicht bedeutet, dass sie dreckig oder ekelhaft ist, nein, wahrscheinlich ist sie nur schon sehr oft gewaschen worden. Zugedeckt bin ich ebenfalls mit einer Decke, die etwas dünner und dunkler als die cremefarbene ist, auf der ich liege. Es muss Tag sein, aber im Zimmer ist es extrem finster, weil sich nur ein kleines Fenster darin befindet und die Jalousien geschlossen sind. Ich werde festgehalten. Das ist mein nächster Gedanke. Eingesperrt in einem kleinen Zimmer, von wo aus ich von einem 40 Jährigen Perversling beobachtet werde. Der Raum ist wirklich nicht groß. Vielleicht zehn Quadratmeter. Außer dem Bett befinden sich noch ein kleines Nachtkästchen zu meiner Rechten und ein etwa zwei Meter hoher und breiter Schrank auf der gegenüberliegenden Seite in dem Zimmer. Ich blicke zu Boden und finde heraus, dass dieser mit dunklem Parkett ausgestattet ist.
Der pochende Schmerz an meinem Hinterkopf lenkt mich plötzlich von meiner Erkundungstour ab. Vorsichtig taste ich mit meiner Hand zu der Stelle, an der mein Kopf gefühlsmäßig platzt. Ich spüre etwas Weiches. Ein Verband? Wo bin ich gelandet, dass ich meine Unterwäsche anbehalten habe, in einem weichen Bett schlafen darf und sogar versorgt werde? Ich kann mich an nichts mehr erinnern, das ist mein allergrößtes Problem und es macht mich wahnsinnig. Das passiert nicht oft, weil ich zwar immer mal wieder einen riesen Kater habe, aber nie ein Blackout. Das einzige, woran ich mich erinnern kann ist, dass ich auf den Toiletten im Zeppelin gewesen bin und als ich zurück in den Club wollte, einen harten Schlag auf meinen Kopf verspürt habe. Warte. Ein Schlag auf meinem Kopf? Warum? Da war doch dieser Typ. Plötzlich fällt mir die Szene von gestern Abend wieder ein. Ich stecke tiefer in der Patsche als ich geglaubt habe. Wahrscheinlich hat er mich hierher gebracht und mich versorgt, damit ich wieder fit werde und dann würde er mich als seine persönliche Hure in Anspruch nehmen. Meine Gedanken werden immer finsterer und ich bekomme es erneut mit der Angst zu tun.
Aus diesem Grund setze ich mich langsam auf. Das Bett macht knarrende Geräusche. Immerhin ist es aus Holz und ziemlich sicher auch schon sehr alt. Wahrscheinlich bin ich nicht die erste, sondern eine von Hunderten, durchfährt es mich. Ein kalter Schauer läuft meinen Rücken hinab. Ich kann mich kaum noch an den Typen von gestern Nacht erinnern. Das einzige was hängen geblieben ist, sind sein penetranter Geruch in meiner Nase und sein fester Griff um meinen Oberarm. Ich ekele mich erneut und der nächste kalte Schauer ergreift meinen Körper. Langsam versuche ich aufzustehen aber ich bin noch zu schwach, um auf die Beine zu kommen, also lege ich mich wieder hin und stoße einen lauten Seufzer aus. Im nächsten Moment überkommt mich eine Welle des Schwindels. Ich habe definitiv noch ein Promille Alkohol im Blut.
Plötzlich höre ich Schritte vor der Zimmertür, mein Kopf fährt ruckartig wieder hoch und mein Blick heftet sich an die Türschnalle. Ein Klopfen an der dunklen Holztür lässt mich Schlucken. Schnell lege ich mich wieder hin und tue so als würde ich schlafen. Bei Weitem bin ich nicht die beste Schauspielerin aber ich hoffe inständig, dass meine Künste ausreichen, um meinem Entführer noch einige Stunden etwas vorzutäuschen. Die Tür wird mit einem leisen Quietschen geöffnet und frisches Tageslicht strömt in den Raum. Obwohl ich meine Augen geschlossen halte, merke ich, wie hell es draußen wirklich ist. Anscheinend befindet sich gleich in der Nähe der Tür ein Fenster, welches Tageslicht in das Haus, oder wo auch immer ich hier gelandet bin, befördert.
„Miss Delaney, ich weiß, dass Sie wach sind. Ich habe Ihren Seufzer gehört und bin mir sicher, dass Sie dieses Geräusch nicht im Schlaf oder während eines Traums verursacht haben. Ich habe hier frische Kleidung für Sie, die ich Ihnen ans Bettende lege. Es ist zwar nur frische Unterwäsche und ein T-Shirt von mir, das Ihnen bestimmt fünfmal zu groß sein wird, aber ich bin mir sicher, dass es Ihnen dennoch sehr gut steht. Wenn Sie sich besser fühlen und bereit sind, mir in die Augen zu blicken, dann kommen Sie bitte ins Wohnzimmer und ich werde nach Ihrer Wunde sehen. Bis später, Miss Delaney.“ Er entfernt sich wieder und die Tür wird mit einem erneuten Quietschen geschlossen.
Was war das denn bitte, frage ich mich. Wie kann der Typ, dem ich heftig in die Eier getreten habe und der mir kräftig eine über die Rübe gezogen hat nun so nett zu mir sein, mir frische Kleidung bringen und sich um meine schmerzende Kopfwunde kümmern? Ich verstehe die Welt nicht mehr. Aber im Moment ist mir das egal, denn mich überkommt eine erneute Welle der Müdigkeit und ich sinke in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
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Als ich erneut wach werde geht es mir um einiges besser. Vor meinen Augen dreht sich nicht mehr alles und in meinem Magen rumort auch nichts mehr so stark wie noch einige Stunden zuvor. Gefühlt sind es einige Stunden. Ich habe keine Ahnung wie spät es wirklich ist. Durch die Jalousien dringt kaum bis gar kein Licht in den kleinen Raum, eine Uhr ist weit und breit nicht zu sehen und wo sich meine Tasche befindet, in dem ich mein Handy aufbewahrt habe, weiß ich natürlich auch nicht. Wahrscheinlich hat mein Peiniger all meine Sachen zu sich genommen, voran natürlich mein Mobiltelefon um mich davon abzuhalten, jemanden anzurufen, der mich suchen und befreien sollte. Natürlich hat er meine Sachen durchwühlt, sonst hätte er meinen Namen ja nicht wissen können, kommt es mir in den Sinn.
