Ich sitze im Abteil erster Klasse des D-Zuges nach Warschau. Meine Mitreisenden sind müde, genau wie ich, es ist Sommer, und wir sind unterwegs nach Ost-Polen. Wir sind vom Internationalen Komitee des Roten Kreuzes und unser Auftrag ist die Inspektion einiger Kriegsgefangenenlager der Deutschen Wehrmacht.
Wir haben hochrangige und –dekorierte Begleitung vom Auswärtigen Amt und SS.
Das Dunkel der Nacht verwehrt uns den Blick auf das niedergeworfene Land und die gleichmäßigen Stöße der Räder des Zuges beginnen uns in einen leichten Schlaf zu wiegen, als ein Kreischen einen außerplanmäßigen Halt ankündigt.
Vereinzelt schälen sich Leuchten aus der Nacht, die einen Güterbahnhof mühsam erhellen. Wir kommen zum Stehen, und ich schaue aus dem Fenster.
Da öffnet sich unsere Abteiltür und der Schaffner teilt unserem Begleiter mit, daß wir hier außerplanmäßig halten müßten, da die Hauptstrecke blockiert sei.
Ich konnte das alles sehr gut verstehen, da meine Mutter aus Deutschland stammte, bevor sie meinen Vater in Stockholm geheiratet hatte. Kurz übersetzte ich den Sachverhalt für meine Kollegen vom IRK.
Der SS-Offizier verließ das Abteil, und kurz darauf sah ich ihn draußen einige Gleise überqueren. Da fiel mir der andere Zug auf, der einige Gleise weiter stand. Es war ein Güterzug, nur von den Bahnsteigleuchten etwas erhellt.
Im Halbdunkel sah ich nun auch, daß sich an diesem Zug Personen befanden, als würden sie dort Wache stehen. Diese Gruppe war offensichtlich das Ziel unseres Begleiters.
Ich stand auf, schob das Abteilfenster herunter und beobachtete diese nächtliche Szene.
Die Männer diskutierten und mein Blick wanderte den Güterzug entlang. Dessen Luken waren alle geschlossen. Er mußte mit wertvollen Dingen beladen sein, denn wozu diese Bewachung. Es war sicher ein Munitionstransport an die Ostfront.
An einem der Waggons fiel mir ein Schatten auf. Es sah so aus, als fehle dort eines der Bretter, die die Wand bildeten. Hinein konnte man natürlich nicht schauen, aber was jetzt passierte, ließ nur den Schluß zu, daß man von drinnen nach draußen sehen können mußte.
Mitten in die Stille erhob sich eine laute feste Männerstimme. Sie trug das Kaddisch vor, den jüdischen Totengesang. Meine Mutter hatte mir oft davon erzählt, wann und wie es in der Synagoge gesungen wurde.
In das offensichtliche Begleitkommando dieses Transportes kam Bewegung, und ich konnte sehen, wie unser SS-Offizier mit weitausladenden Gesten auf unseren Zug weisend, versuchte die Aufregung zu beruhigen.
Zieht, Gedanken, auf goldenen Flügel,
Zieht, Gedanken, ihr dürft nicht verweilen!
Lasst euch nieder auf sonnigen Hügeln,
Dort, wo Zions Türme blicken ins Tal!
Um die Ufer des Jordan zu grüßen,
Zu den teuren Gestaden zu eilen,
Zur verlorenen Heimat, der süßen,
Zieht Gedanken, lindert der Knechtschaft Qual!
Warum hängst du so stumm an der Weide,
Goldene Harfe der göttlichen Seher?
Spende Trost, süßen Trost uns im Leide
und erzähle von glorreicher Zeit.
Singe, Harfe, in Tönen der Klage
Von dem Schicksal geschlag'ner Hebräer.
Als Verkünd'rin des Ew'gen uns sage:
Bald wird Juda vom Joch des Tyrannen befreit.
Bald wird Juda vom Joch des Tyrannen befreit.
Bald wird Juda vom Joch des Tyrannen befreit.
Bald wird Juda vom Joch des Tyrannen befreit.
Bald wird Juda befreit.
Kaum war der Gesang verklungen, erhob sich aus einem anderen Teil des Zuges ein Gesang, der sich wie eine Stafette von Waggon zu Waggon fortpflanzte: Der Gefangenenchor aus Nabucco. Die Juden, wieder in Gefangenschaft, hilflos ausgeliefert, sangen uns ihre Not durch diese Nacht.
Es war unheimlich, und wir waren unfähig auch nur ein Wort hervorzubringen.
Unvermittelt setzte sich unser Zug wieder in Bewegung Richtung Osten, nahm uns mit, damit wir den Herrenmenschen vor der Weltöffentlichkeit bescheinigen, daß sie sich an die Genfer Konditionen hielten.
Tag der Veröffentlichung: 08.02.2016
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