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EMMA BIELING
Stille Nacht im Nirgendwo
Ein weihnachtlicher Liebesroman
Über das Buch
Für die Karrierefrau Desiree sollte es nur ein kurzer Abstecher sein, um ihre Tochter aus einer abgelegenen Unterbringung für Kinder und Jugendliche abzuholen.
Doch sie ahnt nicht, dass sie damit in ein wundersames Weihnachtsabenteuer gerät, das ihr ganzes Leben verändern wird.
Eine Geschichte voller Wirrungen, Zauberei und Weihnachtswunder
Copyright ©Emma Bieling
Erstausgabe 12/2023
Alle Rechte vorbehalten.
Jede Verwertung und Vervielfältigung, auch nur auszugsweise, sowie die Übersetzung dieses Werkes ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin gestattet.
Personen und Handlungen sind frei erfunden.
Bildmaterialien: ncristian@depositphotos.com
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LilKar@shutterstock.com
bieling/bingKI
Umschlaggestaltung: Coverdesign by A&K Buchcover
Lektorat/Korrektorat: rechtschreibprüfung24
Satz: Emma Bieling
Druck: epubli, ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Digital: BookRix GmbH & Co. KG
„Weihnachten ist jener stille Moment, in dem unsere Seele das Herz berührt.“
Roswitha Bloch
Danksagung
Ich danke all meinen Leserinnen und Lesern, die mir immer treu zur Seite stehen, egal wie lange das nächste Buch mal wieder auf sich warten lässt. Ohne euch wären meine Geschichten nur leere Worte auf dem Papier. Ihr gebt ihnen Sinn, Leben und Magie. Ihr seid meine Motivation, meine Inspiration, meine Freude. Ihr seid meine Lese-Helden.
Mein ganz spezieller Dank gilt dieses Mal einer lieben Instagramerin & Gewinnerin meines Preisausschreibens:
Liebe Tanja,
ich möchte mich von ganzem Herzen bei dir bedanken, dass du mir den wunderbaren Namen “Herkules” für mein Kaltblut-Pferd vorgeschlagen hast. Du hast damit nicht nur dem Pferd, sondern auch meiner Geschichte Leben eingehaucht. Du hast mir gezeigt, wie wichtig es ist, einen Namen zu finden, der zum Charakter und zur Persönlichkeit eines Tieres passt. Du hast mir auch geholfen, eine besondere Verbindung zu dem Pferd aufzubauen, das eine wichtige Rolle in meinem Buch spielt.
Liebe Leserinnen & Leser,
das Gebirgsdörfchen Wichtelheim gibt es nicht. Ebenso wenig dessen Bewohner und all die anderen Protagonisten, die mir während des Schreibens so unglaublich ans Herz gewachsen sind. Sie alle sind Teil meiner Fantasie, die ich gerne mit euch teilen möchte. Herausgekommen ist eine Geschichte voller Emotionen, Verwirrungen und ein Weihnachtswunder, das schöner nicht sein kann. Gleichzeitig ist es eine Hommage an die Weihnachtszeit, an die Ruhe und Stille, und an das magische Gefühl, Teil von etwas Größerem, etwas Heiligen zu sein. Ich wünsche euch frohe Lesestunden und ein ebenso frohes Weihnachtsfest an der Seite eurer Liebsten.