Da es mir wirklich um einiges besser geht und ich um jeden Preis herausfinden will, wie ich hierhergekommen bin und warum ich mich eigentlich hier befinde, schlage ich die beige Decke beiseite und setze mich auf. Das Bett knarrt erneut und ich höre wieder Schritte vor meiner Tür. Dieser Mann kann das nicht ernsthaft schon wieder gehört haben. Ich bleibe eine Weile sitzen um tief durchzuatmen und warte schon darauf, dass er wieder zur Tür hereinkommt, doch es geschieht nichts dergleichen. Also nehme ich all meinen Mut zusammen, stehe auf und gehe Richtung Tür. Das T-Shirt, das er mir aufs Bett gelegt hat, ziehe ich absichtlich nicht an. Ich weiß genau, dass er mich lieber in Unterwäsche sehen möchte, am besten gleich ganz nackt und dass dieses T-Shirt nur eine Tarnung seiner nicht vorhandenen Freundlichkeit ist. Also gehe ich erhobenen Hauptes weiter und bin bereit mich meinem Schicksal zu stellen. Ich öffne die Tür und das Tageslicht, welches ich vorhin schon bemerkt habe lässt mich meine Augen zu Schlitzen zusammenkneifen, da es mich so sehr blendet. So ähnlich wie ich es mir vorgestellt habe, sieht es vor der Tür meines Gefangenenzimmers aus. Es befindet sich jedoch nicht nur ein Fenster vor mir sondern eine fünf Meter breite Glasfront mit Blick auf einen wunderschönen Teich, der mit einem kleinen Steg und glasklarem Wasser ausgestattet ist, auf dem sich die Sonnenstrahlen brechen und den kompletten Teich zum Glitzern bringen. Wunderschön. Hauptsache mein Zimmer sieht aus wie eine Gefängniszelle. Ich schnaube verächtlich.
Da der Gang in dem ich mich befinde nur nach links verläuft gehe ich in diese Richtung und lande in einem riesigen Raum mit einer ebenfalls riesigen grauen Couch und einem sehr altmodisch aber dennoch luxuriös aussehendem dunkelblauen Fauteuil. Darin sitzt er und blickt mich durchdringend an.
„Ziehen Sie sich etwas an, Tara.“
Wie bitte? Hat mein Entführer, der übrigens extrem gut aussieht gerade gesagt, dass ich mir etwas anziehen soll?
Ich kneife meine Augen zusammen. „Warum?“
Seine markanten Gesichtszüge verraten nichts von seinen Gedankengängen und seine fast schwarz wirkenden, leuchtenden Augen blicken mich durchdringend an. „Tun Sie es einfach. Danach kommen Sie wieder, ich muss nach Ihrer Wunde sehen.“
Ich traue meinen Ohren nicht. Aber ich folge seinen Anweisungen, da ich ihn nicht verärgern und natürlich auch die Wahrheit über gestern Nacht erfahren will. Meine Wunde kümmert mich weniger aber es beruhigt mich dennoch etwas, dass er danach sehen möchte. Ich mache auf dem Absatz kehrt, gehe zurück in mein Zimmer und werfe mir das T-Shirt über. Es ist dunkelblau. Meine Lieblingsfarbe. Genau wie der Fauteuil. Hm, wir scheinen möglicherweise den gleichen Geschmack zu haben. Die Unterwäsche rühre ich im Moment nicht an. Ich möchte nicht wissen, wer den Slip und den BH, der übrigens haargenau meiner Größe von 75C zu entsprechen scheint, schon aller angehabt hat. Warum hat dieser Mann überhaupt Frauenunterwäsche aber keine Frauenklamotten bei sich? Nach einem hoffentlich erfolgreichen Gespräch werde ich nach einer Dusche fragen und die Unterwäsche möglicherweise doch anziehen. Bei genauerer Betrachtung merke ich nämlich, dass sie ziemlich neu aussieht und einen angenehm frischen und beruhigenden Duft verströmt. Bei diesen Gedanken fällt mir auf, dass das T-Shirt, das ich nun trage ebenfalls frisch duftet und so gar keine Ähnlichkeit mit dem beißenden Geruch von gestern hat. Im Gegensatz zu der Unterwäsche riecht es aber auch ein klein wenig nach Parfüm, aber so zurückhaltend, dass man es kaum bemerkt. Der Duft ist berauschend und trifft genau meinen Geschmack.
Ich lege die Unterwäsche, welche ich zuvor in die Hände genommen habe um zu überprüfen ob sie mir passt zurück aufs Bett und mache mich erneut auf den Weg ins Wohnzimmer, um meinem Entführer entgegen zu treten. Als ich vor ihm stehe verlässt mich mein zuvor aufgekommener Mut sofort, da sein Blick so durchdringend auf mir liegt, dass es mir meine Kehle zuschnürt und ich am ganzen Körper eine Gänsehaut bekomme. Eigentlich habe ich ihn fragen wollen, was er von mir will und warum ich hier bin, warum er mich pflegt und vieles mehr. Doch kein einziges Wort davon kommt auch nur annähernd über meine Lippen.
„Kommen Sie mit mir, Tara. Ich begutachte Ihre Wunde und wechsle den Verband.“
Ich folge ihm still. Wir gehen drei Stufen hinauf, ein Stück weiter und dann nach rechts, bis wir in einen Raum kommen, bei dem ich nicht ganz deuten kann, wofür er gebraucht und verwendet wird. Es stehen einige Kommoden, sowie zwei Schränke und ein Bett im Raum. An den Wänden hängen einige abstrakte Bilder, die für mich keine Bedeutung haben. Anscheinend sollen sie etwas Bestimmtes darstellen, was mich jedoch wenig kümmert, da ich kaum etwas für Kunst übrig habe. Entweder mir gefällt ein Bild oder es gefällt mir eben nicht, so einfach gestrickt bin ich bei diesen Dingen. Er bleibt vor mir stehen und ich renne fast in ihn hinein, weil ich gerade auf eine Kommode starre, auf der diverse Pflegemittel und Medikamente stehen. Das muss ein Arztzimmer oder so etwas Ähnliches sein. Als ich so nah bei ihm stehe, bemerke ich, dass er genauso riecht wie das Shirt, welches ich trage. Nur etwas intensiver, als hätte er das Parfüm erst vor kurzem frisch aufgetragen. Er riecht herrlich. Stopp. Was habe ich für Gedanken? Ich darf auf keinen Fall positiv von meinem Entführer denken.
„Was wollen Sie von mir?“, bringe ich plötzlich heraus. Ich bin verwundert wie kräftig und sicher meine Stimme klingt, obwohl ich innerlich wie Espenlaub zu zittern beginne, als er sich während meiner Worte zu mir umdreht und mich mustert. Im Gegensatz zu mir ist er ziemlich groß. Ich bin gerade mal 1,65 Meter und er beinahe einen Kopf größer als ich. Ich mag Männer dieser Größe.
