Der Pfarrer sah die Frau auf der dritten Bank links sitzen. Sie blickte nach unten, wie bei einem Gebet. Ansonsten war die Kirche leer. Er sah, wie eine Träne ihre linke Wange hinunterlief. Er beschloss, sich zu ihr zu setzen und zu versuchen, sie mit Gottes Hilfe zu trösten. Also ging er mit huldigen Schritten auf ihre Bank zu und setzte sich neben sie nieder. Als er saß, sah er, dass sie die Hände nicht zum Gebet gefaltet, sondern sie zu Fäusten geballt hatte, aus denen leicht Blut floss. Er wusste sofort, dass sie ihre Fingernägel in ihre Haut presste. Die Frau nahm keine Notiz von ihm. Er legte seine rechte, warme Hand beschwichtigend auf ihre Eiskalten. Sie schluchzte auf. „Schschsch. Meine Liebe, hier, in Gottes Haus, gibt es keinen Grund, auch nur eine Träne zu vergießen, geschweige denn Blut. Jesus vergoss Blut, aber nur, um uns davon zu befreien!“ Endlich blickte die Frau ihn an. Sie war wunderschön. Hatte zwar rote und geschwollene Augen, dafür aber eine süße Nase und sinnlich volle Lippen. Dennoch blickte sie ihn auf eine Art und Weise an, sodass der Pfarrer selbst seine eigenen Worte anzweifelte. „Gott? Sie reden von Gott? Auch der hat mich schon längst verlassen.“ – „Gott verlässt niemanden niemals ganz und gar.“, meinte der Pfarrer und diese Worte war er sich sicher. „Niemals.“, fügte er als Unterstreichung hinzu. Die Frau zog den rechten Mundwinkel nach oben, atmete hörbar aus und nickt leicht. „Das sagte man mir auch schon. Das nützt mir leider auch nichts, wenn es den Tatsachen nicht entspricht, nicht wahr? Ich habe gegen zig Gebote verstoßen.“ Der Pfarrer schluckte. Am liebsten würde er dieses Weibsstück direkt aus seiner Kirche verweisen, wenn er nicht diese Verzweiflung in ihren Augen gesehen hätte. Zwar hatte sie nur kurz Funken geworfen, aber das hatte genügt. Die Frau war am Ende, soviel ist sicher. Aber was sollte er schon tun? Er war Pfarrer in einer kleinen, unbedeutenden Stadt. Und er zweifelte daran, dass seine psychischen Kenntnisse ausreichten, um der Frau in ihrer Situation zu helfen, wie auch immer diese auch aussehen mag. „Haben sie eine Familie?“, fragte er stattdessen. „Nein. Oh mein Gott, nein!“ Dass die Frau so reagierte, mit einem Lächeln auf dem Gesicht, hatte der Pfarrer nicht erwartet. In ihrem Kopf stimmte wohl so einiges nicht. Erst jetzt bemerkte er ihr Aussehen: Sie hatte ein schönes, dunkelblaues Kleid an, das ihr bis an die Knie reichte, hochhackige, schwarze Schuhe, und eine ehemalige Hochsteckfrisur, die jetzt allerdings total zerwühlt war. An ihren Oberschenkeln konnte man klar Kratzer erkennen, als ob sie vergewaltigt worden war. Dass der rote Lippenstift ein wenig verwischt war, rundete seinen Verdacht ab. „Ist irgendetwas mit ihnen geschehen, mein Kind? Sie sitzen hier im Abendkleid und machen doch einen so tief geknickten Eindruck.“ – „Mir nicht.“, war die einzige Antwort, die der Pfarrer erhielt. „Entschuldigen sie mich jetzt bitte. Ich werde nun gehen. Grüßen sie ihren Sohn lieb von mir.“ Damit stand die Frau auf und verließ die Kirche, ohne sich noch einmal umzudrehen. Der Pfarrer blieb geschockt sitzen. Die Frau kannte seinen Sohn Kai. Also war sie nicht zufällig hier gewesen, denn Kai hatte eben sein Abitur bestanden und sollte sich jetzt auf dem Abiball amüsieren. Und diese Frau, das Mädchen, was immer sie auch war, gehörte, soviel der Pfarrer wusste, nicht zu dem Umgang seines Sohnes. Vielleicht hatte die Frau ihn verwechselt, er hoffte es.
Als Lilia die Kirche verließ, nahm sie sich ein Taxi und fuhr in eine kleine Bar. Schwungvoll öffnete sie die quietschende Eingangstür und wurde grölend von ein paar betrunkenen Männern begrüßt. Doch heute ignorierte sie sie und setzte sich stattdessen an die Bar. Ein paar Momente später kam ein gut aussehender Mann aus einem Nebenraum. Als er sie sah stemmte er die Hände in die Hüften und lächelte. „Na wenn das mal nicht meine kleine Schwester Lilia ist! Was machst du denn hier meine Hübsche? Haben sie dich gehen lassen?“ Lilia bekam einen lustigen Lachanfall, jenen sie abrupt beendete und ihr Gesicht ernst wurde. „Nein.“, war die kurze Antwort. „Ach Süße, was machst du denn? Denkst du etwa, wenn du ständig davonläufst werden sie dich schneller raus lassen?“ Lilia schwang sich vom Barhocker und kam ihrem Bruder aggressiv näher, die Augen zu schmalen Schlitzen. Kurz vor ihm blieb sie stehen und flüsterte: „Im Gegenteil. Wenn ich da bleibe behalten sie mich sowieso. Wieso dann nicht ein bisschen Spaß haben?“ Ihr Bruder seufzte. Doch dann sah er, wie Tränen in ihre schönen, grünen Augen traten. „Jannick, sie benutzen wieder Elektroschocks. Ich halte es dort nicht mehr aus. Verdammt, mir geht es doch gut!“ Den letzten Satz sagte sie etwas lauter. Jannick nahm sie in den Arm. „Nein, Lilia. Nein, diese Leute wollen dir helfen. Dir ging es nicht besonders gut in den letzten Jahren und jetzt wollen sie dir helfen.“ Während er versuchte, sie mit beschwichtigenden Worten zu beruhigen, hielt er sie weiter im Arm. Sie beugte ihren Mund zu seinem Ohr und wimmerte: „Jannick, ich wurde wieder wütend. Und zwar nicht dort drin. Ich wurde vor etwa 2 Stunden wütend.“ Schockiert packte Jannick sie an beiden Oberarmen, stemmte sie von sich weg und schüttelte sie kurz. „Lilia, was hast du gemacht?“ Doch diese presste Augen und Mund zusammen und brachte nichts außer ein paar Schluchzern heraus. „Mädchen, was hast du getan?“, schrie Jannick sie an, während er sie nochmal heftig durchschüttelte. „Ich hatte ein Date. Mit einem ziemlich gut aussehenden Typen. Er hieß Kevin, Kai oder so. Er lud mich zu seinem Abiball ein. Später sagte er mir, dass er einen Fleck an einer unbequemen Stelle auf der Hose hatte und fragte mich, ob ich ihm auf Toilette mit dem Entfernen des Fleckes helfen kann. Ich willigte ein. Und dort, dort in der Toilette, wurde ich wütend.“ Jannick blickte seine Schwester scharf an. „Was meinst du mit: ‚du wurdest wütend‘?“ Lilia blickte ihn mit leeren Augen an. Jannick stöhnte. „Bitte nicht dieselbe Tour wie damals, Lilia! Okay, lass mich raten und du wirst mir sagen, ob meine Theorie stimmt, einverstanden?“ Lilia nickte, wobei ihre Augen ins Leere blickten. „Er wollte Sex mit dir, aber du wolltest nicht. Er wollte dich drängen und dann hast du ihn verletzt oder gar getötet. Ist das richtig?“, fragte Jannick. Lilia nickte, ihre Augen waren wieder schmaler. „Er war betrunken, denke ich. Als wir auf der Toilette waren, zog er mich in eine Kabine, da dachte ich mir noch nichts. Doch dann küsste er mich und fing an, mich auszuziehen. Ich habe dann wieder dieses Herzrasen bekommen, weißt du? Das, was ich immer bekomme. Dann drückte ich ihn weg und sagte ihm klar, dass ich nicht mit ihm schlafen will. Er stöhnte, dass ich mich nicht so anstellen soll. Dann… ist auf einmal ein ganzer Teil weg. Das nächste, an das ich mich erinnere, ist, dass alles rot war. Blut. Er lag tot auf dem Boden.