Fühlt euch umarmt,
eure Emma
Wichtelheim -˃ ein im Thüringer Schiefergebirge liegendes Dörfchen mit weniger als dreihundert Einwohnern. Die Saale durchfließt den kleinen, verschlafenen Ort, der seinen Namen einer Legende verdankt. Schmale Pfade schlängeln sich durch die felsige Landschaft des Mittelgebirges hinauf zu „Kieferle“ und „Dürre Fichte“, umschlossen von einer rauen Vegetation und dominierenden Fichtenbergwäldern. Mit Schieferdach gedeckte Holzbohlenhäuser prägen das Bild des mystischen Ortes, der im Winter ausnahmslos unter einer dicken Schneeschicht versinkt. In jener kalten Zeit durchdringt der Ruf des Waldkauzes die abendliche Stille, ziehen Populationen von Großwild geräuschlos über die zugeschneiten Waldflächen auf der Suche nach Nahrung und hinterlassen ihre Spuren im glitzernden Weiß. In dieser winterlichen Phase ist das Rauschen der Gebirgsbäche nahezu verstummt, ebenso der Gesang des Eichelhähers. Es ist die Zeit der Ruhe, der Besinnung und des inneren Friedens, aber auch des Verzichts. Kein Wichtelheimer jagt in dieser entschleunigten Zeit oder wagt es der Natur etwas wegzunehmen, das ein anderes Lebewesen zum Überwintern benötigt. In der Ferne ist dann oft das Heulen hungriger Wölfe zu vernehmen, das sich mit dem Brechen von Geäst vermischt, welches unter der Last kristallisierenden Niederschlags nachgibt und zu Boden fällt. In jener dunklen Jahreszeit erhellen Schwibbögen die Fenster der Häuser, während kleine Rauchschwaden aus ihren Schornsteinen in den schneewolkenverhangenen Himmel emporsteigen. Der Duft von gebrannten Mandeln und Kaffeebohnen vermischt sich in jener winterlichen Zeit mit dem Wohlgeruch verbrannten Kiefernholzes. Nicht selten verweilt Väterchen Frost in dieser Höhenlage des Schiefergebirges bis weit ins Frühjahr hinein und hüllt das kleine Dorf in einen monatelangen Winterschlaf, der märchenhafter nicht sein könnte.
22. Dezember
Desiree/ Frankfurt am Main
Ihre Absätze schlugen hart auf den Boden, während sie den Ordner fest an ihre Brust drückte. Kaum jemand traute sich aufzuschauen oder seinen Blick vom Computer abzuwenden. Dennoch konnte sie ihre Gedanken förmlich spüren, bevor sie im Büro des Junior-Chefs verschwand. Sie schloss die Tür und schwang sich mit einem Seufzer auf seinen Bürotisch. »Wir sollten es beenden!«
Jean-Pierre, der bis eben noch tiefenentspannt in seinem Ledersessel angelehnt saß, schob sich nach vorn. »Du machst Scherze, oder?«
»Nein, ich meine es ernst.« Desiree legte den Ordner ab, öffnete zwei Knöpfe ihrer Bluse und fächerte sich Luft zu. »Irgendwann wird es uns den Job und dich die Ehe kosten.«
Mit einem selbstgefälligen Grinsen ließ er seinen Finger über ihren Schenkel wandern. »Wer sollte uns denn verraten? Du?«
Sie presste sich ein theatralisches Lachen heraus. »Ich bitte dich, die gesamte Abteilung des Risikomanagements tuschelt doch längst darüber.«
»Gut, dann wechselst du eben die Abteilung.«
»Ich werde ganz sicher nicht umziehen.« Sie verschränkte ihre Arme und blickte ihn eindringlich an. »Du weißt, das kann ich Maike nicht antun. Sie steckt gerade in einer schweren Phase und muss sich erst daran gewöhnen, zwischen zwei Elternhäusern hin und her zu pendeln.«
»Ich dachte da auch eher an einen Etagenwechsel.«
»Innerhalb der Bank?«
Seine Hand glitt über die seidig schimmernde Strumpfhose unter ihren Rock. »In drei Monaten geht der alte Kunibert in Rente, da könnte ich ein gutes Wort beim Senior für dich einlegen.«
Desiree entzog ihm ihr Bein. Ihre Augen blitzen erregt auf. Sie schob sich vom Tisch und ließ sich auf dem gegenüberstehenden Stuhl nieder. »Du denkst, ich könnte die Leitung der Kreditabteilung übernehmen? Ich meine ja, das wäre wirklich fantastisch.«
»Senior hat dich auf alle Fälle im Auge dafür, soweit ich weiß. Insofern hast du gute Chancen auf den Posten.« Seine Hände griffen erwartungsvoll über den Tisch. »Gib mir deine Hände. Ich will sehen, welcher Edelstein am besten zu dir passt.«
»Du weißt, dass ich keine Geschenke von dir annehme.«
»Du bist die Liebe meines Lebens, Baby. Also werde ich dir doch wohl einen Ring …«
»Pst, nicht so laut«, fuhr sie ihm ins Wort. »Die Wände in diesem Haus haben Ohren. Und du kennst die Firmenregel. Keine sexuellen Beziehungen innerhalb des Unternehmens.«
»Wen juckt das schon. Mein Vater hat im Kopierraum mehr Büromiezen flachgelegt, als Papiere ausgedruckt.«
Desiree schob angewidert ihr Kinn nach vorne und überschlug die Beine. Tief in sich spürte sie, dass diese Affäre keinen dauerhaften Bestand haben durfte. Jean-Pierre war verheiratet. Ein Status, den er so schnell nicht aufgeben würde. Und selbst wenn, war sie sich nicht sicher, ob er der Richtige war. »Wir sollten dennoch diskreter vorgehen und zumindest den Anschein einer rein beruflichen Beziehung wahren«, schlug sie vor und legte ihre Hand besänftigend in seine.