„Wonach sieht es denn aus?“, erwidert er mit einem komischen Ausdruck in den Augen, den ich nicht deuten kann.
„Ich weiß nicht. Ich weiß auch nicht, was es zu bedeuten hat, wenn man jemanden zusammenschlägt und dann mit nach Hause nimmt und plötzlich den netten Typ von nebenan spielt obwohl man sich in Wirklichkeit nur über sein neues Spielzeug freut.“ Wow, woher habe ich diesen Mut jetzt bitte genommen. Ich bin ein klein wenig stolz auf mich selbst und grinse innerlich.
Er starrt mich an. Bestimmt fünf Sekunden. Ich versuche alles um seinem Blick standzuhalten, was sich jedoch als sehr schwierig erweist. Seine Augen sind so dunkel. Dunkelblau. Wie zwei tiefe Abgründe in die ich gleich zu fallen drohe. Wie schafft es dieser Mann mich so lange und unergründlich zu mustern ohne auch nur mit der Wimper zu zucken?
„Ich habe Sie gerettet, nicht zusammengeschlagen.“
Ich lache auf. „Bitte was? Gerettet. Vor was denn? Und dann zuhause eingesperrt und mir alle meine Sachen geklaut.“ Dieser Typ will mich ernsthaft für dumm verkaufen. Ich werde sauer.
„Vor Ihnen selbst.“ Danach dreht er sich um und geht zu der Kommode mit den Verbänden und Medikamenten. Er deutet auf das Bett, welches direkt daneben steht und will mir damit verdeutlichen, dass ich Platz nehmen soll.
Ich pfauche. „Ich bin nicht Ihr Betthäschen. Entweder Sie sagen mir jetzt warum Sie mir das angetan haben.“ Ich deute auf die Wunde an meinem Kopf. „Oder ich werde so richtig sauer. Dann werden Sie nie wieder mit mir ins Bett springen können, das schwöre ich Ihnen.“
Er schüttelt nur den Kopf. „Ich habe keine Ahnung wovon Sie reden, Tara. Sie wissen ganz genau, dass ich Sie gerettet habe.“
„Verdammte Scheiße, ich weiß nichts mehr von gestern Nacht. Ich weiß nur noch, dass Sie der ekelhafte Typ sind, der mir gedroht hat und mich mit nachhause nehmen wollte. Und es auch geschafft hat, immerhin war ich stockbetrunken. Und Sie, ekelhafter Feigling, haben diese Situation schamlos ausgenutzt.“ Ich blitze ihn an und versuche ihn mit meinem Blick in die Hölle zu befördern. Anscheinend bin ich sehr schlecht darin denn seine Mimik verändert sich kein bisschen. Aber in seinen Augen tut sich etwas. Es sieht so aus als würde sich eine Erkenntnis darin widerspiegeln, die bisher nicht vorhanden war.
„Ich weiß jetzt was Sie glauben, Tara. Aber ich bin nicht der, für den Sie mich halten. Und jetzt setzen Sie sich gefälligst hier hin. Ich möchte mir Ihre Wunde ansehen, weil ich mir Sorgen um Sie mache. Sie sind heftig auf den Boden geknallt.“
Ich kapiere gar nichts mehr. „Wer sind Sie? Warum bin ich hier?“ Tausende Fragen tauchen in meinem Kopf auf. Wann werde ich Zeit haben ihm all diese Fragen zu stellen? Ich versichere mir in diesem Moment nie wieder so viel Alkohol zu trinken. Wie schrecklich es sich einfach anfühlt ein Blackout zu haben und nicht mehr zu wissen, was passiert ist. In dem Moment, in dem ich mir meiner Hilflosigkeit bewusst werde, sacke ich innerlich zu einem Häufchen Elend zusammen. Ich meine, ich habe das Blackout bestimmt wegen einer Gehirnerschütterung oder so etwas in der Art. Mir ist jedoch auch bewusst, dass ich ohne meinen übermäßigen Alkoholkonsum nicht in die Arme dieses Typen gefallen wäre. Neugierig blicke ich ihn an.
„Ich bin nicht derjenige, für den Sie mich halten.“
„Na klar, in Wahrheit haben Sie mich gerettet, ich weiß ich weiß“, werfe ich ihm zynisch an den Kopf.
„Ich bin sein Bruder“, antwortet er kurz und knapp. Danach widmet er sich wieder seinen Utensilien. Oh, damit habe ich nicht gerechnet.
„Setzen Sie sich jetzt bitte. Ich möchte Sie nun wirklich untersuchen. Vertrauen Sie mir, ich will Ihnen nichts Böses. Vielleicht verstehen Sie ja jetzt, dass ich Sie wirklich gerettet habe.“ Ein sarkastischer Unterton liegt in seiner Stimme und ich merke, dass er leicht schmunzelt, als ich neben ihm vorbeigehe um Platz auf dem Bett zu nehmen, welches wie alle anderen Möbel im Zimmer, sowie im Haus aus dunklem Holz besteht. Anscheinend hat er eine Vorliebe für dunkle Farben. Das gefällt mir. Und er gefällt mir auch. Die Offenbarung, dass er nicht mein Entführer und Peiniger ist, hat meine Angst wie weggeblasen. Obwohl ich immer noch vorsichtig sein sollte. Nur weil er mir keine über den Kopf gezogen hat, bedeutet das nicht, dass er mir Gutes will. Er ist immer noch ein fremder Mann für mich, von dem ich nicht einmal weiß wie er heißt, geschweige denn, warum er jemanden wie mich überhaupt retten sollte. Vielleicht steckt ja doch eine böse Wahrheit dahinter, aber ich hoffe einfach auf das Gegenteil, ein bisschen naiv bin ich ja schon immer gewesen. Außerdem spricht es dafür, dass er sich um meine Wunde gekümmert hat und sie auch weiterhin umsorgen will.
Seine Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Sie ist übrigens sehr männlich. Wunderbar männlich. „Beugen Sie bitte den Kopf herunter und halten Sie ganz still Tara. Es kann sein, dass es etwas wehtut, aber ich werde mich bemühen um Sie nicht noch weiter zu verletzen. Der Schlag auf den Hinterkopf, der übrigens nicht von mir war, hat Ihnen sehr zu schaffen gemacht.“ Anscheinend findet er es ziemlich lustig mich jetzt damit aufzuziehen, nun, da ich die Wahrheit weiß. Ich eher weniger, aber wenn es ihn amüsiert, dann soll er es mir eben weiterhin unter die Nase reiben. Ich erlaube es ihm innerlich.