“ Schließlich ließ Jannick sie los, setzte sich auf einen der Barhocker und legte sein Gesicht in die Hände. „Lilia… Meine liebe Lilia…“, murmelte er mit tränenerstickter Stimme. Dann blickte er sie wieder an. Sie stand einfach nur da und lächelte ihn an. Er seufzte. Sie konnte nichts dafür, konnte ihre Taten nicht nachvollziehen. Wieso gerade seine Schwester? Wieso gerade sie? Jannick traute sich nie, darüber nachzudenken, was er wirklich von ihr hielt. Das würde ihn nur von ihr weg treiben und dann hätte Lilia niemanden mehr. Aber, und das war eindeutig: Seine einzige Schwester war eine Soziopathin. Und sie sollte jetzt eigentlich in einer Anstalt sein, doch stattdessen stand sie jetzt vor ihm, in seiner Bar und lächelte ihn an, als ob nichts wäre. Doch auch dafür konnte sie nichts. Ihre Kindheit war daran schuld. Von ihrem Vater, seinem Stiefvater, wurde sie geschlagen, der Stiefbruder vergewaltigte sie mehrmals. Aber auch nur dann, wenn Jannick nicht da war. Ansonsten traute er sich nicht sie auch nur anzusehen. Und ihre gemeinsame Mutter… Auch sie war psychisch am Ende. Wollte ihn und seine Schwester ertränken – wurde aber im letzten Moment gestoppt. Er hatte das alles hinter sich gelassen und sein damals da gewesenen Frust am Sport ausgelassen. Doch Lilia hatte nichts. Kein Sport, keine Freunde, keine Familie, außer ihm. Er trug jetzt die Verantwortung. Sollte er Lilia mit zu sich nach Hause nehmen oder wieder einweisen lassen? Sie ist seine Schwester, trotzdem ist sie irre. Er erwischte sich bei einem seiner ungeschickteren Gedanken. Nein, Lilia ist nicht irre, sprach er sich im Geiste zu, obwohl sein Herz etwas anderes sagte. Schließlich wandte sich Jannick Lilia wieder zu. „Hör mal. Wie wäre es, wenn ich dich zu deinen Freunden und zu Tina zurück bringe? Sie vermissen dich bestimmt!“ Lilia schloss die Augen, er sah, wie sie zitterte. Leise flüsterte sie: „Nein.“, dann lauter: „Nein!“ und dann schrie sie beinahe: „NEIN! Ich will da nicht mehr hin Jannick! Sie … sie gaben mir wieder Elektroschocks! Jannick bitte! Ich flehe dich an, bring mich nicht dorthin zurück!“ Sie sank auf die Knie. „Aber Süße, es ist sicher besser für dich.“, versuchte er sie zu beschwichtigen. Und dann sah sie ihn an. Als ob sie ihn nicht kennen würde. Als ob er ein Fremder wäre. „Du denkst es also auch? Das ich verrückt bin? Irre? Jannick, ich dachte du wärst mein Bruder. Gut, ich bin irre. Ich bin ein Freak. Hast du jetzt was du willst? Ist es das?“ Jannick bekam ein schlechtes Gewissen. „Bitte. Nein, Süße. Ich will nur dein Bestes.“ – „Du bist auch nicht besser als die Milliarden andere Menschen auf dieser verfluchten Erde. Du bist sogar noch schlimmer. Du bist ein Verräter. Ich verfluche dich, hörst du? Verfluche.“ Jannick stiegen Tränen in die Augen, er schwang sich vom Barhocker, ging zu seiner Schwester in die Knie und versuchte sie zu umarmen. Doch sie schüttelte ihn ab. „Lass uns gehen. Du musst mich doch zu meinen Freunden und zu Tina mit den Elektroschocks zurückbringen, weil sie mich ja vermissen. Es ist schließlich besser für mich, habe ich da Recht?“, fragte sie kühl. Aus ihrem Mund hörten sich seine Worte um so vieles anders an. Doch er gab auf. Jetzt hatte er wenigstens seinen Willen bekommen.
Während der Fahrt hatten sie kein Wort miteinander gesprochen. Okay, Jannick musste sich eingestehen, dass er wohl nicht viel anders reagiert hätte und das ihm seine Worte im Nachhinein tatsächlich ein wenig leid taten. Sie standen vor der Anstalt, ein großes, braunes Backsteingebäude, älter und eine große Glocke unterhalb des Daches. Die Anstalt war früher eine Schule, wie Jannick erfahren hatte. Eine Frau kam aus der Tür gelaufen, riss die Beifahrertür auf und zog Lilia raus. Sie wehrte sich nicht. Zwei in weiß gekleidete Pfleger kamen ebenfalls heraus und nahmen sie in Empfang. Und sie ließ sich widerstandslos abführen. Doch sie schaute nochmal über die Schulter. Und diesen Blick, den sie ihm zuwarf, würde Jannick sein Leben nicht mehr vergessen. Dann verschwand sie im Gebäude. Die Frau kam auf ihn zu. „Vielen Dank, Mr. Nixon. Sie haben uns da wirklich ungeheuren Dienst erwiesen. Die meisten würden wohl versuchen, ihre Schwester zu decken, aber sie brachten sie hier zurück. Ich hoffe doch, dass sie nichts angestellt hat, oder?“ Jannick hatte schon darüber nachgedacht, falls die Frage fallen würde. „Nein, sie ist ein wenig einsam und verwirrt in der Gegend herumgelaufen, sie wusste, denke ich, gar nicht wohin mit sich. Und dann hat es sie in meine Bar verschlagen. Aber ich muss jetzt auch wieder los.“ Die Frau schüttelte seine Hand, mit einem aufgesetzten Lächeln im Gesicht. Dann ging sie in das Gebäude. Ohne Nachzudenken (er tat es mit Absicht), ließ Jannick den Motor aufheulen und fuhr aus der Einfahrt.
„Ihr könnt mich jetzt loslassen.“, meinte Lilia trocken, als sie mit den Pflegern den Eingang erreicht hatte. „Tut mir Leid, Lilia. Du weißt, dass du erst zu Dr. Muck musst, bevor du dein Zimmer betreten oder mit jemandem reden darfst. Das Spiel kennst du doch jetzt schon.“, meinte einer der Pfleger. „Ach, William.“, meinte Lilia weich. „Tu uns allen einen Gefallen und halte die Schnauze.“ Und der Pfleger gehorchte. Dann kam die Frau rein. „Du weißt schon, dass du uns eine Menge Ärger bereitet hast, nicht wahr, Lilia?“ Diese lächelte. „Ich freue mich auch dich zu sehen, Tina. Wo ist denn mein Empfangskomitee?“ Die Pflegerin rollte mit den Augen. „Bitte, schafft sie mir aus den Augen.“ Doch der andere Pfleger schüttelte den Kopf. „Sie soll zu Dr. Muck, bevor sie sich einen Zentimeter selbstständig bewegen darf.“ Doch Tina entgegnete: „Wir machen heute eine Ausnahme. Lasst sie auf die Station. Bleibt aber in ihrer Nähe. Ach, einen Moment noch, könntet ihr mich und Lilia ein paar Minuten alleine lassen?“ Die Pfleger nickten und gingen. Tina packte Lilia grob am Handgelenk und zog sie zu einer Holzbank, auf die sie sie hinunter presste. „So Lilia. Was hast du denn da draußen getrieben?“ Diese lächelte immer noch. „Wenn sie darauf hinaus wollen: Nichts mit ihrem Mann. Der ist abgehakt.“ Tina sah sie scharf an. Sie hatte der Irren die Affäre mit ihrem Mann immer noch nicht verziehen. „Nein, was du gemacht hast, will ich wissen, nicht was nicht.“ Lilia tat gespielt überlegt. „Ich glaube, ich habe mit 5-6 Männern geschlafen, war auf einem Ball und hab mich einfach mal gehen lassen. Und was hast du so gemacht?“ – „Hattest du geschützten Verkehr mit diesen Männern?“, fragte Tina, und versuchte, ihre Wut zu verstecken, und sie wusste, dass Lilia wusste, dass sie es versuchte. Und deshalb versuchte jene, die Wut aus Tina heraus zu kitzeln. „Soweit ich mich erinnern kann, ja. Ich gehe jetzt zu Lola. Wo ist sie?“ Tina räusperte sich. Lilias beste Freundin Lola hatte sich vor 4 Tagen erhängt, da sie Lilia vermisst hatte. „Hör zu, Mädchen. Als du weg warst, ist eine Menge Scheiße passiert, aber…“ Doch Lilia unterbrach sie. „Wie hat sie es getan, Tina?“ Als ihre Pflegerin nicht antwortete, stellte sie die Frage weitere zwei Mal. Und zwar immer lauter werdend. „Sie hatte Sehnsucht nach dir, Lilia. Weil du nicht da warst. Und dann, hatten wir als Abwechslung ein Basketballturnier. Lola hatte die Aufgabe, die Bälle nach dem Turnier wieder aufzuräumen. Ich ging kurz auf die Toilette, und als ich wiederkam, hatte sich Lola am Basketballkorb erhängt.“ Lilia schluckte. „Wo ist Lola jetzt?“ – „An einem besseren Ort, mein Kind.“ Lilia schüttelte den Kopf. „Ich mein doch nicht deine Metaphern. Ich meine ihren Körper, wo liegt er?“ Tina zog die Augenbrauen nach oben, so dass sich auf ihrer Stirn hässliche Falten bildeten. „Eher würde ich dich hier raus lassen, als dass ich es dir verraten werde.“ Die Pflegerin merkte, dass Lilia das Gespräch ungesagt für beendet erklärt hatte und nun auch nichts mehr sagen würde. „Ich bringe dich jetzt zu Dr. Muck, benimm dich.