Love Lost
L(i)eben ohne Navi
Lily Pomo
Mark Willreich
Was geht in uns vor auf Ü30 Partys oder bei der Begegnung mit unserem Ex? In Situationen, die jeder kennt, der über einige Jahre auf dem Marktplatz der Geschlechter unterwegs ist. Begegnungen, einmal geschildert aus der weiblichen Sicht und dann aus dem männlichen Blickwinkel. Überraschende und manchmal banale Ereignisse, die unseren Alltag durcheinanderwirbeln.
Zu den Autoren: Eine Soziologin und ein Informatiker, beide in Lebenssituationen, die neue Erfahrungen geradezu provozieren, blicken zurück und nach vorne. Beide – sonst unter ihren bürgerlichen Namen meist unterwegs in Richtung wissenschaftlicher Publikationen oder verhaftet in technischen Diskussionen – wechseln hier das Fachgebiet um Themen, mit denen wir täglich konfrontiert werden, aus einem neuen Blickwinkel zu beleuchten.
Inhalt
1. Ü30 Partys
Sie
Er
2. Liebe oder Projektionen
Sie
Er
3. Online-Dating
Sie
Er
4. Manipulieren und manipuliert werden
Sie
Er
5. Selbstoptimierung
Sie
Er
Sie
Ich bin zweieinhalb Jahre in der Stadt, als ich das erste Mal zu einer Ü30 Party gehe. Zweieinhalb Jahre zuvor saß ich gemeinsam mit den beiden russischen Umzugshelfern in ihrem Auto, das mich mit meinen Sachen weg aus dem Dorf bringt. Hierher in die Stadt. Die Kinder sind bei ihren Großeltern und kommen später nach. Weg aus einer 11-jährigen Beziehung mit dem Mann meines Lebens, wie ich damals dachte und auch heute immer noch denke. Immer verzweifelter und aussichtsloser hatte ich den letzten 6 Jahre um wenigstens noch Respekt füreinander gekämpft. Als er beschließt, noch weiter weg von jeglichem Stadtleben, als wir in dem Dorf ohnehin schon waren, in der Pampa sein eigenes Haus zu bauen, weiß ich, dass ich gehen muss. Und ich weiß, ich werde nicht zurückblicken und nie wieder zurückkehren.
Seit meinem Weggehen bin ich damit beschäftigt gewesen, mir in der Stadt neue Strukturen aufzubauen, gute Kontakte zu den Nachbarinnen, zu den Eltern, zu den Lehrern, zu meinen neuen Kolleginnen und den wechselnden Chefinnen. Bis auf die Chefinnen ist das einfacher als erwartet. Anders als auf dem Dorf definieren sich die Frauen hier nicht darüber, dass sie niemanden brauchen, um das große Haus zu managen, den Haushalt zu schmeißen, die Kinder zu hüten und nebenbei ein bisschen Geld zum Familieneinkommen dazu zu verdienen. Die Frauen in der Stadt gehen arbeiten, sie wissen, dass sie auf funktionierende Netzwerke angewiesen sind, um den bis auf die Minute geplanten täglichen Ablauf zu managen. Man hilft sich. Männer nehme ich in dieser Zeit gar nicht wahr. Zweimal stelle ich mich bei demselben Nachbarn vor, einem anderen lasse ich die Haustür vor der Nase zufallen, weil ich nicht erkenne, dass das der Mann der Nachbarin im zweiten Stockwerk ist. Mit den Chefinnen auszukommen ist schwieriger. Die erste verlängert meinen Vertrag nicht, als sie von der Trennung erfährt. Als alleinerziehende Mama bin ich nicht mehr flexibel und kann nicht mehr ständig ins Ausland reisen, um sie auf den ihr verhassten Projekttreffen zu vertreten. Ich verliere also meine befristete Halbtagsstelle ohne nennenswerte Karriereperspektiven und damit meine einzige berufliche und finanzielle Sicherheit. Zum Glück bringt mich eine Kollegin aus der Verwaltung an einem anderen Lehrstuhl unter, der gerade ohne Professur in der Luft hängt. Zusätzlich zu diesem Glücksfall auch noch in meiner Lieblingsdisziplin mit drei richtig netten Kollegen, Außenseitern, so wie ich.
