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Kapitel 1

 

Der Summer ertönt und ich betrete das graue Mehrparteienhaus. Der Bewegungsmelder klackt zwar, aber es bleibt dunkel. Wahrscheinlich ist die Glühbirne durchgebrannt. In der Schwärze fliege ich im Treppenhaus über den Doppelkinderwagen der Zwillinge der Mayers und vertrete mir der Knöchel.

Es rumpelt vernehmlich und ich fluche laut, woraufhin hinter der Tür das Geschrei losgeht. Wer Leance und Lena Mayer hat, der braucht keine Alarmanlage mehr.

Im zweiten Stock wartet wie gewohnt die angelehnte Wohnungstür, die ich schon den ganzen Abend herbeigesehnt habe.

Voller Erleichterung schiebe ich mich hindurch und atme tief ein. Es riecht nach Gebratenem und irgendwelchen Zitrusfrüchten - Stefan hat wohl gekocht. Meine Mundwinkel heben sich automatisch und ein Knurren ertönt lausstark aus der Richtung meines Magens. Ich streife mir die Stiefel von den Füßen und schlüpfe in die bereitstehenden Pantoffel, eine Hello-Kitty-Explosion aus Rosa und Weiß. Auf leisen Sohlen folge ich dem verheißungsvollen Duft, der mein aufgewühltes Gemüt besänftigt.

Stefan ist ein begnadeter Koch. Wenn mir ein Patient mal wieder über die Füße gekotzt, in den Ausschnitt gestiert oder den Hintern betatscht hat, ist sein Coque aux vin das Einzige, das meinen Tag retten kann.

Mit jedem Schritt fühle ich mich ein wenig entspannter, schon allein die Erwartung verbessert meine trübsinnige Stimmung.

Im Wohnzimmer brennen Kerzen. Der Tisch ist schön gedeckt, mit schlichten rechteckigen Tellern und langstieligen Sektflöten. Ein monumentaler Blumenstrauß thront in der Mitte und die verstreuten Rosenblütenblätter bilden einen hübschen Kontrast zu der blütenreinen, faltenfreien Tischdecke.

Ich seufze ganz verzaubert von dem Anblick.

Selbstverständlich hat Stefan den Valentinstag nicht vergessen.

Wie könnte er auch? Er hat noch nie irgendeinen wichtigen Anlass verschusselt, so ist er eben. Mit einem Elefantengedächtnis gesegnet und noch dazu beinahe unverschämt gutmütig.

So gutmütig, dass er obendrein schon den wöchentlichen Wohnungsputz erledigt hat, wie ich am spiegelnden Parkett und den glänzenden Oberflächen erkenne. Und das Beste: Ich weiß, wenn ich jetzt mit den Fingern in die Lampenschirme oder oben auf den Schränken entlang fahre, werde ich auch da kein einziges Staubkörnchen finden. Einfach optimal für eine Sauberkeitsfanatikerin wie mich – ist wohl eine Berufskrankheit.

Da taucht er im Durchgang zur Küche auf und ich muss schlucken, damit ich nicht zu sabbern anfange. Obwohl ich ihn schon gefühlte tausendmal mit seinem dunklen Haar und der großen Statur gesehen habe, löst er immer wieder diese Hitze in mir aus, die sich schon bei unserer ersten Begegnung eingestellt hat.

Als er meine Miene entdeckt, schaut er besorgt drein. Auf seiner Stirn bildet sich eine süße Falte. Wenn man diesen Blick von ihm kriegt, kann man gar nicht daran zweifeln, dass es tatsächlich noch gute Männer auf der Welt gibt.

Sofort kommt er auf mich zu, nimmt mir meine Handtasche ab und hilft mir aus dem Mantel, bevor er mich auf die cremefarbene Couch bugsiert. Ich lasse mich auf das kuschelige Polster fallen und fläze meine Füße über seine Oberschenkel, damit er sich um sie kümmern kann.

Als er kräftig zugreift, stöhne ich auf und sinke weich wie Gummi tiefer in die Kissen. Erst jetzt fällt mir auf, dass im Hintergrund romantische Schmusemusik läuft. Hach, mein Herz schmilzt dahin.

„Ich liebe dieses Lied! Das ist von Michael Jackson. Ich liebe, liebe, liebe Michael Jackson“, schnurre ich, während er meine wunden Sohlen knetet.

Darauf schmunzelt Stefan. „Seit wann singt Michael Jackson I believe I can fly von R. Kelly?“

Habe ich schon erwähnt, nicht wahr? Elefantengedächtnis. „Klugscheißer.“

Er lacht nur wieder und ich kann ihm nicht lange böse sein, denn er massiert all meine miese Laune weg.

Ja, er ist der Good-Guy. Der Typ Mann, der den Idioten eins auf die Nase gibt, wenn sie schlecht über dich reden. Der Kerl, der sich erst ewig dein Gelalle über einen Anderen anhört, dir dann beim Kotzen die Haare hochhält und dich anschließend brav nach Hause fährt. Natürlich ohne selbst einen Schluck Alkohol getrunken zu haben. Oder sich an dir zu vergreifen.

Ehrlich, er ist fast zu gut, um wahr zu sein und ich bin schon seeehr lange in ihn verliebt. Eigentlich seit ich denken kann.

Es gibt nur ein Problem.

Stefan ist nicht direkt mein Freund.

Sondern der von Christina. Ihres Zeichens meine beste Freundin.

 

 

Kapitel 2

 

„Wann kommt Tina nach Hause?“ Ich gähne ausgiebig. Es war ein langer Tag. Erst Herr Pielkofer, der sein Gebiss vor der OP nicht herausbekommen hat und dem ich das Ding mit einer Aderklemme aus dem Mund hebeln musste. Dann auch noch diese Katastrophe von Blind Date. Die Monobraue hätte ich ja noch verkraftet, aber dass er Steuerberater ist und auch noch bei seiner Mutter wohnt, das hat den Bogen dann doch überspannt.

Stefan walkt meine Füße voller Inbrunst durch und schaut zur Uhr hinüber. „Sie müsste gleich da sein. Sie wollte nur noch ein Kundengespräch beenden.“

„Gut. Ich habe ihr nämlich einen Bericht aus erster Hand versprochen. Sie war mein Not-Anrufer.“

Stefan mustert mich mit seinen tiefgrünen Augen durchdringend und der Schalk blitzt darin auf. Ich bekomme einen Kloß im Hals. Beklommen schlucke ich und hoffe, dass er nicht merkt, was er damit bei mir anrichtet.

 „Wie lange hast du es denn ausgehalten?“

Grummelnd senke ich den Blick und schäme mich eine bisschen vor mich hin.

„Naaa?“

„Bis nach dem Aperitif, ok?! Und ich habe euch nicht darum gebeten, aus meinen Verabredungen ein Wettspiel zu machen!“

Er kichert, weil ich mich wütend aufplustere.

„Im Ernst. Es ist schon schlimm genug, immer wieder an diese Arschkrampen zu geraten. Da brauche ich nicht auch noch eure Schadenfreude.“

„Gönn‘ uns den Spaß. Dafür bist du hinterher immer bei uns willkommen. Sogar am Valentinstag.“

Der Hinweis nimmt mir den Wind aus den Segeln. Immerhin hat er Recht. Wenn ich mal wieder einen schmierigen Investmentberater oder langweiligen Bibliothekar durch habe, kann ich mich bei ihnen über meine grotesken Erlebnisse auslassen. Und es stimmt schon, davon gab es einige und die meisten waren wohl so absurd, dass man nur darüber lachen kann. Zudem fungieren beide als Rettungsseil, wenn ich es nicht mehr bei meinen Verabredungen aushalte. Eine SMS und ich bekomme einen Anruf, kann einen Notfall vortäuschen und schnellstens das Weite suchen. Bessere Freunde kann man sich nicht wünschen.

„Wer liegt denn im Moment vorn?“

„Tina. Seit dem Börsenmakler hat sie zwei Punkte Vorsprung. Sie hat gewettet, dass er dir ein unmoralisches Angebot macht und wir wissen ja, wie das ausgegangen ist.“ Er grinst fröhlich bei der Erinnerung und ich sehe förmlich, wie er sich die Vorstellung noch mal durch den Kopf gehen lässt. Ich dagegen kann mich nicht so recht begeistern, da das unmoralische Angebot vor allem ein paar Handschnellen und einen Dreier mit dem Freund des wohlgemerkt schwulen Börsenmaklers beinhaltete.

„Ich dachte, seit der Sache mit Suppenkasper hast du sie überholt.“

Den Spitznamen hat der arme Kerl damals von Christina bekommen. Er mochte seine Suppe nun mal nicht und ließ das den Kellner auch bei keiner weiteren Bestellung vergessen. Ein chronischer Nörgler, den ich nach besagter Vorspeise sitzen gelassen habe.

Stefan überlegt und hört dabei auf zu kneten. Ich stupse ihn mit der Ferse an, damit er weiter macht. Während seine Hände den Dienst wieder aufnehmen, scheint er nachzurechnen. „Nein … Nein. Dazwischen war doch noch Hans im Glück. Der, der dir ein Straußenei mitgebracht hat?“

„Hey!“, verteidigte ich den Straußenzüchter. „Er wollte mir nur einen Eindruck davon vermitteln, was er beruflich macht.“

„Indem er dir ein Ei mitbringt. Ein riesiges Ei! Schon mal was von nonverbaler Kommunikation gehört?“

„Oooohh! Du bist widerlich!“ Ich zerre ein Kissen unter meinem Rücken hervor und peile Stefans Kopf an, doch dem fällt es nicht schwer, meinem dilettantischen Wurf auszuweichen. Das große Geschoss fliegt und fliegt …

Und klatscht gegen zwei schlanke Oberschenkel, die zu Christinas ellenlangen Beinen gehören. Sie stecken in einer Bügelfaltenhose in Kombination mit hohen Pumps und treten das Kissen äußerst undamenhaft zurück. Stefan fängt es auf.

„So wird man also am Valentinstag zu Hause begrüßt!“

 

Tina beugt sich zu ihrem Freund hinunter. Das lange blonde Haar wallt über ihre Schultern und bildet einen Vorhang, sodass ich nicht mitverfolgen kann, wie die beiden sich küssen. Eigentlich bin ich froh darüber. Ich habe sie schon oft kutschen gesehen, aber selbst nach den Jahren fühle ich mich dabei wie durchgekaut und ausgespuckt.

Tina ist in vielerlei Hinsicht wie eine Schwester für mich und ich würde jeden, der ihr etwas Böses will, sofort lynchen. Trotzdem gäbe ich Einiges darum, an ihrer Stelle zu sein. Das zu haben, was sie hat. Ich will es mit einer Heftigkeit, die schon fast wehtut.

Zu meinem Leidwesen wird mir bewusst, dass die Eifersucht sich wider aller Vernunft nicht abstellen lässt. Und dass mir das, neben meinem verkorksten Liebesleben und meinen Knochenjob als Krankenschwester, langsam aber sicher den Seelenfrieden und das Glück raubt.

Ich bemühe mich nach Kräften, das enge Gefühl in meiner Brust zu ignorieren und wende den Blick ab. Stattdessen betrachte ich die Fotografie, die in einem silbernen Rahmen neben der grünen Lampe auf dem Beistelltischchen steht.

Da sind wir drei mit 18. Kurz nach dem Schulabschluss. Das Trio grinst beinahe im Kreis. Alle sind braungebrannt und liegen sich in den Armen. Auf Stefans Nase sieht man ganz deutlich die Sommersprossen, die er kriegt, wenn er länger in der Sonne ist. Gott, er ist ja sowas von schnuckelig … Tina in der Mitte hat noch helleres Haar als sonst. Damals war es von den vielen Strandbesuchen auf unserer Abifahrt nach Calella ausgebleicht. Ihr Gesicht strahlt nur so. Zwei sehr hübsche Menschen.

Und dann bin da noch ich. Ein … Mensch. Ja, damit lässt es sich beschreiben. Mausbraunes Haar, eine irgendwie schiefe Nase, zu viele Aknepusteln und –narben, um sie zählen zu können. Ich sehe mich gerne als Kunstwerk. Von Picasso oder so. Damit lässt es sich leichter leben.

 

Tina knallt sich auf die andere Seite der L-förmigen Couch. Jetzt hat Stefan zwei Paar Füße auf dem Schoß, die Zuwendung verlangen. Er lässt uns nicht lange warten und Tina produziert ähnliche Laute wie ich. Seine Hände sind aber auch geschickt. Und ich wünschte, ich wüsste, was sie tatsächlich alles können.

„Jetzt, erzähl‘ mal. Wie war dein Date?“ Sie klingt wahnsinnig neugierig.

Ha, auf was sie wohl gewettet hat? Ich tippe auf irgendwas in Richtung She-Male. Sie hat wirklich einen ziemlich schwarzen Sinn für Humor. Normalerweise stehe ich dem in nichts nach, aber da alle Scherze gerade ausschließlich auf meine Kosten gehen, möchte ich die Geschichte nicht breittreten.

„Drei Worte. Monobraue, Steuerberater, Hotel Mama. Ok, das waren vier.“

 

Kapitel 3

 

„War denn alles an ihm … dran?“, fragt sie und ein Grinsen färbt ihre Stimme.

Hab‘ ich’s nicht gesagt? She-Male. Vielleicht sollte ich mitwetten …

„Für wen hältst du mich eigentlich?! Diese Zone untersuche ich nicht beim ersten Date!“

„Und was war mit Syphilis-Boy?“, wirft Stefan schelmisch ein. Die beiden haben echt zu viel Grey’s geschaut.

„Das hatte ebenfalls berufliche Gründe. Er hat mich um meine professionelle Meinung gebeten, als er gehört hat, dass ich Krankenschwester bin. Zum Glück hat er’s getan. Wer weiß, wie das sonst ausgegangen wäre.“

„Pragmatisch wie eh und je, unsere Henni.“

„Und hilfsbereit“, ergänze ich Tinas Urteil.

„War der von heute wenigstens heiß?“

„Eine Mischung aus Edward Norton und Clark Gable.“

„Nein! Ein Schnurrbart?!“

„Todsünde!“, pflichtet Stefan seiner Freundin ernst bei, dann brechen beide in Gelächter aus.

„Ja, ja, lacht ihr nur …“ Ich setze eine beleidigte Miene auf, aber Stefan stößt mich an der Schulter an und grinst süß. Wenn er mich so anschaut, kann ich keine Sekunde länger böse sein, weshalb sich meine Mundwinkel schon bald trotz aller Entschlossenheit zu einem Lächeln heben.

„Wisst ihr was?! Ich glaube, ab jetzt möchte ich mitwetten.“

„Och nö … Dann müssen wir von vorne Anfangen und ich verliere meinen Vorsprung.“

Ich werfe Tina über unsere Füße auf Stefans Schoß hinweg einen tadelnden Blick zu. „Also wenn ihr euch schon königlich über mich amüsiert, möchte ich wenigstens mitmachen.“

„Weißt du, das mag ich so an dir. Dass du auch über dich selbst lachen kannst“, meint Stefan und drückt meinen Knöchel, während er mir zuzwinkert.

Mir wird ganz flau in der Magengegend und ich bete stumm, dass ich nicht rot anlaufe wie eine verdammte Leuchtboje.

„Du hast Recht, Schatz. Fein, du bist dabei, Henni. Wahrscheinlich hast du sogar die abgefahrensten Einfälle von uns allen.“

Ich starre immer noch wie ein hypnotisiertes Karnickel in Stefans Augen und kann nur mit Mühe „Mhhm“ hauchen.

„Nicht, dass es jetzt noch wichtig wäre, aber ich wollte nur festhalten, dass momentan Gleichstand herrscht“, meint er an Tina gerichtet und kitzelt vorwitzig ihre Sohlen. Sie kichert und verpasst ihm einen gutmütigen Tritt gegen die Schenkel.

„Dass ich heute keine Punkte abgesahnt habe, ist mir klar. Aber warum solltest du bitte welche kriegen, mein heißgeliebter, von Wahnvorstellungen geplagter Freund? Wenn ich mich richtig erinnere, hast du gewettet, dass …“

„Dass Hennis Date eine Gesichtsbaracke ist“, unterbricht er. „Monobraue und Schnurrbart, das müsste doch reichen, oder?“

„Pah! Für eine Gesichtsbaracke fehlt mir aber noch ein hängendes Auge, oder Blumenkohlohren, oder meinetwegen eine Hasenscharte. Bart und Brauen lassen sich schließlich notfalls korrigieren.“

Stefans hoffnungsvoller Blick trifft mich wieder. „Henni?“

„Ja? Was?“, frage ich atemlos und ein wenig aus dem Konzept gebracht.

„Hatte er so was?“

„Ach so, nö. Glaube nicht.“

„Du glaubst nicht?“, hakt er belustigt nach. „Haben dich die Büsche über Mund und Nase dermaßen abgestoßen, dass du dir den Rest gar nicht mehr angeschaut hast?“

„Falls du dich erinnerst, habe ich nach dem Aperitif die Biege gemacht. Da war nicht allzu viel Zeit, mir seine Gesichtszüge einzuprägen. Außerdem wusste ich ja nicht, dass ich hier für euch zwei ein Fahndungsfoto erstellen soll.“

„Also bitte, das war doch absehbar“, meint er verschmitzt und ich muss lachen.

„Ihr tut gerade so, als würde ich nur zu diesen Dates gehen, um euch ein paar Lacher zu bescheren.“

„Ist das nicht so? Immerhin lässt die Durchschnittsdauer deiner Verabredungen darauf schließen, dass du es gar nicht wirklich versuchst“, wirft Tina unschuldig ein.

Sie weiß nicht, dass sie einen wunden Punkt getroffen hat und plappert arglos weiter, während ich still werde.

„Du lässt dich von Einzelheiten abschrecken, dabei kommt es doch aufs große Ganze an. Aber dafür müsstest du die Kerle erst mal kennen lernen. Oder was meinst du, Stefan?“

„Bin voll bei dir, Süße.“

„Du bist auch nicht perfekt, Henni. Gerade deshalb solltest du vielleicht weniger auf Äußerlichkeiten achten. Ist dir nie in den Sinn gekommen, wie niederschmetternd das für die armen Jungs sein muss? Oder ist schon mal einer von den Herren aufgesprungen und geflüchtet, als er dich gesehen hat?“

Das kommt ausgerechnet von ihr?

Irgendwie verärgern mich ihre Bemerkungen. Noch mehr, weil sie nicht den kleinsten Schimmer hat, wie nah ihre Vermutungen der Wahrheit kommen.

Ja, es stimmt wohl. Ich lasse mich nicht wirklich auf die Dates ein. Aber nicht, weil ich oberflächlich bin oder an meinen Verabredungen schlechte Seiten suche. Das sind nur die Gründe, die ich meinen Freunden nenne, damit sie zufrieden sind und nicht hinter meine Fassade sehen können.

Denn so gern ich es auch abgestritten hätte, der einzige Grund für mein Date-Flüchtlings-Dasein ist, dass keiner von den Männern Stefan war. Oder sich je wie durch Zauberhand in ihn verwandeln würde. Keiner hat einem Vergleich mit ihm Stand gehalten und ich wollte mir keine weitere Mühe mit dem jeweiligen Homme du jours geben, nachdem die Frage geklärt war.

Wenngleich ich weiß, dass es irrsinnig ist, einen Ersatz für einen speziellen Mann zu suchen, scheint mir das auch jetzt noch die einzige Lösung für mein Dilemma.

Ich möchte Tina nicht verletzen, weiß noch nicht mal, ob Stefan auch nur einen Funken romantisches Gefühl für mich hegt und wage auch nicht, es herauszufinden. Die Angst, unsere Dreiergruppe für nichts und wieder nichts zu zerstören, ist viel zu groß.

Also halte ich meinen Mund und schlucke all die Kommentare runter, die ich ihnen nie sagen werde.

„Ehrlich, versteh‘ mich nicht falsch, Henni. Du bist ein hübsches Mädchen, aber du kannst nicht erwarten, dass da irgendwann Ryan Gosling vor dir steht.“

Es muss ja gar nicht Ryan Gosling sein, denke ich nur unglücklich, antworte aber nicht. Was sie als Aufforderung auffasst, mich weiter mit ihrer Meinung zu beehren.

„Die gutaussehenden Typen sind doch sowieso alles Schweine“, sie legt Stefan die Hand auf die Schulter. „Anwesende ausgenommen, Schatz. Was du brauchst, meine liebe Henni, ist ein netter, fürsorglicher, witziger Kerl mit Potential zum Familienvater. Einen wie Stefan.“

Mit einem Schlag gefriert das Blut in meinen Adern, aber Stefan wirft den Kopf in den Nacken und prustet. Dramatisch zieht er die Augenbrauen fast bis zum Haaransatz hoch und deutet mit dem Finger auf sich. „Leider, leider gibt’s den hier nur ein Mal.“

Was. Du. Nicht. Sagst.

„Aber, …  hättest du nicht einen sympathischen Kumpel? Einen, den du Henni wärmstens empfehlen kannst? Dann muss sie wenigstens nicht mehr nach Perlen tauchen, sondern kann sie sich quasi im Laden aussuchen.“

„Glaubst du, das hätte ich ihr nicht schon mal angeboten? Sie wollte nicht.“

„Vielleicht will sie jetzt. Sie muss doch bald der Verzweiflung nahe sein, bei den ganzen Enttäuschungen“, entgegnet Tina, als wäre der Gegenstand ihres Gesprächs nicht im Raum – nämlich ICH.

Stefan mustert mich nachdenklich. „Verzweifelt sieht sie gar nicht aus. Eher … wütend.“

Schnell glätte ich meine Gesichtszüge und reiße mich aus meiner Starre.

„SIE hat keinen Bedarf an Mitleids-Kuppel-Aktionen.“

Tina gluckst und fegt mit einem Handstreich meine Widerworte fort. „Jetzt hab‘ dich nicht so, Henni! Stefan hat ein paar nette Bekannte, von der Arbeit und im Ruderclub.“

„Da bin ich sicher. Aber nein, danke.“

„Wenn du so an deinen Blind Dates hängst, könnte ich ja einfach verschweigen, wen ich ausgesucht habe.“

„Und mich eurer wahnsitzigen Sucht nach Absurditäten aussetzen?! Ich finde vielleicht keinen Freund, aber das heißt noch lange nicht, dass ich nicht alle Tassen im Schrank habe.“

„Aber, aber. Wir wollen dir doch nichts Böses“, sagt Stefan plötzlich ganz ernst. Von hinten fällt Tina jedoch wagemutig ein.

„So ein Quatsch! Das ist nicht der wahre Grund, Schatz.“

„So?“ Er guckt wie ein Fragezeichen.

„Ich glaube, Henni hat Angst, dass sich keiner mit ihr treffen will, der vorher weiß, wie sie aussieht.“

Autsch.

Stefan runzelt verständnislos die Stirn. „Aber das muss sie doch gar nicht.“ 

Ich hätte ihn für seine Unbedarftheit küssen können.

„Klar muss sie das nicht. Aber es stimmt vielleicht. Henni?“

Ich spüre wie ich diesmal wirklich knallrot anlaufe. „Ich ähm … Ich …“

„Seit wann stottert sie denn?“, fragt Tina Stefan belustigt.

„Keine Ahnung. Ist mir auch neu.“ Er legt den Kopf schief. „Stimmt das, Henni?“

„Nein!“, schaffe ich endlich zu blaffen, aber meine Stimme ist viel zu schrill, was natürlich auch den beiden nicht entgeht.

„Es stimmt also.“ Jetzt guckt er mitleidig.

Und obwohl mir dieses ganze Gespräch wie eine Trainingseinheit am Boxsack – mit mir als Boxsack – vorgekommen ist, ist es dieser Ausdruck in seinem Gesicht, der mich wirklich ausknockt, als hätte er mir einen rechten Haken voll auf die Zwölf verpasst.

Ich will diese Person nicht sein, die er plötzlich in mir sieht. Schon gar nicht vor ihm.

„Ich gehe jetzt.“ Kurzentschlossen entziehe ich Stefan meine Füße und schlüpfe in die Hello-Kitty-Stoffpuschen, die ich bei den beiden bunkere. Ich bin so häufig hier zu Gast, dass es viel zu umständlich wäre, sie jedes Mal mit zu schleppen.