“ Lilia zog die Stirn ein wenig in Kraus und folgte der Pflegerin. Sie kamen an Doppeltüren an, als Tina diese öffnete, stand am anderen Ende des Raumes ein Schreibtisch, an dem eine Frau Mitte 40 saß, davor eine Coach. Die Wände waren bis zur Decke voll mit Bücherregalen. Lässig ging Lilia auf die Couch zu, sprang cool hinüber, sodass sie liegend auf der Couch landete, kreuzte die Arme hinter dem Kopf, die Beine am anderen Ende der Couch, schloss die Augen und blieb in dieser Haltung. Tina verließ den Raum. „Ach Lilia, was hast du nur wieder angestellt?“ Lilia setzte sich mit Schwung auf. „Guten Tag, Dr. Fuck.“ Dr. Muck hörte über diese beleidigende Begrüßung hinweg. „Und wie war dein kleiner Ausflug?“ Lilia blickte sie missbilligend an. „Aufschlussreich. Mein Bruder ist ein Verräter. Aber meine Meinung zu Männern hat sich nicht geändert, falls sie das beruhigt.“, meinte Lilia und zwinkerte mit dem linken Auge. Die Psychologin musste ihr nicht sagen, dass ihre Meinung im totalen Gegenteil lag. „An welchen Orten warst du?“, fragte Dr. Muck stattdessen. „Hm. Ich habe in einem Hotel übernachtet, war auf einem Abiball und habe mich prächtig amüsiert. Sie hätten dabei sein sollen, Dr. Fuck.“ Die Psychologin räusperte sich. „In welchem Ort?“ Lilia verdrehte die Augen. „In Phoenix. Und habe ich ihnen jetzt weitergeholfen, Dr. Fuck?“ Diesmal sprach sie den Namen lauter und deutlicher aus, sie wollte eine Reaktion ihrer Ärztin sehen. „Ja, haben sie. Ich werde mich nach Bällen in diesem Ort erkunden und auch, ob dort etwas vorgefallen ist. Bei dir weiß man nie, Lilia. Hat dir Tina von Lola erzählt?“ – „Oh ja, allerdings. Ärmste Lola. Nur wollte man mir nicht sagen, wo sie vergraben ist. Wieso?“ Dr. Muck lächelte beschwichtigend. „Weil wir uns Sorgen um ihre Leiche machen. Erinnere dich nur mal an Nina gemacht hast!“ Lilia lachte auf. Dann wurde sie von einer Sekunde auf die andere wieder ernst. „Das ist Monate her, Dr. Fuck. Ich bitte sie, ich habe ihr nur die Haare geschnitten und ihr Make – Up verbessert. Das kann doch nicht die Welt sein.“ – „Du hast ihr den Schädel abrasiert und ihr Gesicht aufgeschlitzt. Das kann unmöglich dein Ernst sein. Wir haben 4 Sitzungen lang darüber gesprochen, Lilia! Und ich habe dir gesagt, dass das nicht in Ordnung war und du stimmtest mir zu.“ Lilia lächelte. „Sehen sie, Dr. Fuck, genau um das geht es hier ja. Wenn man viel von sich preisgibt und ihnen bei allem und jedem Ja und Amen sagt ist man hier schneller draußen wie man sehen kann. Hat man allerdings keine Geheimnisse, bekommt man lebenslänglich. Wie ich.“ Dr. Muck schüttelte den Kopf. „Lilia, Mädchen! Du kannst wirklich keinerlei Gefühle nachvollziehen, habe ich da Recht?“ Lilia zuckte nur mit den Schultern und schnaubte. „Steht das in meiner Akte, Dr. Fuck?“ Die Psychologin zog die Stirn in Krauss. „Ich bitte dich jetzt sicher zum 100. Mal darum: Nenne mich Dr. Muck.“ Lilia stöhnte. „Natürlich, Dr. Muck. Könnten sie bitte meine Frage beantworten? Stimmt es nicht, dass in meiner Akte steht, dass ich weder Gefühle, speziell Reue empfinden und nachvollziehen kann? Kurz gesagt, dass ich eine Soziopathin bin?“ Sie wusste das alles so genau, da sie mit den anderen Patienten einmal in der Woche in die Schränke von Dr. Muck eingebrochen war, um ihre Akten zu durchstöbern. „Das reicht jetzt, Lilia. Genug. Wir werden uns morgen wieder sprechen. Ich bitte dich, nun auf dein Zimmer, oder zumindest auf deine Station zu gehen. Ach, bevor ich es vergesse: An Lolas Stelle ist nun ein anderes Mädchen eingewiesen worden. Ihr Name ist Crystal. Ich bitte dich, sie wie alle anderen Patienten zu nehmen.“ Lilia verdrehte die Augen abermals. „Wie ist die denn so drauf?“ Die Psychologin lächelte kurz, sie war schon mal froh, dass Lilia Interesse zeigte. Schließlich hatte sie eine Patientin in den Selbstmord getrieben, die frisch eingewiesen nur 1 ½ Monate durchgehalten hatte. Sie hieß Elena und hatte eine Borderline –Störung. „Sie ist eine Soziopathin.“ Lilia zuckte mit den Augenbrauen und grinste breit, so als ob sie ein lautes ‚Wie ich! ‘ rufen würde. „Ein liebes Mädchen. Ist nun schon seit gestern hier. Benimmt sich ähnlich wie du. Crystal schläft in deinem Zimmer, in Lolas Bett.“ – „Und ihr würdet es für makaber halten, mir zu sagen, wo Lola beerdigt ist. Tz.“, meinte Lilia. Dann stand sie stöhnend auf. „Okay, dann bringt mich mal zu der Verrückten.“ Wie aufs Stichwort kam Tina in den Raum und nahm Lilia in Empfang. „Dann komm mal mit. Ach so, du hast nun ein anderes Zimmer. Nun hast du kein Einzel- sondern ein Doppelzimmer. Du bist mit einer gewissen Crystal in einem Raum.“ Lilia unterbrach sie. „Jaja, ich weiß schon. Dr. Fuck hat mich aufgeklärt.“ Auf einmal fuhr Tinas Hand nach oben und gab Lilia eine heftige Ohrfeige. „Dr. MUCK.“ Doch Lilia lächelte sie nur mit einem zuckersüßen Lächeln an.
Als Lilia ihr neues Zimmer betrat, saß ihre neue Zimmergenossin auf ihrem Bett, rauchte eine Zigarette und hörte mit ihrem MP3-Player Musik. Daher bemerkte sie nicht, dass Lilia hereinkam. Erst als sie sich auf ihr Bett fallen ließ, schreckte sie auf. Sie nahm die Stöpsel aus den Ohren und schaute Lilia an. Diese streckte die Hand aus. „Hey. Ich bin Lilia, eine Verrückte.“, dann zwinkerte sie mit dem linken Auge und lachte. Beide merkten sofort, dass die Chemie stimmte, deshalb nahm Crystal Lilia in den Arm, statt ihre Hand zu schütteln. „Und ich bin Crystal, ebenfalls irre.“, lachte sie. „Bekomm ich eine?“, fragte Lilia und deutete auf die Zigarettenschachtel auf dem Nachttisch. „Klar, nimm dir ruhig.“, meinte Crystal locker. Eine Art von Wächterin stand in ihrem Raum, als Lilia die Zigarette in den Mund steckte, kam sie näher und zündete ihr diese an. „Und wie kamst du hier her?“ Crystal zog die Augenbrauen nach oben und verzog den Mund. „Meine Eltern meinten, ich sollte mich mal kurieren und eine Auszeit nehmen. Wer denkt den schon, dass sie damit das hier meinen.“, erklärte Crystal, wobei sie ‚das‘ sehr betonte. „Ach, das ist doch noch gar nichts. Ich bin nun schon seit 3 Jahren hier.“ Genüsslich zog Lilia die Zigarette tief ein. „Ha, das tut gut. Ich habe jetzt schon seit einer Woche auf Zigaretten verzichten müssen.“ Crystal blickte sie mit ihren schönen, fast schwarzen Augen an. „Wieso das?“ Lilia lächelte und verdrehte die Augen. „Mir wurde hier richtig langweilig, und da habe ich mir eben eine richtige Auszeit gegönnt.“ Crystal schaltete ihren MP3-Player ab und fragte interessiert: „Wo warst du denn unterwegs?“ – „In der Umgebung von Phoenix. Mein Bruder hatte mich allerdings verraten und nun stecke ich hier wieder drin.“ Die Wächterin im Hintergrund räusperte sich. „Und wie gefällt es dir hier?“, fragte Lilia in einem sarkastischen Ton. „Ich könnte kotzen. Ich muss nicht hier sein. Die erwarten so etwas wie ein Versuchskaninchen, an dem sie irgendetwas Besonderes finden wollen, um es wichtig zu machen. Wenn sie nichts finden, wird eben so lange daran herumexperimentiert, bis sie aus Langeweile scheinbar irgendetwas herausgefunden haben.“ Lilia blickte Crystal tief in die Augen. „Ich glaube, dass wir uns verdammt gut verstehen werden.“ Auch Crystal blickte sie eindringlich an. Und sie spürte, dass der Moment stimmte. Sie küsste Lilia kurz auf den Mund, worauf diese lächelte.