»Das heißt, kein Quickie mehr während unserer Überstunden? Schade, ich mochte das kühle Mahagoniholz des Schreibtisches unter deinen Pobacken.«
Seine primitive Reaktion war definitiv zu viel für sie. Sie bat um Diskretion, und er gab ihr das Gefühl, nichts als ein Zeitvertreib und Sexobjekt zu sein. Wüten darüber, sprang sie auf. »Ganz genau das heißt es!«
»Ach komm schon, du reagierst über.«
»Tue ich nicht. Ich reagiere angemessen. Und falls wir dann fertig wären, würde ich gerne wieder an meinen Arbeitsplatz zurückkehren.«
Henning/ Erfurt
»Ich kann es einfach nicht glauben! Deine Tochter schleppt dieses räudige Vieh an und du schweigst erneut!« Mona fuchtelte wütend mit ihren Händen vor Hennings Gesicht herum. »Herrgott nochmal, wann wirst du ihr endlich Grenzen aufzeigen?«
Henning schluckte schwer. Sein Blick glitt hinüber zur Zimmertür seiner Tochter, dann hinab zum Boden. »Sie braucht Zeit, um sich daran zu gewöhnen.«
»Wie viel Zeit denn noch? Nein, Henning, sie braucht keine Zeit, sondern Konsequenzen. Und zwar sofort.«
»Nun beruhige dich doch erst einmal«, versuchte er die neue Frau in seinem Leben zu beschwichtigen. »Es ist doch nur ein Eichhörnchen.«
Mona schnappte nach Luft, während sich ihre Wangen vor Wut rot färbten. »Nur ein Eichhörnchen? Ja, diese Woche, Henning. Letzten Monat war es ein völlig verlauster Igel. Und davor eine Fledermaus.« Sie atmete hörbar laut aus. »Dabei hatten wir noch Glück, dass dieses schwarze Flattertier keine Tollwut hatte.«
»Sie mochte eben schon immer Tiere.«
»Das tue ich auch! Deshalb gehen wir ja auch regelmäßig in den Zoo.«
Er seufzte tief betroffen auf. »Was soll ich denn tun? Sie aus dem Haus werfen, weil sie nicht bereit ist ein verletztes Eichhörnchen aufzugeben?«
Mona griff nach der Kaffeekanne. »Ja, vielleicht solltest du genau das tun.«
Er schob ihr seine Tasse entgegen. »Aber Mona, Süße …«
»Nix Mona, Süße, mir reicht es. Und deinen Kaffee kannst du dir auch alleine nachschenken.« Sie ignorierte seine Tasse und schenkte sich alleine nach. »Entweder sie geht oder ihr fliegt beide raus, das ist mein letztes Wort.«
»Aber ich habe mit Desiree abgesprochen, dass Maike dieses Weihnachten bei uns verbringt.«
»Das ist mir egal. Denk dir was aus oder pack deine Koffer.«
Maurus/ Wichtelheim
Der Ohrensessel in dem Winfried saß, hatte schon sechzig Jahre auf dem Buckel. Dennoch saß er immer noch genauso gerne darin wie früher in seiner Kindheit. Er legte sein Buch beiseite und blickte hinüber zum Kamin. Die verkohlten Holzscheite knisterten hörbar laut und hüllten den Raum in eine wohlige Wärme. Sein Blick glitt zum Esstisch, an dem sein Sohn saß und Weihnachtsgrußkarten schrieb. »Die Bescherung für die Kinder darf dieses Jahr nicht ausfallen«, sagte er leise und fuhr sich über den gestutzten Bart.