„Och, Henni. Jetzt sei‘ nicht so. Komm wieder her“, flötet Tina versöhnlich, aber sie geht mir damit nur noch mehr auf die Nerven. Wütend drehe ich mich um und will ihr um die Ohren hauen, wo sie sich ihr Och Henni hinschieben kann. Die Worte bleiben mir im Halse stecken, als ich das Paar einträchtig auf der Couch hocken sehe.

Klar nimmt Tina kein Blatt vor den Mund, aber sie meint es gut.

Ich bin einzig und allein sauer auf sie, weil sie das hat, was ich will. Es wäre unfair, sie deshalb anzurüffeln.

„Es ist alles gut. Ich bin nur zu müde für diese Diskussion. Ich glaube, ich verschwinde jetzt und gönne mir ein langes, heißes Schaumbad. Lasst euch von mir bitte nicht die Valentinstags-Stimmung vermiesen. Stefan hat sich so viel Mühe gemacht.“

„Willst du nicht …?“

„Bloß nicht!“, wehre ich Tinas Angebot viel zu hastig ab. „Ich meine, ähm, nein, danke. Ich bin echt reif für die Horizontale. Ich melde mich morgen, ok? Bis dann. Und lasst es euch schmecken.“

Ich zwinge mich, langsam meine Sachen zu greifen und gemessenen Schrittes in den Flur zu wandern. Nicht hysterisch wegrennen, Henni. Damit gießt du nur Öl ins Feuer.

Ich schließe leise die Wohnungstür und taste mich ein weiteres Mal durchs stockfinstere Treppenhaus.

 

 

 

 

Kapitel 4

 

Zu Hause angekommen, werde ich von TinkerBell, meinem adipösen Kater, begrüßt. Er reibt seinen riesigen Kopf an meinem Hosenbein und maunzt vorwurfsvoll. Wahrscheinlich hat er – wie eigentlich immer – Hunger.

Ärgerlich schubse ich ihn mit dem Fuß zur Seite, damit ich nicht über ihn stolpern kann, da er wie ein wildgewordener Schmuser um meine Beine scharwenzelt. Wäre schließlich nicht das erste Mal.

Eigentlich kann ich Katzen nicht ausstehen, genauso wenig, wie anderes Getier. Alles, was Fell oder Federn hat, ist ein optimaler Wirt für Parasiten und viele Krankheitserreger. Für meinen Sauberkeitsfimmel bedeutet TinkerBell eine echte Herausforderung und ich habe ihn nur, weil ich nicht in eine leere Wohnung heimkommen will.

Zuerst hatte ich damals an Fische gedacht, weil sie immerhin keine Haare auf der Couch hinterlassen. Aber die kommen einem nun mal auch nicht entgegen und freuen sich über die Anwesenheit ihres Herrchens, wenn es nach einem langen Tag heimkehrt. Ich meine sogar irgendwo mal gelesen zu haben, dass Fische nur ein Fünf-Sekunden-Gedächtnis besitzen, weswegen ich auch ernsthaft bezweifle, dass sie ihr Herrchen überhaupt erkannt hätten.

 

Ergeben schlurfe ich durch den Flur ins Wohnzimmer, vorbei am Fernseher, den ich aus purer Gewohnheit anschalte, einfach, um ein paar Stimmen zu hören. In der Küche krame ich in den Einbauschränken aus altbackenem Eichenholz nach Katzenfutter, bevor TinkerBell meine Zehen für Cocktail-Würstchen hält. Wäre auch nicht das erste Mal.

Er boxt mit dem Kopf fordernd gegen meine Waden, während ich die Bröckchen auf ein Tellerchen matsche und der eklige Geruch die Küche erfüllt.

„Ist ja schon gut, du alter Fresssack“, murre ich und stelle das Futter in seiner Ecke beim Katzenkorb ab. Mittlerweile habe ich gelernt, dass ich meine Finger danach sofort zurückziehen muss, wenn ich sie behalten will. Da versteht er echt keinen Spaß und mutiert zu einem krallenbewehrten, fauchenden Alptraum mit fiesen, kleinen, spitzen Zähnen.

Eigentlich wollte ich ein liebes, zahmes Kätzchen. Als solches wurde er mir auch vom Bauer im nächsten Dorf verkauft, daher auch der Name. Leider hatte sich bis zum ersten Tierarztbesuch herauskristallisiert, dass TinkerBell weder zahm, noch süß, geschweige denn ein Kätzchen ist.

Er zerfetzt mit Vorliebe die Tapete bei der Tür und hat es auf meine Zehen abgesehen, wenn ich nicht aufpasse. Obendrein ist er ein Raufbold erster Güte und scheint sich auch gerne mal mit den Katzen aus der Nachbarschaft anzulegen, was eine fehlende Ecke im Ohr und ein inzwischen blindes Auge beweisen. Er ist ein richtiger Draufgänger-Kater, obwohl er keine Hoden mehr hat und die Testosteronschübe somit ausbleiben dürften.

Ich schaue ihm eine Weile beim Fressen zu und nehme mir eine Flasche Wein samt bauchigem Glas aus dem oberen Schränkchen. Im Wohnzimmer höre ich mir die Aufnahmen vom Anrufbeantworter an. Die erste von sieben stammt von meiner Mutter. Mit großer Sicherheit sind sie alle von ihr. Sie ist so ziemlich der einzige Stammgast auf dem Ding, da sie nichts von modernen Neuerungen wie Handys hält und ich eigentlich nur wegen ihr überhaupt noch einen Festnetzanschluss besitze.

„Henriette, weißt du, was gerade passiert ist?! Deine Cousine Deborah hat sich verlobt! Else hat mich gleich angerufen, um damit anzugeben. Der Bräutigam in spe soll Entwickler bei BMW sein und ein Mal im Jahr das neuste Auto als Dienstfahrzeug bekommen. Anscheinend kriegt jetzt die ganze Familie Rabatte beim Autokauf. Natürlich nur die direkte Verwandtschaft. Das musste sie mir dringend unter die Nase reiben. Bestimmt findet die Hochzeit bloß statt, damit keiner mitkriegt, dass Deborah ein Flittchen ist und sich von diesem Ingenieur hat schwängern lassen. Na, jedenfalls ist die Hochzeit am 13. Juli! Kannst du das fassen? Das war doch unser Datum!“

Ihr Schluchzen dröhnt blechern aus dem Lautsprecher und ich sehe sie geradezu bildhaft vor mir, wie sie auf dem großen Ohrensessel in ihrem Wohnzimmer sitzt, mit einer selbstgehäkelten Decke über den Knien, der Kleenex-Schachtel im Schoß und dem Glas Himbeergeist auf dem Couchtisch.

„Wie kann Else das vergessen? Ich meine, dass die Kinder nicht dran gedacht haben, das verstehe ich ja noch, aber meine Schwester? Noch dazu ist es bei ihr auch nicht so lange her, dass ihr Mann gestorben ist. Man möchte doch meinen, da … - Piep -“

Während der Rekorder den nächsten Anruf abspielt, wandere ich ins Bad, um den Hahn an der Wanne aufzudrehen. Das Gluckern des einlaufenden Wassers mischt sich in den auf Band gebannten Monolog meiner Mutter, der aus dem Wohnzimmer tönt.

„Ich wollte sagen, man möchte doch meinen, dass sie da sensibler für gewisse Themen ist. Und dann wollen sie auch noch in der St. Josefs Kirche heiraten! Else muss doch wissen, wie ich mich fühle, wenn ich da in der Kirche stehe, nur ein Jahr, nachdem ich meinen Mann am selben Fleck beerdigt habe …“

Jetzt weint meine Mama geräuschvoll in den Hörer und ich vernehme, wie sie etwas schluckt – vermutlich den Himbeergeist. Ich bekomme einen Kloß im Hals, als sie mit bebender Stimme fortfährt.

„Ich weiß nicht ob ich das schaffe. Noch dazu, wenn ich mich um Oma kümmern muss. Else hat an dem Tag dann bestimmt keine Zeit für sie. Und ich sag’s dir, die Frau geht mir zurzeit derartig auf die Nerven! Kaum hat sie wieder ein paar Lebensgeister in sich, kommandiert sie mich schon wieder herum. Der Rasen müsste auch mal wieder gemäht werden. Die Apfelbäume hinten im Garten könnten ein paar Stützen vertragen“, äfft sie den stets arglosen Tonfall meiner Großmutter nach, wenn sie versucht, ihre Tochter ganz scheinheilig zu gewissen Tätigkeiten zu bringen, die sie selbst aufgrund ihres stolzen Alters von 90 Jahren nicht mehr schafft.

„Und dann hat sie am Sonntag, als Else mit ihr zur Kirche gelaufen ist, doch tatsächlich die Martens angesprochen, ob deren Sohn nicht mal bei ihr Rasen mähen könne, weil sich ja keiner um ihren Garten kümmere. Ist das zu fassen??? Bloß weil ich nicht sofort springe, wenn sie pfeift. Dabei mache ich doch immer alles, was sie will. Ich könnte sie erwürgen, wenn sie … - Piep -“

Da ich davon ausgehen kann, dass das noch ewig so weiter gehen wird und ich wie so oft ein schweres Herz bekomme, schnappe ich mir kurzer Hand das Telefon und klingle bei ihr durch.

Sie ist total erleichtert, dass ich anrufe und überschüttet mich mit der gleichen Geschichte noch mal, die sie wahrscheinlich bereits in den sieben Nachrichten auf meinen Anrufbeantworter gesprochen hat. Die Badewanne ist schon längst gefüllt und mit mir drin wieder erkaltet, bis wir auflegen.

Meine Ohren glühen und ich ärgere mich, dass mein ganzer Restabend für dieses Telefonat drauf gegangen ist, kriege aber sofort ein schlechtes Gewissen deswegen.

Meine Mutter hat ihren zweiten Ehemann vor einem dreiviertel Jahr an den Krebs verloren. Bertram war nicht mein Vater und wir haben uns auch nicht sonderlich gut verstanden, aber ich habe immer zu schätzen gewusst – auch heute noch -, dass er meine Mutter glücklich gemacht hat. Selbst nachdem er krank geworden ist.

Verständlicherweise ist meine Mutter sehr einsam, seit er tot ist und da ich Einzelkind bin, bleibe ich ihr als einziger Ansprechpartner für die größeren und kleineren Probleme des Alltags.

Die häufen sich zu allem Überfluss seit ein paar Monaten auch noch, weil meine Oma immer tattriger wird und mehr und mehr Hilfe benötigt. Da meine Mutter im selben Haus wohnt wie sie, ist sie diesen Forderungen natürlich schutzlos ausgeliefert und wendet sich in solchen Momenten dann ebenfalls meist an mich.

Ich liebe sie wirklich, aber genauso, wie sie von ihrer Mutter Luft zum Atmen bräuchte, bräuchte ich das manchmal auch von meiner, würde es aber genau wie sie nicht wagen, das auch einzufordern. Jemand muss sich um sie kümmern und wenn ich es nicht tue, dann tut es keiner.

Ich liege mit meinem vierten Glas Wein im inzwischen eisigen Badewasser und checke via Handy meinen Account bei der Dating-Website.

Beim Einloggen ärgere ich mich wieder über Christinas Spitzfindigkeit. Sie hat ein Talent, meine Unzulänglichkeiten zu entlarven und sie mir unter die Nase zu reiben. Aus reiner Anteilnahme natürlich.

Ich mag es, dass auf dieser speziellen Seite jedes Mitglied vorher geprüft wird, man jedoch kein Bild angeben muss. Klar geht man auf die Weise ein Risiko ein, aber ich möchte nicht nach meinem Äußeren beurteilt werden, im positiven wie im negativen Sinne. Das gilt der Gerechtigkeit halber auch umgekehrt, was mich jedoch nicht davon abhält, den jeweiligen Kandidaten sitzen zu lassen, falls es zwischen uns einfach nicht passt.

Tina hat schon recht, ich würde mich miserabel fühlen, wenn die Herren der Schöpfung das mit mir machen würden. Zumal ich sicher kein Hauptgewinn bin, wie meine Freundin so reizend, aber leider zutreffend festgestellt hat.

Vielleicht sollte ich mich beim nächsten Versuch zwingen, bis zum Ende zu bleiben und ausnahmsweise wirklich interessiert an meinem Gegenüber zu sein. Vielleicht würde sich dann zeigen, dass Stefan nicht der einzige gut aussehende Good-Guy auf diesem Planeten ist.

Obwohl ich das stark bezweifle.

Durch meine Arbeit auf der urologischen Station im St. Marien Krankenhaus komme ich in den zweifelhaften Genuss von reichlich Kontakt mit dem anderen Geschlecht. Sie sind doch alle gleich. Penis-fixiert und geil bis unter den Scheitel. Ob jung oder alt, alle denken nur an das eine, machen vulgäre Sprüche und unverhohlene Angebote oder sogar Aufforderungen. Wobei die ältere Generation da tatsächlich noch hemmungsloser ist. Ganz nach dem Motto: jetzt ist es auch schon egal. Man mag kaum glauben, dass die Hälfte von denen bei der Prostatektomie gerade ihre Männlichkeit eingebüßt hat und trotzdem reißen sie die Klappe meterweit auf. Vielleicht ein Kompensationsmechanismus.

Das erinnert mich verdächtig an TinkerBell.

Mist, ich bin von kastrierten Männchen umzingelt, die ihrer Latte hinterhertrauern und ihre Triebe stattdessen an allem ausleben, was ihnen gerade in den Weg gerät.

Auch die Dates und Kurzbeziehungen, die ich vor der Dating-Website hatte, hauten in dieselbe Kerbe.

Nur Stefan ist anders. Er ist der Lichtblick am Horizont. Bei diesen allseits düsteren Aussichten - wie kann man sich da nicht in ihn verlieben?

Zunächst sortiere ich die Nachrichten mit „Willst’e ficken?“ und alle mit „Geil“ in der Betreffzeile aus. Die Liste verkürzt sich von 23 Mitteilungen auf sieben. Beim Durchstöbern des kläglichen Rests überfliege ich die Zeilen teilnahmslos und nippe dann und wann am Rotwein, der meinen Kopf mit angenehmer Schwere und Gleichgültigkeit füllt.

Irgendwie klingt jeder Text gleich, die Worte sind einfallslos und lahm. Nach der heutigen Schlappe habe ich im Augenblick keine große Lust auf einen neuen Versuch.

Stattdessen lasse ich ein bisschen Wasser ab, fülle mit heißem nach und sinke tiefer in den bereits dünn gewordenen Schaum. Mit geschlossenen Augen verdränge ich mein Scheiß-Leben und träume von Stefan. Stelle mir vor, wie er am Valentinstag hier in meiner Wohnung wartet und Tina diejenige ist, die nach einem Gespräch über ihren Abend nach Hause geht.

In meinem Kopf ist das gar kein Problem, weil in diesem Wunderland die Naturgesetze anders sind. Dort ist er mein Freund und war es schon immer und Tina ist trotzdem meine Freundin. Sie hat auch einen Partner, nur eben einen anderen. Wir sind alle glücklich und zufrieden. Friede, Freude, Eierku…

„Aua!!!“

Erschrocken reiße ich die Augen auf und sehe gerade noch, wie TinkerBell mit den Krallen nach meinen Zehen schlägt. Dem Schmerz nach zu urteilen, muss er eben in die große gebissen haben, was mich aus meiner Wunschvorstellung gerissen hat.

„Ich glaub‘, ich spinne!“

Ein großer Schwall Badewasser jagt den empört fauchenden Kater aus dem Badezimmer. Ich werfe ihm das nassgewordene Handtuch nach und brülle fuchsteufelswild die fiesesten Verwünschungen, die mir einfallen.

Noch nicht mal in Ruhe träumen darf man hier!

 

Kapitel 5

 

„Muss das wirklich sein?“

Der junge Mann schaut mich alarmiert an, als ich den Blasenkatheter aus der sterilen Verpackung nehme. Den Blick kenne ich und verkneife mir ein Grinsen. Lustigerweise ruft der 18 Charrière dicke und an die 40 Zentimeter lange Plastikschlauch mit aufblasbarem Ballon bei den meisten Männern Angstschweiß und Fluchtgedanken hervor.

„Wollen Sie Ihr bestes Stück behalten?“, frage ich so ernst wie möglich.

Er reißt schockiert die Augen auf. „Ja???“

Welche andere Antwort hätte es auch sein sollen? Die meisten würden wahrscheinlich lieber ihren Kopf verlieren, als diesen wesentlich kleineren und unbedeutenderen Teil ihrer Anatomie.

„Dann muss es sein. Sie brauchen so schnell wie möglich eine OP und danach wollen Sie nicht ohne das Ding hier pinkeln, glauben Sie mir. Sie werden es auch gar nicht können.“

Ich weise auf die blau-rot verfärbte und geschwollene Nudel, die schüchtern aus dem Loch des sterilen Tuches spitzelt, und die er im Moment nur nicht spürt, weil er genug Schmerzmittel intus hat, um einen Elefanten niederzustrecken.

Ein Penisbruch ist eine verdammt eklige Sache, das ist mir schon klar. Und peinlich noch dazu, schließlich weiß jeder, der in einem Krankenhaus arbeitet, dass diese Verletzung in den allermeisten Fällen nur bei einer Tätigkeit entsteht. Jetzt soll sich der arme Tropf auch noch von einer gleichaltrigen Frau einen Schlauch so lang wie sein Unterarm in den lädierten Pillermann einführen lassen. Ehrlich, ich kann den panischen Ausdruck in seinem Gesicht nachvollziehen. Aber wenn man so oft mit Heißspornen zu tun hat, die meist im angetrunkenen Zustand meinen, akrobatische Verrenkungen und Presslufthammer-Modus   könnten das Gefühl wett machen, das der Alkohol vorher betäubt hat, dann vergeht es einem mit der Zeit mit der Nachsicht.

Jonas, einer der Assistenzärzte, sagt diesen Kandidaten sogar immer klipp und klar, dass sie in solchen Fällen ihren Schwanz doch besser in der Hose behalten sollen, weil sie sowieso nichts spüren und sich abrackern müssen, bis da unten was passiert.

 

Es klopft an der Tür und einen Moment später streckt Bea ihren Kopf herein. „Ist Herr Kühne fertig? Die Schleuse hat schon angerufen.“

Ich halte den Katheter hoch, von dem Vaseline tropft. „Sind gleich soweit.“

Sie zieht sich zurück und ich wende mich wieder Alexander Kühne zu, der mittlerweile blass um die Nase geworden ist.

„Sie haben sehr viel Schmerzmittel bekommen und etwas zur Beruhigung vor der Operation. Sie werden es kaum spüren. Ich verspreche es.“

„Aber …“

„Schon vergessen? Es muss sein, wenn‘s das nicht für Ihren besten Freund gewesen sein soll.“ Das ist vollkommene Übertreibung, aber meine wirkungsvollste Waffe.

Er verkrampft am ganzen Körper, umklammert die Bettdecke und nickt schließlich tapfer.

Während ich noch mal mein Arbeitsfeld desinfiziere, schaut er wie ein Gefangener auf dem Weg zum Schafott. Keine meiner Bewegungen entgeht ihm und als ich mich in Position bringe, kreischt er los, obwohl ich noch gar nicht angefangen habe.

„Himmel noch mal, je mehr sie zappeln, desto mehr tut’s weh!“, warne ich unwirsch.

„Sie haben gesagt, ich werde nichts spüren!“

„Ja, aber …“

„Nein, ich kann das nicht!“

Er steht urplötzlich auf. Das sterile Lochtuch samt den Instrumenten segeln zu Boden. Das war’s dann mit dem desinfizierten Arbeitsfeld. Ärgerlich werfe ich den Katheter in die Verpackung zurück.

„Ok, Herr Kühne. Ist ok“, versuche ich ihn zu beruhigen und hebe die Hände, damit er sehen kann, dass der Schlauch erst mal keine Debatte mehr ist. Nur mit Engelszungen lässt er sich dazu bewegen, sich wieder ins Bett zu legen, wobei er dank der Beruhigungsmittel schwankt wie ein junger Baum im Wind und mich beinahe zu Boden reißt.

Als ich letztlich seufzend die Bremsen am Bett löse und mit ihm aus dem Zimmer fahre, bin ich von dem Kraftakt verschwitzt. Etliche Strähnen haben sich aus meinem Pferdeschwanz gelöst, was mich dazu bringt, mir das zerzauste Haar aus der Stirn zu streichen.

Bea holt uns nach ein paar Meter ein und hilft mir beim Schieben.

„Na? Dann sind sie ja jetzt startklar, Herr Kühne. Sie werden sehen, es wird alles ganz schnell gehen“, versucht sie den Patienten freundlich aufzumuntern, doch der scheint sie gar nicht wahrzunehmen.

Ich werfe ihr einen Blick zu und sie kapiert sofort, winkt aber nur lächelnd ab, als ich dramatisch mit den Augen rolle.

An der OP-Schleuse angekommen verfrachten wir den starren Herrn Kühne auf einen OP-Tisch und verabschieden uns von ihm.

„Bis später, Herr Kühne. Wir holen sie dann aus dem Aufwachraum ab“, sage ich zu dem bibbernden Mann, der gerade durch die Tür auf der anderen Seite der Schleuse gefahren wird. Tom, dem OP-Pfleger, überreiche ich die Patientenakte, indessen parkt Bea das Bett im dafür vorgesehenen Bereich.

„Ihr müsst Herrn Kühne noch einen Katheter legen, wenn er in Narkose ist. Er hat sich standhaft geweigert.“
Der bullige Tom mit den über und über tätowierten Oberarmen kichert. „Wenigstens steht überhaupt noch etwas an ihm.“

Aus Höflichkeit lächele ich lahm und klopfe ihm auf die Schulter. Über diese Sprüche kann ich schon lange nicht mehr lachen.

 

Zurück auf der Station mache ich mit Bea meine Runde. Sie ist Schwesternschülerin und läuft seit ein paar Wochen bei mir mit. Anfänglich bin ich davon ausgegangen, dass sie mich bald nerven würde, da sie eine von der Perlen-Paula-Fraktion ist: ein blonder Sonnenschein mit unbedarftem Wesen, der Ballerinas und Perlenohrringe bei der Arbeit trägt.

Damals habe ich sie deshalb in eine Schublade gestopft, aber sie hat sich mit ihrem frechen Mundwerk und einem erstaunlichen Sinn für Kollegialität wieder daraus hervorgekämpft.

Mittlerweile finde ich es gar nicht schlecht, sie dabei zu haben. Inzwischen kennt sie sich aus, weiß wo sie mitanpacken muss, wo sie welche Gegenstände im Lager findet und ist somit eine echte Hilfe. Oft sind wir schneller als die anderen Mädels auf der Station mit unserem Bereich fertig und bieten denen dann entweder unsere Hilfe an oder machen auch mal etwas länger Pause.

Als wir in das Dreierzimmer, in dem auch Herrn Pielkofer liegt, kommen, sitzt er grummelnd im Bett.

„Morgen Herr Pielkofer. Wie ich sehe, haben Sie Ihre Operation gut überstanden. Wie geht’s Ihnen denn heute?“

„Ah! Die Gauner haben meine Schähne „verloren“.“ Er malt mit den Händen Gänsefüßchen in die Luft. „Da musch man vor der OP nüchtern sschein und hinterher lasschen sschie einem nich‘ mal die Schähne. Wasch isch dasch hier?! Sche Biggesscht Loosscher?!“

Ich muss unwillkürlich grinsen, weil er zahnlos vor sich hin grummelt und sich immer weiter über die gedankenlosen Schwestern im Aufwachraum beschwert.

Bea lacht ebenso. „Woher kennen Sie denn The Biggest Looser, Herr Pielkofer?“

„Mein hohlköpfiger Enkelschohn hat da mitgemacht. Jetsch isch er genauscho schwabbelig wie vorher.“

„Herr Pielkofer! Lassen Sie das mal nicht Ihren Enkelsohn hören“, meint sie charmant tadelnd.