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Nach einer halben Stunde kam Tina in das Zimmer. „Lilia, kannst du bitte Crystal die Cafeteria zeigen? Sie kennt sich hier nicht sonderlich gut aus.“ Lilia lächelte. „Aber sicher doch.“ Tina atmete beruhigt aus. Die Frauen schienen sich gut zu verstehen, und das war mehr als beschwichtigend. Aber dennoch machte sie sich Sorgen um Crystal. Denn sie wusste, dass eine Freundschaft mit Lilia bedeutete, niemals wirklich geheilt zu sein und sich ihr ständig ungewollt zu unterwerfen. Lilia hatte Ähnlichkeit mit Hitler, meinte Tina. Man wusste, dass was sie tat, falsch war, aber man musste einfach mitmachen, dabei sein, und dann denkt man, dass seine Handlungen korrekt sind. Und wenn dieser Vormund auf einmal fehlt, ist man leer. So ging es auch Lola. „Um zwölf gibt es Mittagessen. Soviel ich weiß, gibt es Weißwurst mit Kartoffelsalat.“ Lilia lief das Wasser im Mund zusammen. Sie hasste zwar diese Anstalt, aber das Essen war jedes Mal ein Genuss. Dennoch dachte sie dabei weniger an das Essen, sondern mehr an Crystals Kuss. Es wäre fatal, ihr zu erzählen, dass sie bisexuell ist. Denn vielleicht war der Kuss nur freundschaftlich gemeint. Nicht mehr. Es war ja auch kein richtiger Kuss, nur einen auf den Mund. Lilia sollte aufhören, sich etwas einzubilden. Aber dennoch glaubte sie, dass sie mit Crystal eine tolle Zeit haben wird. Die anderen Patientinnen auf ihrer Station mochten ja ganz nett sein, aber keine verstand Lilia so gut wie Lola. Oder wie Crystal. Das war ziemlich seltsam, denn sie kannte sie erst seit einer dreiviertel Stunde. Und trotzdem war es so, als wären sie alte Schulfreundinnen. Die beiden unterhielten sich noch lange, Tina setzte sich seltsamerweise dabei auf das andere Bett und schaute ihnen zu. Aber das beirrte die beiden nicht. Sie hatten gute Laune und verstanden sich blendend. Kurz vor zwölf verließen sie ihr Zimmer, gefolgt von Tina. In der Cafeteria stand nur ein, dafür aber langer Tisch. An einer Theke verteilten zwei Pfleger Essen. Lilia stellte sich wie gewöhnlich an. Der erste Pfleger, der die Würstchen verteilte, blickte sie argwöhnisch an. „Und, wo hast du dich denn rumgetrieben?“ Sein Desinteresse war spürbar. „So hier und da. Aber überall gab es herrlich große und saftige Würstchen. Nicht solche kleinen, überhaupt nicht stopfende Würstchen wie hier.“ Und sie reckte den rechten, kleine Finger in die Luft. Crystal musste loslachen. Lilia hatte ihr nämlich erzählt, dass sie fast mit jedem Pfleger der Station geschlafen hatte, und dass die meisten alles andere als zufriedenstellend waren. So auch dieser. Er blickte sie scharf an und packte ihr die Würstchenstückchen auf den Plastikteller, den sie ihm entgegenstreckte. „Dankeschön.“, meinte sie nett und kniff kurz die Augen zusammen. Dann ging Lilia zu dem zweiten Pfleger und ließ sich Kartoffelsalat auf den Teller packen, diesmal ohne einen flotten Spruch auf den Lippen. Nun bekam auch Crystal Würstchenstücke und Kartoffelsalat, vermied es aber, dem ersten Pfleger in die Augen zu sehen. Als sie sich umdrehte, sah sie, wie sich Lilia auf die eine Seite der Bank niederließ, während die anderen an der anderen saßen. Es herrschte auf einmal eine Eiseskälte in dem Raum. Sollte sich Crystal zu den anderen setzen, damit sie mehr Leute hier kennenlernen kann, und dafür Lilia alleine lassen? Oder sich lieber mit ihr eng verknüpfen? Sie entschied sich für die zweite Option. Es gab sicher Gründe, dass Lilia die anderen nicht mochte. Und diese Gründe wollte sie gerne kennen. Deshalb setzte sie sich neben Lilia. Erst jetzt sah sie, dass auf jedem Platz ein Löffel lag. Weder Messer, noch Gabel. Lilia bemerkte Crystals Blick und lächelte. „Gabeln sind spitz, Messer geben, ist das ein Witz?“, flüsterte sie leise und kicherte. „Als ich hierher kam, hatte ich mich auch gewundert und Tina gefragt. Dann sagte sie mir genau diese Worte. Und wie wir sehen, ist ihr Plan aufgegangen: Ich habe diesen Spruch nie vergessen.“ Crystal fiel noch eine wichtige Frage ein: „Lilia, wie alt bist du eigentlich?“ Diese zog die Stirn in Kraus, wobei nicht mal das an ihr hässlich aussah. „Ich bin 25, wieso?“ Crystal schüttelte ein wenig mit dem Kopf und lächelte. „Nur so.“ Dann nahm sie sich den Löffel und begann ihre extra schon klein gemachten Würstchen zu essen. Sie waren lauwarm bis kalt, hatten dafür aber einen exzellenten Geschmack. „Wie sind denn die anderen hier so drauf?“, fragte Crystal, nachdem ein unangenehmes Schweigen eingetreten war. „Siehst du die kleine, schmale dort hinten rechts?“ Crystal nickte. „Das ist Hanna. Ist seit einem Jahr hier. Magersüchtig, und wird in einer Woche entlassen. Es ist schon eine ganz schöne Hürde, die Psychologen dazu zu bringen, dich raus zu lassen, obwohl du kranker denn je bist. Aber, wenn du mich fragst, war das gar nicht ihr Wille. Alle hier haben sie eben aufgegeben und können nichts mehr für sie tun.“ Crystal schluckte. „Und was ist mit der Frau neben Hanna? Sie sieht doch normal aus?“ Lilia zuckte mit den Augenbrauen und verzog den Mund. „Tun wir das nicht fast alle hier? Was Gaby hat, weiß eigentlich keiner so genau. Ich glaube nicht mal, sie selbst.“ Crystal atmete hörbar aus. Lilia nahm einen Happen Kartoffelsalat. „Mh. Und die gegenüber von Hanna, die heißt Bibi. Ist Tablettensüchtig. Und trotzdem geben sie ihr jeden verdammten Abend Pillen, um besser einzuschlafen. Die bekommt jeder hier. Tu mir den Gefallen und schlucke sie nicht herunter. Die machen dich erst verrückt. Aber wie kann man einer Abhängigen genau das geben, was sie braucht, um ihre Sucht zu stillen? Das wäre ja so, als ob bei mir täglich fünf Männer vorbeisehen würden.“ Crystal musste lachen. Sie liebte Lilias Humor. Er war unnachahmig. Sie konnte sicher aus den traurigsten Stunden die lustigsten machen, die Crystal je erlebt hatte. „Die anderen haben ein paar kleinere Macken, aber nichts Schwerwiegendes. Eine von ihnen isst nur Huhn, die andere muss jede halbe Stunde aufs Klo. Aber im Grunde sind sie für mich alle gleich.“ Crystal drehte sich zu ihr um. „Und wieso essen wir nicht neben ihnen?“ In Lilias Augen sprühten Funken. „Na los, denn geh doch zu ihnen! Werde wie sie! Werde GLEICH. Gleich wie diese beschissenen Psychologen, gleich wie die behinderten Pfleger und gleich wie diese ach-ich-bin-krank-errette-mich-Wichser!“ Ihre Stimme wurde immer lauter und schneller. Crystal nahm sie sanft am Oberarm. „Ich will dort aber nicht hin, Lili. Ich bleibe bei dir.“ Lilias Herz schlug wieder langsamer und der Druck auf Kopf und Ohren verschwand. Die Frauen von der anderen Seite des Tisches gafften herüber. Lilia zeigte ihnen den Mittelfinger, nahm ihren Löffel wieder in die Hand und aß ein Stück Würstchen. Auch Crystal begann wieder, vorsichtig zu essen. Als sie kurz hinübersah, sah sie, dass eine Träne schnell an Lilias Wange entlang glitt. Lilia schloss die Augen und versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Vorsichtig streichelte Crystal die eine Träne weg. Auf einmal packte Lilia sie heftig, umarmte sie, wobei sie sie fest an sich presste und flüsterte in ihr Ohr: „Ich will dich nicht noch einmal verlieren, Lola.“ Und alles, was Crystal flüstern konnte, war: „Aber… mein Name ist doch Crystal.“ Doch Lilia schien es nicht einmal zu bemerken.