Ganz behutsam berührt er mit seinen Fingerspitzen meinen Hinterkopf und entfernt sanft den Verband, den er um meine Wunde gelegt hat. Seine Hände fühlen sich wohlig warm auf meiner Kopfhaut an. Das spüre ich sogar, obwohl er mich nur ganz zart berührt. Ziemlich sicher hat er das schon öfter gemacht, denn es kommt mir so vor als wüsste er ganz genau, wo er dagegenhalten muss, damit man nichts an den Haaren spürt. Übrigens bin ich ihm ziemlich dankbar dafür, immerhin bin ich sehr empfindlich was das betrifft.
„Es sieht ganz okay aus. Aber ich bin nicht sicher, ob ich Sie nicht lieber doch ins Spital bringen sollte. Ich kenne mich zwar gut mit Wunden und Verletzungen aus, aber ich bin weder Profi noch Arzt.“ Seine Worte klingen ziemlich nachdenklich und er spricht eher mit sich selbst als mit mir. Bei dem Gedanken in ein Krankenhaus zu müssen wird mir speiübel.
Ich schüttele energisch den Kopf. „Nein“, sage ich nur knapp.
„Ich weiß, dass Sie in kein Krankenhaus möchten. Aber Ihre Sicherheit geht vor.“
„Woher?“ Ich drehe meinen Kopf vorsichtig zu ihm um und blicke ihn mit großen Augen an. Er erwidert meinen Blick. Wie schon etwa 20 Minuten zuvor glaube ich in einen tiefen Abgrund zu fallen.
„Ich kenne Sie eben sehr gut, Miss Delaney.“ Sein Ausdruck im Gesicht ist wieder einmal nicht zu deuten.
„Was denn nun, Tara oder Miss Delaney?“, frage ich ihn belustigt.
„Wie es mir gerade gelüstet“, erwidert er knapp. Ich blicke ihn schief an. Aus welcher Zeit stammt der denn, um so einen Ausdruck in seinem alltäglichen Wortschatz zu haben und zu verwenden.
Auf meine Frage woher er weiß, dass ich in kein Krankenhaus möchte hat er noch nicht geantwortet. Ich hasse es, wenn jemand nicht auf meine Fragen antworten kann oder es nur teilweise tut. Dass er mich gut kennt ist keine zufriedenstellende Antwort für die anspruchsvolle Tara Delaney. Also hake ich nach. „Woher wissen Sie, dass ich Krankenhäuser verabscheue?“
Er wendet seinen Blick kurz ab, bevor er mich wieder mustert. „Es ist einfach so. Warum es so ist, werden Sie noch zu gegebener Zeit erfahren, glauben Sie mir.“
„Und warum nicht jetzt?“
„Sie können fast unausstehlich sein mit Ihren Fragen. Aber nur fast.“ Er lächelt kurz. „Drehen Sie sich wieder um, ich muss Ihnen einen neuen Verband anlegen.“
Da ich ein braves Mädchen oder besser gesagt eine brave Frau bin, folge ich seinem Befehl. Nur weil ich ihn nun nicht mehr ansehe, bedeutet das aber nicht, dass ich ihn nicht weiterhin mit Fragen löchere.
„Sind Sie ein Stalker? Mein persönlicher oder so etwas?“
Er lacht kurz auf. „Nein, ich bin der Bruder des „ekelhaften Feiglings“, wie Sie ihn selbst genannt haben. Das wissen Sie doch nun schon.“
„Das ist nicht komisch.“ Er kann mich zwar nicht sehen, aber dennoch kneife ich die Augen zusammen und mache ein griesgrämiges Gesicht.
„Ich weiß. Es ist die Wahrheit.“
Diese Antwort lässt mich tief Luft holen. Dieser Typ will mich doch ernsthaft verarschen. Seine Antworten bringen mich beinahe zur Weißglut.
„Verraten Sie mir Ihren Namen“, dränge ich. „Bitte.“ Ich füge es leise hinzu, unwissend ob er es gehört hat. Danach kommt mir wieder in den Sinn, dass er ja auch meinen Seufzer gehört hat, weswegen er zum ersten Mal in mein Zimmer gekommen ist. Demnach muss er ein überaus empfindliches Gehör besitzen.
„Mein Name ist Mr. Watson.“
Immer diese kurzen und knappen Sätze. „Wie noch?“, will ich wissen.
„Ich habe keinen Vornamen.“
„Hören Sie auf damit.“ Er macht mich wirklich wahnsinnig. „Jeder Mensch besitzt einen Vornamen.“
„Ich weiß.“ Diese beiden Wörter scheint er am Liebsten zu haben.
Ich schnaube. „Was wissen Sie noch alles?“
„Dass ich Ihre Wunde fertig verbunden habe. Sagen Sie mir immer rechtzeitig, wenn Sie stärkere Schmerzen bekommen. Und falls die Tabletten, die ich Ihnen nachher geben werde den Schmerz nicht lindern, werde ich Sie ins Krankenhaus begleiten. Ob Sie wollen oder nicht.“
„Nur, wenn Sie mir Ihren Vornamen verraten.“ Vielleicht klappt es ja mit ein bisschen Erpressung. Mein körperliches Wohl scheint Mr. Watson ja sehr am Herzen zu liegen. Normalerweise hasse ich so etwas. In den meisten Fällen sind solche Abmachungen keineswegs fair aber ich schulde ihm nichts. Immerhin muss er mich ja nicht pflegen und mir ein Bett zum Schlafen anbieten. Wenn er mir nichts verrät, dann werde ich ihm eben auch nicht verraten wie es mir geht. Ich habe schon viele körperliche Schmerzen in meinem bisherigen Leben erlitten. Da wird mich eine Platzwunde am Hinterkopf bestimmt nicht umbringen.
„Alles zu seiner Zeit.“
Das ist nicht die Antwort, die ich hören will. Vielleicht klappt es später. „Darf ich duschen gehen? Ich fühle mich unwohl, schmutzig und der Gestank nach Rauch und Alkohol haftet noch an mir.“
„Das dürfen Sie, Tara.“ Ein Lächeln umspielt seine Mundwinkel. Er liebt es mich zu provozieren.