„Ach wasch! Dasch kann der ruhig wisschen. Er hat schiebenundschwanschig Kilo abgenommen und nu‘ war allesch für die Katsch! Er isch wirklich Sche biggescht Looscher! . Leider war sschon scheine Mutter ein Rollmopsch. Früher hätt’sch schowasch nich‘ gegeben. Im Krieg waren wir sschon froh, wenn wir wasch anderesch sschu beischen hatten, alsch unschere Fusschnägel.“

Meine Kollegin und ich tauschen einen belustigten Blick. Er ist Veteran und hat offensichtlich wenig Verständnis für die Disziplinlosigkeit seiner Sippschaft. Er selbst ist schmächtig und drahtig gebaut, wodurch seine Betreuung wesentlich einfacher ist, als bei jemandem, der dem Pfundskerl von Enkel gleicht.

Wir helfen ihm bei der täglichen Pflege. Indessen meckert er in einem fort, aber ich schalte auf Durchzug und schicke Bea anschließend los, um das stiften gegangene Gebiss aufzutreiben. Wenn er nicht bald etwas zu essen bekommt, vergeht er entweder in Gift und Galle oder fällt uns bei seiner Statur tatsächlich vom Fleisch.

Der Zimmernachbar von Herrn Pielkofer ist gestern in der Nachtschicht ins Krankenhaus aufgenommen worden, sodass ich nur von der Übernahme, jedoch noch nicht persönlich kenne. Ich trete an sein Bett und stelle mich freundlich vor.

„Hallo Herr Reichel, ich bin Schwester Henriette.“

Erst jetzt hat er die Güte, die Kopfhörer abzunehmen, mit denen er den Ton für den kleinen Fernseher an seinem Bett hören kann. Er ist etwa Mitte fünfzig und damit um einiges jünger als Herr Pielkofer.

„Auf euch habe ich gewartet.“ Seine Schweinsäuglein mustern mich anzüglich von Kopf bis Fuß. „Ich glaube ich bin ziemlich schmutzig …“ Er grinst breit und lässt seine Brauen auf und ab hüpfen.

„Das sehe ich“, entgegne ich trocken und zerre ein Kissen unter seinem Kopf hervor, sodass er nach hinten sackt.

„Hey!“ Er macht eine ungehaltene Miene. „Wo haben Sie das süße Mäuschen gelassen, das eben noch hier war? Vielleicht ist die ein wenig zärtlicher…“

„Wohl kaum.“ Mit einem Ruck ziehe ich ihm die Decke weg, um die Verbindung zum Spülkatheter zu checken. In seiner Akte steht, dass er gestern einen akuten Harnverhalt gehabt und man ihm gleich abends die Prostata abgehobelt hat. Die Wundhöhle muss ordentlich gespült werden, weswegen ein 5-Liter-Kanister neben seinem Bett hängt und Flüssigkeit über ein Schlauchsystem in seine Harnröhre geleitet sowie wieder abgelassen wird.

Ich prüfe, ob der Harnröhreneingang reizlos ist, ob der Katheterballon gut abschließt und nichts von der Spülflüssigkeit daneben läuft.

„Ich wette, so einen Großen haben Sie noch nie gesehen. Sie dürfen ihn ruhig mal anfassen“, verkündet er großspurig und verschränkt die Arme hinter dem Kopf. In seinem feisten Gesicht zeichnet sich jene Vorfreude ab, von der Mann im Allgemeinen in einem thailändischen Massagesalon kurz vorm Happy End gepackt wird.

„Was glauben Sie, was passiert, wenn er steif wird, mit diesem riiiieeesigen Schlauch in Ihrer Harnröhre?“ Eine passende Geste mit dem Zeigefinger soll die Warnung verdeutlichen.

Er guckt mich verunsichert an. Dann schluckt er sichtbar, sein Adamsapfel zittert.

„Das sagen Sie doch bloß so?!“

„Ich weiß nicht. Was meinen Sie?“

Jetzt klappt er den Mund zu. Seine Augen starren zweifelnd in meine, aber weil er keine Ahnung hat, ob ihm tatsächlich der Schniepel abfällt, wenn er eine Erektion bekommt, scheint er sich aufs Schmollen zu verlegen.

Er sagt kein Wort mehr, sodass ich meine Pflichten erledigen kann und glücklicherweise Ruhe vor ihm habe. Erst als ich ihm wieder ins Hemdchen helfe und mich dabei über ihn beuge, bricht er das Schweigen mit einem belustigten Laut.

Erstaunt blicke ich hinunter und sehe, wie er versucht, sich das Lachen zu verkneifen.

„Was?“

„Sie arbeiten auf einer urologischen Station und heißen Einhorn mit Nachname???“ Das Bett wackelt, weil er hart gegen einen Lachanfall kämpft.

Ich verdrehe nur die Augen. Die Reaktion kenne ich schon.

„Frau Einhorn, ich hätte da ein Horn für Sie!“, prustet er. „Bei Ihnen ist der Name Programm, was???“ Er schüttelt sich vor Lachen und auch der dritte Patient im Raum, der das Spektakel bisher interessiert beobachtet hat, fällt mit ein.

Einhorn ist  besser als Keinhorn“, flüstere ich mit einem fiesen Grinsen und weise auf seine Körpermitte, die im Augenblick lahmgelegt ist. Er ist ja nicht für immer aus dem Spiel, sonst hätte ich mir den Kommentar sicher verkniffen.

Er hört abrupt auf zu lachen. Sein Bettnachbar verschluckt sich und kriegt Schluckauf.

„Ha!“, wirft Herr Pielkofer mit seiner krächzenden Altmännerstimme ein. “Gut sscho, Mädel! Lasch‘ dir nich‘ die Butter vom Brot nehmen!“

 

Kapitel 6

 

Jonas hält mir seine Kippenschachtel hin und klopft von unten dagegen, sodass ein paar Zigaretten aus der Reihe hüpfen. Dankend greife ich zu, lasse mir auch Feuer von ihm geben. Ich rauche eigentlich nicht, wenn mir doch mal danach ist, schnorre ich mich bei meinen Kollegen durch.

Dank den allgemeinen Antiraucher-Kampagnen raucht inzwischen aber kaum noch einer, weshalb sich die Auswahlmöglichkeiten in diesem Bereich auf zwei Personen beschränken. Jonas, ein urologischer Assistenzarzt und Anna, die ukrainische Putzfrau. Normalerweise halte ich mich an Anna, doch die ist zurzeit krank.

 

„Was hast du denn mit Herrn Reichel angestellt?“, erkundigt sich Jonas wissend lächelnd, nachdem wir eine Weile lang wortlos in der Raucherecke am Rande der Einfahrt zur Notaufnahme an unseren Glimmstängeln gezogen haben. „Er meinte, das sei hier die reinste Folterkammer.“

Errötend ziehe ich den Kopf ein. Ok, ich gebe zu, ich war mittags nicht sonderlich sanft, als ich die Spülung von Herrn Reichel gewechselt habe. Zu meiner Verteidigung sollte aber erwähnt werden, dass er vorher gefragt hat, ob Frau Einhorn denn auch gerne reite – vorzugsweise auf ihm.

„Er hatte es verdient!“, rechtfertige ich mich und berichte ärgerlich von der Geschichte, woraufhin Jonas nur lässig mit den Schultern zuckt. Im Grunde überrascht mich seine Akzeptanz wenig.

„Du musst ihnen das nachsehen“, wirbt er um mein Verständnis. „Für einen Mann ist es nicht leicht zu verkraften, dass in dieser empfindlichen Region etwas nicht stimmt. Deshalb versuchen sie eben, sich zu beweisen, dass sie’s noch drauf haben.“

„Da scheint aber einer ganz genau zu wissen, wovon er spricht …“, ätze ich, da ich es nicht ausstehen kann, wenn sich die Typen auch noch gegenseitig in Schutz nehmen. Als ob es irgendeine Rechtfertigung für den ganzen Mist gäbe, den sie den lieben langen Tag verzapfen.
„Das ist ein aufreibendes Erlebnis für einen Mann. Er verdient ein bisschen Welpenschutz.“

„Kriegt er doch! Ich hätte Herrn Reichel auch eiskalt abduschen können, wie den Fleischwarenverkäufer auf Zimmer Fünf.“

Jonas zieht fragend eine Augenbraue hoch. „Was hat der denn verbrochen?“

„Er wollte sich beim Waschen einen runterholen und ließ sich davon auch nicht abbringen. Die kleine Dusche hat ihn zur Vernunft gebracht“, erkläre ich erzürnt und ignoriere seinen ungläubigen Blick.

Jonas steht sichtbar kurz vor einem Lachanfall, kann sich aber gerade noch beherrschen. Vermutlich hält ihn allein das bedrohliche Funkeln in meinen Augen davon ab.

„Dem Mann steht die chemische Kastration bevor, bis dahin muss er doch jede Minute nutzen. Ich würde mich auch nicht von prüden Krankenschwestern abhalten lassen, wenn ich die Orgasmen, die mir noch vergönnt sind, an zwei Händen abzählen kann.“ Er grinst unverschämt, während mir vor Empörung beinahe die Zigarette aus der Hand fällt. Hat er mich gerade prüde genannt???

„Hätte ich ihm dabei etwa auch noch behilflich sein sollen?! Muss ich mich allen Ernstes prostituieren, um nicht als prüde zu gelten? Was ist nur mit dieser Welt los?!“

Mein erboster und leicht hysterischer Tonfall scheint ihn nur noch mehr zu amüsieren. „Du brauchst ihm ja nicht gleich behilflich zu sein – obwohl dir das sicher ein fettes Trinkgeld eingebracht hätte ... – hey!“ Er bricht ab, weil er einem Boxhieb von mir ausweichen muss.

„Weißt du was?! Nächstes Mal schicke ich einfach dich in Zimmer Fünf zum Waschen. Du und dein großes Herz für die Männerwelt werdet dem armen Kerl seine letzten Orgasmen bestimmt versüßen.“

„“Henni, Henni, Henni“, meint er Kopf schüttelnd und wirkt dabei völlig entspannt, als hätte ich nicht gerade nicht das heiligste eines Mannes angegriffen: seine Heterosexualität. Jonas scheint so schnell nichts aus der Bahn zu werfen. „Ich glaube, wir müssen noch mal über deinen Berufsethos sprechen. Wir sollen die Patienten heilen und nicht traumatisieren.“

Trotz meines Ärgers muss ich mir ein Grinsen verkneifen. Stattdessen mustere ich ihn demonstrativ von oben bis unten und setzte dann eine abschätzige Miene auf. „Also so schlimm bist du nun auch wieder nicht.“

Er lacht auf. „Da bin ich aber beruhigt.“

„Ja. Und die halbe weibliche Belegschaft der Station würde mir bestimmt zustimmen“, spiele ich wenig begeistert auf seine ständigen Flirts mit meinen Kolleginnen an. Er ist ein unverbesserlicher Charmeur, der nichts anbrennen lässt – und das, obwohl das Gerücht umgeht, dass er verheiratet ist. Fremdgeher kann ich überhaupt nicht leiden. Für gewöhnlich gehe ich Jonas lieber aus dem Weg, aber zu Gunsten einer Zigarette von Zeit zu Zeit kann ich darüber hinwegsehen. Zudem hat er schnell gemerkt, dass ich auf dieses Gehabe allergisch reagiere, weshalb er sich heute auf derartige Frotzeleien beschränkt.

„Autsch.“ Jonas fasst sich an die Brust, als wäre er angeschossen worden. „Der war fies.“

„Fies ist mein zweiter Vorname.“
„Das hast jetzt du gesagt.“

„Ich muss doch meinem Ruf als Kratzbürste gerecht werden.“

Er schmunzelt und hebt beschwichtigend die Hände. „Sagen wir lieber Realistin.“

„Traurig aber wahr. Willst du als Frau desillusioniert werden? Komm auf die Urologische.“ Missmutig drücke ich meine Kippe am Aschenbecher aus. Der OP-Pfleger, der auf der Bank hinter Jonas sitzt und den ich nur vom Sehen kenne, schmunzelt. Er ist allein und hat bei unserer Unterhaltung wohl teilweise nicht weggehört. Ich setze ein schiefes Grinsen auf und zucke entschuldigend mit den Schultern. Bevor meine Wangen zu brennen beginnen, drehe ich mich eilig um und schneide verstohlen eine Grimasse.

„So jung und schon so verbittert“, stichelt Jonas, als er mir die Tür aufhält und wir gemeinsam ins Gebäude gehen. „Pass‘ auf, dass du nicht als vertrocknete Jungfer endest.“

Ok, ich revidiere meine Meinung über Jonas. Er kann ein unsensibler Arsch sein, entscheide ich düster und balle die Hände heimlich zu Fäusten. Typisch Mann, schafft er es keine fünf Minuten, sich halbwegs erträglich aufzuführen. Nicht mal eine kostenfreie Zigarette ist es wert, sich damit herumzuschlagen. In Zukunft verkneife ich mir das Rauchen, wenn Anna nicht da ist, schwöre ich mir grummelnd.

„Du solltest dich dringend mal locker machen und die Kerle nicht so ernst nehmen, Einhorn. Wir wollen doch bloß spielen“, verkündet er altklug auf dem Weg durch die unterirdischen Gänge und haut mir gutmütig auf den Rücken wie einem alten Kumpel.

Nachdem ich wieder Luft kriege, strafe ich ihn mit meinem bösesten Blick. „Das ist ja das Problem.“

„Ach je. Da liegt also der Hund vergraben. Du sitzt auf dem Trockenen.“ Sein Tonfall ist an Belanglosigkeit nicht zu übertreffen und er grüßt im Vorbeigehen eine Schwester von einer anderen Station, die ihm ein Zwinkern zu geworfen hat.

„Ganz im Gegensatz zu dir!“ Was hätte abstreiten schon gebracht? Er hätte mir sowieso nicht geglaubt.

Der scharfe Unterton lenkt seine Aufmerksamkeit wieder auf mich und er kneift unmerklich die Augen zusammen, als er mich ausführlich betrachtet. Am liebsten hätte ich mir auf die Zunge gebissen, aber jetzt war es nun mal schon draußen.

„Gibt es eine Krankenschwester im Haus, mit der du noch nicht geflirtet hast?“ Mehr will ich gar nicht unterstellen, obwohl ich mir durchaus vorstellen kann, dass es in manchen Fällen nicht beim Flirten geblieben ist.

Wider Erwarten scheint Jonas sich nicht angegriffen zu fühlen und zuckt nur erneut mit den Schultern, während wir in den Aufzug steigen und er den Knopf für das dritte Stockwerk drückt.

„Hast du schon mal Die Kunst des Krieges von Sun Zu gelesen?“

„Was hat das denn damit zu tun?“

„Darin steht, dass man sich nicht mit den Dingen beschäftigen sollte, die man nicht ändern kann.“

Was soll denn das bitte heißen? Dass er nun mal bei den Frauen ankommt, und er – so untröstlich er auch ist – leider Gottes nichts dran ändern kann? Was für ein arroganter Penner!

Wieso bestätigt eigentlich jedes Zusammentreffen mit einem Typen meine Vorurteile? Es ist ja gerade so, als hätte sich die gesamte Männerwelt gegen mich verschworen!

Da ich diese gequirlte Kacke keines Kommentares würdigen will, erreichen wir die urologische Station in betretenem Schweigen. Kurz vorm Stationszimmer lehnte er sich jedoch noch mal zu mir rüber und flüstert: „Ich kann ja nächstes Mal mit auf Zimmer Fünf kommen. Vielleicht lässt der Fleischwarenverkäufer dann die Finger von seinem Würstchen.“ Kurz darauf verschwindet er gut gelaunt im Arztzimmer.

Genervt verdrehe ich die Augen. Ich komme sehr gut selbst mit diesen Perverslingen klar. Da brauche ich nicht einen weiteren, der mir dabei zuschaut und mir hinterher frisch fröhlich erklärt, dass ich eine prüde, vertrocknete Jungfer bin.

Beschämt und mit wahrscheinlich hochrotem Kopf mache ich mich an meine Arbeit. Im Stationszimmer sind ein paar Kolleginnen damit beschäftigt, die Medikamente für morgen vorzubereiten und die Dokumentation zu vervollständigen. Es dauert keine fünfzehn Sekunden, bis Bea sich mit ihren Kurven neben mich setzt.

 „Wie läuft’s denn mit dem Online-Dating?“, hakt sie sensationslüstern nach. Ein unsympathischer Charakterzug, jedoch verzeihbar, da sie nichts weitertratscht.

„Der Typ von gestern war ein Griff ins Klo, aber ich habe für morgen einen neuen Versuch anberaumt.“ Schließlich muss ich zumindest so tun, als würde ich mein Leben leben wollen. Und wer weiß, vielleicht wartet ja ein zweiter Stefan hinter Tor Nummer dreizehn. Oder vierzehn. Oder ...

„Bewundernswert, wie frustrationsresistent du bist. Ich hätte schon längst den Kopf in den Sand gesteckt.“

„Du bist doch auch Single. Wie machst du das denn?“

„Keine Ahnung“, sie spielt mit einer Haarsträhne, während sie überlegt. „Ich schätze, ich gehe aus, treffe mich mit Freunden und deren Freunden. So was eben. Das ist ungezwungener, als so eine Eins-zu-Eins-Konstellation. Ich bin wohl ziemlich altmodisch …“

Oder einfach normal, füge ich in Gedanken hinzu.

 

 

 

Kapitel 7

 

Nach der Arbeit dusche ich in der Damenumkleide, die bis auf meine Wenigkeit leer ist. Die meisten meiner Kolleginnen ziehen sich einfach um und dann nichts wie ab nach Hause. Ich dagegen kann nicht anders, als mir den Schmutz von der Arbeit direkt abzuwaschen, bevor ich wieder in meine eigenen Klamotten schlüpfe. Sicher ist Sauberkeit subjektiv, aber ich brauche sie unbedingt für mein Wohlbefinden.

Auf meinem Handy im Spint wartet eine Nachricht von Stefan auf mich. Von einer Sekunde zur nächsten habe ich einen flauen Magen und mein Herz klopft wie verrückt, als ich die Mitteilung öffne.

 

Hey, geht’s dir besser? Habe mir Sorgen um dich gemacht. Du hast dich seit gestern nicht mehr gemeldet und ich hatte das Gefühl, du warst eingeschnappt. Was ist denn los?

 

Mit nassen Haaren und noch offener Jeans stehe ich da, während sich ein warmes Gefühl in mir ausbreitet. Klar. So etwas kann nur von Stefan kommen. Der einzige Mensch, der wirklich wissen will, wie es mir geht. Mit der Zungenspitze zwischen den Lippen tippe ich die Antwort, nebenbei rubble ich mir mit dem Handtuch über den Kopf. 

 

Mach‘ dir keine Gedanken. Ich war nur müde und genervt von meinen fruchtlosen Dating-Versuchen ;) Hatte nichts mit euch zu tun.

 

Von wegen. Aber ich werde den Teufel tun und jemals darüber sprechen, wie sehr mir die ganze Situation an die Nieren geht. Es würde ja doch nichts ändern. Ich habe das Handy noch nicht weggelegt, geht eine neue Nachricht ein.

 

Hast du Lust vorbeizukommen? Tina muss länger arbeiten und ich wollte das neue Ikea-Regal aufbauen. Danach vielleicht Coque aux vin und einen leckeren Barolo?

 

Mich hätte schon hier und gleich der Blitz treffen müssen, um mich davon abzuhalten, die Einladung anzunehmen, weswegen ich mich doppelt mit dem Anziehen beeile und wenig später voller positiver Energie aus der Umkleide stürme. Gleich bin ich bei Stefan und das Beste: Tina ist nicht da.

Das Hochgefühl verdrängt sogar mein schlechtes Gewissen, weil ich nicht wie sonst nach der Arbeit bei meiner Mutter vorbeischaue und die Stippvisite gestern auch schon ausfallen lassen habe. Auf dem Weg nach draußen gebe ich mit einem Anruf Bescheid und muss sie regelrecht abwürgen, weil sie sofort über mich herfällt und mir ihren gesamten Tag erzählen will.

Als ich endlich aufgelegt habe, atme ich erleichtert die kühle Februarluft. Zurzeit liegt kein Schnee, nachts fallen die Temperaturen trotzdem weit unter null Grad. Auf meinen Wangen hat sich ein breites Grinsen eingestellt, das auch der beißende Fahrtwind nicht vertreiben kann, während ich ordentlich in meine Winterjacke eigepackt zu Tina und Stefan nach Zehlendorf radle.

Das dunkle Treppenhaus samt Kinderwagen und Geschrei der Mayer-Zwillinge begrüßen mich wie eh und je. In der heimelig anmutenden Wohnung meiner Freunde empfängt mich Wärme, wobei ich nicht sagen kann, ob es an der Heizung oder einfach an Stefan liegt.

Er kniet auf dem Boden über einer Bauanleitung von Ikea und flucht verhalten vor sich hin. Eine Schraube nach der anderen wandert durch seine Hände, doch keine scheint die gesuchte zu sein. Zusehends verliert er die Geduld, was ich daran erkenne, dass er sich ausgiebig am Kopf kratzt. Eine Schraube landet im Teppich. Er hat sie wütend davon geschnippt.

Amüsiert beobachte ich seinen breiten Rücken und lächle still in mich hinein. Wenn er sich mit Handwerklichem abmüht, finde ich ihn fast noch süßer als sonst. Zu seinen zahlreichen Talenten gehören die verschiedensten Fähigkeiten. Darunter nicht nur das Kochen und sein berüchtigtes Gedächtnis, sondern auch Dinge wie alles rund um den Computer, das Rudern und einige andere Wassersportarten und dass er wohl einer der hilfsbereitesten Menschen ist, die ich kenne. Doch die Arbeit mit Werkzeug zählt nicht dazu. Für sowas sind Tina und ich zuständig.

Als er den Kopf in den Nacken legt und zur Decke schaut, offenbar um Contenance betend, entdeckt er mich im Durchgang zum Flur. Seine Miene erhellt sich sogleich und ich kann nicht anders, als mich deswegen insgeheim zu freuen wie ein Schneekönig.

„Da bist du ja endlich! Ich habe die Tür vor einer gefühlten Ewigkeit aufgemacht.“

„Hey! Der Kinderwagen der Mayers ist mörderisch! Du kannst froh sein, dass ich überhaupt heil oben angekommen bin. Ihr solltet dem Vermieter mal verklickern, dass ihr neue Glühbirnen im Hausflur braucht.“

Stefan kommt sofort auf die Beine und nimmt mich besorgt unter die Lupe. „Mist. Hast du dich verletzt?“

„Ach was. Ist nicht tragisch“, wiegle ich lapidar ab. Unter seinem durchdringenden Blick entwickle ich postwendend Hitzewallungen. Die Versuchung ist groß, mir Luft zuzufächeln.

Er rückt einen Stuhl am Esstisch zurück. „Komm‘, setz dich. Du siehst aus, als könntest du gleich den Barolo vertragen.“

Da sag‘ noch einer, es gäbe keine Gedankenleser! Dankbar nicke ich und mache es mir bequem.

„Wie war die Arbeit?“, ruft er aus der Küche über das Klappern von Schubladen und Schranktüren hinweg.

„Irrenhaus. Vollgas Irrenhaus. Wie jeden Tag.“

Sein Kopf erscheint kurz in dem Ausschnitt, den ich durch die Türe zur Küche einsehen kann. Sein mitfühlendes Lächeln raubt mir ein weiteres Mal den Atem. Hingerissen schnappe ich nach Luft.

„Möchtest du darüber reden?“

Oh Gott, kann ein Mann perfekter sein? Verzweifelt versuche ich, mein Herz daran zu hindern, sich weit zu öffnen, scheitere aber kläglich. Ich muss mich räuspern, bevor ich weitersprechen kann. „Nein, eher nicht. Das würde mir nur den Abend verderben. Ich lasse den Mist lieber im Krankenhaus.“

„Verstehe. Wird wohl das Beste sein. Darin sollte ich mich auch mal üben.“

Seine schöne, tiefe Stimme hat einen merkwürdigen Unterton und ich verrenke mir den Hals, um einen Blick auf seinen Gesichtsausdruck zu erhaschen.