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Gegen 2 Uhr kam Tina noch einmal in Crystals und Lilias Zimmer. „Heute Abend machen wir mal wieder einen Gemeinschaftsabend. Daher stimmen wir ab, was wir machen sollen. Wir können Brettspiele spielen, uns einen Film ansehen oder einfach alle am Tisch mit heißem Kakao sitzen und reden. Was wollt ihr denn am liebsten machen?“, fragte sie auffordernd und aufgespielt lustig. Lilia stöhnte. „Oh bitte. Wieso frägst du mich eigentlich noch? Du kennst doch meine Antwort! Ich habe keine Lust mitzumachen. Es reicht doch schon, dass ich mit denen in einem Haus leben muss.“ Crystal blickte zu Lilia. Und Lilia zu Crystal. Und ihr Blick sagte: Tue, was ich auch getan habe. „Und du, Crystal? Auf was hättest du Lust?“, überspielte Tina Lilias Kommentar. „Och, ich bin jetzt schon ganz schön müde. Lass heute mal für mich ausfallen.“ Tina blickte sie mitleidig an. Es ist genau das passiert, was sie vorausgeahnt hatte. Crystal hatte sich Lilia unterworfen. „Gibt’s sonst noch was?“, keifte Lilia ein wenig, als Tina sich nicht rührte. „Nein, das war’s schon. Wirklich sehr schade, dass du nicht mitmachen willst, Crystal. Die anderen hätten sich sicher gefreut.“ Damit drehte sie sich um und verließ den Raum. Crystal bekam ein schlechtes Gewissen. „Oh man! Das war mal wieder typisch Tina! Einem das Gewissen eines Bären aufbrummen! Hat sie bei mir auch versucht, aber ich bin nicht weich. Bei mir hat das keine Chance, bei dir etwa?“, fragte sie und drehte sich Crystal zu. „Nein, natürlich nicht.“, log diese. „Was wollen wir stattdessen heute Abend machen?“ Lilia überlegte. „Kannst du ein Instrument spielen oder zumindest ganz passabel singen?“ – „Ja ich spiele seit 6 Jahren Gitarre.“ Lilia lächelte. „Sehr gut. Komm mal mit und spiele ein bettelndes Kind.“ Crystal hatte zwar keine Ahnung, was Lilia meinte, kam aber trotzdem mit. Auf dem Gang trafen sie wieder Tina an. „Tina…“, meinte Lilia in einer bettelnden Stimme, mit Finger wie zu einem Gebet aneinander gepresst. „Dürfen wir bitte, bitte heute Abend, wenn die anderen den Gesellschaftsabend machen, in den Kunstraum und ein bisschen Musik machen? Natürlich darf auch ein Pfleger dabei sein und selbstverständlich sind wir auch leise.“ Auch Crystal blickte sie mit einem Hundeblick an. Und da Tina sich ihren Ruf bei der Neuen nicht verderben wollte, willigte sie tatsächlich ein. Die Frauen gingen ruhig zurück in ihr Zimmer, doch als sie drin waren, schrien sie vor Glück und schlugen mit beiden Händen ein.
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Über Tag hielten sich die Frauen in ihrem Zimmer auf. Gelangweilt fläzten beide auf Lilias Bett und hörten mit ihrem MP3-Player Musik. Wieder kam Tina in das Zimmer. Die Frauen nahmen die Stöpsel aus den Ohren. „Was ist jetzt schon wieder los?“, fragte Lilia gelangweilt. „Also zuerst einmal: Die anderen sind jetzt im Kunstraum und malen. Vielleicht wollt ihr mitmachen, ich würde es euch raten.“ Crystal blickte Lilia mit flehendem Blick an, so, als ob sie sagen würde ‚Bitte, lass uns dorthin gehen! ‘. Lilia gab nach. Was sollten sie sonst machen außer rumgammeln und eine Zigarette nach der anderen zu rauchen. „Okay. Wir haben eh nichts zu tun.“ Crystal lächelte. Wieso Lilias Meinung ihre eigene beeinflusste? Die Frage stellte sich Crystal nicht einmal.
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Im Kunstraum griff sich Lilia eine große Leinwand und ging zu einer Staffelei. Crystal tat es ihr gleich. „Was wirst du malen, Crissi?“, fragte Lilia. Crystal schnaubte. „Keine Ahnung. Ich male und zeichne einfach mal drauf los. Und du?“ Lilia musterte ihre leere Leinwand scharf von oben bis unten. „Hm. Habe so eine grobe Vorstellung. Mal sehen.“ Dann griff sie zu einem Bleistift und begann, Umrisse zu zeichnen. Auch Crystal begann mit einem Stift. Die beiden arbeiteten still nebeneinander her, sprachen kein Wort und verstanden sich trotzdem. Nach einer Stunde griff Lilia nach Farben. Nach einer weiteren legte sie alles beiseite und betrachtete ihr Ergebnis. Kurz darauf war auch Crystal fertig. „Darf ich mal sehen?“, fragte sie Lilia. Diese nickte und trat einen Schritt beiseite. Als Crystal das Gemälde sah, trat ihr augenblicklich die Schamesröte ins Gesicht: Ein nackter Frauenkörper, jedoch nur von Hüfte bis Hals. Alles war in rot, rosa und lilatönen gehalten. Dennoch war das Bild wunderschön. „Und?“, fragte Lilia keck. „Wie findest du es?“ Crystal versuchte, nach dem richtigen Wort zu finden. Dann fiel ihr eines ein, dass das Bild beschrieb. „…atemberaubend.“ Lilia blickte sie teils antörnend, teils schockiert an. „Genau das hatte schon einmal jemand gesagt. Es ist schon lange her. Es war meine erste Zeichnung. Sie war total verdorben und man konnte kaum erkennen, was es war. Trotzdem sagte sie ‚atemberaubend‘, genau wie du jetzt.“ Crystal wusste sofort, dass Lilia von der besagten Lola sprach. „Wer ist Lola?“, fragte sie offen und ehrlich. Lilias Gesicht zeigte keine Reaktion, sie blickte ins Leere. „Lola. Wo fängt man wenn es um Lola geht? Sie war auch in dieser Anstalt und war obendrein noch die einzige, die mich wirklich verstand. Genau wie du jetzt.“ – „Wieso war sie denn hier?“, fragte Crystal interessiert weiter. „Weil… weil sie ihr Essen immer ausgespuckt hatte. Besonders nach Fressattacken. Deshalb hatte sie oft Halsschmerzen. Ich saß dann an ihrer Seite, neben ihrem Bett und streichelte ihre Hand. Manchmal machte ich ihr auch neue Frisuren, schminkte sie oder trug Nagellack auf. Das hatte ihr immer besonders gefallen. Doch am meisten hat es ihr gefallen, wenn ich sie mit meiner Katzen – Handpuppe aufgeheitert hatte. Die müsste in meinem Nachttisch liegen, ich zeige sie dir später. Ich hatte Lola erzählt, dass ich bald gehen würde, und sie sagte, dass ich mir keine Sorgen machen müsste, dass sie solang gut auf meine Katze aufpassen würde. Und ich ging. Als ich wiederkam, sagte man mir, dass sie sich umgebracht hat. An einem Basketballnetz aufgehängt. Sie hatte mich vermisst, das gab man mir als möglichen Grund.“ Lilia erzählte dass alles, als wäre es eine Geschichte aus einem Fantasy Buch. Einfach nicht real. Einfach nie geschehen. „Vermisst du sie denn jetzt?“, fragte Crystal erbarmungslos weiter. Auf einmal drehte sich Lilia auf dem Absatz um und rannte aus dem Zimmer. Crystal wollte hinterher, doch Tina hielt sie zurück. „Nein. Lass sie jetzt. Du musst das verstehen, gerade ist die Wahrheit über sie eingebrochen. Jetzt beginnt sie zu trauern.“ Crystal verstand, ging zu den Gemälden der anderen Patienten und schaute sich diese an. Bloß ablenken! Das war jetzt besonders wichtig. Sonst würde sie ein schlechtes Gewissen bekommen, soviel ist sicher. Und das wollte sie um jeden Preis verhindern.