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Ich halte mich ewig in der Dusche auf. Das 38 Grad warme Wasser und der Duft des Duschgels, das nach Himbeeren riecht, beruhigen mich sehr. Mit dem Duschschwamm schrubbe ich mir alle Geschehnisse von letzter Nacht ab, bis meine Haut zu brennen beginnt. Meine Haare kann, besser gesagt darf ich am Hinterkopf wegen meiner Wunde nicht waschen, was mir sehr zuwider ist. Ich hasse es mit fettigen Haaren herumzulaufen. Im Moment sehen sie zwar noch akzeptabel aus aber ich weiß, dass das morgen schon ganz anders sein wird und die Wunde aber noch einige Zeit braucht, um abzuheilen. Während dieser Genesungsphase darf auf keinen Fall Shampoo in die Wunde gelangen, weil sie sich sonst entzünden kann. Das hat mir Mr. Watson erklärt, während er mich ins Badezimmer geführt hat. Mir fällt auf, dass das Haus extrem groß und schön eingerichtet ist. Anscheinend ist nur mein Zimmer so klein und heruntergekommen. Die komplette Einrichtung des Hauses ist aufeinander abgestimmt. Es gibt vorwiegend dunkle Holzmöbel und die Böden sind mit dunklem Parkett belegt. Die Farben dunkelblau und grau werden in beinahe jedem Raum aufgegriffen. Immer auf andere Art und Weise versteht sich. Ich habe bestimmt erst die Hälfte des Hauses gesehen, immerhin bin ich weder in der Küche, noch in seinem Schlafzimmer gewesen und ich habe die leise Vorahnung, dass es noch einige weitere Zimmer zu entdecken gibt. Da ich mich ab jetzt anscheinend eine gewisse Zeit hier aufhalten sollte werde ich schon noch alles zu Gesicht bekommen. Warum und weshalb ich hier bin weiß ich zwar noch immer nicht aber eigentlich ist es mir egal, dass ich auf eine gewisse Art und Weise festgehalten werde. Ich habe sowieso niemanden, dem ich abgehen werde. Eltern habe ich keine mehr und meine Freunde werden sich nicht gleich Sorgen machen, wenn ich mich mal eine Woche nicht melde, weil die meisten ziemlich gestresst sind wegen der Arbeit und ihren Männern. Julie hat sogar schon ein Kind. Plötzlich kommt es mir in den Sinn. Ich muss sofort bei meiner Arbeitsstelle bekannt geben, dass ich nicht kommen kann. Heute ist zwar erst Sonntag, zumindest nehme ich das an, aber morgen wird es wieder losgehen. Das muss ich ihm nachher unbedingt sagen.
Als ich aus der Dusche steige fühle ich mich wieder unglaublich lebendig. Ich habe mir die Unterwäsche, die Mr. Watson auf meinem Bett abgelegt hat vorhin ins Bad mitgenommen und ziehe sie nun an. Sie fühlt sich sehr angenehm an, weich und genau passend. Außerdem hat er mir ein neues Shirt gegeben. Dieses hier ist grau und etwas enger geschnitten. Das würde an ihm bestimmt umwerfend aussehen, denke ich. Was, nein, so darf ich nicht denken.
Plötzlich beginnt mein Bauch knurrende Geräusche von sich zu geben und ich bemerke erst jetzt, dass ich einen Bärenhunger habe. Hoffentlich kann er gut kochen und mir etwas zu essen machen, aber so fürsorglich wie er ist hat er bestimmt an alles gedacht. Mr. Watson scheint sehr merkwürdig zu sein. Er lebt alleine in einem wunderschönen großen Haus, rettet mich vor seinem Bruder und nimmt mich mit nach Hause, wo er mich pflegt. Für mich ergibt das alles keinen Sinn, aber wie hat er so schön gesagt? Alles zu seiner Zeit. Ich werde schon noch erfahren, was das alles zu bedeuten hat und bin unglaublich gespannt darauf. Hoffentlich hat er kein zutiefst erschreckendes Geheimnis und es gibt eine ganz plausible Erklärung für all das hier.
Ich stelle mich vor den runden Spiegel im Badezimmer, der sich gegenüber der Tür befindet und blicke hinein. Auf jeden Fall sehe ich besser aus als in der Nacht im Zeppelin. Meine Augen sind nicht mehr so gerötet und mein Blick ist ebenfalls nicht in weite Ferne gerichtet. Ich suche in dem Schrank rechts neben dem Spiegel nach einer Bürste oder einem Kamm, um meine Haare zu bändigen. Diese sehen nämlich fast noch schlimmer aus als im Club, immerhin habe ich stundenlang darauf geschlafen und sie jetzt nicht gewaschen. Nach kurzer Suche werde ich zum Glück fündig und mir kommt ein kleiner Freudenschrei über die Lippen.
„Alles in Ordnung?“, geht es plötzlich hinter mir. Vor Schreck lasse ich einen weiteren Schrei los, diesmal aber einen viel lauteren. Einen Angstschrei. Außerdem fällt mir der Kamm aus der Hand und ins Waschbecken.
„Sind Sie irre?“, schnauze ich ihn an.
Er ist so schnell durch die Tür gekommen, dass ich mich unglaublich erschrocken habe. Etwas verdattert sieht er mich an. „Sie haben geschrien.“
Bitte? „Nein? Ich habe mich gefreut, weil ich einen Kamm gefunden habe Mr. kein Vorname Watson.“ Ich hasse es wenn mich jemand erschreckt. In diesem Augenblick wäre mir fast das Herz in die Hose gerutscht.
„Tut mir leid. Sie machen außergewöhnliche Geräusche, Tara. Und ich bin etwas überfürsorglich.“
Das habe ich bereits mitbekommen. Ich habe ja nichts dagegen, wenn sich jemand um mich kümmert, aber dieser Mann übertreibt es ein wenig. Immerhin bin ich kein kleines Kind mehr, das eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung braucht. Das muss ich ihm später auf alle Fälle noch klar machen. Ich werde es niemals aushalten auch nur einen weiteren Tag bei ihm zu bleiben, wenn er mich so bemuttert. Im Moment beschäftigt mich mein knurrender Magen jedoch um einiges mehr. Natürlich hat er das Geräusch ebenfalls gehört.
„Ich habe gekocht. Spaghetti Carbonara.“
Mein Herz macht einen Freudensprung und mein Magen beinahe einen Purzelbaum. Ich freue mich wie ein kleines Kind und drehe mich zu ihm um. „Mein Lieblingsessen“, grinse ich ihn an.
„Ich weiß.“
Das hätte mir jetzt klar sein sollen. Ich werfe ihm einen bösen Blick zu, da mir dieses übergroße Wissen, das er über mich zu haben scheint tierisch auf die Nerven geht. „Ich hatte fast vergessen, dass Sie mein persönlicher Stalker sind und alles über mich wissen“, gebe ich zynisch zurück.