„Wo wir schon dabei sind, wie war dein Arbeitstag?“

„Irrenhaus. Vollgas Irrenhaus. Wie …“

„… jeden Tag“, falle ich schmunzelnd mit ein. „Und was bedeutet das im Detail?“

Stefan erscheint mit zwei Gläsern Wein und setzt sich zu mir. Die langen Beine schiebt er unter meinen Stuhl und überkreuzt die Knöchel. Ich kann mich an seinem lässig ausgestreckten  Körper nicht satt sehen. Vor allem, wenn er wie im Moment noch in Hemd und Anzughose steckt. Beides trägt er bei seiner Arbeit als Anwalt. Die Kanzlei liegt in Berlin-Mitte und hat einige schwer reiche Kunden, weshalb Stefan auch nicht gerade schlecht verdient. Durch sein Elefantengedächtnis ist er wirklich gut in seinem Job, der ihn – verglichen mit seinem Erfolg – wenig Mühe kostet. Er ist meist vor Tina zu Hause und nimmt im Gegensatz zu ihr selten Arbeit mit, um sie nach Feierabend fertig zu machen.

„Im Detail heißt das, dass ich heute Versucht habe, einen früheren Termin für eine Anhörung zu bekommen und mit Pauken und Trompeten versagt habe.“

„Worum geht’s bei dem Fall? Warum ist es so dringend?“

„Die Mutter von meinem Mandant, der in Haft sitzt, liegt im Sterben und er möchte sie vor ihrem Tod noch einmal sehen.“ Er dreht bedrückt das Glas hin und her und fährt sich aufgebracht durch das glänzende Haar. Danach steht es in alle Richtungen ab, wirkt aber fast noch attraktiver als vorher. Meine Fingerspitzen kribbeln von dem Bedürfnis ihn zu berühren, ihm mein Mitgefühl auszudrücken. Mit eisernem Willen halte ich mich jedoch zurück. Knapp.

„Wo liegt denn das Problem?“

„Mein Mandant hat keine weiße Weste. Seit er inhaftiert ist, gab es Prügeleien mit anderen Häftlingen. Der zuständige Richter stellt sich quer.“

„Hm, ein ganz reizender Typ, was?“

„Du weißt nicht, wie es im Gefängnis ist, Henni. Da zählt das Recht des Stärkeren. Manchmal kann man einer Schlägerei nicht aus dem Weg gehen. Selbst wenn man es möchte.“

Bewunderung steigt in mir auf. Stefan ist Anwalt für Strafrecht und versucht wenigstens, sich für die einzusetzen, die es auch verdienen. Ich habe meinen Beruf wegen ähnlichen Gesichtspunkten gewählt. Zumindest hauptsächlich. Ein weiterer Grund, weshalb ich mich im Krankenhaus zunehmend unwohler fühle. Irgendwie fehl am Platz. Als wäre meine Zeit dort reine Verschwendung.

„Weißt du noch, was du in der zwölften Klasse gemacht hast, als Herr Faber dir mit der drei in Mathe den Einser-Schnitt versaut hat?“ Ich kann mich noch gut erinnern, wie Stefan damals Zeter und Mordio geschimpft und sich nach der Stunde an die Fersen des Lehrers geheftet hat. Er hat die ungerechtfertigte Zensur schlicht und ergreifend nicht akzeptiert und obwohl er erst mal auf Granit gebissen hat, hat er sich nicht entmutigen lassen.

„Ich habe über eine Woche vor dem Lehrerzimmer kampiert und ihn so  lange genervt, bis ich noch ein Referat halten durfte, um den Schnitt zu retten.“

„Eben. Und du hast die Eins bekommen. Oder was war mit damals, wir waren glaube ich in der fünften Klasse und hatten uns eben erst kennen gelernt, da hat sich Luigi Mariano mit seiner Clique auf Tina und mich eingeschossen. Du hast ihm ein halbes Jahr lang die Stirn geboten, bis es aufgehört hat. Oder weißt du noch …“

„Ok, ich glaube, ich hab’s verstanden.“ Dieses bezaubernde schiefe Lächeln erscheint auf seinem Gesicht und während er sich den Nacken reibt, wirkt er beinahe gerührt. Er schaut mich lange mit geneigtem Kopf an und plötzlich … ist da ein Moment.

Ein kleiner Augenblick, in dem ich vollkommen unerwartet in seinen grünen Augen etwas aufleuchten sehe. Etwas, das die Grenzen verschwimmen lässt, die ich in unserer kleinen Welt gezogen habe. Unwillkürlich atme ich stockend ein und merke, dass ich mich nicht abwenden kann, trotz des Wissens, dass die angemessene Zeitspanne für einen platonischen Blickwechsel bereits abgelaufen ist.

Ein Räuspern von Stefan zerstört den intimen Kontakt. Wie ein Wilder reibt er sich erneut den Nacken, schaut überall hin nur nicht zu mir. „Ähm, ja, ich schätze, dann werde ich den Richter mal ein bisschen belagern …“

„Deine Hartnäckigkeit wird ihn in den Wahnsinn treiben“, krächze ich mit staubtrockener Kehle, die ich kurz darauf mit einem Schluck Wein befeuchten will. Zwar funktioniert das null, holt mich jedoch auf den Boden der Tatsachen zurück. Um Vernunft bemüht, sage ich mir, dass ich nicht zu viel in seine Gesten hineininterpretieren darf.

Auch Stefan gibt sich betont unbeschwert, sodass ich mich fast frage, ob ich mir alles nur eingebildet habe. Er grinst fröhlich. „Könnte sein. Ich habe es drauf, andere in den Wahnsinn zu treiben, was?“

„Ooohh ja!“

„Danke, Henni! Gleichfalls!“ Der vorgeschützte Ärger in seiner Stimme bringt auch mich zum Schmunzeln und als er sein Glas hebt, stoßen wir klirrend an.

„Cheers!“

 

Eine halbe Flasche Wein später hängen wir kichernd und giggelnd über dem halbfertigen Regal. Den Punkt hatten wir schon einmal erreicht, aber dann war uns aufgefallen, dass wir vergessen hatten, die Rückwand einzusetzen, bevor die Fächer reinkamen. Also Kommando zurück und alles noch mal von vorn.

Gegenwärtig gleicht unser Werk eher dem schiefen Turm von Pisa als der Abbildung auf der Anleitung.

„Wenn ich ein Auge zu halte, könnte man fast eine Ähnlichkeit entdecken.“ Stefan blickt zwischen Original und Pisa-Turm hin und her. „Mit viel gutem Willen.“

„Du bist viel zu streng. Ich gebe Bestnoten für die festsitzenden Schrauben und unser Durchhaltevermögen. Schließlich mussten wir alles zweimal zusammenbauen.“

„Dafür hapert es bei der korrekten Zusammensetzung und die Haltungsnoten dürften unterirdisch ausfallen. Henni, ich habe dich eingeladen, damit du meine Schwächen ausgleichst.“ Er schützt eine beleidigte Miene vor. Indessen blitzt der Schalk in seinen Augen und bringt mein Herz zum Rasen.

Ich kichere hohl, um meine Reaktion zu verstecken. „‘Tschuldigung. Für komplexe dreidimensionale Aufgaben bin ich wohl zu beschwipst.“

„Ok, nächstes Mal erst die Arbeit, dann der Wein.“

„Weise gesprochen, Meister Yoda.“

Er lacht auf. „Du bist die erste Frau, die mich Meister nennt.“

Schockiert blinzle ich und hätte mir am liebsten die Zunge abgebissen. Keinen Alkohol mehr für dich, Henni!

„Komm‘, ich habe das Hühnchen schon vorbereitet. Wir schieben den Vogel in den Ofen und machen uns an die Beilagen. Der Meister hat Kohldampf ohne Ende.“

Ich folge ihm in die Küche, wo wir am Tresen eiträchtig neben einander stehen, Gemüse schnippeln und herumalbern. Ich liebe es, mit Stefan zusammenzuarbeiten. Wenn er mir etwas reicht, streifen sich unsere Hände und jedes Mal bekomme ich eine Gänsehaut. Ich bin ausgelassen und so glücklich wie schon lange nicht mehr. Der Wein steigt mir zu Kopf, die Musik klingt mit jeder Minute besser und auch Stefan gefällt mir immer mehr, obwohl ich vorher nicht gedacht hätte, dass das möglich ist.

Während Gemüse und Kartoffeln in der abgedeckten Pfanne aufs Servieren warten, hat uns der Rhythmus gepackt. Wir tanzen durch die Wohnung, wackeln mit den Hintern – wobei ich mich bemühe, nicht so genau hinzuschauen – und singen lauthals bei den Stellen mit, die wir kennen.

Sein ausgelassenes Lachen weckt in mir unsagbare Freude und ich wünsche mir mit ganzer Kraft, dass die Zeit stehen bleibt. Ich könnte für immer so mit ihm tanzen. Ihm nahe sein. Seinen Geruch in der Nase zu haben, saubere, männliche Haut und einen Hauch von Duschgel und frischer Wäsche. In diesem Moment hätte ich meinen rechten Arm dafür gegeben.

„Ich liiiieeebe dieses Lied!“ Voller Verzückung spitze ich die Lippen. „Ich liebe, liebe, liebe Shakira!“

„Florence and The Machine.“

„Florence and The Marines, genau.“

Er bricht prustend über der Lehne eines Stuhls zusammen. „The Machine!“

„Pff. Klugscheißer.“

Nachdem er sich die Lachtränen aus den Augenwinkeln gewischt hat, schaut er mit glitzerndem Blick zu mir auf. „Weißt du, ich glaube, es ist an der Zeit, dass du für dieses Wort büßt. Ich habe dir das schon viel zu lange durchgehen lassen.“

„Oho! Und wie willst du das anstellen?“

„Wart‘s ab!“ Er grinst noch breiter. „Wenn ich du wäre, würde ich jetzt loslaufen.“

 „Wa … was? Aber …“

Da stürzt er schon auf mich zu. Ich hechte zur Seite, woraufhin Stefan mich ein paar Runden um den Esstisch jagt. Vermutlich um mir die Kitzel-Attacke meines Lebens zu verpassen. Das verführerische Spiel ist mehr, als ich je zu träumen gewagt hätte. Das ist auch der Grund, warum ich den Schein nicht lange wahren kann und mich von ihm einfangen lasse.

Als er mich packt, hätte ich vor Glück beinahe aufgeseufzt. Dass er mich dabei an seinen straken Körper zieht und ich durch das dünne Hemd die harten Muskeln an seiner Brust spüren kann, schickt kleine Schauer über meine Rücken.

Eben noch war alles in Bewegung, aber plötzlich erstarre ich. Und obwohl ich einen Moment brauche, um es zu bemerken, Stefan ebenso. Nur unsere Herzen rasen, seins ganz nah an meinem. Da ich in seinen Armen gefangen bin, kann ich nur zaghaft den Kopf heben. Beklommen blicke ich in seine undurchdringliche Miene und muss hart schlucken, weil sich seine Augen sogleich in meine bohren. Die Lippen presst er aufeinander, wodurch er insgesamt nicht fröhlich erscheint, dennoch fühle ich mich auf nahezu unwiderstehliche Weise zu ihm hingezogen. Vollkommen von seinem Geruch und seiner Wärme eingehüllt, muss ich mich ans Atmen erinnern, da ich an nichts anderes mehr denken kann, als daran, wie sich seine Lippen wohl anfühlen. Der bezaubernde, breite Mund, der so süß Lächeln kann, dass man einfach nur dahin schmelzen möchte und nach dem ich mich sehne, seit ich ein Interesse an Jungs entwickelt habe.

Gegen meinen Willen haben sich meine Augen an seiner unteren Gesichtshälfte festgesaugt. Ich sage mir immer wieder, dass das nicht richtig ist. Dass ich mich aus seinem Griff befreien sollte und dennoch kann ich mich keinen Zentimeter rühren. Kann nur auf diese verfluchten Lippen starren und vor Sehnsucht beinahe vergehen.

„Henni …“ Sein Flüstern sagt alles. Er benutzt diesen Tonfall, eine Mischung aus Bedauern und Ermahnung, der mir sagt, dass ich die letzten Sekunden zwar nicht missverstanden habe, das jedoch rein gar nichts an der Lage ändert.

Mir rutscht das Herz in die Hose und ich hätte vor Verzweiflung aufheulen können. Ich weiß ganz genau, wenn Tina nicht wäre…

„Henni, ich …“, setzt er vorsichtig an, doch da hören wir, wie die Eingangstür geöffnet wird und Tina mit dem Ausruf „Hi Leute! Ich bin zu Hause!“  in die Wohnung poltert.

Stefan lässt mich blitzartig los, mit stocksteifer Haltung macht er auf dem Absatz kehrt und marschiert in die Küche. Der Verlust trifft mich wie ein Güterzug, als ich mit ansehen muss, wie er sich von mir entfernt. Meine Knie haben sich in Wackelpudding verwandelt, mir bleibt nichts anderes übrig, als mich auf die Couch fallen zu lassen, bevor ich auf Tuchfühlung mit dem Teppich gehe.

Die Enttäuschung brennt bitter in meiner Kehle, während mein törichter Körper immer noch vor Aufregung verrücktspielt, weil ich gerade Stefan berührt habe und weil da etwas zwischen uns war. Selbst wenn es im Keim erstickt wurde, es war da, nicht wahr?

Diesmal habe ich es mir ganz sicher nicht eingebildet!

 

„Was ist denn mit dir los? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.“

Ich schrecke auf. „Hi, Tina! Da … da bist du ja endlich. Wir … haben schon gewartet.“ Die letzten Worte werden zu einem einzigen Brei, weil sie mir einfach nicht über die Lippen kommen wollen.

„Ja, ich weiß.“ Mit einem theatralischen Seufzen schneidet sie eine Grimasse und pfeffert ihre Tasche hinters Sofa, gleichzeitig kick sie elegant die hübschen Schuhe von sich. Die Ordentlichste ist sie nun mal nicht. „Das Essen mit dem Kunden hat länger gedauert, tut mir Leid. Habt ihr Billy schon aufgebaut?“

Da entdeckt sie das Ikea Regal, das beim Toben umgekippt ist und jetzt wie das Gerippe eines Walfischs auf dem Teppich liegt. Der Anblick und das Wissen, warum es nicht fertig geworden ist, versetzen mir einen Hieb in die Magengrube.

„Hast du etwa wieder Stefan die Verantwortung übertragen?“ Sie rümpft die Nase. „Du hättest dir doch denken können, dass das in die Hose geht. Jetzt ist mir sonnenklar, warum du so bedröppelt dreinschaust. Schmollt er wieder in der Küche?“

Ich nicke voller Erleichterung darüber, dass sie sich meine Stimmung mit dem schnöden Möbelstück erklärt und kurz darauf in den anderen Raum schlendert, um ihren Freund zu begrüßen.

Ich bleibe im Wohnzimmer zurück, erfüllt von dem Gefühl, dass hier alles falsch läuft. Dass das nicht mein Leben sein kann, wenn ich doch nur wie ein Zaungast dabei zusehe.

 

Kapitel 8

 

Gerädert schleppe ich mich am nächsten Morgen aus dem Bett. Bei dem Gedanken an meine Arbeit stellen sich keine Begeisterungsstürme ein, wie noch während der Ausbildung und eine kurze Zeit danach. Damals war alles neu und aufregend. Ich hatte schon immer großes Interesse an medizinischen Themen und mich ganztags damit zu beschäftigen, hat mir große Freude bereitet. Auch den Umgang mit den Patienten fand ich nicht anstrengend, sondern bereichernd. Schließlich bekommt man bei dieser Arbeit direkt etwas zurück, wenn alles gut läuft. Durch mein reges Interesse an der Materie und den Menschen hatte ich mich schnell eingearbeitet und fühlte mich wohl.

Doch nur wenige Monate später langweilte ich mir auf der Station für Innere Medizin, auf der ich zu der Zeit war. Ich machte eine Fortbildung zur Intensivpflegerin und suchte mir hierfür eine neue Stelle. Den alten Job hatte ich da bereits gekündigt und dann kam der neue aufgrund von krankenhausinternen Umstrukturierungen doch nicht zustande. Da ich Rechnungen zu bezahlen hatte, war kurzfristig nichts anderes zu finden gewesen als die Stelle in der urologischen Station im St. Marien-Haus. Eigentlich bin ich davon ausgegangen, dass der Job eine Notlösung und nichts weiter als ein Zwischenstopp sein würde.

Das ist jetzt vier Jahre her.

Vielleicht liegt es am netten Team oder daran, dass die Arbeit an und für sich nicht schlecht ist. Außerdem muss ich zugeben, dass ich die anzüglichen Witze und das Gehabe der Patienten anfänglich noch witzig fand und mich gerne in zweideutige Wortgefechte ziehen ließ. Die Flirtversuche schmeichelten mir. Auch wenn ich nie einen ernst genommen hätte, taten sie meinem Ego gut. Ich scherzte und lachte mit meinen Schützlingen und der Tag kam mir dadurch viel kürzer vor.

Mit der Zeit jedoch wurde mir klar, wie hohl das ganze Getue ist. Und dass ich nur in diese Gespräche und Flirts verwickelt werde, weil ich mit den anderen Schwestern die einzige Frau weit und breit bin. Außerhalb des Krankenhauses würdigt mich kaum ein Mann eines Blickes.

Mit dieser Erkenntnis im Kopf kam mir von da an alles heuchlerisch vor und die Materie geht mir inzwischen so leicht von den Händen, dass sie mir keine Herausforderungen mehr bietet.

 

 

Bei der Arbeit bringt mich heute schon die erste Aufgabe des Tages beinahe zum Heulen. Das Zimmer von Herrn Reichel ist bei unserer Runde Station Nummer eins. Seit gestern Abend verfolgen mich die Erinnerungen an die Momente mit Stefan, was meine Verfassung nicht gerade verbessert und so muss ich mich regelrecht dazu zwingen, den Raum überhaupt zu betreten.

Während der ganzen Zeit macht Herr Reichel anzügliche Bemerkungen, im Gegenzug raunze ich ihn in Grund und Boden. Ich wirke offensichtlich so finster, dass sogar Herr Pielkofer erstaunlich schweigsam ist, als ich mich mit Bea um ihn kümmere. Kurze Zeit später verabschieden wir uns und beim Zuziehen der Tür höre ich Herrn Reichel maulen: „Gott, die Einhorn hat ja mehr Haare auf den Zähnen als meine Alte zu Hause! Kein Wunder, bei der Fresse wäre ich auch sauer.“

Rot, auf einmal ist alles Rot. Rasende Wut macht sich in mir breit.

Ich schnelle herum, erhasche dabei einen Blick auf Beas Gesicht, das zeigt, dass ihr nichts Gutes schwant. Sie will noch nach mir greifen, aber ich entziehe ihr meinen Ellenbogen und reiße die Tür wieder auf.

„Jetzt hören Sie mir mal gut zu, Sie armseliges Würstchen!“, fauche ich mit gemäßigter Lautstärke aber frostigem Tonfall.

Er fährt auf und ich kann in seinem Gesicht sehen, wie er begreift, dass ich seine Worte gehört habe, Das Lachen bleibt ihm im Halse stecken und er erstarrt zur Salzsäule.

„Ich mache hier meine Arbeit und ich mache sie gut! Ich habe es nicht nötig, mir Ihre sexistischen Kommentare anzuhören oder mich von Ihnen in eindeutiger Absicht begaffen oder anfassen, oder gar beleidigen zu lassen. Zeigen Sie ein wenig Anstand und behandeln Sie mich mit Respekt, dann bekommen Sie auch Respekt zurück! Und jetzt sollten Sie sich schleunigst bei meiner Kollegin und mir für Ihr ekelhaftes Verhalten entschuldigen, bevor ich Sie wegen sexueller Belästigung anzeige. Sie haben meine Gutmütigkeit genug ausgereizt.“

Nach dem ersten Schockmoment, in dem er hauptsächlich ertappt und überfordert wirkt, schlägt seine Stimmung um. Er zieht die Augenbrauen zusammen und sein Mund mutiert zu einer wutverzerrten Fratze. „So können Sie nicht mir reden! Sie sind eine Krankenschwester und ich bin Patient hier. Sie dürfen mich nicht beschimpfen! Ich werde mich über Sie bei der Geschäftsleitung beschweren!“

Für einen Augenblick bin ich zu baff, um etwas zu erwidern. Dass er es tatsächlich wagt, mir jetzt auch noch zu drohen, bringt das Fass zum Überlaufen. Ich bin kurz davor, die Verbandsschere nach ihm zu werfen und mich auf ihn zu stürzen, um ihm die Augen auszukratzen.

„Worüber sollten Sie sich bitte beschweren können?“

„Sie sind grob und unverschämt. Und Sie bedrohen die Patienten!“

„Ich … Was???“ Meine Hände zittern, inzwischen werde ich von Schnappatmung heimgesucht und stehe unmittelbar vor der Explosion.

„Sie drohen mit eiskalten Duschen und grober Behandlung beim Spülungswechsel, ach, was sage ich, Sie drohen ja nicht nur, nicht wahr? Da werden die anderen Patienten einiges zu berichten wissen, habe ich gehört. An Ihnen ist eindeutig eine Domina verloren gegangen!“ Er grinst triumphierend.

Das war’s.

Ich will mich auf ihn werfen, aber zwei Arme legen sich so unnachgiebig wie Baumstämme um meinen Oberkörper, pressen die Ellenbogen fest an meine Seiten. Ehe ich kapiere, wer hinter mir ist, werde ich strampelnd aus dem Raum gezerrt. Bea taucht plötzlich wieder in meinem Sichtfeld auf.

„Tut mir leid, ich wusste nicht was ich tun sollte. Ich dachte, noch mehr Zeugen vom Personal wären nicht schlecht.“

Verständnislos fixiere ich sie, will eigentlich nur zurück ins Patientenzimmer, um Herrn Reichels Gesicht zu verschönern.

„Wenn du ihn attackierst, kann er dich anzeigen, nicht umgekehrt“, raunt mir eine tiefe Stimme mit vernünftigem Tonfall ins Ohr.

Überrascht erstarre ich und werfe einen Blick über die Schulter.

Es ist Jonas, der mich im Schwitzkasten hat und quer über den Flur ins gegenüberliegende Lager schleift.

 

 

 

Bea schließt uns darin ein und ich werde abgesetzt. Sie mustert mich verstört von Kopf bis Fuß, als hätte sie es plötzlich mit einer wildgewordenen Irren, statt ihrer kompetenten Kollegin zutun.

„Himmel, was ist denn los mit dir, Henni?“

Ich kann mich noch nicht beruhigen und tigere vor den Vorratsschränken an der rechten Wand auf und ab. Aufgebracht raufe ich mir die Haare und stelle fest, dass meine Hände immer noch zittern. Schnell verberge ich sie unter den verschränkten Armen.

„Dieses Arschloch hat es sowas von verdient! Er bettelt ja geradezu darum!“

„Hättest du ihm wirklich eine reingehauen?“ Sie wirkt vollkommen irritiert, als wäre ihr das nie in den Sinn gekommen.

Unwillkürlich bleibe ich stehen und starre sie fassungslos an. „Klar! Du nicht? Würdest du so etwas mit dir machen lassen?“

„Natürlich nicht!“, versichert sie hastig mit zerknirschtem Gesichtsausdruck. „Aber er hat recht, er ist nun mal Patient und …“
„Und das gibt ihm das Recht, uns wie seine Sexsklaven zu behandeln?! Also, dafür ist mein Stundenlohn eindeutig zu niedrig!“, wüte ich.

Jonas, der in der einen Ecke steht und die Szene bisher aufmerksam beobachtet hat, kichert. Als er meinen Blick auffängt, hört er jedoch sofort auf damit. Abwehrend hebt er die Hände. „Hey! Ich bin ganz deiner Meinung, Henni! Er hat darum gebettelt und ehrlich gesagt hätte ich wirklich gerne dabei zugesehen, wie du ihn zum Fall für den Schönheitschirurgen gemacht hättest – wenn er das nicht schon ist.“

Beinahe muss ich trotz meines Zorns lächeln. Mir drängt sich zudem die Frage auf, wann er wohl in den Raum gekommen ist und wieviel er von der Auseinandersetzung mitgekriegt hat.

„Aber so leid es mir tut, du kannst ihn nicht vermöbeln. Obwohl er es verdient hätte.“

Frustriert werfe ich die Arme in die Luft. „Wieso eigentlich nicht?! Männer machen das doch so. Sie geben sich eins auf die Nase, danach ist die Rangordnung geklärt und es kehrt wieder Ruhe ein.“ Die Vorgehensweise finde ich äußerst verlockend. Zumal Herr Reichel ans Bett gefesselt ist und sicher keinen Gegner für mich darstellt.