»Der Doc hat aber gesagt, dass du dir zwingend diese Auszeit nehmen musst, wenn du keinen zweiten Herzinfarkt erleiden willst, Paps.«
»Ja, ich weiß, was er gesagt hat«, brummte Winfried zurück. »Du tust es.«
Maurus erhob seinen Kopf. »Was?«
»Du tust es«, wiederholte der alte Mann und wies auf die weiß umrandeten Stiefel vor der hölzernen Truhe, in der alles für den einen besonderen Tag im Jahr lagerte. »Du wirst sie anziehen und die Kinder bescheren.«
Auf Maurus Stirn pressten sich kleine Schweißtropfen aus jeder Pore. »Ich kann das nicht.« Sein Herz begann schneller zu schlagen beim Gedanken an die vielen Kinder, denen er begegnen würde.
»Wie lange denn noch, mein Junge? Wie lange willst du dich noch vor jedem Kinderlachen verstecken? Wann siehst du endlich ein, dass du deine Frau und deine Tochter nicht hättest retten können? Selbst dann nicht, wenn du mit ihnen im Auto gesessen hättest.«
Maurus erhob sich und schüttelte den Kopf. »Nein, bitte verlang das nicht von mir.«
»Junge, du musst damit abschließen und wieder anfangen dein Leben zu leben.«
»Hör auf das zu sagen!« Maurus Faust schlug hart auf die Tischplatte. »Sie war gerade mal vier Jahre alt, verstehst du?«
Winfried stöhnte schmerzerfüllt auf. »Ich weiß, Junge, ich weiß. Aber mittlerweile ist es zehn Jahre her. Auch der größte Schmerz sollte irgendwann mal ein Ende haben. Weder Jessica noch deine kleine Lea hätten gewollt, dass du dich nach ihrem Tod aufgibst und leidest.«
»Hör auf, Vater, ich will das nicht hören!« Von Selbsthass zerfressen verließ er das Zimmer und stapfte die hölzerne Treppe hinauf zu seinem Zimmer.
»Mit ihrem Tod ist auch der Tod in unser Haus eingezogen«, rief Winfried ihm nach. »Aber noch schlimmer ist es mit anzusehen, wie alles Lebenswerte aus dem Körper meines einzigen Kindes gewichen ist.«
Die Tür schlug ins Schloss und der alte Mann lehnte sich seufzend zurück in die Lehne seines Sessels. Wie unzählige Male zuvor in all den Jahren faltete er seine Hände zum Gebet. Aber dieses Mal bat er Gott nicht um Vergebung, sondern um ein Weihnachtswunder.