Das Wort scheint ihm nicht zu gefallen. „Ich bin kein Stalker. Das habe ich Ihnen doch schon erklärt.“ Seine Worte klingen ernst und er wirkt ein klein wenig verärgert. Vielleicht sollte ich ihn nicht mehr so nennen. Er provoziert mich zwar auch des Öfteren aber dieses Wort scheint ihn nicht zu provozieren, sondern eher zu verletzen und so gemein möchte ich dann auch wieder nicht sein. Ich kenne ihn zwar zu wenig um seine Worte richtig zu deuten aber mein Gefühl täuscht mich bei so etwas selten.
Er dreht sich um und will schon zur Tür hinausgehen als er sich doch noch einmal umdreht. „Ich warte vor der Tür auf Sie. Machen Sie sich fertig, danach führe ich Sie in die Küche. Immerhin haben Sie einen Bärenhunger.“
Ich nicke ihm zu und bin ihm dankbar dafür, dass er mir etwas gekocht hat. Und dafür, dass er mich noch einen Moment alleine lässt. Zuvorkommend ist er auf jeden Fall, beinahe schon verhält er sich wie ein Gentleman. Zumindest dann wenn er nicht gerade damit beschäftigt ist mich zu ärgern. Bestimmt will er damit bezwecken, dass ich nicht gleich am ersten Tag in seinem Haus Reißaus nehme. Ziemlich sicher weiß ich, dass er ein dunkles Geheimnis zu verbergen hat. Er kommt mir wirklich sonderbar vor. Und wie vorher schon erwähnt, bei so etwas täuscht mich mein Gefühl selten.
Als ich ihm in die Küche folge und auf einem der mit grauem Stoff überzogenen Stühle Platz nehme, stellt er mir einen riesigen Topf mit Spaghetti Carbonara und einen Teller vor die Nase. Beim Duft der Nudeln knurrt mein Magen wie verrückt. Ich hoffe inständig, dass ich so viel essen kann wie mein Hunger groß ist. Auf die Frage warum er nichts isst meint er nur, dass er vorher schon etwas gegessen hat und möchte, dass ich auf jeden Fall satt werde. Die Reste wird er dann später zusammenessen. So als würde ich diesen ganzen Topf alleine essen, pf. Was denkt er von mir? Obwohl, er weiß ja so viel über mich, also ist es einleuchtend, dass er darüber Bescheid weiß, dass ich bei dieser Speise kaum genug bekomme. Aber wenn Schluss ist, ist Schluss. Leider, denn das Essen schmeckt wunderbar und ich esse drei volle Teller bis sich mein Bauch aufbläht und ich beinahe platze. Zumindest fühlt es sich so an. Zum Glück sieht man mir den vollen Bauch durch das Shirt, das ich trage, und das übrigens schon wieder diesen himmlischen Duft verströmt, nicht an. Verhungern werde ich hier bei Mr. Watson auf keinen Fall, das ist mir jetzt klar.
Während des Essens habe ich ihn kein einziges Mal angeschaut, da ich die ganze Zeit über gegrübelt habe, was ich ihn am besten als erstes fragen sollte. Ich will einfach alles wissen und wahrscheinlich müssten wir stundenlang reden, damit ich ein wenig besser verstehe warum ich hier bin, denn zurzeit blicke ich nicht durch. Alles zu seiner Zeit. Das schwirrt mir ständig im Kopf herum. Mir wird klar, dass er vorerst nichts über sich verraten wird also muss ich das Gespräch anders starten um es dann möglicherweise in die gewünschte Richtung zu lenken.
„Wie spät ist es eigentlich?“ Diese Frage beschäftigt mich schon seit ich vor gefühlten zwei Stunden aus meinem Bett aufgestanden bin. Ich habe noch keine Uhr im Haus entdeckt, wobei ich mich im Wohnzimmer nicht danach umgeschaut habe. Als ich vorher meinen Blick durch die Küche hab gleiten lassen ist ebenfalls keine Uhr in mein Blickfeld gefallen. Der Essbereich ist, wie sollte es anders sein, genau wie die anderen mir bisher bekannten Räume sehr groß. Die Küche selbst ist aus Holz mit grauer Arbeitsplatte und dunkelblauen Details an Schränken und Kästchen. Sehr stilvoll. Die Fließen oberhalb der Arbeitsfläche sind in einem hellen grau gehalten, das mit der Farbe an der gegenüberliegenden Wand übereinstimmt, an der sich der Esstisch befindet. Dieser ist ebenfalls aus dunklem Holz. Ob er sich das alles selbst eingerichtet hat? Falls ja, hat dieser Mann wirklich Geschmack. Aber das sieht man ihm selbst ja auch an. Das Haus wirkt außerdem sehr sauber und gepflegt, genau wie er mit seinem Drei-Tage-Bart und seinen schwarzen Haaren, die er nach hinten geföhnt zu haben scheint. Gel hat er bestimmt keines verwendet, das würde man auf den ersten Blick sehen. Seine Haare hingegen sehen weich und flauschig aus und ich habe in dem Moment inständig das Bedürfnis, hinein zu fassen. Natürlich tue ich es nicht, er würde mich wahrscheinlich für verrückt erklären. Plötzlich schießt mir in den Kopf, dass er wahrscheinlich sowieso meine Gedanken lesen kann. Das ist ein plausibler Grund, warum er so viel über mich weiß. Aber wer kann denn schon Gedanken lesen? Das gibt es doch nur in Filmen oder? Obwohl mich mittlerweile kaum mehr etwas wundert, versuche ich den Gedanken schnell zu verdrängen, weil ich merke, wie mir die Röte ins Gesicht steigt und ich inständig hoffe, er würde es nicht bemerken.
Was er jedoch bemerkt, ist mein fragender Blick, den ich durch den Raum schweifen lasse. „Ich habe nirgends im Haus eine Uhr hängen. Ich fühle mich davon irgendwie gehetzt.“ Er greift in seine Hosentasche und holt etwas Schwarzes hervor. „Wir haben 20 nach acht Uhr abends“, sagt er schließlich und steckt die kleine Uhr zurück. Ich nicke ihm zu. So spät ist es bereits. Das bedeutet doch, dass ich erst um etwa 18 Uhr aufgestanden bin.
„Haben Sie das alles selbst eingerichtet?“ Ich will ihn nicht gleich zu Beginn mit ernsten Themen überrumpeln also beginne ich ein etwas belangloses Gespräch, was aber nicht bedeutet, dass es mich nicht interessiert. Im Gegenteil.