Jonas schmunzelt doch tatsächlich. „Was hast du eigentlich für eine Vorstellung von Männern?“

Ich halte irritiert in der Bewegung inne. „Was? Ich … Was tut das jetzt zur Sache?“

„Nichts“, gibt er heiter zu. „Wichtig ist nur, dass eine Prügelattacke deine Karriere zerstören würde.“

Ich verstumme.

„Bea“, er wendet sich an die arme, zarte Schwesternschülerin, die mein Ausbruch sehr mitgenommen hat. „Traust du dir zu, die Runde alleine fertig zu machen? Henni braucht einen Moment, schätze ich. Danach nehme ich sie mit zur Visite.“

Sie schaut mich fragend an, was ich ihr hoch anrechne. Erst als ich zustimmend nicke, geht sie und lässt uns allein.

 

 

Kapitel 9

 

Nachdem die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen ist, schiebt mich Jonas zu einem Hocker hinüber, der normalerweise zum Draufsteigen gedacht ist. Er duldet keinen Widerstand, als er mich auf die kleine Sitzgelegenheit drückt. Anschließend lehnt er sich lässig an einen der Schränke.

Es ist eine ganze Weile still, sodass ich Zeit bekomme, mich abzuregen und langsam wieder zu mir zu kommen. Je mehr Klarheit ich gewinne, desto deutlicher erkenne ich, dass ich kurz davor war, richtig Mist zu bauen. Und dass ich mich furchtbar kindisch aufgeführt habe.

Wie peinlich!

Am liebsten wäre ich im Boden versunken. Ich sehe mich quasi vor mir, wie ich Rumpelstilzchen-gleich zetere und Herrn Reichel attackiere. Wo war auf einmal meine Selbstbeherrschung hin?

Unsicher schiele ich zu Jonas hinauf und hoffe, dass er meinen Blick nicht bemerkt. Leider mustert er mich mit größtem Interesse und begegnet mir mit einem amüsierten Grinsen.

„Was gibt’s da zu lachen?“, fauche ich ihn zickig an.

Er deutet meinen Gesichtsausdruck richtig. „So schlimm war’s auch nicht, Henni.“

„Wieviel hast du mitgekriegt?“ Ich drücke die Daumen.

„Ich bin bei der Sache mit der Beschwerde bei der Geschäftsleitung eingestiegen.“

Fuck ... Dann hat Bea wirklich flink reagiert. Gott sei‘ dank hat sie nicht die Stationsschwester oder einen der Oberärzte geholt. Von denen hätte ich mir jetzt einiges anhören müssen, wenn ich nicht sogar gefeuert worden wäre. Scheiße, was habe ich mir nur gedacht?

Gar nichts. Das ist ja das Problem. Ich habe nicht mehr gedacht.

Beschämt verberge ich mich hinter den Händen, mein Stöhnen wird dadurch gedämpft. „Gooott!“

„Mach‘ dir nichts draus. Ich fand es lustig.“

Fabelhaft. Wie es scheint, bin ich nicht nur für meine Freunde eine einzige Witzfigur. Genau das, was mir noch gefehlt hat. Entschlossen verkneife ich mir ein Schniefen. Dieser Tag ist echt Mist und ich habe nicht wirklich Ambitionen, mich heute Abend mit einem weiteren Exemplar aus dem Gruselkabinett zu treffen. Was soll das alles noch? Hat mir das Universum denn nicht schon oft genug gezeigt, dass Stefan der Einzige für mich ist?

Aber leider unerreichbar, flüstert eine fiese Stimme in meinen Gedanken.

Genau. Da war ja was.

Mann, ist mir elend zumute.

„Henni, … auch auf die Gefahr, mich zu wiederholen, aber wenn du schon Patienten anfallen willst, solltest du dich dringend mal wieder flachlegen lassen.“

Ich reiße die Augen weit auf und drehe mich in Zeitlupe zu ihm.

Ein Gewehr, ich brauche ganz dringend ein Gewehr bei der Arbeit, schießt es mir unwillkürlich durch den Kopf. „Das hast du jetzt nicht wirklich gesagt, oder?“

„Ich meine es nur gut, He …“

„Nein, nein, nein. Denk‘ noch mal genau drüber nach. Willst du wirklich, dass ich das eben gehört habe?“ Schneid hat er, das muss ich ihm lassen, denn er weicht nicht zurück, als ich mich erhebe.

Mir steht es Oberkante Unterlippe! Erst die Sache mit den Dates und mit Stefan, dann die Auseinandersetzung mit Herrn Reichel und jetzt auch noch diese Flachpiepe von Assistenzarzt, der mir erzählen will, dass ich mich nicht so anstellen und mich stattdessen mal wieder ordentlich durchrütteln lassen soll. Männer glauben tatsächlich, dass das die Patentlösung für alle Probleme der Welt ist, oder? Hungersnöte, Krieg, Naturkatastrophen – ein bisschen Vögeln und alles ist wieder in Butter. Ich fasse es nicht!

„Ich wollte nur darauf hinweisen, da …“

„Nein! Ich höre mir diesen Scheiß nicht mehr an! Willst du mir allen Ernstes weismachen, dass ich das Problem bin, wenn ich mir so ein Gequatsche nicht geben will?! Ist es etwa zu viel verlangt, dass man als Frau am Arbeitsplatz freundlich und anständig behandelt wird?! Das mache ich schließlich auch bei den Patienten! Ihr Kerle meint doch, ihr könntet euch wie die Axt im Walde verhalten und wenn man sich als Frau dadurch belästigt fühlt, dann liegt das einzig und allein an unserem Hormonhaushalt oder daran, dass es uns in letzter Zeit keiner so richtig besorgt hat! Das denkst du doch, nicht wahr? Das denkt ihr doch alle!“

Ich bin schon wieder laut, doch das ist mir gerade so was von egal.

Mir käme es gerade sehr gelegen, wenn Jonas ebenso ausrasten würde. Dann könnte ich wenigstens mit Fug und Recht meinen Frust an ihm auslassen. Stattdessen lehnt er immer noch wie die Gelassenheit in Person am Vorratsschrank mit der Aufschrift L-N und presst die Lippen in dem Bemühen auf einander, dass sie kein fröhliches Lächeln formen. Er muss echt ein Perversling sein, wenn er auf solche Streitgespräche abfährt. Mich macht seine Erheiterung nur noch wütender und ich überlege schon, ob ich heute nicht doch noch einen Kerl verhauen soll. Da räuspert er das Lachen weg und hebt vorsichtig die Hände, als müsste er gleich mit einem Kilo TNT hantieren.

„Na gut, bevor du an die Decke gehst: Männer sind die Geißel der Menschheit. Zufrieden?“

Nicht wirklich, aber immerhin will ich ihm nicht mehr den Hals umdrehen. Trotzdem habe ich dermaßen die Nase voll, dass ich am liebsten meine Sachen packen und den Rest des Tages blau machen würde. Ach was, den Rest der Woche!

Da ich nicht antworte, sondern ihn nur weiterhin feindselig taxiere, seufzt er resigniert.

„Henni, jeder Kollege wird dir zustimmen, dass man sich mieses Verhalten von Patienten nicht gefallen lassen muss. Aber du kannst auch nicht jeden Dritten wegen sexueller Belästigung verklagen oder ihm an die Gurgel springen. Also musst du einen anderen Weg finden, damit umzugehen, wenn du den Job weiter machen willst.“

Womit er den Nagel auf den Kopf trifft. Will ich das überhaupt?

 

 

Plötzlich geht Jonas‘ Peeper los und meiner kurz darauf. Im Flur hören wir das Alarmzeichen aus dem Schwesternzimmer.

Über dem Raum direkt gegenüber blinkt das grell-rote Notfall-Licht.

Mein Herz setzt einen Schlag aus, nur um dann zum Galopp anzusetzen. Die mörderische Wut in meinem Bauch verraucht mit einem mal, jetzt habe ich keine Zeit mehr für sie.

Wir sind die ersten, die zu Bea stoßen. Sie hängt über Herrn Pielkofer und versucht sich an der Herzdruckmassage, was auf dem Bett leider keinerlei Effekt hat. Während Jonas ihr zur Hilfe eilt, bin ich schon wieder im Flur und hole den Reanimations-Wagen. Jetzt kommen mir auch laufende Kolleginnen entgegen.

Zurück am Ort des Geschehens scheint sich bestätigt zu haben, dass Herr Pielkofer eine kardiopulmonale Reanimation braucht. Er liegt inzwischen auf dem Boden, Bea beatmet, Jonas drückt.

„Wo ist der …“

„Defi?“ Ich halte ihm die beiden Klebeflächen vor die Nase.

Die Elektroden werden rasch mittig und seitlich auf der Brust angebracht und Jonas stellt das Gerät an. Indessen lege ich einen weiteren Zugang in der Ellenbeuge und ziehe die Medikamente auf.

„Asystolie“, meint er mit einem Blick auf die Nulllinie, die über den Monitor des Apparats zieht. Seine Wangen sind gerötet, aber er wirkt hochkonzentriert.

„Ich brauche …“

„Adrenalin?“ Ich reiche ihm die Spritze und übernehme die Herzdruckmassage. Eine Kollegin hat Bea inzwischen abgelöst und bebeutelt Herrn Pielkofer per Maske, sodass er genug Sauerstoff erhält.

Dann trifft schon das Rea-Team mit lautem Getöse ein. Es wird bei Herzalarm automatisch verständigt und ist nur zu diesem Zweck da.

Zwei Anästhesisten drängen sich durch die bereitstehenden Schwestern, die alle helfen wollen. Einer übernimmt sogleich die Intubation und der andere verscheucht mich von meinem Platz.

Während sich sechs Leute an dem Patienten zu schaffen machen und sich ein professionelles Chaos an Stimmen, Händen und herumgereichten Gegenständen bildet, berichtet Jonas mit knappen Worten von der Krankengeschichte des Patienten.

Herr Pielkofer hat ein stolzes Alter und verfügt über ein ganzes Arsenal an Vorerkrankungen, darunter eine Drei-Gefäß-Erkrankung des Herzens, weswegen er schon einen Bypass erhalten hat.

Beim jetzigen Aufenthalt im Krankenhaus hat man einen Teil der Prostata abgetragen, damit er wieder pinkeln konnte. Eigentlich ein alltäglicher Eingriff, doch bei seiner Konstitution offenbar nicht ganz risikoarm.

Ich reiche weitere Utensilien an. Der ältere Anästhesist macht unter Reanimationen ein FAST-Sono. Dieser Ultraschall des Bauchraums und des Herzens ergibt, dass sich kein Blut im Herzbeutel gesammelt hat und auch kein freies im Abdomen zu finden ist. Die Ärzte beraten sich.

„Infarkt“, meint der eine.

„Bei seiner Vorgeschichte ziemlich wahrscheinlich.“

Dann steht die Entscheidung. Meine Kolleginnen haben indessen die Matratze mit einem Brett ausgestattet und der nun an tausend Schläuche und Perfusoren sowie die Beatmungsmaschine angeschlossene Patient wird zurück aufs Bett gehoben.

Der junge Anästhesist klettert auf seine Brust, um die Wiederbelebung fortzuführen und so fahren sie los in Richtung Intensivstation. Das Rea-Team samt der zugehörigen Pfleger läuft nebenher, sodass das Personal von der Station im verwüsteten Zimmer zurückbleibt.

Erst jetzt tauche ich aus meinem Arbeitsmodus auf und nehme an die zehn Personen um mich herum wahr. Die Stationsschwester Angelika kommt auf mich zu und klopft mir anerkennend auf die Schulter.

„Gute Arbeit, Henni. Du hast schnell reagiert.“

Ich nicke nur. Nach der Aufregung bin ich merkwürdig klar. Mein Verstand ist geschärft und ich fühle mich lebendig. Fast so lebendig wie mit Stefan.

Das geht nicht allen so, stelle ich fest. Bea lehnt bleich in einer Ecke und macht den Eindruck, als würde sie sich jeden Moment übergeben. Meine Kolleginnen beginnen mit der Beseitigung des Chaos, aber ich möchte mein Küken nicht einfach stehen lassen. Sie ist immerhin so etwas wie eine Schutzbefohlene für mich.

Ich schiebe ihr einen Stuhl hin und drücke sie darauf, genau wie Jonas vorhin mich.

„Alles ok bei dir?“, erkundige ich mich so sanft wie möglich.

„Ich weiß auch nicht.“ Sie schaut leicht panisch drein. „Ich wusste nicht, was ich tun soll. Herr Reichel hat geklingelt und da lag Herr Pielkofer auf dem Bett. Ich habe an ihm gerüttelt, so wie wir‘s gelernt haben und als er nicht geantwortet hat, habe ich die Atmung geprüft, so wie wir‘s gelernt haben. Ich … habe den Alarm ausgelöst und dann, dann …, ich wollte alles so machen, wie wir’s gelernt haben …“

„Schsch ...“ Ich streiche beruhigend über ihren Unterarm, der auf ihren zitternden Knien liegt. „Schon gut. Das war perfekt. Du hast dich genau richtig verhalten. Mach‘ dir keine Sorgen.“

„Meinst du, er wird …?“ Die unausgesprochene Frage steht greifbar im Raum, doch ich kann ihr keine Antwort darauf geben.

„Er wird gut versorgt. Du hast alles getan, was du konntest. Auf den Rest hast du keinen Einfluss. Und du hast dich wirklich gut geschlagen. Bist nicht ausgeflippt. Hast professionell mitangepackt und standst nicht im Weg. Mehr kann man von dir doch gar nicht verlangen. Selbst eine fertig ausgebildete Krankenschwester hätte das nicht viel besser hinbekommen.“

Ihr zweifelnder Blick streift mein Gesicht, um es auf Ehrlichkeit zu prüfen. Ich drücke bestätigend ihre Hand. „Bleib‘ noch ein bisschen sitzen und wenn du dich gut genug fühlst, holst du dir einen Tee und machst Pause, ok?“

Trotz tritt in ihre wässrigen Augen. „Ich sollte helfen, …“
„Spiel‘ nicht den Helden. Außerdem war das keine Frage.“

Schließlich gibt sie nach und stimmt zu. Ich lasse sie auf dem Stuhl zurück und beteilige mich bei der Aufräumaktion. Auch die anderen Kolleginnen loben mich für meinen Einsatz.

Von der großen Schnauze von Herrn Reichel ist nicht viel übrig geblieben. Er sitzt geschockt in seinem Bett, rührt sich nicht und wirkt ziemlich kleinlaut, wenn er angesprochen wird. Wo er vor zehn Minuten noch den großmäuligen Choleriker markiert hat, präsentiert er sich jetzt wie ein eingeschüchtertes Kind. Verächtlich schüttle ich den Kopf.

Ja, ja. Hunde, die bellen …

Wie er verkrampft die Bettdecke umklammert und ins Leere starrt, bekomme ich sogar fast ein wenig Mitleid mit ihm. Aber bei dem Gedanken, dass er sich immer noch über mich beschweren könnte, vergeht mir das Mitgefühl gleich wieder.

 

 

Kapitel 10

 

Zwanzig Minuten brauche ich mit dem Rad nach Steglitz, wo das Haus steht, in dem ich aufgewachsen bin. Es ist eine kleine Stadtvilla unweit vom Kietz und gehört meiner Großmutter. Eigentlich liebe ich das in die Jahre gekommene Gebäude, das durch die vielen Erker und die hübschen großen Fenster dennoch einen zeitlosen Charme versprüht. Der Wintergarten und das ausladende Rasenstück mit vielen Obstbäumen waren mir als Kind die liebsten Orte und ich habe mich wohl gefühlt.

Wenn ich heute auf die kleine Villa zu radle, steigt nur Unbehagen in mir auf. Alles daran ist mir ein Klotz am Bein. Ein paar Jahre lang war ich hier noch nicht mal gern gesehen und nun soll ich jede freie Minute in meinem Elternhaus verbringen, wenn es nach meiner Mutter ginge.

Sie öffnet kurz nach dem Klingeln in ihrer abgewetzten Jogginghose und einer schlabberigen Bluse. Bestimmt hat sie schon gewartet, immerhin ist es seit Bertrams Tod Tradition, dass ich nach der Arbeit kurz vorbei schaue. Manchmal essen wir dann auch zusammen, aber meistens versuche ich mich so schnell wie möglich abzusetzen.

„Geh‘ und sag` deiner Großmutter Hallo, sonst macht sie mir nachher wieder die Hölle heiß“, mault sie bereits vor der Begrüßung und trottet die Treppe rauf in den ersten Stock, während ich im Erdgeschoss die Wohnung meiner Oma betrete. Der unnachahmliche Geruch von Voltaren Salbe vermischt mit einem Hauch von alten Windeln schlägt mir entgegen, sie ist nun mal ein wenig inkontinent, was man einer Greisin, die drei Kinder geboren und ihr ganzes Leben lang hart gearbeitet hat jedoch nachsehen kann.

Durch den gediegen eingerichteten Flur erreicht man das Wohnzimmer, in dem meine Großmutter auf ihrem Stammplatz im großen beigen Fernsehsessel hockt und döst. Der Kopfhörer hängt komplett schepps an ihren Ohren. Über den kann sie den Ton vom Fernseher laut genug stellen, damit sie ihn trotz Schwerhörigkeit versteht, aber die Nachbarn inklusive meiner Mutter nicht jedes Wort der Heimatsendungen und Schlagerstadel mit anhören müssen, die sie sich andauernd reinzieht seit sie nicht mehr so mobil ist.

Auf diese Weise wird das mit der Begrüßung natürlich nichts, denke ich mit weichem Gefühl, als ich sie betrachte, wie sie friedlich vor sich hin schnorchelt. Mit dem Vorsatz, später noch mal bei ihr reinzuschauen, schalte ich den Fernseher aus. Da entfährt ihr ein lautes Grunzen und sie schreckt auf.

„Ich schlafe gar nicht“, murmelt sie träge und blinzelt irritiert. Die Decke ist ihr bei dem Manöver vom Schoß gerutscht, weshalb sie mit einem lange antrainierten Automatismus danach greift und beim Bücken schwer schnauft. Erst nachdem sie sich sortiert hat, ist sie soweit bei sich, dass ihre trüben Augen meine Gestalt beim Fernseher entdecken. Fahrig schiebt sie die Brille nach oben.

„Henriette, Mäuschen! Ist das schön, dich zu sehen! Komm‘ her, setz dich!“ Ihr runzliges Gesicht erhellt sich sogleich und ein gutmütiges Lächeln schleicht sich auf die dünnen Lippen.

Da ich mich auf die Couch direkt neben ihrem Sessel fallen lassen, kann sie sogleich nach meiner Hand greifen und reibt diese überschwänglich. „Erzähl‘, wie geht es dir? Was macht die Arbeit und was machen Tina und Stefan?“

Trotz ihren 90 Jahren verfügt sie über ein beeindruckendes Gedächtnis, nur ihr Körper spielt nicht mehr so mit, wie sie es gerne hätte. Deshalb ist sie seit einiger Zeit mehr oder weniger ans Haus gefesselt und jede Neuigkeit aus dem Leben der anderen Familienmitglieder ist für sie die Sensation schlecht hin. Kein Wunder, wenn sie sonst nur Schlager- und Heimatsendungen anschaut. Ich würde genauso vor Langeweile krepieren.

„Mir geht’s gut, Omi. Tina und Stefan auch. Die Arbeit ist anstrengend und die Patienten …“

„Sind sie immer noch so unverfroren?“, erkundigt sie sich mitfühlend und tätschelt meine Hand.

„Ja. Du kennst das ja.“ Sie war nämlich im Krieg Krankenschwester und hat sogar eine Zeit lang in Lazaretten gearbeitet.

„Das brauchst du mir nicht zu erzählen, Schätzchen. Selbst unter den größten Schmerzen haben die Soldaten versucht, unter unsere Röcke zu kommen. Dein Großvater hat sogar ein Mal einem Patienten von mir die Nase gebrochen, weil er zudringlich geworden ist.“

Ich blicke mich erstaunt zu ihr um. „Wirklich? Das hast du mir noch nie erzählt.“

Sie nickt und ihr erfahrener Blick wandert in die Ferne, während anscheinend Szenen der Vergangenheit durch ihren Kopf ziehen. Sie lächelt versonnen und ein friedvoller Ausdruck huscht über ihre faltigen Züge. „Aber ja! Der arme Kerl wusste gar nicht, wie ihm geschieht. Dein Großvater hat mich bei der Arbeit besucht und als der junge Soldat beim Verbandswechsel meinen Hintern getätschelt hat, da ist dein Großvater wie eine Dampfwalze in der Raum gestürmt – es muss die Szene von draußen beobachtet haben - und hat meine Ehre mit seinen beiden bloßen Händen verteidigt. Danach war eine ganze Weile Ruhe im Stall.“

Ehrfürchtig hänge ich an ihren Lippen und stelle mir meinen Großvater vor, der laut ihren Geschichten ein Mann der Alten Schule gewesen ist. Leider habe ich ihn nicht mehr kennen gelernt, da er kurz nach meiner Geburt an einem Herzinfarkt verstorben ist, doch alle die ihn kannten, beschreiben ihn als ehrfurchteinflößenden, durchsetzungsfähigen, aber genauso gerechten und gutmütigen Menschen. Er muss ein großartiger Ehemann und Vater gewesen sein, so wie meine Oma und ebenso ihre drei Töchter von ihm schwärmen. Auch jetzt strahlt sie vor Wärme, als sie sich an die guten alten Zeiten erinnert.

Ich teile auch den Tropfen Wehmut, der in ihrer Stimme mitschwingt, wenn sie von ihrem verstorbenen Mann spricht. Ich wünsche mir auch so einen Kerl. Das Ziehen in meiner Brust lässt sich nicht ignorieren, weshalb ich mir die Faust gegen das Brustbein presse, was den Druck jedoch nicht mildert.

„Du siehst gar nicht glücklich aus, Henriette“, reißt sie mich aus meinen Gedanken. „Was ist los?“

Automatisch ziehe ich die Schultern hoch und weiche ihrem Blick aus, der mich freundlich zu einem Bericht ermuntern soll. Doch ich möchte nicht, dass sie weiß, was für eine Versagerin ich auf dem Gebiet Männer bin. An mir haben sie kein Interesse, zumindest nicht solche, wie mein Großvater einer war. Und um ehrlich zu sein, frage ich mich ernsthaft, ob es die überhaupt noch gibt. Ich kenne nur einen und der ist unerreichbar. Am liebsten wäre ich einfach hier und gleich in Tränen ausgebrochen, aber was soll das schon bringen, außer meine Omi in Aufruhr zu versetzen?
„Ach, nichts weiter. Die Arbeit ist … die Arbeit.“

„Weißt du, Herzchen. Ich habe den Verdacht, dass ein junger Mann dahinter steckt.“

Ich erschrecke mich zu Tode und obwohl sie weiterhin liebevoll meine Hand hält, um mir Zuspruch zu geben, werde ich nur noch missmutiger. Müde seufzte ich. „Ach Omi, …“

„Du musst nicht mit deiner alten Großmutter darüber sprechen, aber das eine oder andere Abenteuer habe auch ich erlebt.“

„Omi!“ Mit hochrotem Kopf starre ich sie an, doch sie zuckt nur amüsiert die Schultern. „Was ist? Ich war auch einmal jung. Als ob sich die Sache mit den Bienchen und Blümchen so sehr verändert hätte.“

„Omi! Ich will nicht mit dir über dieses Thema …“

„Weißt du, ich hatte so einige Tricks drauf, mit denen ich auch deinen Großvater becirct habe. Er konnte damals die Augen nicht von meinem Hüftschwung lassen, das sage ich dir.“ Meine Wangen brennen und inzwischen hat die Temperatur meiner Ohren wahrscheinlich den Siedepunkt erreicht. Bevor ich mir von meiner 90-jährigen Oma Tipps fürs Aufreißen anhören muss, springe ich auf.

„Ich glaube, ich schaue jetzt zu Mama hoch …“

„Ach was, die kann warten.“ Ihre dürre Hand hält meinen Unterarm mit erstaunlicher Kraft fest, die man einer zaundürren, tattrigen Greisin niemals zutrauen würde. Ihr Schraubstockgriff stoppt mich.

„Du hast noch nie einen jungen Mann mit nach Hause gebracht, Herzchen. Was ist da los?“

„Gar nichts“, streite ich ab, doch wie immer wenn ich lüge, wird meine Stimme schrill und piepsig.