23. Dezember
Desiree/ Frankfurt am Main
»Da ist eine Viktoria Sachs in der Leitung für Sie. Soll ich durchstellen?«
»Sagen Sie ihr, dass ich keine Neukunden berate.«
»Sie sagt, es wäre wichtig.«
Desiree rollte genervt mit den Augen. »Ich habe jetzt keine Zeit für Leute deren Namen ich nicht kenne. Wer ist die Dame überhaupt? Hat sie eine größere Anlage oder Aktienfonds an unserer Bank?«
»Moment, ich frage nach.« Einigen Sekunden der Stille. »Sie sagt, es ginge um Ihre Tochter.«
»Um meine …?« Desiree schluckte. »Okay, stellen Sie durch.«
»Spreche ich mit Desiree Erdmann?«
»Ja.«
»Viktoria Sachs mein Name, ich leite die Kinder- und Jugendunterbringung in Wichtelheim.«
»Okay, und was hat das mit meiner Tochter zu tun?«
»Ihr Exmann Henning erklärte uns, er könne sie nicht erreichen. Deshalb sah er sich gezwungen, die gemeinsame Tochter Maike bei der örtlichen Jugendfürsorge abzugeben.«
»Moment, er hat was?«
»Ihre Tochter beim Jugendamt in Erfurt abgeliefert. Er hat wohl aktuell persönliche Probleme und möchte deshalb Abstand von seinem Recht auf Sorge nehmen. Leider gab es vor Ort keine Unterbringungsmöglichkeiten so kurz vor den Festtagen, sodass Maike derweil zu uns verbracht wurde.«
Geschockt über die Neuigkeiten rang Desiree nach Worten. »Aber, aber … das kann er doch nicht einfach tun.«
»Und sie haben keine Anrufe oder Nachrichten von ihm erhalten?« Konfrontiert damit zog Desiree ihr Handy aus der Tasche, schaltete es ein und erstarrte, als ein endloser Strom von Benachrichtigungen sie überflutete. »Oh, ähm, doch, da sind einige Anrufe und Nachrichten. Ich hatte wohl noch den Flugmodus an. Das mache ich immer, wenn wir Besprechungen haben. Wie soll man denn wissen, dass Henning sich nicht an die Absprachen hält? Er ist doch ihr Vater, oder? Er hat die verdammte Verantwortung, sich zu kümmern.«
»Tja, das hat er aber jetzt an Eides statt widerrufen.«
»Widerrufen? Was bedeutet das?«
»Er hat praktisch auf seinen Anteil am Sorgerecht verzichtet.«
»Was für ein Arschloch! Entschuldigung, ich stehe nur gerade etwas unter Druck. Und ehrlich gesagt, bin ich stinksauer. Wie stellt er sich das denn vor? Ich bin vollkommen verplant die Feiertage.«
»Sie sehen also keine Möglichkeit Ihre Tochter zu sich zu holen über die Weihnachtszeit?«
Desiree zuckte regelrecht zusammen bei der Frage. Was war sie eigentlich für eine Mutter, wenn die eigene Tochter nicht in ihre Arbeitsplanung passte? »Natürlich hole ich sie ab. Ich bekomme das schon alles irgendwie geregelt.«
»Sicher?«
»Selbstverständlich. Ich bin schließlich Ihre Mutter, nicht wahr? Wo sagten Sie nochmal ist die Kinder- und Jugendunterbringung?«
Drei Stunden später
Desiree war kopflos aus dem Bankgebäude gerannt und in ihr Auto gesprungen. Je schneller sie Maike abgeholt hätte, desto schneller könnte sie wieder zurück an ihren Schreibtisch kehren. Sie brauchte nur noch eine Nanny zu finden. Sie entschied sich für Anne, ein neunzehnjähriges Mädchen aus der Nachbarschaft, das gut mit Maike auskam. Maike war nicht einfach zu handhaben, das wusste Desiree von ihrer Mutter, die immer viel Geduld und Nervenstärke verlangte. Vielleicht war das auch der Grund, warum sie ihre Wohnung verkauft und sich nach Teneriffa abgesetzt hatte, anstatt ihre Oma-Pflichten zu erfüllen. Das Rufzeichen erklang, dann Annes Stimme. »Gott sei Dank erreiche ich dich. Ich brauche dich heute Abend.«
»Heute noch?«
»Ja, sagte ich doch.«
»Ähm, na ja, heute ist wirklich schlecht. Ich bin verabredet mit meinem Freund.«
»Kein Problem. Dann bringst du ihn eben mit.«