„Ja“, antwortet er knapp. „Gefällt es Ihnen, Tara?“
Während ich mich noch einmal im Raum umsehe nicke ich ein paar Mal und lächele kurz. „Sehr schön.“
„Das ist gut. Sie sollen es schön bei mir haben.“
Ich denke an das Zimmer vergangener Nacht und setze ein leicht trauriges Gesicht auf, was er sofort zu bemerken scheint. Vielleicht doch ein Gedankenleser? „Sie bekommen natürlich ein anderes Zimmer ab heute Nacht. Wo Sie mehr Platz haben und das schöner eingerichtet ist.“ Es klingt nicht nach einer Entschuldigung sondern eher so, als hätte er das von Anfang an geplant. Ich bin mir dabei aber nicht ganz sicher. Vielleicht fühlt er sich auch ein klein wenig schuldig, weil ich so unzufrieden dreingeschaut habe. Hm, jetzt fühle ich mich selbst schuldig denn ich will keine großen Ansprüche stellen und tue es dennoch, unbewusst.
„Ich möchte Ihnen keine Umstände machen“, bringe ich hastig hervor.
Er sieht mich durchdringend an. „Das tun Sie nicht.“ In seiner Stimme liegt so eine Ernsthaftigkeit, dass mir fast angst und bange wird. Also gehe ich nicht näher darauf ein und nehme es so hin.
„Warum bin ich hier?“ Ich kann nicht länger warten. Obwohl ich mir vorgenommen habe ihn nicht zu überrumpeln kommt die Frage wie aus dem Nichts aus mir herausgeschossen. Er hat mit dieser Frage gerechnet, immerhin ist er alles andere als dumm. Und, wie sollte es sonst sein, hat er sich auch schon eine passende Antwort dazu überlegt. „Ich habe Sie gerettet, das erwähnte ich bereits. Sie waren stockbetrunken und eine leichte Beute, nicht nur für meinen Bruder. Ich bin mir sicher, dass Sie an dem Abend noch von jemandem abgeschleppt worden wären und bin sehr dankbar dafür, dass ich Sie rechtzeitig gefunden habe. Ich konnte Sie nicht vollständig beschützen, aber das Schlimmste habe ich verhindern können. Sie müssen eine Weile bei mir bleiben, ob Sie wollen oder nicht. Sie sind in großer Gefahr, Miss Delaney und ich bin dafür zuständig, dass Ihnen nichts passiert.“
Seine Antworten rattern durch meinen Kopf und lassen mich verstummen. Ich versinke tief in meinen Gedanken und beginne in meinem Teller herumzustochern, obwohl er bereits leer ist. Was meint er denn bloß? Warum bin ich in Gefahr? Ich bin doch eine ganz normale Frau, oder etwa nicht? Wer kann es nur auf mich abgesehen haben? Fragen über Fragen, die in meinem Kopf herumschwirren. Werde ich auf all das eine Antwort bekommen? Jetzt sofort wahrscheinlich nicht. Und auch nicht in den nächsten Tagen, versichert mir eine Stimme in meinem Hinterkopf, die ich versuche im Keim zu ersticken. Immerhin hat er mir schon einige Male deutlich gemacht, dass ich alles zu seiner Zeit erfahren werde. Ich bin zwar nicht extrem ungeduldig, aber bei so etwas Wichtigem und vor allem Erschreckendem wird das Warten zur Ewigkeit und meine Geduld stößt an ihre Grenzen. Mr. Watson scheint genau zu wissen, welche Fragen mich quälen. Er sieht mich, wie immer, mit diesem durchdringenden Blick an und seufzt letztendlich.
„Mein Bruder ist eine Gefahr für Sie. Wenn Sie ihm im Club nicht in die Arme gefallen wären, hätte er Sie wahrscheinlich gar nicht wahrgenommen. Er hatte nicht erwartet Sie dort anzutreffen.“
Ich verstehe gar nichts mehr. „Woher kennen Sie und Ihr Bruder mich?“, frage ich verwundert und auch etwas ängstlich. Es ist nicht das beste Gefühl von jemandem so gut gekannt zu werden, den man noch nie in seinem Leben gesehen hat.
„Das kann ich Ihnen noch nicht sagen.“
„Warum nicht?“ Diese Geheimnisse gehen mir tierisch auf die Nerven.
„Weil es zu gefährlich für Sie wäre, wenn Sie jetzt schon alles erfahren. Bitte vertrauen Sie mir, ich weiß, was das Beste für Sie ist.“
Ich schnaube. Wieder einmal. „Es ist nicht so leicht jemandem zu vertrauen den man erst seit einigen Stunden kennt.“ Das letzte Wort setze ich mit meinen Fingern unter Anführungszeichen.
„Ich weiß“, gibt er zurück und blickt mich an.
Ich drehe meinen Kopf zur Seite. „Hören Sie auf damit.“
„Tut mir leid, Tara. Ich wollte Sie nicht verärgern.“
„Haben Sie aber.“ Ich bin müde und leicht sauer. Sofort überkommt mich ein leises Gefühl der Reue. Eigentlich will ich gar nicht so patzig zu Mr. Watson sein, immerhin pflegt er mich gut und hat mir soeben mein Lieblingsessen gekocht. Aber es fällt mir nicht sehr leicht. Ich weiß, dass ich heute nicht mehr viel darüber erfahren werde also wechsele ich das Thema.
„Ich muss morgen wieder zur Arbeit. Also sollte. Ich brauche mein Handy, damit ich dort anrufen kann.“
„Das habe ich bereits für Sie erledigt.“
Bitte was? Das geht wohl wirklich zu weit. „Sind Sie noch ganz dicht?“, platzt es aus mir heraus. „Ich bin doch kein kleines Kind mehr!“ Ich bin stinksauer, die kurze Reue von vorhin ist wie weggeblasen.
„Das habe ich auch nicht behauptet. Ich wollte Ihnen keine Schwierigkeiten einbringen, deshalb habe ich gleich heute Morgen bei Ihrem Arbeitsgeber angerufen.“
Mein Boss und ich haben ein extrem gutes Arbeitsverhältnis. Zumindest hatte ich das, bevor ich aus meinem Alltag gerissen wurde. Von dem her war es nichts Ungewöhnliches an einem Sonntag einen Anruf von mir zu erhalten. Bestimmt wusste Mr. Watson das ebenfalls, sonst hätte er niemals dort angerufen.
„Ich brauche Ihre Hilfe nicht.“
„Die brauchen Sie sehr wohl. Reden Sie nicht so mit mir.“ Er scheint sauer zu sein. Genau wie ich. Das kann ja noch heiter werden, denke ich nur.