Sie durchleuchtet mich förmlich, als sie mich scharf beobachtet. „Liegt es vielleicht daran, dass du …, naja, bei der Arbeit kommst du mit Männern nicht zurecht, da überlege ich, ob das vielleicht privat auch … Du weißt, dass wir dich akzeptieren wie du bist, Henriette. Du kannst uns alles sagen.“

Vor Entgeisterung bleibt mir der Mund offen stehen. Sie hat sich doch nicht etwa gerade durch die Blume erkundigt, ob ich überhaupt auf Männer stehe?

Zwischen meinen Ohren setzt bedenkliches Rauschen ein und auf meinen Wangen hätte man mit Sicherheit Spiegeleier braten können. Ich schwanke noch zwischen den Optionen vor Scham in Ohnmacht zu fallen oder einen hysterischen Lachanfall zu kriegen hin und her, als Omi diesmal sanfter an meiner Hand zieht.

„Henni, …“

„Ich bin nicht lesbisch, Omi!“, platzt es aus mir heraus.

Du Liebe Güte! Warum übertreiben die Leute ständig? Will man von Männern lediglich freundlich und zuvorkommend behandelt werden, ist man gleich prüde und wenn man nicht alle paar Wochen ein Exemplar dieser Gattung mit nach Hause bringt, dann ist neuerdings offenbar die einzig logische Erklärung – sogar für eine ältere Dame, bei der ich mich frage, woher sie das Wort lesbisch überhaupt kennt – dass man auf Frauen steht anstatt auf Männer.

Ehrlich, wo soll das alles noch hinführen?

„Aber wenn, wäre das vollkommen in Ordnung. Ich würde nur gerne deine Freundin kennen lernen.“
Klar, sie hat was an den Ohren, also kann ich mir die Frage eigentlich sparen aber … „Spreche ich Chinesisch? Ich bin nicht lesbisch und ich habe erst recht keine Freundin!“

„Reg‘ dich doch nicht so auf, Henriette. Das ist nur der Abwehrmechanismus. Wenn wir dich alle unterstützen, wirst du mit der Zeit lernen, zu deinen Gefühlen zu stehen. So schreiben sie es zumindest in diesem Artikel in der Gala.“

Ich bin kurz davor, wie ein Giftzwerg wetternd durch das mit vielen berüschten Gegenständen dekorierte Wohnzimmer meiner Oma zu hüpfen. Was muss man denn hier tun, damit die eigene Großmutter einem abkauft, dass man einzig und allein Interesse an Penissen hat und nicht an Vaginas hat?

Und irgendjemand sollte diesen Schundblättern verbieten, der älteren Generation derartige Flausen in den Kopf zu setzen! Beschäftigen die sich nicht normalerweise eher mit den Schicksalen der europäischen Königshäuser? Vielleicht hat Prinzessin Stefanie ja das Ufer gewechselt…

„Zum letzten Mal, Omi. Ich mag Männer!“

Sie legt den Kopf schief, schaut mich ähnlich mitleidig an, wie Stefan es gestern getan hat und löst damit Brechreiz bei mir aus. „Wirklich? Woran liegt es dann?“

Hilflos schicke ich ein Stoßgebet zum Himmel, dass sie doch endlich mit der elenden Fragerei aufhören möge. Mir bleibt aber auch gar nichts erspart. Wenn ich jemals einen Freund haben sollte, wird sie ihn niemals kennen lernen, gelobe ich in stummer Fassungslosigkeit.

„Omi, das ist allein meine Sache …“

„Papperlapapp, wozu hat man denn Familie“, informiert sie mich mit kategorischem Ton. Vielleicht ist sie gebrechlich, laut werden kann sie dennoch ganz gut.

„Aber …“

 „Frag‘ doch mal die Deborah, wie sie sich ihren Uwe geangelt hat“, schlägt sie ganz unschuldig vor.

 

 

 

 

 

Nachdem ich mir eine geschlagene dreiviertel Stunde von meiner Großmutter anhören musste, dass Deborah mir sicher beim Männer-Fang behilflich wäre, sitze ich inzwischen bei meiner Mutter am Tisch und lausche deren Wahnsinn.

Ich spekuliere schon, wann wohl meine Ohren zu bluten anfangen, bin mir aber ziemlich sicher, dass meine Trommelfelle durch jahrelanges Training bereits viel zu robust dafür sind.

Mama ärgert sich wieder über ihre Schwester Else, der es ihrer Meinung nach so viel besser geht, als ihr selbst, da sie finanziell versorgt ist, nicht mit der gemeinsamen Mutter in einem Haus leben muss und auch sonst ein viel besseres Leben hat.

Sie lehnt an der Küchenzeile und wartet darauf, dass der Wasserkocher fertig wird. Auch wenn sie ununterbrochen aufgeregt schimpft, kann sie nicht verbergen, wie niedergeschlagen sie ist. Mit der verkrampften Haltung wirkt sie, als wäre es ihr in ihrer eigenen Küche im Landhausstil unbehaglich zumute und von Zeit zu Zeit streicht sie sich fahrig die Haare zurück, die sie seit einer Ewigkeit nicht mehr getönt hat. Im Gegensatz zu früher ist jetzt ein breiter Streifen graumeliertes, braunes Haar zu sehen, wodurch sie leicht derangiert erscheint. Auch sie ist von Beruf Krankenschwester, aber sie hat ihren Job gekündigt, um Bertram pflegen zu können, jetzt meine Oma. Daher arbeitet sie schon länger nicht mehr im Krankenhaus.

Das Teewasser ist fertig und sie verteilt es in die Tassen. Sie denkt stets, dass ich nicht mitkriege, wie sie etwas Himbeergeist in ihren Becher kippt, während sie in einem fort plappert und ich kneife wie immer die Lippen aufeinander, um ihr nicht vorzuwerfen, dass ich sie für einen Schwächling halte. Schließlich ist sie noch nicht lange Witwe und ich habe mir vorgenommen, nachsichtig mit ihr zu sein. So lange es sich auf ein Gläschen hier und da beschränkt, will ich sie nicht bevormunden, was jedoch nicht heißt, dass ich ewig bei dieser Entwicklung zuschauen werde.

Mit langsamen Bewegungen serviert sie mir die Tasse und setzt sich mir gegenüber.

„Jetzt, da Deborah heiratet, muss ich noch öfter an Bertram denken“, flüstert meine Mutter. „Vor allem, wenn es um mich herum so ruhig ist und ich mich einsam fühle, ist es besonders schlimm. Gestern habe ich die ganze Nacht wachgelegen und geweint und heute konnte ich beinahe nicht aufstehen.“

Auf Kommando kriege ich ein schlechtes Gewissen, weil ich mich geweigert habe, nach Bertrams Tod wieder bei ihr einzuziehen. Trotz ihres Bitten und Bettelns habe ich mich auf dem Ohr taub gestellt. Ich wusste, wenn wir zusammen wohnen, wird die Beziehung zu meiner Mutter irgendwann so aussehen, wie ihre zu meiner Großmutter.

Ich atme tief durch und übe mich in Geduld. „Das ist völlig natürlich, Mama. Die Leute in der Trauer-Gruppe haben dir doch prophezeit, dass das nicht von heute auf morgen vergeht. Ich habe sogar schon von einigen gehört, die das zweite Trauerjahr schlimmer fanden als das erste. Gerade, wenn man den Partner gepflegt hat, so wie du, ist am Anfang auch ein Anteil Erleichterung dabei, weil eine Last von einem abfällt. Erst später spürt man die volle Wirkung der Einsamkeit.“

„Ich weiß“, seufzt sie traurig und wischt sich eine einzelne Träne weg, die sich von ihren kurzen, ungeschminkten Wimpern gelöst hat. „Es ist nur so hart … Er … er war ein wunderbarer Mann und er fehlt mir so.“

Ich greife nach ihrer Hand, die auf dem Tisch liegt und zittert. „Ich weiß, Mama.“

„Und es ist furchtbar schwer für mich, dass er niemandem so fehlt wie mir. Dass ich mit dem Schmerz ganz alleine bin.“

Auch das ist mir klar. Sie erwähnt es zudem nicht zum ersten Mal. Aber Bertram war nun mal nicht mein Vater und auch nicht mein Mann, selbst wenn ich es wollte, könnte ich nicht dieselbe Traurigkeit empfinden wie sie. Erst recht nicht, wenn man bedenkt, wie er und ich zu einander standen.

„Zum Jahrestag seiner Beerdigung möchte ich eine Feier ausrichten. Ich dachte, du machst eine Diashow mit Bildern von ihm und wir schreiben uns ein paar Anekdoten auf, die wir erzählen können … Nur für die engsten Freunde und Verwandte. Also nach Deborahs Hochzeit, meine ich.“ Die wird schließlich am selben Tag stattfinden. Welch‘ glorreicher Einfall von meiner Tante und deren Tochter! Ich muss mich daran erinnern, ihnen bei Gelegenheit meinen Dank auszudrücken. Mama wird an dem Tag ein einziges Wrack sein und wer wird sie dann wieder aufbauen dürfen?!

Innerlich seufze ich, da sie wiedermal entscheidet, was ich zu tun habe, nicke jedoch ergeben. „Wenn du das möchtest, Mama.“

Sie lächelt traurig und trotz allem bin ich froh, dass ich ihr wenigstens eine kleine Freude bereiten kann. Ich wünschte, es gäbe etwas, das sie einfach wieder glücklich machen würde. Dann überschüttet sie mich mit potentiellen Geschichten über Bertram. Sie weint und lacht, während sie sich an ihn erinnert und ihn quasi zum Idol hochstilisiert. Wenn ich ihr zuhöre, muss ich meine Bitterkeit hinunter schlucken. Es kostet mich jedes Quäntchen Entschlossenheit, sie nicht darauf hinzuweisen, dass der Tod einen Menschen nicht zum Heiligen macht. 

 

Ich brauche fast eine halbe Stunde, bis meine Mutter mich gehen lässt. Immer wieder sage ich: „Also dann …“, aber sie versteht den Wink mit dem Zaunpfahl nicht, sondern quasselt ohne Punkt und Komma. Zuerst von Bertram, dann von ihrer Arbeit mit Oma und welche Krankenversicherung sie abschließen möchte und auch darüber, dass sie plant, neue Handtücher zu kaufen, weil die alten verschlissen sind. Manchmal wundere ich mich, dass sie durch den Sauerstoffmangel zwischendurch nicht blau anläuft und umkippt.

Als das Telefon im Flur klingelt und sie aufsteht, um dran zu gehen, nutze ich die Gelegenheit. Während sie abhebt und ihren Namen nennt, drücke ich ihr im Vorbeigehen einen Abschiedskuss auf die Wange und bedeute ihr, dass ich los muss. Sie winkt, dann bin ich raus zur Tür.

 

 

Kapitel 11

 

„Wir müssen noch die Wetteinsätze für heute Abend besprechen“, tönt Tinas Stimme völlig unschuldig aus dem Lautsprecher des Handys, das ich auf dem Badewannenrand abgelegt habe, während ich mir ca. zwei Pfund Make-up ins Gesicht klatsche. Ich bin meist ungeschminkt, vor allem bei der Arbeit scheint mir die Mühe total für die Katz und Tina und Stefan kennen mich schon lange so wie ich bin.

Allein für die Dates besitze ich eine Packung von der flüssigen Farbe, die die schlimmsten Spuren meiner Hautkrankheit verbergen und mich halbwegs in einen Menschen verwandeln soll. Gerade heute kann ich mich zwar wenig für meine Abendbeschäftigung motivieren, aber irgendetwas muss passieren, sonst drehe ich bald auf die eine oder andere Weise durch.

„Was schwebt dir denn so vor?“, rufe ich misstrauisch in Richtung Handy und habe bereits eine Reihe vager Vermutungen im Kopf.

„Ich sage, er ist ein Poser, der seinen kleinen Schwanz mit großen Autos und einem monströsen Ego kompensiert.“

„Und Stefan?“ Für meinen Geschmack klingt meine Stimme komisch, als ich seinen Namen ausspreche und mir stehen sofort die Bilder des gestrigen Abends vor Augen, welche die Verwirrung, die mich seither plagt, zusätzlich schüren. Aber ich darf nicht daran denken, wenn ich weitermachen will.

Anscheinend hat Tina meine Melancholie nicht bemerkt, denn sie kichert sorglos. „Der einfallslose Anfänger scheut das Risiko und sagt, dein Date wird versuchen, dich abzufüllen. Total abwegig, was?! Er ist doch bloß auf die Punkte scharf.“

„Also dein Szenario finde ich jetzt auch nicht über die Maßen exotisch“, trieze ich sie hämisch, weil ich weiß, dass sie in solchen Dingen gern Ehrgeiz entwickelt. „Für deine Verhältnisse direkt farblos…“

„Ich glaube, ich habe mich eben verhört!“, tut sie empört. „Na, gut… Wenn du schon so große Töne spuckst, dann will ich mal deinen Einsatz hören. Na, los! Überrasch‘ mich!“

Ich überlege intensiv, kleistere unterdessen die elfte Schicht Make-up in mein Gesicht. „Ok. Dann sage ich…er ist katholischer Pfarrer und auf der Suche nach einer Frau und Haushälterin, die mit dem Dorftratsch zurechtkommt.“

Aufgekratzt prustet Tina ins Telefon. Durch ihren Atem rauscht es vernehmlich in der Leitung. „Ok, in puncto Originalität hast du jetzt schon gewonnen, zugegeben. Aber die Punkte sahne ich ab.“

„Wir werden sehen“, gebe ich halb amüsiert, halb abgespannt zurück. Ich kann mich immer noch nicht so richtig damit anfreunden, dass mein nicht existentes Liebesleben so genau unter die Lupe genommen und minutiös zerpflückt wird, besonders im Hinblick auf mein Geheimnis. Nicht auszudenken, falls Tina jemals erfährt, dass ich ihren Freund anbetungswürdig finde und mich mehr oder weniger an ihn heran mache, wenn sie nicht da ist.

Obwohl ich vorgestern vorgeschlagen habe, mit zu wetten, wäre es mir eigentlich lieber gewesen, wenn sie es einfach gelassen hätten. Da das aber nicht in meiner Hand liegt, habe ich mich so entschieden, damit sie es wenigstens nicht hinter meinem Rücken tun.

„Soll ich später noch vorbeikommen und berichten?“, frage ich. Gott, bitte hat sie den hoffnungsvollen Ton eben überhört. Denn mein Herz flattert bei dem Gedanken, auf Stefan zu treffen.

„Gerne. Ich muss leider länger arbeiten, aber Stefan wird da sein.“

„Ok.“ Ja! Ich werde ihn heute noch sehen! Fröhlich schnappe ich mir die Wimperntusche. „Du musst in letzter Zeit viele Überstunden machen. Ist im Büro alles in Ordnung?“

Sie ist Fachfrau für Logistik und arbeitet bei der berliner Niederlassung einer großen Spedition. Wenn sie von ihrer Arbeit erzählt, verstehe ich nur Bahnhof, aber sie ist wohl in der Kundenbetreuung tätig, da sie so häufig mit welchen Gespräche führt.

„Ja, nichts ernstes. Die Auftragslage ist zurzeit ziemlich gut, sodass wir viel zu tun haben. Leider sind ein paar Kollegen der allwinterlichen Krankheitswelle zum Opfer gefallen. Deshalb muss der Rest mit anpacken, um das Liegengebliebene aufzuarbeiten.“

„Verstehe. Musst du heute einen Kunden betreuen?“

„Pah, schön wär’s. Ein Essen auf Firmenkosten käme mir jetzt gerade recht. Ich könnte ein halbes Rind verdrücken. Aber, nein. Ich bleibe im Büro und stelle ein paar Kalkulationen fertig.“ Bei dem Gedanken, wie die hochgewachsene Tina mit der modelmäßigen Figur gut 300 bis 400 Kilo Fleisch vertilgt, muss ich schmunzeln.

„Halbe Rinder habe ich nicht im Angebot, aber ich könnte ein Sandwich vorbeibringen, bevor ich zu meiner Verabredung gehe.“

„Ach, nicht nötig. Mach‘ dir keine Umstände. Stefan kocht bestimmt und wenn ich dann keinen Hunger habe, ist er angefressen.“

„Stimmt“, pflichte ich ihr gutmütig kichernd bei. Er kann es nicht leiden, wenn sein Essen nicht angemessen gewürdigt und auch bitte schön gegessen wird. Ich verstehe das. Er gibt sich sehr viel Mühe beim Kochen, aus diesem Grund ist ihm wichtig, wie seine Kreationen ankommen. In allem, was Stefan tut, ist er erfolgsorientiert. Außer vielleicht beim Regalaufbauen.

 

 

 

 

Nervös schaue ich mich in der hübschen Bar um. Sie gehört zu einem Hotel und ist wunderschön eingerichtet. Spektakulär ist vor allem die riesige Säule aus Glas, die mitten in der Eingangshalle steht und ein Aquarium beherbergt. Von allen Seiten und auch von innen – so scheint es – werden Wasser und Fische mit kühlem Licht erhellt, sodass das Becken wir eine überdimensionale Lichtquelle wirkt, die das edle Mobiliar und alle Wände mit einem fantastischen Spiel aus glitzernden Reflektionen besprenkelt.

Beeindruckt lehne ich mich mit dem Rücken an die Bar. Der Raum grenzt offen direkt an die Eingangshalle. Mit meinem Glas in der Hand beobachte ich verzaubert die vielen exotischen Fische. Immerhin kann ich jetzt sagen, dass sich der Besuch allein wegen dieses Anblicks gelohnt hat.

Das ungute Gefühl in meiner Magengegend will einfach nicht verschwinden. Irgendwie hat sich in mir die Überzeugung festgesetzt, dass das hier doch sowie so umsonst ist. Tina hat Recht. Beim online-Dating läuft man schon der Wahrscheinlichkeit nach nicht einem Traumprinzen in die Arme. Denn wer solche Tricks nötig hat, um jemanden des anderen Geschlechts kennen zu lernen, der muss schlicht die eine oder andere Macke haben.

Wie ich sehr eindrucksvoll unter Beweis stelle.

Außerdem weiß ich doch längst, wen ich will. Mein Herz ist schon verschenkt…

Vielleicht ist es sogar unfair, anderen vorzugaukeln, es wäre noch zu haben.

Unschlüssig rutsche ich auf dem Hocker hin und her. Möglicherweise sollte ich einfach gehen, solange mein Date noch nicht da ist und mir eine weitere Tragödie ersparen.

Ja, ich sollte…

Henni?“

Die tiefe Männerstimme reißt mich aus meinen Gedanken.

Ich erkenne sie sofort, schieße aus meiner sitzenden Haltung in die Höhe und drehe mich ängstlich auf dem Barhocker um.

Jonas.

Was macht der denn hier?

Sofort habe ich noch weniger Lust, hier mein Blind-Date direkt unter den Augen eines Kollegen zu treffen. Auch noch vor diesem speziellen Kollegen, der sich meiner Meinung nach in den letzten Tagen mit seinen Kommentaren nicht gerade mit Ruhm bekleckert hat und mich ohnehin schon permanent auf den Arm nimmt. Meine Ohren klingeln bereits von den sensationslüsternen Fragen meiner Kollegen, nachdem er ihnen alles brühwarm weitergetratscht hat. Sobald sich das rumgesprochen hat, bin ich doch die Lachnummer der gesamten Station!

„Jonas! Hi…“ Angestrengt versuche ich zu verbergen, wie ungelegen mir seine Anwesenheit kommt. Hoffentlich schlendert mein Date jetzt nicht um die nächste Ecke!

Irritiert mustert er mich vom Scheitel bis zur Sohle. Dann fällt sein Blick auf die Zeitung, die neben mir auf dem Bartresen liegt. Das Erkennungszeichen für den Typen, mit dem ich mich verabredet habe.

Seine Augen weiten sich verdattert. „Du bist TinkerBell?“

Oh, Fuck…

Mein Herz rutscht mir in die Hose und ich betete stumm darum, dass sich die Erde auftun möge, um mich zu verschlucken. Leider absolute Fehlanzeige.

„Sag‘ mir nicht, dass du Mann-für-alle-Fälle-87 bist…“ Ok, jetzt da ich den Namen ausspreche, wird mir klar, dass ich zumindest in irgendeiner Form misstrauisch hätte werden müssen.
Er nickt beklommen und scheint ebenfalls peinlich berührt.

Ich kann nichts dagegen tun, mein Kiefer klappt herunter, mit offen stehendem Mund gehe ich auf Fliegenfang. Mein Anblick dürfte keinen sonderlich intelligenten Eindruck machen, aber ich fühle mich wie im falschen Film. Warum ausgerechnet der Kerl, der mich in den letzten 48 Stunden als prüde, vertrocknete Jungfer beschimpft und mir geraten hat, mich mal wieder flachlegen zu lassen? Das ist doch ein schlechter Witz!

Aber nein. Seine Miene ist ernst und lässt kein Zeichen erkennen, dass er mich verarscht. In keiner Welt hätte ich vermutet, dass Jonas es nötig hat, am Online-Dating teilzunehmen. Außerdem…

„Warte mal, bist du nicht verheiratet???“, löchere ich ihn misstrauisch, als ich meine Stimme wiedergefunden habe. In Gedanken nenne ich ihn schon eine betrügerische Ratte - wobei die Vermutung ja schon vorher nahegelegen hat - und verfluche mich dafür, nicht rechtzeitig die Flucht ergriffen zu haben.

„Ich war verheiratet“, stellt er recht förmlich klar und schiebt die Hände in die Taschen des perfekt sitzenden Anzugs.

Ein Jonas im Anzug, schießt es mir verwundert durch den Kopf.

Ein verdammt gut aussehender Jonas im Anzug. Zum ersten Mal betrachte ich ihn nicht als Kollegen und flegelhaften Idioten, sondern schlicht als Mann. Und auf dem Gebiet hat er einiges zu bieten. Was sonst vom Kittel und der grünen OP-Tracht verborgen wird, ist heute ansehnlich verpackt, sodass nicht mal einem Blinden entgangen wäre, wie attraktiv Jonas tatsächlich ist. Der modern geschnittene Anzug betont die breiten Schultern und die schmalen Hüften und das dunkle Blau der Wolle bringt seine nachtblauen Augen zur Geltung. Sein braunes Haar hat er in jene kunstvolle Unordnung gebracht, die aussieht, als wäre er eben erst aus dem Bett gekrochen, obwohl Mann dafür Stunden vorm Spiegel verbringt. Er sieht mit einem Wort umwerfend aus.

Moment, was denke ich da eigentlich…? Er ist ein arrogantes Großmaul, das hat er doch schon eindrücklich bewiesen. Ich schlucke mit ausgetrockneter Kehle.

„Hör‘ mal, Henni…“, setzt er unsicher an.

Ich weiß schon, was er sagen will. Und obwohl ich einen Stich in der Herzgegend verspüre, winke ich so locker wie möglich ab. Ein lässiges Lächeln soll ihn täuschen.

„Hey. Kein Problem. Wir gehen jetzt nach Hause und tun einfach so, als wäre das nie passiert.“ Ich schnappe mir Handtasche und Zeitung und erhebe mich leicht wankend.

Da steht er vor mir. „Eigentlich wollte ich vorschlagen, dass wir auch etwas essen könnten, wenn wir schon hier sind.“

 

Kapitel 12

 

Sprachlos halte ich inne und starre ihn mit großen Augen an. „Was?

Er lacht. „Soll ich‘s dir buchstabieren? E, S, S, E, N. Das Zeug, das man sich in den Mund stopft und dann drauf rumkaut.“

Witzbold. „Ich bin mit dem Begriff Essen vertraut. Danke, Einstein“, entgegne ich steif. „Wir sind Kollegen.“

„Und deswegen können wir nicht zusammen essen? Gibt’s da bei Krankenschwestern etwa einen Klausel im Vertrag? Ich habe das ja bis heute für ein Gerücht gehalten“, kontert er wenig ernst und setzt ein schiefes Grinsen auf. Dabei erscheinen Grübchen in seinen Mundwinkeln, sodass er jungenhaft und verschmitzt erscheint. Er sieht wirklich ziemlich gut aus. Warum ist mir das bis heute nicht aufgefallen?

