Erwin hatte keinerlei Aus- aber um so mehr Einbildung. Dabei war er ein sehr kreativer Mensch, jedenfalls hier am Biertresen unserer Weddinger Kneipe. Wir saßen am 9. November, wie immer, auf unseren Stammhockern, als nach unserem neunten Bier, Achim, der die Aufgabe hatte, darauf zu achten, daß wir nicht dehydrieren, aus dem Fenster schaute und ganz verstört übern Tresen rief:
„Sie kommen, sie kommen ! Aber in zivil ! Überall Trabbis !“
Wir schauten glasig aus dem Kneipenfenster und sahen bunte Kleinwagen, umhüllt von blauen VK-88-Wolken an unserem Glasbiergeschäft vorüber knattern, liefen alle raus auf die Straße, und als wir begriffen, was geschah, rannte Achim wieder rein und holte eine Flasche Sekt.
Wir prosteten uns zu, und auch die eine oder andere Trabbibesatzung, die anhielt und die Scheiben runterkurbelte bekam einen Schluck Proletenbrause ab. So standen wir da und freuten uns mit unseren Brüdern und Schwestern, bis uns ein allgemeines Halskratzen ob der Auspuffgase wieder an den verqualmten Tresen zwang.
Erwins Augen leuchteten. Das war immer ein ziemlich gefährlicher Moment, denn dann brütete er stets eine seiner genialen Ideen aus.
Drei Wochen später. Erwin erschien wieder zur Bierverkostung und war ein ganz neuer Mensch. Er trug einen Anzug inklusive Schlips und schmiß eine Lokalrunde.
Er sei Generaldirektor einer Fluglinie, erzählte er uns. Zusammen mit Maik aus Leipzig und Dimitri von der sich auflösenden Westgruppe der Streitkräfte der UdSSR hatte er die Lusthansa gegründet. Dazu hatten sie eine alte, aber sicher noch flugfähige Antonow-2 gekauft, den größten einmotorigen Doppeldecker, der je gebaut wurde und die irgendwo auf einem russischen Fliegerhorst stand, um vor sich hin zu gammeln.
Die Geschäftsidee war, getreu dem Motto: „Nur fliegen ist schöner!“, das erste Luftbordell zu eröffnen.
Wir feierten bis in den frühen Morgen, und Erwin zeigte sich sehr spendabel. Auf meine Frage, wie er denn die Chancen für sein Unternehmen einschätzen würde, schaute er mich ernst an und sagte mit schon etwas schwerer Zunge: „Mark, entweder werde ich steinreich oder lande im Knast!“
Das war das letzte Mal, daß ich Erwin sah. Gehört habe ich hin und wieder etwas von ihm, u.a. daß sein Doppeldecker sich genauso wenig erhob, wie manch Körperteil seiner Kunden. Seine Schulden beglich er per Knochenbrüchen bei seinen russischen Geschäftspartnern und mit Tütenkleben in Berlin-Tegel.
Letzte Woche erfuhr ich bei Achim, daß Erwin schon wieder gesiebte Luft atmet, diesmal aber im Zuchthaus Brandenburg. Der Zwangsaufenthalt war wieder das Ergebnis einer seiner genialen Ideen. Er wurde wegen Entenfälscherei verurteilt, weil er Broilern die Schnäbel platt geschlagen und sie in Fürstenwalde den dortigen China-Restaurants als Enten verkauft hatte.
Tag der Veröffentlichung: 18.03.2015
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