»Aber wir wollten ins Kino.«
»Schaut den Film doch einfach bei mir.«
»Auf dem riesigen Fernseher an der Wand?«
»Klar, ihr habt freie Filmauswahl, egal ob Netflix oder Amazon-Prime. Und ich zahle doppelt so viel wie üblich.«
»Wow«, hauchte Anne ins Telefon. »Also schön. Wann soll ich da sein?«
»Lass mich mal überlegen. Ich brauche noch zirka eineinhalb Stunden bis zu diesem Dorf, eine Stunde zum Kind einsammeln, drei Stunden und vierzig Minuten zurück …, sagen wir neunzehn Uhr herum?«
»Okay, ähm, was meinen Sie mit Kind einsammeln?«
Desiree atmete tief ein und seufzte. »Ach, frag mich bloß nicht, ist eine verrückte Geschichte. Und falls ich mich verspäten sollte, dann …«
»Ich weiß, dann lasse ich mir von Susanne die Tür aufsperren.«
»Genau. Und Anne, ihr lasst die Finger vom Champagner im Kühlschrank. Ansonsten könnt ihr euch bedienen.«
Desiree lehnte sich entspannt in die Rückenlehne ihres Autositzes zurück und hörte eine CD, während sie fuhr. Sie hatte eine Hand am Steuer und die andere locker auf dem Schoß. Sie liebte es bei der Fahrt ein Buch anzuhören, vor allem Krimis. Gespannt lauschte sie der Stimme der Sprecherin.
Umso tiefer sie in den Wald hineinlief, desto mehr wandelten sich die Farben in eine Mischung aus düsteren Grau- und Grüntönen. Morsch gewordene Äste, die auf dem Weg lagen, knackten unter ihren Füßen bei jedem Schritt. Irgendwann hielt Luna inne. Ein Schatten huschte durchs Unterholz. War das ein Tier? Oder trieb sich vielleicht sogar der Täter noch hier herum? Luna unterließ das Atmen, während ihre Augen auf den Baum gerichtet waren, hinter dem der Schatten verschwand. Ihr Herz raste. Für Sekunden stand sie wie erstarrt da und wagte nicht sich zu rühren. Durch ihren Kopf schossen die verrücktesten Gedanken. Was, wenn der Täter sie gerade beobachtet? Was, wenn er blitzschnell hervorspringt, sie greift und kampfunfähig macht? Das übel zugerichtete Gesicht der Toten hatte sich wie ein glühendes Eisen in ihr Gedächtnis gebrannt. Wer zu so etwas imstande war, der schreckte auch vor einen weiteren Mord nicht zurück. Langsam spürte sie wieder ihre Gliedmaßen, ihre Hand die sich dem Waffengurt näherte. Wie lange sie wohl bräuchte um ihre P6 zu ziehen? Ein Rascheln. Dann huschte der Schatten hinter dem Baum hervor. Luna zog ihre Waffe und hielt sie fest in der Hand, beide Arme nach vorne gestreckt. »Wer ist da?«
Nichts, außer dem Knacken von Holz.
»Kommen Sie mit erhobenen Händen heraus.«
Nichts, keine Reaktion.
Luna spürte die Spannung in ihren Muskeln. Sie würde keinen Moment zögern und schießen, wenn der Täter sie angreifen würde. »Zum letzten Mal, kommen Sie mit erhobenen Händen heraus.«
Aufleuchtende Bremslichter signalisierten ihr, dass es scheinbar nicht weiterging. Der Verkehrsfluss geriet ins Stocken. Da nutzte weder hupen etwas, noch überholen. Langsam zog sich der Verkehr durch eine Baustelle. Die nette Stimme vom Routenplaner verkündete: In eintausendsechshundert Metern rechts abfahren auf A70/ B26a Richtung Arnstein/ Bamberg/ Erfurt. Doch Desiree war so fixiert auf das Hörbuch, dass sie die Abfahrt verpasste.
Verdammt, verdammt, verdammt! Desiree ließ ihrem Ärger freien Lauf. In ihrem Auto konnte sie das. Auf ihrer Arbeit musste sie immer professionell sein. Sie hatte eine kostbare halbe Stunde verloren. Zumindest wusste sie jetzt, ob der Täter im Geäst gelauert hatte. Ihr Handy klingelte. Ohne draufzuschauen, ging sie dran. »Erdmann.«
»Wo zur Hölle bist du?« Jean-Pierre schien völlig aufgelöst zu sein.