„Du weißt, was ich meine. Das wäre unpassend.“

„Es ist nur ein Essen, Henni.“

Womit er vermutlich goldrichtig liegt. Ein Kerl wie er würde sich niemals ernsthaft für eine Frau wie mich interessieren. Bestimmt will er nur höflich sein, indem er mich für den Aufwand, den ich mir unübersehbar mit meinem Äußeren gemacht habe, entschädigt und mit seiner Kollegin ein rein platonisches Dinner verlebt. In die Ecke passe ich sowieso viel besser. Ich bin eher der Kumpel-Typ, als die scharfe Sexbombe. Das ist mir selbst klar.

„Ok. Aber nur, wenn wir die Rechnung teilen.“ Wenn er schon aus Mitleid mit meiner Gesellschaft Vorlieb nehmen muss, soll er nicht auch noch dafür bezahlen müssen.

Verwirrt hebt er eine Augenbraue. „Ich nage nicht am Hungertuch.“

„Darum geht’s nicht.“
„Worum denn dann?“ Er wirkt schon wieder so heiter, als könnte meine Antwort nur den nächsten Brüller provozieren. Offenbar findet er mich wirklich zum Brüllen komisch.

Den Gefallen tue ich ihm nicht. „Gut. Bitte schön. Einem geschenkten Gaul …“

„Das will ich meinen. Können wir dann? Unser Tisch wartet nicht ewig auf uns.“ Er hält mir galant seinen Ellenbogen hin.

Während ich zögernd meine Hand in die Beuge schiebe, lasse ich seinen Gesichtsausdruck nicht aus den Augen. Ich kann nicht anders, als zu erwarten, dass er jeden Moment „Reingelegt“ ruft.

Doch er scheint es tatsächlich ernst zu meinen.

Jedenfalls führt er mich durch eine gläserne, doppelflügelige Tür in ein hübsches Restaurant, das von schummrigem Kerzenlicht erhellt wird. Am hinteren Ende sitzt ein Mann an einem gigantischen Flügel und erfüllt den Raum neben dem leisen Gemurmel der Gäste mit weichen Klängen.

Jonas nennt seinen Namen und der Kellner führt uns zum reservierten Tisch, der am Fenster eine wundervolle Aussicht auf die Spree bietet.

Sogar den Stuhl rückt mein Begleiter zurecht, während ich mich setze. Ich weiß wirklich nicht, was ich von dieser Sache halten soll, werde aber von Minute zu Minute gespannter. Er nimmt gegenüber Platz und ich untersuche verstohlen seine rechte Hand auf Spuren eines Eherings, aber da ist kein Abdruck. Noch nicht mal ein heller, ungebräunter Streifen.

„Henni?“

„Hm?“ Ich schrecke auf, woraufhin Jonas schon wieder dieses wissende Grinsen aufsetzt, das er bei der Arbeit auch ständig drauf hat.

„Weißt du schon, was du trinken willst?“

„Alkohol!“, antworte ich ohne Umschweife inbrünstig, was Jonas und der Kellner mit einem fröhlichen Blickwechsel quittieren. Ich kann förmlich hören, was sie denken.

„Ich bin keine Schnappsdrossel!“, rechtfertige ich mich, nachdem der Kellner uns die Karten gereicht und den Tisch verlassen hat. Über dem Rand der aufgeschlagenen Menüauswahl blitzen seine Augen belustigt auf.

„Wirklich? Und ich dachte noch, vielleicht hätte ich besser die ganze Flasche bestellt.“

„Nur, wenn du willst, dass ich nachher auf dem Tisch tanze und die Titelmelodie von Spiderman singe. Vielleicht auch die von Batman, ich bin mir nicht ganz sicher.“ Dazu bräuchte ich jetzt Stefan.

„Das möchte ich ungern verpassen“, lacht er und will den Kellner schon zurück rufen. Entsetzt packe ich seine Hand und ringe sie nieder.

„Das war ein Witz!“

„Schade … In dem Kleid stelle ich mir den Anblick reizvoll vor. Spiderman, Spiderman, does whatever a spider can …“

„Haha. Du willst doch bloß sehen, wie ich mich zum Affen mache.“

„Ich gebe zu, das wäre ein denkwürdiger Moment, den ich sicher nicht so schnell wieder vergessen würde. Obwohl du mir davon ja schon einige geliefert hast…“ Er zwinkert mir zu, bevor er sich erneut der in Leder eingebundenen Karte zuwendet. Natürlich kann er es nicht lassen, auf meinen Ausraster bei der Arbeit zu verweisen.

Nachdem wir unsere Bestellung aufgegeben haben, warte ich bis wir wieder allein sind.

„Wenn du auf eine Fortsetzung des Henni-Kinos hoffst, muss ich dich enttäuschen. Und ich will heute Abend keine Anspielungen auf mein Sexleben hören, klar?!“ Welcher Teufel hat mich bloß geritten, dass ich mich auf diesen Scheiß eingelassen habe? Und alles nur, weil Jonas ganz passabel aussieht? Gut, er sieht fantastisch aus, aber trotzdem! Und was ist das hier überhaupt? Irgendwie habe ich das Gefühl, dass er jetzt auch noch anfängt, mit mir zu flirten.

Jonas presst die Lippen auf einander. Ein untrügliches Zeichen, dass er sich erneut das Lachen verkneift. „Glasklar. Dann musst du mich aber auch mit deinem Männer-Hass verschonen.“

Ich bin einem riesigen Irrtum aufgesessen – das hier ist definitiv kein Flirt! Wenn Blicke töten könnten, wäre ihm jetzt der Kopf explodiert. „Ich bin keine Männer-Hasserin!“

„Ach, was denn dann?“

„Ich habe ein sehr kompliziertes Leben und möchte nur, dass meine Arbeit gewürdigt wird. Das ist alles.“

„Wenn das so ist… Weißt du, du hast dich heute bei Herrn Pielkofer wirklich hervorragend gemacht.“ Diesmal klingt es ganz und gar nicht wie ein Scherz, wodurch ich in meinem Ärger ins Stocken gerate.

„… Ehrlich?“

„Ich würde es nicht sagen, wenn ich es nicht so meinen würde.“

Das glaube ich ihm dagegen unbesehen. Mit einem Mal verlegen hebe ich die Schultern. „Ich habe eine Ausbildung zur Intensiv-Pflegekraft gemacht. Deshalb war es keine große Sache.“

Während Jonas an seinem Wein nippt, lässt er mich nicht aus den Augen, dann deutet er mit dem Glas auf mich.

„Warum arbeitest du auf der Urologischen? Ich kann mir vorstellen, dass du dort unterfordert bist.“

„Wenn ich darauf bloß eine Antwort wüsste“, seufze ich und bin überrascht, weil ich noch keinen neuen Spruch von ihm reingedrückt bekommen habe. „Direkt nach Abschluss der Ausbildung hat man mir einen Job zugesagt, das Arbeitsverhältnis kam jedoch nicht zustande, weil Stellen gestrichen wurden. Auf die Schnelle blieb mir nur die urologische Station im St. Marien Krankenhaus. Das war vor vier Jahren. Ich weiß nicht, warum ich noch nicht wieder die Fühler ausgestreckt habe.“

Jonas schmunzelt kopfschüttelnd. „Gib’s doch zu! Eigentlich gefällt es dir bei uns. Du willst es dir bloß nicht eingestehen, weil du dann auch zu den Perversen gehören würdest.“

Ich kann nichts dagegen tun, jetzt muss ich ebenfalls grinsen. „Das halte ich für groben Unfug.“

„Ich nicht. Ich bin mir ziemlich sicher, dass du beruflich gesehen auch für die nahe Zukunft keine aufregenden Pläne hast.“

Wo er recht hat… „Gut, ich muss einräumen, das Aufregendste, das ich erlebe, sind die Attacken auf meine Zehen durch meinen Kater TinkerBell.“

Jonas entfährt ein Glucksen. „Daher dein nick name. Du hast deinen Kater TinkerBell genannt?“

„Ich habe ihn für ein braves Kätzchen gehalten, als ich ihn bekommen habe. Leider scheine ich ein Händchen dafür zu haben, an unverschämte, triebgesteuerte Kerle zu geraten.“

„Tatsächlich?“ Er wirft mir einen amüsierten Blick zu, während das Essen serviert wird. Eine ordentliche Portion Fleisch für Jonas, Salat mit Ziegenkäse für mich. „Ich hätte dich gar nicht für eine dieser Katzen-Ladies gehalten.“

„Es handelt sich um einen Kater, nicht zehn.“

„Schon. Aber wie lange noch? Ich habe von Fällen gehört, bei denen das ausgeartet ist.“

Schmunzelnd schüttle ich den Kopf. „Keine Sorge. Ich kann Katzen eigentlich gar nicht ausstehen. Die Gefahr einer Abhängigkeit ist also denkbar gering.“

Nun ist er es, der erstaunt ist. „Wieso hast du dann eine?“

Die Frage hätte ich kommen sehen müssen. „Ähm…“ Er soll mich nicht noch mehr für eine vertrocknete Jungfer halten, als er es ohnehin schon tut. Ich kann ihm doch nicht stecken, dass ich auf den widerborstigen Kater angewiesen bin, da mich sonst die Einsamkeit in meiner Wohnung erdrücken würde.

„Ist es was in die Richtung Sei deinen Freunden nah, aber deinen Feinden noch näher?“, will er interessiert wissen.

„Pff. Dann hätte ich mit meiner Handarbeits-Lehrerin aus der dritten Klasse zusammenziehen müssen.“

Jonas lacht laut auf und einige Gäste an den Tischen in der näheren Umgebung drehen sich pikiert zu uns um. Damit wir nicht noch mehr Publikum bekommen, beugt er sich zu mir rüber und mäßigt seinen Ton.

„Sag‘ schon. Warum hast du dir einen Kater angeschafft?“

Eilig reime ich mir irgendwas zusammen. „Hatte Mitleid mit ihm. Er stammt aus dem Tierheim.“ Gleich darauf fällt mir auf, wie großartig die Ausrede ist. Viel besser als die Wahrheit.

„Eine Wohltäterin also.“

„Mhmm…“, ich hätte mir für den Einfall am liebsten stolz wie Hulle auf die Schulter geklopft.

„Dann solltest du dich in Zukunft besser von Tierheimen fernhalten.“

Ich setzte eine fragende Miene auf und er grinst frech.

„Im Hinblick auf die Suchtgefahr. Wer weiß, sonst kommst du beim nächsten mal vielleicht mit einer armen Promenadenmischung oder einem dreibeinigen Leguan wieder heraus. Oder beidem!“

 „Ehrlich gesagt kann ich überhaupt keine Tiere leiden. Also ist dieses Szenario ebenfalls ziemlich unrealistisch.“

„Gar keine???“ Er klingt ungläubig. „Auch keine kleinen süßen Häschen?“

Ich schüttele lächelnd den Kopf.

„Und was ist mit diesen Küken, die aussehen wie gelbe, flauschige Wattebäusche?“

„So leid es mir tut, keiner dieser Bazillen schleudernden Wattebäusche kommt mir in meine Wohnung… Auch wenn sie wirklich süß anzusehen sind.“ Auf Bildern. Maximal.

„Ach, darum geht’s also. Du weißt schon, dass der menschliche Körper von mehr Bakterien besiedelt ist, als er Zellen hat?“

Ich erstarre erschrocken. „Im ernst?! … Wieso musstest du mir das erzählen?! Diesen Fun-Fact kann ich doch nie wieder vergessen!“

Meiner unglücklichen Worte zum Trotz wirkt er äußerst erheitert.

Am liebsten hätte ich ihm vors Schienbein getreten! Oh Gott, diese Vorstellung von unzähligen Bakterien auf und in meinem Körper wird mich heute Abend wach halten, ich weiß es genau! Und er lacht sich hier schadenfroh ins Fäustchen.

Gerade will ich ihm vor den Latz knallen, dass er ein Idiot ist, als mein Blick zufällig auf einen der Tische auf der anderen Seite des Raumes fällt. Hinter einem Raumtrenner meine ich plötzlich blondes Haar und ein bekanntes Gesicht entdeckt zu haben. Ist das nicht…?

Während Jonas weiterspricht, lehne ich mich auf meinem Stuhl weit nach vorn, um besser sehen zu können und…

Sie ist es tatsächlich! Tina!

Ich glaube, ich spinne!

 

Sind die zwei jetzt schon so dreist, dass sie mich bei meinen Dates stalken? Glauben sie, ich bin vollkommen bescheuert und merke nicht, dass sie mich ausspionieren? Dafür hätten sie sich wesentlich mehr Mühe mit dem Verstecken geben müssen. Außerdem, Tina ist allein. Wo hat sie denn Stefan gelassen?

Suchend durchforste ich die anderen Gäste, kann ihn jedoch nirgends finden und als ich mich wieder Tina zuwende, hat sich ein Mann zu ihr gesetzt. Aber es ist nicht Stefan.

Hm, vielleicht doch kein Stalking… Soll der Zufall wirklich so groß sein, dass sie sich hier mit einem Kunden trifft? Sie hat doch gesagt, dass sie heute keine Besprechung mehr hat…

Der Gedanke ist noch nicht beendet, da beugt sich der Fremde vor und greift nach Tinas Hand.

Das sind doch nicht die neusten Methoden der Kundenbetreuung, denke ich irritiert.

„Henni?“

„Hm?“ Meine Augen flutschen rasch zu meinem Gesprächspartner zurück, der mich abwartend ansieht.

„Ich habe gefragt, ob dir dein Salat nicht schmeckt, weil du kaum etwas isst.“

„Nein, alles bestens!“ Demonstrativ stopfe ich mir eine riesige Gabel in den Mund und kaue genüsslich. Indessen wandert meine Aufmerksamkeit schon wieder zu dem Tisch am anderen Ende des Restaurants, wo Tina immer noch Händchen mit einem Mann hält, der nicht Stefan ist. Sein Hinterkopf macht es mir unmöglich, ihn zu identifizieren, doch viel interessanter sind Tinas Gesten. Sie lacht und klimpert mit den Wimpern, wirft das blonde Haar effektvoll nach hinten. Ich will es kaum glauben, aber es wirkt eindeutig wie flirten.

Wobei… in dem Punkt habe ich mich heute schon mal getäuscht.

Da gleitet Tinas Blick in meine Richtung und bevor ich genau weiß, was ich tue, gehe ich blitzschnell in Deckung.

„Ähm, Henni?“, schallt es von oben. „Was machst du unter dem Tisch?“

„Mir ist was runter gefallen.“ Mein Stammeln scheint ihn nicht zu überzeugen und seine Füße in den eleganten Lederschuhen scharren unruhig.

„Tatsächlich?“ Jetzt beginnen seinen Waden unkontrolliert zu zucken. „Der Spruch ist aber abgenutzt.“

Wie bitte???

Als ich ruckartig hochkommen will, um ihm mittzuteilen, dass er sich den Blowjob mal gepflegt in die Haare schmieren kann, vergesse ich den Tisch über mir und kollidiere prompt mit der Holzplatte.

Es rumst vernehmlich, Besteck und Gläser klirren, Jonas kichert sich eins ab und ich sehe Sternchen.

„Alles klar da unten, Henni? Falls du Hilfe brauchst, du weißt, dass ein Arzt anwesend ist.“

Ächzend krieche ich zurück auf meinen Stuhl und muss den Schwindel bekämpfen, als ich mich vergewissere, dass Tina meine Anwesenheit noch nicht zur Kenntnis genommen hat. Glücklicherweise ist sie tief ins Gespräch verwickelt und vollkommen auf ihren Gegenüber fixiert.

„Du siehst gar nicht gut aus“, höre ich Jonas sagen. „Soll ich dich untersuchen?“ Der zweideutige Tonfall zieht mein Augenmerk auf sein Gesicht, das zufriedener nicht wirken könnte.

„Jetzt mach‘ mal halblang. Du bist Urologe.“

„Eben!“, meint er heiter und wendet sich unbekümmert dem Steak zu, das er fast vertilgt hat, während mein Salat zu verwaisen droht. „War da nicht was mit deinem Sexleben?“

Ich habe den dumpfen Verdacht, dass Jonas die letzten Minuten vollkommen falsch aufgefasst hat. „Mein Sexleben ist nicht dein Bier“, informiere ich ihn und schiele vorsichtig zu Tina hinüber. Keine Veränderung. „Außerdem hatten wir einen Deal, dass wir dieses Thema übergehen.“

„Hey! Du hast es wieder auf den Tisch gebracht. Oder besser unter den Tisch.“ Er wackelt mit den Augenbrauen, was mir ein genervtes Stöhnen abringt.

„Bis eben war’s noch ganz nett mit dir.“

„Ich wollte dasselbe sagen, als du wieder unter dem Tisch hervorgekrochen kamst.“

Wenn ich nicht zu sehr mit Tina beschäftigt gewesen wäre, hätte ich ihm vielleicht meine Gabel an den Kopf geworfen. Doch seine Worte verhallen in der Bedeutungslosigkeit, denn was ich da drüben sehe, erschüttert die Grundfesten meines Universums.

Tina küsst den Fremden!

Kein Schmatzer im Vorbeigehen für den lieben Onkel, auch kein „Wir-haben-eben-auf-unsere-Freundschaft-getrunken-Küsschen“. Es ist ein handfester, ungenierter Kuss zwischen zwei Menschen, die zweifelsohne scharf auf einander sind und das auch nicht zum ersten Mal auf diese Weise zum Ausdruck bringen.

Auf meinem Stuhl bin ich vor Schreck zur Salzsäule erstarrt und durch den Nebel dringt Jonas‘ Stimme nur als Kauderwelsch zu mir durch, obwohl wir doch eigentlich dieselbe Sprache sprechen.

„Ehrlich, du bist ganz grün um die Nase. Vielleicht hast du eine Gehirnerschütterung.“

Tina geht fremd! Ich kann’s einfach nicht glauben…

„Ist dir übel?“

Und wie mir übel ist. Aber nicht wegen dem Zusammenstoß mit der Tischplatte.

 

 

Kapitel 13

 

„Wo schaust du denn die ganze Zeit hin?“ Jonas folgt meinem Blick, aber er begreift nicht, weshalb ich so entsetzt bin. „Kennst du das Paar dahinten?“

„Und ob! ... Dachte ich zumindest“, flüstere ich mehr zu mir selbst.

„Ein Ex von dir?“ Er raunt verschwörerisch, als ob wir zwei Detektive wären. Ich meine sogar, Verständnis herauszuhören.

„Tina und ihr Freund Stefan sind meine beiden besten Freunde. Bloß … Das ist nicht Stefan.“

„Oh.“

Ja. Oh.

„Was willst du jetzt machen?“

Verdammt gute Frage! Doch je länger ich das befremdliche Schauspiel verfolge, desto deutlicher sehe ich all die neuen, vielversprechenden Möglichkeiten, die sich aus dieser überraschenden Entwicklung ergeben. Mein Herz beginnt vor Aufregung wild in meiner Brust herum zu hüpfen, hätte mich nicht gewundert, falls sogar Jonas darauf aufmerksam geworden wäre.

„Ich weiß nicht. Ich sollte es Stefan sagen, oder?“ Da ist eindeutig zu viel Freude in meiner Stimme, was Jonas dazu bewegt, mich nachdenklich zu mustern.

„Kommt darauf an, ob du willst, dass beide deine besten Freunde bleiben“, befindet er schließlich nüchtern und deckt somit zielsicher den Haken an der Sache auf. Es ist wirklich anstrengend, wenn man einen dermaßen schlauen Gesprächspartner hat.

Ein Seufzen entschlüpft meinen Lippen. „Stimmt. Vielleicht sollte ich mich einfach raushalten.“

„Oder du findest heraus, wieviel Tina diese Affäre bedeutet“, rät er, als sich die beiden, über die wir sprechen, erneut küssen. Ihnen wird ein Dessert serviert, das sie sich mit Hilfe von zwei Löffeln teilen, indem sie sich gegenseitig füttern.

„Wonach sieht es denn für dich aus?“ Für mich sind keine Fragen offen.

„Tina könnte trotzdem erkennen, dass ihr ihr Freund wesentlich wichtiger ist und dass sie eigentlich nur ihn liebt. Dann würde die Wahrheit Stefan nur verletzen und er würde alles verlieren, obwohl sie ein langes, gemeinsames Leben hätten haben können.“

„Wenn du er wärst, könntest du mit sowas leben?“ Meiner erstaunten Miene zum Trotz zuckt er nur unbeteiligt mit den Schultern.

„Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.“

Prompt fällt mir wieder ein, wie ich zu all den Vorurteilen über Jonas gekommen bin. Wegen genau solcher Kommentare. „Kein Wunder, dass du nicht mehr verheiratet bist.“

Jonas war im Begriff, sich das letzte Stück seines Rindersteaks zwischen die Zähne zu schieben, als er stutzt und der Happen von seiner Gabel fällt.

Ich erlebe eine absolute Premiere, denn er erwidert rein gar nichts, nicht mal einen abfälligen Laut. Sieht mich nur mit diesem unergründlichen Ausdruck an und die jähe Stille zwischen uns beschert mir ein merkwürdiges Gefühl. Als hätte ich ihn verletzt.

Aber das kann nicht sein. Den Jonas, den ich kenne, kann nichts treffen. Er grinst ja sogar noch, wenn man ihn mit wüsten Schimpfwörtern überschüttet. Doch offenbar hat auch die allgemeingültigste Regel eine Ausnahme.

„Ich wollte nicht …“

Er winkt ab und greift nach seinem Glas. „Schon gut. Vergiss‘ es.“

„Aber …“

„Ich sagte, vergiss es.“ Der Satz klingt eher lapidar, dennoch kann Jonas nicht verhindern, dass darin Eindringlichkeit mitschwingt, weshalb ich verstumme. Huch, was ist denn hier gerade passiert?

„Und, wie lautet dein Urteil in Bezug auf Tina und Stefan?“ Er ist um einen belanglosen Tonfall bemüht und ich folge dem Impuls, ihm seinen Willen zu lassen. Etwas sagt mir, dass ich nicht weiterbohren sollte.

„Ich muss darüber nachdenken.“ Und in einem Punkt trifft Jonas‘ Aussage wahrscheinlich zu, wenn Stefan von Tinas Seitensprung erfährt, wird er am Boden zerstört sein. Obwohl ich gleichzeitig mit dem Gedanken spiele, ihn dann zu trösten, ist da dennoch ein Zaudern, weil ich davor zurückschrecke, ihm diese Erfahrung zuzumuten. Ich will nicht, dass er unglücklich ist oder leiden muss.

Andererseits bin es schließlich nicht ich, die ihn unglücklich macht.

„Entscheide dich bald. Sollte herauskommen, dass du davon gewusst und nichts verraten hast, wird Stefan nicht begeistert sein.“

Wie wahr … Das wäre wohl der ungünstigste Verlauf des Geschehens. Was natürlich verhindert werden muss!

Tina ein paar Meter weiter sprüht unterdessen vor Charme. Sie ist ohnehin schon eine Schönheit, aber dieses Leuchten, das sie umgibt, verleiht ihr etwas Madonnenhaftes. So habe ich sie lange nicht mehr erlebt. Halb in Gedanken vernehme ich Jonas‘ Erkundigung: „Mal was anders. Willst du einen Nachtisch?“

Wie kann er jetzt noch an Essen denken? Ich verneine und weil Tina manchmal beim Reden im Restaurant herum schaut, muss ich fürchten, dass sie mich doch irgendwann in der Menge findet. „Ich glaube, ich möchte gehen. Fürs Erste will ich keine Begegnung mit Tina riskieren.“

Wider Erwarten nickt er ohne Kommentar und bezahlt wie versprochen die Rechnung. Als wir das Restaurant verlassen, läuft er links neben mir, sodass ich vor meiner Freundin abgeschirmt werde. Sein Talent als Konspirateur ist unübersehbar.

„Soll ich dich nach Hause bringen?“, will Jonas wissen, während er mir an der Garderobe meinen Mantel zum Hineinschlüpfen hinhält, doch ich bin so mit dieser Sensation beschäftigt, dass ich dringend allein sein möchte.

Wir verabschieden uns knapp, was er noch sagt, kriege ich gar nicht mehr mit.

 

 

 

 

 

Ich kann sie nicht verraten!

Oder doch?