„Ich rede mit Ihnen wie ich will. Ich bin eine erwachsene Frau und Sie sind ein erwachsener Mann. Ich bin nicht Ihre Untertanin. Ich bin hier, weil Sie das so möchten, also müssen Sie auch damit rechnen, dass ich mir nicht alles gefallen lasse. Wenn Sie mich so gut kennen wie Sie die ganze Zeit behaupten, dann sollten Sie auch wissen, dass ich es hasse bemuttert zu werden. Und das ist genau das, was Sie tun seit ich hier bin. Es ist schön, dass Sie sich um mich kümmern und mich beschützen wollen oder müssen oder keine Ahnung was auch immer Sie tun. Aber ich bin alt genug um meine Pflichten selbst zu erledigen. Danke für Ihr Verständnis Mr. Watson, das Sie nicht zu haben scheinen.“
Mein abschließender Satz war vielleicht etwas zu gemein. In seinen Augen tut sich etwas und seine Mundwinkel verkrampfen sich. Ich habe Angst, dass er mir gleich eine runterhaut um mir ein klein wenig Respekt aufzudrängen. Aber es geschieht nichts dergleichen. Er sieht mich nur an. Solange, bis sich sein Kiefer wieder entspannt. „Ich bringe Sie ins Bett. Sie sind angespannt und müde. Das sehe ich Ihnen an.“
Wo er Recht hat, hat er Recht. Mittlerweile kämpfe ich gegen meine Müdigkeit an. Meine Augen sind mir zwar noch nicht zugefallen, aber ich weiß, dass es nicht mehr allzu lange dauern wird, bis mich die Müdigkeit übermannt. So stur wie ich bin, möchte ich ihm diese Genugtuung aber nicht geben. Er will in allem Recht haben und tut es auch. Ich habe es satt. Und das schon nach einem Tag oder besser gesagt nach nur einigen Stunden, immerhin habe ich mehr als den halben Tag verschlafen.
„Ich bin nicht müde.“
„Lügen Sie mich nicht an. Ich hasse Lügen.“
Das ist doch jetzt die Höhe. „Sie finden immer etwas, dass Sie mir unterstellen können“, motze ich.
„Ich unterstelle Ihnen nichts. Ich sehe doch, wenn Sie mich anlügen. Sie sind eine schlechte Lügnerin, Tara.“
„Und Sie sind ein unausstehlicher Besserwisser.“
Es hat keinen Sinn. Er steht vom Stuhl auf, dreht sich um und geht davon. „Folgen Sie mir, ich zeige Ihnen Ihr neues Schlafzimmer. Das andere ist ja zu schlecht für Sie.“
In seiner Stimme liegt ein tiefer Sarkasmus, den ich jedoch weder witzig noch sonst etwas finde. Er macht mich nur noch wütender. Er will mir bewusst machen, dass ich eine verwöhnte Göre bin.
„Danke auch.“ Mehr sage ich nicht. Auch er erwidert nichts sondern geht schnurstracks weiter und zurück ins Wohnzimmer. Es befindet sich eine Wendeltreppe auf der linken Seite, die ich zuvor nicht gesehen habe. Sie ist im selben dunklen Holz gehalten, wie der Parkettboden. Ich folge Mr. Watson hoch und bin überwältigt vom Anblick, der sich mir bietet. Die Decke ist mit wunderschönen verzierten Leuchten bedeckt, die den Gang in hellem Licht erstrahlen lassen. Zu meiner linken befindet sich ein Geländer, ebenfalls aus dunklem Holz, von wo aus man einen Blick hinunter ins Wohnzimmer werfen kann und das mit einer goldschimmernden Lichterkette umwickelt ist. Die Wände sind in einem schlichten Weiß gehalten und mit verschiedensten Bildern geschmückt. Gerade als ich dabei bin, mir das Bild gegenüber vom Aufstieg der Treppe genauer anzusehen, auf dem sich einige Menschen befinden, unterbricht er mich mit einem Räuspern.
„Kommen Sie bitte weiter, Tara.“ Er scheint etwas angespannt zu sein. Ist es wegen dem Bild an der Wand oder unserem Gespräch von vorhin? Zeigt das Bild etwa seine Familie? Ich werde es schon noch herausfinden. Wenn ich es nicht sehen soll, hätte er es nicht aufhängen dürfen. In der Nacht aus meinem Zimmer zu schleichen und das Foto heimlich zu betrachten scheint mir aber auch keine gute Idee zu sein. Er würde mich sowieso hören. Ich musste mir noch einen Plan dazu einfallen lassen.
„Darf ich mir das Bild etwa nicht ansehen? Oder warum haben Sie es so eilig, Mr. Watson?“ Ich bedränge ihn ein wenig, das ist mir ebenso klar wie egal.
Er antwortet mir nicht, sondern geht einfach weiter den Gang entlang.
„Hallo? Geben Sie mir bitte eine Antwort oder sind Sie sich dafür nun auch zu gut?“
Er geht weiter, bis wir vor der Tür am Ende des Ganges zum Stillstand kommen. Bevor er die Schnalle hinunterdrückt dreht er sich zu mir um und blickt mich an.
„Es ist kein guter Zeitpunkt für solche Fragen Tara. Das wissen Sie auch. Strapazieren Sie nicht meine Nerven. Es reicht für heute.“
Damit habe ich nicht gerechnet. Anscheinend habe ich ihm heute wirklich zu schaffen gemacht. Also nicke ich nur und betrete mein neues Zimmer, als er die Klinke hinunterdrückt und die Tür für mich aufhält um mich vorbeizulassen. Als Zimmer kann dieser prachtvolle Raum kaum bezeichnet werden. Es gleicht einer Suite. Ein riesiges dunkelblaues Boxspringbett von mindestens zwei Metern Breite steht mitten im Zimmer und wird von einem weiß schimmernden Baldachin eingehüllt. An den Wänden links und rechts stehen einige Regale, die perfekt mit aufeinander abgestimmten Dekorationselementen geschmückt sind. Ich bekomme meinen Mund vor lauter Staunen kaum zu.
„Passen Sie auf, dass Ihnen das nicht bleibt.“ Ich höre ein leises Lachen hinter mir und drehe mich um. Auf einmal kann er wieder Witze reißen, na klar.
„Meine Fragen strapazieren Ihre Nerven und Ihre Stimmungsschwankungen strapazieren meine. Dass Sie es gleich wissen“, gebe ich frech zurück.
Schlagartig hört er auf zu grinsen und sein Gesichtsausdruck wird wieder ernst.
„Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht, Tara. Wenn Sie etwas brauchen, ich bin unten im Wohnzimmer.“
Schläft er etwa im Wohnzimmer oder was? Oder schläft er gar nicht? Ich nicke als Zeichen dass ich ihn verstanden habe. Und plötzlich rutscht mir etwas heraus, was ich im nächsten Moment sofort wieder bereue.
„Schlafen Sie bei mir, Mr. Watson?“
Tag der Veröffentlichung: 27.05.2019
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