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Als Crystal später in ihr Zimmer zurückkehrte, war Lilia nicht da. Sie hatte sie die ganze Zeit über schon vermisst, dachte, dass sie zurückkommen würde, wieder mit ihr Spaß machen würde und alles wäre vergessen. Jetzt traf Crystal ihr Gewissen wie ein Faustschlag. Sie war schuld daran, dass Lilia traurig war. Doch den Gedanken wischte sie beiseite. Nein, sie konnte nichts dafür. Lola ist von selbst gestorben, aus eigenem Willen, sie hatte ihr nicht gesagt, dass sie sterben soll. Es war ihre Entscheidung und Crystal traf keine Schuld. Gut, mit dem Gedanken konnte sie zumindest einschlafen, glücklich war sie dennoch nicht. Sie ging wieder zurück auf den Gang, um nach Lilia zu suchen. Doch sie war nirgendwo. Nicht in der Cafeteria, nicht im Kunstraum, nicht im Aufenthaltsraum, nicht in der Küche und auch in keinem Zimmer der anderen Patienten. Es gab noch eine Möglichkeit, wo sich Lilia aufhalten könnte. Crystal schlug jede Tür der Toiletten auf. Zuerst die erste. Leer. Die zweite. Ebenfalls leer. Sie kam bis zu den letzten 3 Türen und hatte die Hoffnung schon aufgegeben. Sie drehte sich um und wollte gerade gehen, da hörte sie ein Schluchzen aus der vorletzten Toilette. „Lilia?“, fragte sie und der kleine Raum warf einen kleinen Schall zurück. Augenblicklich war das Schluchzen weg. Crystal ging zu der Tür und klopfte dagegen. „Bist du dort drin?“ Und sie hörte, wie jemand die Nase hochzog. Entschlossen ging sie in die letzte Toilette, stellte sich auf die Brille und schaute über das Ende der Toilette in die andere Kabine. Dort saß sie. Das Gesicht in den Händen, an den Armen blutige Striemen. Auf dem Boden lag ein kaputtes Glas, das sie wohlmöglich aus der Cafeteria hatte mitgehen lassen. „Was um Himmel…?“ In diesem Moment blickte Lilia auf und ihre Blicke trafen sich. „Verschwinde!“, schrie Lilia sie an. „Verpiss dich einfach!“ Dann weinte sie erneut los. Crystal rannte aus der Toilette und lief schnell in den Kunstraum. Dort traf sie Tina an. Sie brachte nur stoßweise Wörter hervor. „Lilia… in Toilette… Glas… Blut… Hilfe!“ Dann brach auch sie zusammen und weinte. Tina lief an ihr vorbei und rief im Vorbeirennen 4 Pflegern zu, dass sie ihnen helfen soll. Nach kurzer Zeit hatte sich Crystal wieder beruhigt und ging in ihr Zimmer. Dort zündete sie sich eine Zigarette an und ging unentschlossen hin und her. In ihrem Kopf schwirrte vieles herum. Lola. Lilia. Ritzen. Blut. Lola. Lilia. Ritzen. Blut. Sie wusste, dass sie keine Ruhe finden würde, wenn sie sich nicht einmal mit Lilia ausgesprochen hatte. Sie wartete eine Stunde. Dann eine weitere. Und noch eine. Lilia kam nicht.
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„Verschwinde! Verpiss dich einfach!“, schrie Lilia Crystal an. Dann lief jene heraus. Ihre Arme pochten. Warmes Blut lief ihr darüber. Nichts gab es, was man mit diesem Gefühl vergleichen könnte. Es war einmalig, unbeschreiblich, wunderbar, aber doch so grausam. Dann ging die Tür wieder auf. Anhand der Schritte erkannte Lilia, dass es Tina war. Verräterin. Verfluchte Verräterin., pochte es in Lilias Kopf. Tina schlug mit der flachen Hand gegen die Tür. „Mach sofort die verdammte Tür auf, Lilia! Sofort!“ Lilia zog den rechten Mundwinkel nach oben, atmete halblaut aus und schüttelte den Kopf. „Vergiss es, Tina.“, sagte sie ruhig. Sie spürte, wie verzweifelt Tina war. „Was willst du?“, fragte sie schließlich. „Das Zauberwort mit Doppel T.“ Tina konnte es nicht fassen. Die Frau eine Wand weiter hatte gerade erfahren, dass ihre beste Freundin tot ist, ritzt sich und weint und erwartet trotzdem noch ein ‚bitte‘, wenn man ihr helfen will. Aber sie muss dieses Mal nachgeben. „Also gut, ich werde dieses Mal dein Spiel mitspielen. Kannst du bitte die Tür öffnen und heraus kommen?“ Tina hörte, wie der Riegel klickte. Dennoch fasste sie die Klinke nicht an. Es war wichtig, dass Lilia alleine herauskam. Schließlich öffnete sich die Tür. Lilia stand an die Wand gelehnt. Sie öffnete die Tür gerade so weit, dass man sie ganz sehen konnte. „Geht doch.“ Noch traute sich Tina nicht, sie anzuschreien, wie sie es gerne tun würde, da sie sonst die Tür wieder zu knallen würde. Doch dann sah sie die blutigen Arme. Sie war darauf vorbereitet gewesen, dennoch schockierte sie der Anblick. Sie packte sie hart am Oberarm und zog sie heraus, so schnell, dass Lilia gar nicht die Chance blieb, sich auf irgendeine Weise zu wehren. Dann packte Tina sie auch am anderen Arm und schüttelte sie. Lilias Herz begann zu rasen, und im Sekundentakt schossen die Bilder ihres Bruders mit ihr in der Bar durch den Kopf. Dann öffnete sie die Augen und sah in Tinas. Die waren voller Tränen. Und auf einmal begann sie die Schmerzen an den Armen zu spüren. Dieser pochende, juckende Schmerz. Plötzlich umarmte Tina sie und Lilia erwiderte die Umarmung. Sie fühlte sich wie ein kleines Mädchen in den Armen seiner Mutter, beschützt und behütet. Doch in der nächsten Sekunde riss sie sich aus der Umarmung und rannte aus der Damentoilette. Doch sie wurde zugleich von zwei Pflegern hart genommen. „Bringt sie zu Dr. Parker. Er wird sich um ihre Wunden kümmern. Sperrt sie dann in ihr Zimmer. Wenn sie sich bis heute nach Gesellschaftsabend benimmt, darf Crystal in demselben Zimmer schlafen. Wenn nicht, dann nicht.“, schluchzte sie. Auf einmal wurden Lilias Beine schwach. Sie verlor jegliche Kontrolle über sie, ihre Muskeln schienen wie verschwunden. Sie fiel hin, wurde aber von den Pflegern noch rechtzeitig aufgefangen. Dann verlor sie alle Sinne und um sie wurde es schwarz.
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Lilia hielt ihre Augen geschlossen, hörte aber jedes Wort mit. „Sie hat ihre Ader angekratzt. Da sie sich aber viele Male geschnitten hat, hat sie viel Blut verloren. Aber sie wird hundertprozentig durchkommen, das schwöre ich ihnen. Aber sie sollten sie auf jeden Fall weiter beobachten und ebenso ihre Umgebung. Ein Glas offen stehen zu lassen ist sehr töricht. Das sollte nicht noch einmal vorkommen!“, hörte sie Dr. Parker sagen. „Ja, da haben sie Recht. Trotzdem vielen Dank.“ Das war Tinas Stimme. Sie klang erschöpft. „Sie sollte die ganze Nacht hier bleiben, nur vorsichtshalber. Ich werde jede Stunde ihre Arme überprüfen. Ich glaube, dass war’s dann. Holen sie sie morgen früh gegen neun ab. Und sie sollte sofort zu Dr. Muck.“ Tina bedankte sich und ging. „Guten Abend, Dr. Parker.“, meinte Lilia leise, wobei sie die Augen immer noch geschlossen hatte. „Ah, Lilia. Du bist wach. Wie geht es dir?“ Lilia lächelte schwach. „Prima. Wie sehen meine Arme aus?“ Dr. Parker seufzte. „Narben wirst du auf jeden Fall behalten. Vor allem den Namen LOLA auf deinem linken Arm. Wie bist du an das Glas gekommen?“, fragte er weiter. „Hm. Es stand einfach da. Ich kann ihnen gar nicht mehr genau sagen, wo. Und ich sah es, und ohne zu überlegen nahm ich es mit. Dr. Parker?“, fragte sie. „Ja, Lilia?“ – „Können sie mir verzeihen?“ Dr. Parker runzelte die Stirn. „Was verzeihen?“ – „Das ich mich geschnitten habe.“ Dr. Parker lächelte. „Ja, das kann ich.“ Auch Lilia lächelte mit geschlossenen Augen. „Das ist gut, weil ich dir nämlich auch verziehen habe.“ Er wusste, was sie meinte. Vor 2 Jahren hatte sich seine Verlobte von ihm getrennt, er hatte sich betrunken und musste sich anschließend um Lilia kümmern. Dann hatte er sie zum Sex gezwungen. Danach hatte sie seine Behandlung verweigert. Nicht, dass ihr das leid getan hätte. Im Gegenteil. Es war sogar recht schön. Doch er wollte die Beziehung anschließend ausbauen, sie nicht.