In dieser ganzen Zeit bin ich nicht einsam. Nur wenn ich mit den Kindern allein am Wochenende bin, fehlen mir die vertrauten Strukturen. Gemeinsam mit einem Partner und den Kindern und den gemeinsamen Freunden und deren Kindern Wochenende und Feiertage im Trubel zu verbringen. Eine Freundin erzählt mir von einer lokalen Internetbörse, wo man sich neben den üblichen Dates vor allem für Freizeitaktivitäten verabreden kann. Ich lerne viele nette Singles dort kennen, Männer und Frauen, die ich auch heute noch in meinem Freundeskreis habe. Bei einem Kino-„Event“ fällt mir zum ersten Mal wieder ein Mann auf. Wir reden über Musik, die Stadt, unsere Erfahrungen als Single und das verbindet uns. An unserem ersten Abend ohne die anderen, zu zweit in einem Independent Club küsst er mich und ich denke, wow, der hat sich aber schnell verliebt, der kennt mich doch noch gar nicht richtig. Das ist die erste Fehleinschätzung in Sachen Dating nach dem Ende meiner letzten Beziehung. Ich habe noch keine Ahnung von dem Ausmaß, in dem sich Dating in der Zwischenzeit verändert hat. Ich bin grenzenlos naiv. Nach all den Jahren meiner letzten schwierigen Beziehung, deren Ende und der Phase danach im Beziehungsniemandsland, spüre ich wieder Schmetterlinge. Und die überrollen mich so unerwartet, dass meine Gefühle verrücktspielen. Trotzdem ist es eine oberflächliche Beziehung, wir treffen uns selten während dieser kurzen Zeit und er hält mich auf Distanz. Er erwähnt, dass er zu Ü30 Partys geht und ich mache mich darüber lustig. Es gibt so viele Klischees über Leute, die dort hingehen, ihr Aussehen und den Grad ihrer Verzweiflung und ich glaube alle davon. Er ist verletzt, dass ich mich über ihn und seine Ü30 Partys lustig mache. Unsere kurze Affäre endet, als er bei einem Treffen mit einem roten Schirm auftaucht. Ich vermute, dass es da irgendwo noch eine Frau gibt und werde misstrauisch. Mir fällt auf, dass er immer mit zu mir will. Wir gehen nie zu ihm, was mich bis dahin nie gestört hat, da er ein Haus am Rande der Stadt hat, und das hatte ich lange genug. Und so lerne ich meine erste Lektion: Ein Mann, der dich nicht mit zu sich nimmt, hat dafür gute Gründe. Später ertappe ich ihn bei einer Lüge und melde mich nicht mehr bei ihm. Aber ich beschließe, irgendwann bei genau einer dieser Ü30 Partys aufzutauchen und dabei gut auszusehen.
Drei Monate später ist es soweit. Mit vier anderen Singles, die ich bei den Treffen der Plattform kennengelernt habe und die ich mag, gehe ich mit zu einer Ü30 Party. Wir treffen uns vorher in einer Bar und die Chemie zwischen uns stimmt. Wir albern rum wie Teenies und ärgern Jens, der behauptet, er sei erst 35. Er beruhigt sich erst wieder, als wir ihn überzeugen können, dass wir ihm glauben. Auf dem Weg zur Ü30 müssen wir die U-Bahn nehmen und es ist grausam, uns alle in diesem grellen Licht zu sehen. Egal, wir sind ja erst 35. Das Ü30 Gelände ist eine riesige Lagerhalle, unterteilt in mehrere Räume, Etagen und einen großen Außenbereich, in dem die Leute am Geländer lehnen, rauchen und die anderen beobachten. Es ist richtig groß und es ist voll und laut. Wir Frauen werden gleich belagert von wildfremden Männern, die einen anquatschen mit merkwürdigen Sprüchen, wie etwa „Ich weiß noch nicht was, aber ich weiß, wir zwei sollten heute unbedingt noch was gemeinsam machen.“ Dann sehe ich den Mann, wegen dem ich hier bin. Er bemerkt mich und scheint überrascht. Ich laufe an ihm vorbei und ignoriere ihn. Alles läuft wie geplant.
In den meisten Räumen ist die Musik eine Qual, aber dann finde ich ein kleines Café mit Elektromucke. Hier bleibe ich, allein ohne die anderen, die in der großen Halle bei den Hits der 80er und 90er sind. Am anderen Ende der Tanzfläche steht ein Mann, ein schicker in einem weißen Hemd und er schaut zu mir. Ich wundere mich erst, denn solche Schnösel stehen sonst gar nicht auf mich, aber dann wird mir klar, das liegt an meiner neuen Haarfarbe, die zieht die ganzen Managertypen an und die Prolls. Ich werde von einem anderen Mann belagert und verschwinde deshalb erst mal zu den andern. Als ich kurz später zurückkomme, steht der schicke Mann im weißen Hemd immer noch dort. Er spricht mich an: „Na, da biste ja wieder.“ Wir reden. Er heißt Chris. Er lotst mich weg von der Tanzfläche und bestellt uns was zu trinken und küsst mich. Ich muss erst lachen und finde ihn peinlich. Aber er küsst gut und macht alles richtig, mit dem, was er sagt und wie er mir näherkommt. Und außerdem beobachtet uns der Mann, wegen dem ich hier bin. Also lasse ich los und mich auf Chris’ Spielchen ein. Es fühlt sich gut an und wir knutschen und quatschen und tasten uns ab. Er ist Manager für irgendwas und viel im Ausland unterwegs, kommt gerade aus China zurück. „Ich bin ja eher so konservativ“, sagt Chris und ich frage mich, was das jetzt bedeutet. Schläft er erst mit mir, wenn wir verheiratet sind und oder muss ich eine Perlenkette tragen? Ich sage ihm auf den Kopf zu: „Du bist verheiratet, mit so ner kleinen Chinesin.“ Aber er lacht und ich suche nach einem Ehering, an seiner Hand und in seinen Hosentaschen aber finde keinen. Wir albern weiter rum und dann will ich ihm meine Freunde vorstellen. Auf dem Weg zu ihnen kommen uns die Typen mit den komischen Sprüchen entgegen, einer zieht mich einfach zu sich, hebt mich hoch und fragt mich: „Na, bist du dir sicher, dass du dir jetzt den besten ausgesucht hast?“, Chris kriegt große Augen und schaut mich an, deshalb sage ich: „Na klar, den allerbesten“ und der Typ lässt mich wieder runter. Chris nimmt meine Hand und zieht mich weg. Wir tanzen ganz eng und ich fühle mich zu ihm hingezogen. Als er merkt, dass ich nach Hause will, fragt er: „Und wie geht‘s jetzt weiter?“. Um ihn zu testen und zu erfahren, ob er eine Frau zu Hause hat, sag ich: „Na, wir gehen zu dir“. Erst versucht er sich rauszureden, da wären schon seine ganzen Freunde, aber dann sagt er: „Na gut, wird schon gehen.“ Und ich denke, diesmal hab ich alles richtig gemacht, richtige Strategie und er hat wohl keine andere und sage: „Ach nee, lass mal, ist vielleicht doch keine so gute Idee.“ Er scheint erleichtert und will noch meine Telefonnummer. Ich gehe und ich hab ein gutes Gefühl. Ich denke, diesmal war ich vorsichtig genug.