Immerhin ist auch Stefan mein Freund. Ich kann ihn schließlich nicht belügen!

Und vielleicht, … mit viel Glück, wäre er dann frei …

Nein, stopp! So was kann ich nicht ernsthaft denken! Nur die mieseste Heuchlerin aller Zeiten würde diese Situation ausnutzen!

Bin ich wirklich so tief gesunken, dass ich diesen Plan wahrhaftig in Erwägung ziehe?

Wie soll ich mir dann noch im Spiegel in die Augen schauen?

Aber ist das wirklich wichtig, wenn ich stattdessen in Stefans Augen sehen kann? In die Augen meines Freundes, der er dann hoffentlich sein würde?

Der Schlagabtausch in meinem Kopf hält mich die ganze Nacht wach und auch am nächsten Tag kann ich bei der Arbeit an nichts anderes denken.

Bei der Übergabe zum Schichtwechsel heute Morgen hat die Neuigkeit die Runde gemacht, dass Herr Pielkofer einen Herzinfarkt hatte. Man konnte ihn erfolgreich wiederbeleben und er liegt jetzt auf der Intensivstation.

Trotz der erfreulichen Nachricht haben die Patienten auf der Station den Schock noch nicht verarbeitet und benehmen sich etwas apathisch, weshalb genug Raum für mein Kopfkarussell bleibt. Sogar Herr Reichel ist ziemlich sprachlos und bisher habe ich noch nichts von einer Beschwerde bei der Geschäftsleitung gehört. Vielleicht hat ihn die Nahtoderfahrung ja kuriert …

Bea löchert mich, wie das Date gestern Abend war. Ich behalte für mich, wen ich tatsächlich getroffen habe und speise sie mit einer meiner üblichen Fluchtgeschichten ab, die sie so gerne hört und mir quasi ungesehen abkauft. Jonas selbst treffe ich nur bei der Visite. Er grüßt mich professionell vor den vier anderen Ärzten und den beiden PJlern, sowie Bea. Nichts lässt darauf schließen, dass er gestern völlig unverhofft mein Blind-Date gewesen ist und ich seins.

Innerlich gönne ich mir ein Achselzucken. Ich hatte ja auch nicht viel erwartet.

Und ich habe genug, worüber ich mir den Kopf zerbrechen muss.

Sobald ich Zeit finde, statte ich dem gebeutelten Herrn Pielkofer einen Besuch ab. Er liegt in einem Vierbettzimmer auf Intensiv, wo alle Räume hell und groß gestaltet sind, damit die Patienten bei längeren Aufenthalten nicht durchdrehen und es genügend Platz für allerhand Gerätschaften gibt.

Das Antlitz des älteren Herrn ist fahl und eingefallen, nun wirkt er beinahe mager. In seinen dünnen Ärmchen stecken überall Schläuche, der Blasebalg der Beatmungsmaschine schiebt sich in beruhigendem Rhythmus auf und ab. Ich ziehe mir einen Stuhl heran, um mich neben sein Bett zu setzen und seine Hand ergreifen zu können. Meine andere lege ich auf seine Schulter und drücke sanft zu. Ich weiß, er spürt es.

Während ich ihn voller Wärme betrachte, bildet sich ein Kloß in meinem Hals. Szenen schieben sich vor meine Augen, doch ich will dieses bedrückende Gefühl von damals, als Bertram gestorben ist, nicht in dieses Zimmer, nicht in diesen Moment lassen. Das hier ist etwas anderes.

„Sie müssen bald zu sich kommen, Herr Pielkofer“, flüstere ich ihm rau zu. „Ihre Familie vermisst sie, bestimmt auch ihr wunderbarer Enkelsohn. Und uns auf der Urologischen fehlen sie auch. Wer soll mir denn jetzt Rückendeckung geben, wenn ich Herrn Reichel zurechtstutze?“

Ich erzähle ihm noch ein bisschen von dem Alltag auf der Station und obwohl mein Herz schwer ist, fühle auch ich mich getröstet, als ich dem Patienten Zuwendung gebe. Für diese paar gestohlenen Minuten finde ich ein wenig Ruhe vor meinen Sorgen, doch das will nicht lange vorhalten.

In der Pause sehe ich, dass Stefan und Tina jeweils zwei Mal angerufen haben, vermutlich um mich über mein Date auszuquetschen und herauszufinden, wer denn die ersten Punkte einsacken konnte. Sofort ist die Entspannung verschwunden. Bei der Vorstellung, mit einem von beiden zu sprechen, sträuben sich mir die Haare.

Was für eine beschissene Lage!

Ich fühle mich, als hätte ich ein Teufelchen auf der linken und ein Engelchen auf der rechten Schulter. Beide wetteifern lautstark darüber, wie ich mich verhalten soll. Das Teufelchen muss aber eigentlich gar nichts anderes tun, als meine Gedanken anzufeuern.

Ja, sorg‘ dafür, dass er es erfährt! Aber am besten so, dass keiner mitkriegt, dass du dafür verantwortlich bist. Hinterher wird er sich dann bei dir ausheulen und du kannst ihm die ahnungslose, ebenfalls getäuschte Freundin vorheucheln, die ihn tröstet.

Das Engelchen ist dagegen der Meinung, dass die wohl anständigste Lösung wäre, Tina darauf anzusprechen und ihr ein Ultimatum zu stellen, damit sie die Gelegenheit bekommt, es Stefan selbst zu beichten. Vielleicht würden sie dann trotzdem Schluss machen, fantasierte ich hoffnungsvoll und gleichzeitig angeekelt von mir selbst.

 

 

Abends liege ich immer noch verwirrt und hin und hergerissen in der Wanne. Als das Telefon klingelt, nehme ich an, dass es sowieso bloß meine Mutter ist und gehe dran, ohne vorher auf den Display zu schauen.

„Verdammt, Henni! Wieso gehst du nicht an dein Handy??? Kannst du dir nicht denken, dass wir uns Sorgen gemacht haben?“

Tina.

Fuck.

„Hi…“
„Hi mich nicht! Ich bin sauer. Ich dachte schon, dass du an irgendeinen Irren geraten bist, der dich verschleppt und vergewaltigt hat. Ich habe bereits mit einem Anruf aus dem Leichenschauhaus gerechnet.“

Typisch Tina, die Drama-Queen. Immer gleich den Teufel an die Wand malen. „Wie du siehst, lebe ich noch.“ Und ich will wirklich nicht mit ihr reden. Unglücklich rüge ich mir dafür, abgenommen zu haben.

„Ganz ehrlich, Henni, manchmal frage ich mich, wo du deinen Kopf hast. Denkst du auch mal an andere?“

Bitte??? Ich denke pausenlos an andere. Vor allem an eine bestimmte Person, wobei ich momentan hauptsächlich mit Tina beschäftigt bin, doch davon ahnt sie nichts. Ich murre nur und sie fällt weiter über mich her.

„Wegen dir habe ich die ganze Nacht wach gelegen und mich gefragt, ob man dich schon im Grunewald verscharrt hat.“

Wach gelegen hast du sicher…

„Nächstes Mal musst du mir unbedingt ein Foto von deinem Outfit schicken, damit ich der Polizei sagen kann, was du anhast, wenn sie nach dir suchen.“

Meine Fresse, kann Tina nerven! Ihre Vorwürfe finde ich nicht so schmeichelhaft, wie ich sie gestern noch gefunden hätte. Da hätte ich Nachsicht gehabt. Mir gesagt, dass sie mich nur beschützen will. Das mache ich jetzt auch, nur kann ich es nicht mehr glauben.

Tina belügt Stefan. Und mich auch. Wo sie doch so tut, als wären wir die allerbesten Freundinnen und sich bei jeder Gelegenheit in mein Leben einmischt. Hauptsächlich zu ihrer Belustigung.

Mit einem Mal steigt wieder dieses Nase-voll-Gefühl von Vorgestern in mir auf. Ich muss sie schnellstens loswerden, bevor ich sie in den Boden stampfe wie Herrn Reichel. „Tina, ich bin wirklich müde…“

„Wem sagst du das! Frag‘ mich mal!“

„Hör‘ zu, es tut mir leid, wenn…“
„Das sollte es auch! Stefan hat sich auch Sorgen gemacht. Er war kurz davor, einen Suchtrupp aufzustellen.“

Gegen meinen Willen setzt mein Herz aus. „Das ist nett von ihm… euch. Das ist nett von euch.“

„Und wie war jetzt dein Date?“, bohrt sie nach, als wäre nichts gewesen.

Ich tische ihr dieselbe Geschichte wie Bea auf und da ich keine Freundin von Experimenten bin, zweifelt auch sie nicht an meiner Version des Abends. Sie ist nur enttäuscht, weil keiner von uns dabei punkten konnte. Ich stimme ihr einsilbig zu. Dass ich kurz angebunden bin, kriegt sie jedoch in den falschen Hals.

„Weißt du Henni, es hilft überhaupt nichts, Trübsal zu blasen. Du solltest endlich in die Pötte kommen und ein Date zu Ende bringen. Du bist ja wie die Braut, die sich nicht traut, nur mit Dates.“

Wenn wir schon von Richard-Gere-Streifen sprechen, in welchem spielst du denn mit, Tina? Vielleicht in Untreu? Wie passend, dass Diane Lane im Film ebenfalls eine große, schlanke Blondine verkörpert. Ich bezweifle allerdings, dass Stefan als gehörnter Ehemann zum mordenden Psychopathen werden würde.

„Ich werde das jetzt in die Hand nehmen und Stefan bitten, jemanden für dich auszusuchen.“

„Was???“

„Vertrau mir! Wir kümmern uns um alles. Aber du musst dann bis zum Ende bleiben, sonst gibt’s Ärger!“, droht sie ernst.

„Tina?! Nein! Du…

„Und wenn du dieses grüne Kleid trägst, erschlage ich dich höchstpersönlich.“

„Tina, ich warne dich…

„Bis dahaaan!“ Tut, tut, tut.

Wütend schleudere ich das Telefon auf den Wäschehaufen.

Blöde Tina! Mischt sich ständig in mein Leben und meint, sie könne über mich bestimmen. Noch dazu tut sie so gönnerhaft, als hätte sie die Weisheit mit Löffeln gefressen und ich sei eine armselige Bittstellerin, die von tuten und blasen keine Ahnung hat und die dringend Führung braucht. Ich habe es so satt, mich von ihr bevormunden zu lassen. Und überhaupt hat sie meinen Respekt gar nicht mehr verdient. Und Stefan verdient sie auch nicht mehr.

Warum sollte ich mich auch nur einen Funken darum sorgen, was sie will, wenn sie es umgekehrt auch nicht tut?

 

 

Kapitel 14

 

Mit Trenchcoat, Kapuzenpulli und Sonnenbrille bewaffnet, befinde ich mich auf der Pirsch.

Der eisige Februarwind pfeift mir dennoch bis auf die Knochen, weil ich schon eine Weile vor dem Bürogebäude von Tinas Spedition auf der Lauer liege.

Es ist bereits seit ein paar Stunden dunkel. Dank eines kurzen Telefonats weiß ich sicher, dass sie noch zugegen ist. Aber wahrscheinlich nicht mehr lange. Stefan und mir hat sie gesagt, dass sie mal wieder länger arbeiten muss, doch wie ich jetzt weiß, hat auch Tina so einige Ausreden parat. Wir sind wohl beide wenig ehrlich mit einander, muss ich mir eingestehen.

Mein Plan nimmt immer mehr Form an. Dazu brauche ich allerdings viel mehr Informationen, wie Jonas auch schon sehr richtig festgestellt hat, weshalb ich mich zu dieser kleinen Spionage-Aktion entschlossen habe. 

Da verlässt eine hochgewachsene Blondine das Gebäude und stöckelt den Bürgersteig entlang zur nächsten U-Bahn-Station. Sogleich hefte mich an ihre Fersen, wobei ich auf genügend Abstand achte. In dem Bahnwagon ist das nicht so leicht wie gedacht.

Verstohlen drücke ich mich hinter einen dicklichen Mann, der mir schon bald irritierte Blicke zu wirft. Die Sonnenbrille scheint ihn zu fesseln, passt sie so gar nicht in diese düster-kalte Winternacht. Ich kann es mir gerade nicht leisten von ihm abzurücken und so wechselt seine Miene nach ein paar Stationen von argwöhnisch zu anzüglich.

„Brauchst du was Bestimmtes?“, fragt er und es bildet sich ein Doppelkinn, während er zurückhaltend zu mir herab lächelt.

Ich schüttle nur den Kopf, zu mehr komme ich nicht, denn in diesem Augenblick halten wir in Prenzlauer Berg und Tina verlässt die U-Bahn. Schnell quetsche ich mich an meinem zeitweiligen Schutzschild vorbei, murmle irgendwelche Entschuldigungen und sehe mich draußen schnell nach meiner Freundin um.

Ich entdecke sie, als sie bereits eine Treppe hinunter läuft und haste ihr mit großen Schritten hinterher. Zielgenau führt sie mich durch die hiesigen Straßen, wobei sie sich ziemlich sicher zu fühlen scheint. Sie schaut sich kein einziges Mal um. Nichtsdestotrotz lasse ich Vorsicht walten, nutze jede Deckung, die ich kriegen kann und komme mir dabei äußerst professionell vor.

Nach etwa fünf Minuten biegt Tina ab und geht durch einen kleinen Durchgang in einen Hinterhof. Als ich den von zwei gegenüberliegenden, u-förmigen Häusern umschlossenen Platz erreiche, verschwindet sie gerade im Eingang des rechten Gebäudes.

Durch die Fenster zum Treppenhaus kann ich beobachten, dass sie bis in den dritten Stock hinaufsteigt und dort eine Wohnung betritt - die des Unbekannten von gestern Abend?

Ich drücke mich in den Schatten der gegenüberliegenden Haustür und starre gebannt zu den hell erleuchteten Fenstern hinauf, hinter denen sich eine pikante Affäre abspielen dürfte. Plötzlich wird das Licht da oben schwächer und beginnt dann die Farben zu wechseln. Erst ein grelles Grün, dann ein lumineszentes Blau, kurz darauf ein verruchtes Rot.

Was zum Teufel geht da drin vor? Besucht Tina etwa einen dieser berüchtigten Wohnzimmer-Swinger-Clubs? Oder gar einen Puff?

Wenn ich doch nur …

„Das gibt’s einfach nicht!“

Erschrocken zucke ich zusammen und fahre herum. Schon wieder diese tiefe Stimme mit dem schelmischen Unterton!

„Jonas! Was zum Teufel…“, entfährt es mir, als ich ihn im Durchgang entdecke, wo er mit zwei Einkauftüten in den Händen wie versteinert stehen bleibt.

„Verfolgst du mich etwa?“, fragen wir zur selben Zeit und beide gleichermaßen verwirrt.

„Nein! Ich verfolge Tina!“

„Quatsch! Ich wohne hier!“

Wir haben erneut gemeinsam geantwortet, diesmal er wie ich empört, aufgrund des gegenseitigen Vorwurfes. Er zeigt außerdem auf die schwere Holztür in meinem Rücken, während ich auf das Wohnhaus vor uns deute.

Jetzt müssen wir gleichzeitig lachen.

„Bist du unter die Privatdetektive gegangen?“ Sein Blick huscht über meine Kostümierung und er zieht die Augenbrauen in die Höhe. Unwillkürlich greife ich an den Kragen des Trenchcoats und raffe beide Seiten zusammen.

„Ich wollte unauffällig sein“, erkläre ich ein wenig gekränkt.

„Ha. Die Mission ist eindeutig misslungen, Einhorn. Wenn du die Sonnenbrille gegen einen Hut tauschst, könnte man dich glatt für Columbo halten.“

„Charmant“, gebe ich bissig zurück und frage mich, warum er plötzlich so gesellig ist, während er doch heute bei der Arbeit wie schon am Tag zuvor distanziert war. Nichts hätte verraten, dass wir uns je privat getroffen haben und nun tut er wieder so, als wären wir alte Kumpels. Ich werde aus ihm einfach nicht schlau.

Da fällt mir etwas ein … „Jonas? Du wohnst nicht zufällig im dritten Stock und hast ein Fenster zum Innenhof?“

Er grinst beinahe im Kreis und hat schon wieder diesen wissenden Gesichtsausdruck drauf. „Du hast wirklich Schwein, Einhorn. Dann komm‘ mal rein. Aber ich warne dich, da oben herrscht das Chaos. Ich züchte verschiedene Bakterienkulturen auf der Pizza und dem Chop Suey von letzter Woche. Die Kakerlaken räumen regelmäßig die Sauerei auf.“

„Was?!“

 

Das war sicher ein Witz … Ja, ganz bestimmt, rede ich mir ein, während ich ihm eine breite Treppe hinauf folge. Die Etagen liegen außergewöhnlich weit auseinander, es muss sich um einen renovierten Altbau handeln. Wir halten tatsächlich im dritten Stock vor einer weiß gestrichenen Tür und Jonas schließt mit klimperndem Schlüsselbund auf.

Todesmutig stelle ich mich Jonas‘ angeblichem Rattenloch und trete vorsichtig über die Schwelle. Bei dem Gedanken an das Ungeziefer kribbelt es überall auf meinem Körper und ich schätze mich weiß Gott glücklich, dass ich schon des Berufs wegen gegen Hepatitis B geimpft bin.

Schnell scanne ich die Umgebung und atme erleichtert auf – es war ein Witz, dem Himmel sei Dank. Beinah hätte ich mich bekreuzigt.

Ein kurzer Flur, der direkt in einen einzigen großen Wohnraum mündet. Links befindet sich die Kochnische, rechts ein frisch gemachtes Bett, in der Mitte des Raumes steht eine breite Sofagarnitur und direkt voraus befindet sich eine Front aus drei traumhaften, beinahe bodentiefen Fenstern, durch die man eine fabelhafte Sicht auf das gegenüberliegende Haus hat. Einfach perfekt – vor allem, weil tatsächlich nirgends Essensreste oder ekliges Viechzeug zu sehen sind.

Für die knapp bemessene Größe des Apartments ist es hübsch eingerichtet. Mit dem spiegelnden Kirschholzparkett und den wenigen Fünfzigerjahre-Möbeln gehört der Stil aber eher in die Kategorie „Minimalistisch“. Alles spricht dafür, dass ein Junggeselle die Bude eingerichtet hat. Eine Frau hätte wenigstens ein paar Bilder aufgehängt und dekorative Pflanzen verteilt. Stattdessen gähnende Leere an den weißen Wänden, keinerlei Grünzeug.

Jonas hat also nicht gelogen. Er ist nicht mehr verheiratet.

Um den empfindlichen Boden zu schonen, streife ich meine Winterstiefel ab und gehe auf Socken langsam vorwärts.

„Ich schätze, du kannst den Mantel ablegen… Außer natürlich, du fürchtest hier drin ungebetene Beobachter“, ruft Jonas und kommt mir dann hinterher.

„Wenn die von drüben rüber schauen …“
„Dann wirkt es bestimmt total unauffällig, wenn ein vermummter Columbo in ihr Wohnzimmer stiert“, unterbindet er meinen Einwand mit albernem Kichern und trägt seine Einkäufe zum Kühlschrank. Gemüse, Käse und Fleisch werden verstaut.

„Meinst du, das hier wäre auch zu auffällig?“ Ich ziehe mein mitgebrachtes Opernglas aus der Manteltasche und zeige es ihm. Obwohl ich es vollkommen ernst gemeint habe, bricht er bei dem Anblick ohne Umschweife in schallendes Gelächter aus. Das geht so, bis er sich an der Küchentheke festhalten muss, um nicht umzufallen.

„Also so witzig ist das nun auch wieder nicht “, murre ich beleidigt.

„Nimmt man bei solchen Gelegenheiten nicht normalerweise Ferngläser?“, japst er atemlos und wischt sich über die Stirn.

„Ich besitze kein Fernglas. Sowas haben nur Vogelbeobachter oder Stalker.“

„Du hast vollkommen Recht. Weder die eine noch die andere Bezeichnung passt auf dich. Und ein Opernglas würden die auch niemals verwenden.“
Meine Rede! Das soll auch meine Miene vermitteln, woraufhin Jonas nur den Kopf schüttelt und aufs Sofa zeigt. „Setz‘ dich. Von dort aus kannst du den Nachbarn ungestört nachstellen.“

Ich mache es mir in voller Montur bequem und lehne mich neugierig vor. Den Ort des Verbrechens finde ich ohne große Mühe wieder. Hauptsächlich, weil das Puff-Licht kaum zu übersehen ist. Wie eine flackernde Leuchtreklame, die schrill verkündet: „Hier hat jemand Sex! Hier hat jemand Seheeex!“ Und das entweder unglaublich häufig oder gar gewerbsmäßig.

Weder das eine noch das andere kann ich mir bei Tina vorstellen. Die Büro-Tina, die strenge Kostüme trägt. Die zu Hause-Tina, die mit einem klar strukturierten und nicht im mindesten an zwielichtigen Zeitgenossen interessierten Anwalt liiert ist. Die Freundin-Tina, die mir unermüdlich erklärt, wie die Welt funktioniert und die zudem auf alle Fragen eine Antwort zu haben scheint … Was sie wohl zu meiner Entdeckung sagen würde?

„Klar gehe ich in einen Swinger-Club. Ist das Beste, um den Stress von der Arbeit abzubauen. Der neuste Schrei, sage ich dir! Solltest du auch mal ausprobieren, dann wärst du für den Ernstfall gerüstet. Ganz ehrlich, du musst dir ein paar Fähigkeiten aneignen, wenn du einen Typen schon nicht mit anderen Argumenten von dir überzeugen kannst. Stimmt’s, Schatz?“

Mich beruhigt nur, dass Stefan diese Logik mit seinem messerscharfen Verstand sicher durchschauen würde. Hoffentlich.

Angestrengt starre ich auf die blau-grün-roten Fenster und versuche jenseits der zum Teil spiegelnden Glasflächen etwas zu erkennen. Irgendwie bin ich total nervös und das nicht, weil ich mich vor Entdeckung fürchte.

Wenig später mache ich die Schatten von zwei Körpern ausfindig. Leider kann ich nicht genau sehen, was da vor sich geht.

Da lässt Jonas sich neben mich auf die Couch fallen. Ich habe ihn vor lauter Konzentration gar nicht gehört. Er hält mir eine riesen Schüssel unter die Nase, in der es raschelt und von der ein süßlicher Geruch aufsteigt.

„Popcorn?“, frage ich erstaunt.

„Klar Popcorn. Gibt nichts Besseres für einen entspannten Kinobesuch.“ Sein spöttisches Lächeln stößt mir übel auf.

„Das ist keine Filmvorführung sondern eine Observation. Ich bin nicht zum Spaß hier.“

„Schade. Wo unser zweites Date doch so vielversprechend angefangen hat“, versetzt er mit ironischem Tonfall.

„Ja, ja. Zieh mich nur ins lächerliche. Dabei war das schließlich deine Idee!“

„Meine Idee?!“ Die Schüssel hängt vergessen zwischen uns in der Luft und er mustert mich entgeistert.

„Du meintest doch, ich soll herausfinden, ob Tina in den anderen Kerl verschossen ist.“

„Schon mal was von einer gepflegten Konversation gehört?“

„Dann hätte sie doch gewusst, dass ich es weiß.“

„Und das ist ein Problem, weil …?“

Weil sie dann Gelegenheit bekommt, alles zu vertuschen und ich Stefan vielleicht nie von dem überzeugen kann, was ich gesehen habe. Ich schnaube genervt und greife mit der Hand in die Schüssel. „Könntest du bitte das Licht ausmachen?“

„Jetzt schon? Ich dachte, wir fummeln erst noch ein bisschen …“

„Lässt du eigentlich gar keine Gelegenheit aus?“, fauche ich ärgerlich.

Er zuckt auf meine Erkundigung hin nur unschuldig mit den Schultern. „Du haust ständig unwiderstehliche Vorlagen raus. Wer könnte es mir da verdenken?“ Dann steht er auf und knipst die Lampen aus.  

Endlich habe ich eine klare Sicht.

 

 

 

 

 

 

Fortsetzung folgt...

 

Impressum

Texte: Tessa Grier
Bildmaterialien: Herz vektor durch Ibrandify - Freepik.com entwickelt
Tag der Veröffentlichung: 30.03.2016

Alle Rechte vorbehalten

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