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Lilia war noch nie der Typ Beziehung gewesen. Wenn sie mal welche hatte, gingen sie nicht länger als drei Monate. Mal mit Mann, mal mit Frau. Kam auf ihre Stimmung an. Aber, und das konnte sie mit absoluter Gewissheit sagen, war der Sex mit Männern zwar besser, für die Frauen hatte sie allerdings mehr empfunden. Verliebt war Lilia trotzdem nie. Nur eine Gier trieb sie von einer Person zur nächsten. Und in einer Sache war sich Lilia auch sicher: Küssen ist besser als Sex. Sie liebte es zu küssen. Sie könnte es den ganzen Tag tun. Egal wen, egal wann, egal wo. Und jetzt wollte sie Crystal küssen. Es war so, als ob sie eine Löwin wäre, und Crystal sie an einem Stück Fleisch hat riechen lassen. Nur zubeißen durfte sie nicht. Und darauf war sie jetzt heiß.
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„Paul?“, fragte sie Dr. Parker stöhnend. „Ja?“, fragte er in einer ruhigen Stimme. „Wenn ich dir verspreche, zu versuchen, mich unter Kontrolle zu halten, darf ich dann gehen?“ Sie konnte ihn beinahe überlegen hören. „Na, hör zu. Wenn in einer Stunde alles in Ordnung ist, werde ich dich leise nach drüben bringen. Aber bitte. Ich werde dir jetzt einmal vertrauen, aber ich bitte dich einfach, Lilia. Tue nichts, was du wieder bereuen könntest.“ Dann räusperte er sich. Lilia lachte auf. „Tut mir Leid. Ich mache mich über meine Gefühle schon lustig, nennt man das nicht tief gesunken? Ich werde mein ganzes beschissenes Leben hier drin verbringen, werde nie das Lachen eines kleinen Kindes auf meinem Arm hören, nie das Gefühl bekommen, ein Baby zu stillen.“ Dann öffnete sie schließlich die Augen, sie waren voller Tränen und blickte Paul Parker an. „Paul… Bin ich ein schlechter Mensch?“ Dieser riss erschrocken die Augen auf. „Nein, oh nein, Süße! Das bist du nicht!“ Dann ging er zu ihr hinüber und umarmte sie. Und Lilia bekam das Gefühl, ihren verlorenen Bruder wieder gefunden zu haben. „Lilia. Wenn irgendetwas sein sollte, worüber du nicht mit den Pflegern oder Dr. Fuck reden kannst, komm zu mir.“ Lilia musste lachen. „Gibt es denn jetzt etwas, was dein wildes Herz bedrückt?“, fragte Paul keck. „Kennst du die Neue, die in meinem Zimmer wohnt?“ Dr. Parker nickte. „Sie… sie hat mich geküsst. Und es war grandios. Aber… sie hat mich nicht richtig geküsst. Verstehst du?“ Paul nickte. „Ärmste Lilia. Du bist es einfach nicht gewohnt, nicht das zu bekommen, was du nicht willst.“ Am liebsten hätte sie ihn getreten, aber im Moment war sie zu faul, um sich zu bewegen. Die beiden unterhielten sich noch lange, und Lilia tat es gut, alles raus zu lassen, auch wenn Paul ihr öfters nicht helfen konnte, er hörte ihr zu. Langsam merkte dieser, das Lilia sich beruhigt hatte. „So, ich lasse einen Pfleger kommen und gebe dir eine Bescheinigung mit, dass nun kein Grund mehr zu Gefahr besteht.“ Lilia lächelte, rappelte sich auf und umarmte Dr. Parker. „Danke, Paul. Und ich hätte noch eine Frage.“ Paul sah sie mit seinen nussbraunen Augen sanft an. „Ja, was ist Lila?“ Sie kniff kurz die Lippen zusammen. „Warst du damals, du weißt wann, verliebt in mich, so richtig verliebt?“ Paul nickte stumm und sein Blick schweifte in die Ferne. „Ja, das war ich.“ Lilia zuckte mit den Schultern. „Es tut mir leid, aber dann tut sich für mich eine weitere Frage auf, wenn ich sie stellen dürfte.“ Wieder nickte Paul stumm. „Es mag vielleicht dumm klingen, aber wie fühlt es sich an, verliebt zu sein?“ Dr. Parker betrachtete sie mit großen Augen und atmete hörbar aus. „Von dir hätte ich die Frage am wenigsten erwartet. Wie beschreibt man das Verliebt sein… Wenn du an diese Person denkst, an sie sehr oft denkst, und zwar immer nur positiv, du kennst zwar ihre schlechten Seiten, aber sie sind dir egal. Wie dumm das auch klingen mag. Für dich gibt es diese schlechten Seiten nicht. Wenn du nur noch lächelnd durch die Gegend läufst, wie auf Heroin. Wenn du dich fühlst, als wärst du noch einmal jung, wenn du jeden grüßt und sich eine sehr besondere Art Zufriedenheit in dir ausbreitet, dass du sogar von innen her warm strahlst. Dann bist du verliebt.“ Lilia schaute zur Decke und dann in seine Augen, wobei sie lächelte. „Dann… habe ich mich wohl das erste Mal verliebt.“ Auch Paul lächelte. „Crystal kann sich glücklich schätzen.“, flüsterte er. Dann küsste Lilia ihn auf den Mund, doch beide wussten, dass es ein Abschiedskuss war, ein geheimes Zeichen, dass sie zwar Freunde waren, aber nie wieder mehr zwischen ihnen laufen würde. Paul räusperte sich, stand auf und ging zu einem sterilen Schreibtisch. „Trotzdem tue mir den Gefallen, dass du in nächster Zeit nichts mehr anstellst. Du magst es zwar nicht glauben, aber das alles macht Tina ganz schön fertig. Sie umsorgt dich nun schon seit deinem ersten Tag und du weist sie immer nur ab. Ich weiß, ich werde jetzt wahrscheinlich auch wie ein Verräter klingen, aber Tina, sie wollte immer nur das Beste für dich.“ Lilia zog die Augenbrauen hoch. „Das unmögliche darfst du von mir nicht erwarten.“ Paul lachte und nahm sie in den Arm. „So, dann geh mal. Und ich hoffe, dass du mich mal wieder besuchen kommst.“ Lilia versprach es ihm und ging.
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Crystal lag im Bett wach und wartete noch immer auf Lilia. Sie war schon am späten Nachmittag in ihr Zimmer verschwunden, aber jetzt war es Abend. Sie schloss die Augen und dachte an Lilias Stupsnase, an ihre großen, grünen, wunderschönen Augen, an ihr langes, rotbraunes Haar, mit dem geradem Pony direkt über den Augenbrauen. Und an ihre herrlichen Lippen, die sie sich erlaubt hatte, zu küssen. Das Gefühl dabei. Sie würde es wieder tun, wenn sie sie ansah, sah sie pure weibliche Erotik. Auch wenn sie nichts Aufreizendes trug oder sich groß zurechtgemacht hatte, Lilia war wunderschön. Die Art, wie sie lief und dabei ihren Hintern bewegte, was sie wohl eher unbeachtet tat. Die Weise, auf jene sie atmete, wobei sich ihre großen Brüste auf- und abhoben. Das alles machte Lilia vom Aussehen perfekt. Crystal spürte pures Verlangen, wenn sie an sie dachte. Pure Lust. So etwas war völlig neu für sie. Natürlich nicht das Gefühl. Aber das Gefühl gegenüber einer Frau. Das war etwas Neues, eine völlig neue Seite und Crystal überraschte sich selbst damit. Am liebsten hätte ihr Kuss länger dauern können, am liebsten hätte sie ihre Hände in Lilias seidenweichem Haar vergraben und sie auf das Bett gedrückt. Das Begehren nach dieser Frau war unglaublich. Aber sie spürte, dass etwas mit Lilia nicht stimmte. Nicht unbedingt, weil sie möglicherweise tatsächlich einen psychischen Knacks hatte, nein. Da war noch etwas, tief in ihr drin. Ein Geheimnis, ein sehr düsteres Geheimnis. Und Crystal hatte das Gefühl, dass umso näher sie Lilia kam, sie auch dem Geheimnis und der drohenden Gefahr, die sie dabei verspürte, immer näher kam.