Ich hätte nicht falscher liegen können und bin noch immer grenzenlos naiv. Chris ist heute noch verheiratet. Er wird der wichtigste Mann in meiner langen Phase als Single. Wie hätte ich das wissen sollen. Als ich es dann weiß und aus dieser Nicht-Beziehung raus will, gehe ich wieder mit zu einer Ü30 Party. Ich habe ein Minikleid an, vorn mit Ledereinsatz, das Chris bei unserem zweiten Treffen so gut gefiel. Wir stehen draußen am Geländer, ich lecke ein bisschen an den Bali-Zigaretten mit Zimt, die ich bei meinem Auszug aus dem Dorf einfach mitgenommen habe. Die Männer stehen in Zweierreihen um mich und meine Freundin Nadja, um mit uns zu flirten. Nadja ist ein komplett anderer Typ als ich. Sie hat lange dunkle Haare, ganz blaue Augen, eine Adlernase und ist extrem schlank. Ein Mann, der an ihr nicht vorbei zu mir kommt, macht eine fiese Bemerkung über ihre Nase. Sie versteht es zum Glück nicht, aber ich. Ich bin erschrocken und mir wird klar, dass die Aufmerksamkeiten von vielen Männern, ihre Nettigkeiten und wie sie sich um Frauen bemühen, zu einem großen Teil davon abhängen, wie attraktiv sie Frauen finden. Diese Nettigkeiten können im selben Moment in Grausamkeiten und Abwertungen kippen, wenn die Frauen irgendwelchen äußerlichen Vorlieben nicht entsprechen. Diese Einsicht erschreckt mich und macht mich vorsichtiger gegenüber Männern, die ich beim Weggehen kennen lernen und die mich wegen meines Äußeren angraben. In dem Moment jedoch motze ich zurück und ziehe Nadja weg auf die Tanzfläche. Wir lernen noch viele andere Leute kennen (und Nadja den Mann, mit dem sie immer noch zusammen ist) und es ist ein schöner Abend. Irgendwann merke ich, dass ein Mann immer wieder in meiner Nähe auftaucht. Er ist auffallend schön, irgendwie elegant und hat Stil. Er hat ein Jackett an und gute Schuhe, er ist groß und er fällt auf. Als er sieht, dass ich ihn bemerke, kommt er zu mir und spricht mich an. Wir tanzen, er berührt mich und wir gehen raus, quatschen noch mit den anderen. Dann küsst er mich. Das kenn ich ja inzwischen schon, und weiß, das bedeutet erst mal gar nichts. Aber es fühlt sich gut und ich frage ihn aus. Und er mich, und er zieht mich damit auf, dass ich aus dem Osten bin. Bereitwillig erzählt er dann von sich. Das, was ich hören will. Er hat Kinder und eine Ehefrau, von der er sich getrennt hat. Aber die leben in einer anderen Stadt und er hat seine eigene Wohnung hier. Das scheint zu stimmen, denn er will mich mit zu sich nehmen. Mehr muss ich erst mal nicht wissen und ich sage. „Nee, heute nicht, ich habe nen Babysitter zu Hause.“ Das ist gelogen, die Kinder sind gar nicht da. Er will meine Telefonnummer und ich denke mir einen Namen aus, der zu einer Frau aus dem Osten und auf einer Ü30 passt. „Sandy“, sage ich: „aber mit C“. Candy also. Passt doch.
Den Ü30 Partys bleibe ich noch lange treu, sie sind mein Spiel- und Lernfeld in Sachen Männer und Beziehungen.
Er
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Cover: Photo by Renee Fisher on Unsplash
Tag der Veröffentlichung: 08.01.2020
ISBN: 978-3-7487-2560-2
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