Er saß an seinem Schreibtisch und hielt das kleine Stück Metall in seiner Hand. Es war diese kleine Blechkappe, die am Anfang eines Zentimetermaßes die 1 verdeckte, um dafür zu sorgen, daß die Kante nicht ausfranste.
Der Rest des Bandes war weg, Zentimeter für Zentimeter, Tag für Tag, nach dem Abtrennen im Papierkorb entsorgt.
Vor hundert Tagen hatte er damit begonnen und mit jedem Schnitt an jedem Morgen kam er dem Tag näher, seinem Tag.
Und der war nun gekommen.
Sein letzter Arbeitstag!
Er hatte nun über vierzig Jahre Büro hinter sich. Vierzig Jahre war er jeden Morgen zur selben Zeit aufgestanden, hatte sich fertig gemacht, war zu Arbeit gefahren.
Am Anfang noch mit dem Fahrrad, über den Käfer bis zur S-Klasse.
Vierzig Jahre hatte er Behördenchefs kommen und gehen sehen, hatte mal Spaß an seiner Arbeit und andere Male nicht.
Er war kein Überflieger, aber fleißig, und so hatte er sich durch zwei Laufbahnen hindurch bis zum Amtsrat durchgearbeitet.
Drei Kinder hatte er mit seiner Frau großgezogen, die für seinen Beruf keinerlei Achtung zeigten, der sie aber bis zum Abitur führte und seiner Ältesten sogar das Studium ermöglicht hatte.
Ja, er war zufrieden, zufrieden mit seinem Leben, zufrieden mit seiner Familie und zufrieden mit seinem Beruf, der für ihn nun an diesem Tage enden sollte.
Er hatte in der Kantine ein Buffet bestellt, um seinem Abschied einen würdigen Rahmen zu geben.
Die Feier wurde durch die Anwesenheit des Staatssekretärs geadelt, der brav die Worte vom Blatt ablas, die irgendein hilfreicher Geist für ihn zu Papier gebracht hatte.
Ja und dann packte er das letzte mal seine Aktentasche, packte die Abschiedsgeschenke, die er erhalten hatte, zu dem Blattkaktus, der all die Jahre mit ihm das Zimmer geteilt hatte, in den Karton, klemmte diesen unter den Arm und ging das letzte mal den Weg in die Tiefgarage zu dem Stellplatz, der an diesem Tag das letzte mal für ihn reserviert war.
Seine Frau erwartete ihn schon ganz aufgeregt. Endlich hatte sie ihn ganz für sich alleine. Nachdem die Kinder das Haus verlassen hatten, verbrachte sie ihre Tage damit, darauf zu warten, daß er abends von seiner Arbeit nach Hause kam, um mit ihr zu Abend zu essen und danach fernzusehen.
Aber nun begann ein neuer Lebensabschnitt für sie. Endlich hatten sie nur noch sich. Und als Start in diese neue Ära sollte eine Reise in den Bayerischen Wald stehen.
Sie hatten sich dort eine kleine Ferienwohnung gekauft, die sie nun so oft wie möglich nutzen wollten.
So fuhren die beiden nun das erste Mal in ihrem Leben nicht in den Urlaub, sondern in einen neuen Lebensabschnitt.
Ohne Zeitkorsett wollten und konnten sie jetzt wandern. Er hatte sich extra neue Wanderschuhe gekauft und freute sich auf den Herbst seines Lebens.
In ihrer Wohnung angekommen, packten sie ihre Koffer aus, um dann ganz gemütlich in ihre Lieblingsgaststätte einzukehren.
Sie wurden auf das Herzlichste begrüßt und zu ihrem so ersehnten Rentnerdasein beglückwünscht.
Man aß wie immer gut, und einige Obstler taten anschließend das ihrige für eine gute Verdauung.
Dann gingen sie in ihr Apartment und schlüpften in die frisch bezogenen Betten. Nach etwas Nachtlektüre wünschten sie sich eine gute Nacht und schliefen ein.
Der Schlaf war tief und fest, und als sie kurz aufwachte, bemerkte sie, daß ihr Mann das erste Mal nicht schnarchte, und sie war glücklich, daß ihm das alles so gut bekam.
Als die Sonne mit Mühe über den Berg gekrochen kam, wachte sie auf. Sollte sie ihn schon wecken? Er schlief gerne etwas länger. Andererseits mußte er ja nun auch nie mehr pünktlich aufstehen, war er doch nun vom Weckerterror befreit.
Sie kuschelte sich an ihn und wollte sich ihre Füße bei ihm wärmen, wie sie es oft tat.
Viel brachte das nicht, denn seine Füße waren kälter als die ihren.
Sie waren so kalt wie dieses kleine Stück Metall, das als Talisman auf seinem Nachttisch lag.
Das Sonnenlicht fiel durch das Fenster und hüllte das Schlafzimmer in seinen goldenen Schein.
Der Tag brach an -
ohne ihn.
Tag der Veröffentlichung: 21.07.2016
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