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Lilia schlich in ihr gemeinsames Zimmer mit Crystal. Es war bereits dunkler und Tina hatte ihr erzählt, dass sich ihre Zimmergenossin schon früher schlafen gelegt hatte. Und auch, dass das ihre Schuld war. Nach einem kurzem Gespräch mit Dr. Muck, bei dem sie ihr bei allem Recht gab, durfte sie schließlich gehen. Lilia zog sich bis auf BH und Slip aus und legte sich in ihr Bett. Um ihre Schlafsachen finden zu können, müsste sie das Licht anmachen, und sie wollte Crystal nicht stören. Die Bettdecke war total unterkühlt, Lilia fror selbst nach 10 Minuten noch. Ihre Augen hatten sich bereits an die Dunkelheit gewöhnt und sie sah Crystal, die ihr zugewandt auf einer Seite ihres Bettes schlief. Lilia lächelte, als ihr eine Idee kam. Schnell griff sie sich Decke und Kissen und legte sich auf die noch freie Seite in Crystals Bett. Dann kuschelte sie sich mit dem Rücken an ihre Freundin an und schloss die Augen. Crystal sonderte eine einladende Wärme aus, von der Lilia schläfrig wurde. Auf einmal spürte sie einen von Crystals Armen um ihren Bauch, der sie ein wenig zu sich heranzog. Lilia lächelte und drehte den Kopf zu Crystal. „Sind wir denn noch um diese Zeit wach?“, fragte sie keck. Lilia sah ihre Augen in der Dunkelheit funkeln, angestrahlt von einem kleinem Schlitz Licht, der aus der Unterseite der Tür kam. Lilia atmete Crystals Geruch ein. Er war süß. Beinahe Vanille. Einfach zum anbeißen. Sie konnte ihr kaum widerstehen. Für sie waren Frauen wie Crystal das Sinnbild für Sexappeal. Dennoch wollte sie mehr von Crystal als nur guten Sex, obwohl sie schon jetzt wusste, dass er wunderschön werden würde. Nein, sie war es nicht wert, als ein Objekt behandelt zu werden. Sie war mehr als das. Lilia war eine sehr dominante Person, in allen Beziehungen. Und sie brauchte jemanden, der körperlich stärker war als sie, damit nicht nur sie die Dominanz sein konnte. Unbewusst fuhr Lilia mit einer Hand an Crystals linkem Oberarm entlang. Überall gespannte Muskeln. Sie selbst war auch nicht gerade schwach, aber Crystal konnte es wenigstens mit ihr aufnehmen.
Crystal versuchte, ruhig zu atmen. Lilia so dicht neben ihr zu spüren, war ein unglaubliches Gefühl. Ihr Herz begann zu rasen und Adrenalin raste durch ihren Körper. Am liebsten würde sie Lilia wissen lassen, wie sehr sie sie begehrte. Wollte sie noch dichter an sich spüren. Stunden hatte sie auf Lilia gewartet, und dass das passierte, war der verdiente Lohn. Doch was jetzt? Es hatte sich diese Spannung zwischen ihnen aufgebaut, durften sie es um ihrer Freundschaft willen so weit gehen lassen? Doch sie spürte genauso, dass Lilia dasselbe dachte wie sie. Das ihr das gleiche Verlangen auf der Seele brannte. Crystal atmete Lilia ein. Ihren Duft. Er war genauso einmalig wie sie. Sie hatte es gemerkt, als Lilia ihren Kopf umgedreht hatte. Dass sich ihre Lippen fast wieder berührten. Es war unerträglich. Alles was sie wollte war, sie zu küssen. Aber nicht nur das. Sie wollte aber nicht nur Körperlichkeiten, befürchtete aber, dass es Lilia in der Beziehung anders ging. Sie musste einfach widerstehen. Ja, einfach. Das war so ein Wort. Leichter gesagt als getan. Das traf es wohl besser.
Er saß in einer kleinen Bar und spielte mit seinem Klappmesser, wobei er immer wieder die gleichen Sätze wiederholte, wie einer Art Verwünschung. „Lilia Nixon. Ich werde dich suchen. Und wenn ich dich gefunden habe, wirst du bezahlen. Wenn ich dich gefunden habe, werde ich dich umbringen.“, murmelte er. Sie hatte ihm alles genommen, alles zerstört, was ihm lieb war. Und jetzt war sie dran. Sie würde seine Rache spüren. Sie sagte ihm, dass sie ihn liebte. Und das würde sie wieder sagen. Er war sich sicher. Sie hatte keine weitere Chance verdient. Sie nicht. Zuerst waren alle dran, die sie liebte. Sie würde dabei zusehen, wie er sie langsam tötete. Und dann würde sie die Rechnung für das alles bezahlen, was sie ihm angetan hatte. Lilia hatte immer ihren Bruder als Beschützer. Ihren Helden. Auch er würde daran glauben. Sie hätte sich von Anfang an von ihm weghalten sollen. „Lilia Nixon. Ich werde dich suchen. Und wenn ich dich gefunden habe, wirst du bezahlen. Wenn ich dich gefunden habe, werde ich dich umbringen.“, flüsterte er erneut vor sich hin. Wenn sie den Ernst der Lage verstanden hatte, würde sie ihn freiwillig lieben. Davon war er überzeugt. Eine aufreizende Frau ließ sich auf den Barhocker neben ihn nieder. „Kann ich was für dich tun?“, fragte sie und er wusste sofort, worauf sie hinaus wollte. Angewidert blickte er sie an. Die einzige Ähnlichkeit, die sie mit Lilia hatte, waren die rotbraunen Haare. Ansonsten war sie unterdurchschnittlich hässlich. Mit so einer Frau würde er sich nie einlassen, doch sie würde reichen, um seine Wut zu zürnen. „Kommt drauf an. Zu dir oder zu mir?“ Die Frau lächelte. Sie war siegesgewiss. „Zu mir. Dort können wir uns so richtig austoben.“
Crystal lauschte Lilias Atem. Sie schlief nun schon seit Stunden, warf sich unruhig im Bett hin und her und hatte sogar schon ein paar Mal geschrien. Dann griff Crystal jedes Mal ihre eiskalte Hand, worauf sich Lilia schnell wieder beruhigte, wobei sie ihre Hand so sehr kniff, dass sie weiß wurde. „Nein, nein, nein!“ - „Lass mich in Ruhe!“ - „Verschwinde!“, solche Dinge rief sie meistens aus, und Crystal würde gern wissen, von wem Lilia so schrecklich träumte. Jetzt im Moment lag Lilia jedenfalls ruhig neben ihr, den Kopf zu ihr gedreht und ruhig atmend. Doch Crystal wusste, dass dies eine lange Nacht werden würde.
Er erhob sich über sein Opfer. Er stand über ihr, so würde es auch bei Lilia sein. Nur dass sie ihren Tod lange auskosten würde. Lange und schmerzvoll. So sollte er sein, ihr angemessen. Leise schloss er die Wohnung der Frau, die ihn in der Bar so angebaggert hatte. Sie hatte es bereut, er nicht. Es war Befriedigung höchsten Grades und seine ganze gespannte Wut war gelockert. Nun konnte er wieder einigermaßen klaren Gedanken fassen. Nun war es wieder an der Zeit, sich Ideen für Lilias Tod auszudenken. Er liebte es, seine Opfer zu quälen. Er mochte Thriller mehr als Horror. Das ließ er viele seine Opfer spüren. Und Lilia würde es auch spüren. Er wusste von ihrer Angst vor Spiegelkabinetten. Das war der erste Teil seines eigenen Thrillers. Und was dann geschah… So weit war er noch nicht, aber in einem war er sich im Klarem: Lilia würde bis zu ihrer letzten Sekunde leiden.
Am nächsten Tag wachte Crystal müde auf. Das erste was sie bemerkte war, dass Lilia nicht mehr neben ihr lag. Erschrocken riss sie die Augen auf und blickte sich um. In ihrem Raum war sie definitiv nicht. Lilia hatte letzte Nacht noch einige Male geschrien, doch schließlich wurde Crystal doch von ihrer Müdigkeit übermannt. Nun wunderte sie sich, wo ihre beste Freundin geblieben ist. Ihre beste Freundin? Sie kannte Lilia kaum?! Aber sie spürte tief in sich, dass Lilia dasselbe dachte wie sie. Dass sie mehr als gute Bekannte waren. Schließlich schwang sie sich aus dem Bett und gähnte demonstrativ, wobei sie sich reckte und streckte. In diesem Moment schwang die Tür auf und Lilia kam herein, eine Handpuppen-Katze auf die Hand gesteckt. Ohne Crystal anzusehen, hielt sie sich die Katze vor die Augen und meinte in einer hohen Stimme: „Hat Crystal ausgeschlafen? Ist sie endlich wach?“ Dann lächelte sie und kam auf sie zu, wobei sie die Arme in die Luft ausstreckte. Auch Crystal stand auf und nahm sie in den Arm. „Hat denn die Crystal auch gut geschlafen?“, fragte Lilia wieder in der hohen, piepsigen Stimme. Crystal lachte. „Ja, das hat sie.“ Und dann wurde sie ernst. „Und hat denn Lilia auch gut geschlafen?“ Für 5 Sekunden blickte Lilia in die Ferne und ein Schauer durchzuckte sie. Doch dann lächelte sie wieder schwach. „Ja, das hat sie.“, wiederholte sie Crystals Worte, doch in ihren Augen sah Lilia, dass sie wusste, dass sie wieder geschrien hatte. Doch sie ignorierte diesen Blick. „Und hat Crystal jetzt auch Hunger?“, fragte sie leiser, in einer relativ normalen Stimme. „Ja, auch das hat sie.“ Lilia hakte sich bei Crystal ein und zog sie mit nach draußen, wobei sie die Katzen-Handpuppe auf ihr Bett fallen ließ.
Tag der Veröffentlichung: 28.02.2010
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