»Auf dem Weg nach Wichtelheim.«
Jean-Pierre schnappte hörbar laut nach Luft. »Du kannst doch nicht …, ich meine, wieso? Was willst du dort?«
»Ich erkläre dir alles später, wenn ich zurück bin, okay?«
»Wir brauchen dich aber jetzt. Kunibert ist vom Stuhl gekippt und mit ihm die Weihnachtspräsentation für die geköderten Anleger. Du weißt, da geht’s um einige Millionen.«
Desiree gab Gas und hupte den vor sich fahrenden Kraftfahrer zur Seite. »Was heißt, er ist umgekippt? Dann setzt ihn zurück auf den Stuhl und flößt ihm ordentlich Wasser ein. Ich habe ihm schon immer gesagt, dass er zu wenig trinkt.«
»Das nützt nichts, er ist mausetot. Und er hat das personalisierte Passwort mit ins Jenseits genommen.«
»Ach du heilige Scheiße. Die ganze Ausarbeitung liegt verschlüsselt auf Kuniberts Festplatte?«
»So ist aktuell die Lage. Uns bleiben demnach noch genau vierundzwanzig Stunden, um an das Passwort heranzukommen oder eine neue Präsentation zu erstellen.«
»Was ist mit Benny? Er hat Zugriff auf alle Kopien.«
»Der ist gestern nach Alaska geflogen und vorm neuen Jahr nicht zu erreichen. Du musst unbedingt sofort zurückkommen, hörst du? Das ist deine Chance die Karriereleiter schneller aufzusteigen.«
»Ich kann nicht umkehren. Ich muss erst zu meiner Tochter, ein familiäres Problem quasi. Außerdem, wie stellst du dir das vor? Dass ich das neue Anlageprojekt der Kreditabteilung präsentiere?«
»Wenn du den Job als Leiterin der Kreditabteilung willst, ja.«
»Aber …« Desiree spürte wie die Anspannung mit jedem weiteren Satz ihren Körper versteifte. Wütend schlug sie auf die Hupe. »Diese verfluchten Sonntagsfahrer.«
»Was ist nun?«, drängte Jean-Pierre sie zu einer Antwort.
»Moment! Ist das etwa Schnee?« Desiree rutschte näher an die Frontscheibe heran. Dicke Flocken patschten auf ihr Sichtfeld und wirbelten derart stark durch die Luft, dass sich die eben noch gut erkennbare Straße vor ihren Augen zu einem weißen nebeligen Schleier wandelte. »Ich rufe dich gleich nochmal zurück, okay?«
»Okay, Baby. Und vergiss nicht, Senior und ich zählen auf dich.«
Die Landstraße fädelte sich wie ein schier endloser Streifen durch eine ausnahmslos schneebedeckte Gebirgslandschaft mit Straßengefällen und Steigungen die nichts mehr mit einer kultivierten Fahrbahn zu tun hatten. Seit einer viertel Stunde hatte sie kein einziges Haus mehr gesehen. Nichts außer einer bewaldeten Einöde die zunehmend unter einem winterlichen Weiß versank. Ich muss mich verfahren haben. Desiree rüttelte an ihrem Handy herum. »Verdammt, sprich mit mir. Sag mir, ob ich hier richtig bin.« Doch die Stimme blieb stumm. Stattdessen ein Hinweis: Unterbrochene Internetverbindung. Das darf doch alles nicht wahr sein. Desiree verlangsamte ihre Geschwindigkeit. Unmöglich konnte hier noch irgendwo Zivilisation sein. Beunruhigt überlegte sie zu wenden, als sie ein Tuckern hinter sich vernahm. Sie blickte in den Rückspiegel und erkannte im Schneegestöber einen Traktor, der sich ihr näherte. Gott sei Dank, dachte sie, brachte ihr Auto zum Stehen und rannte mit wilden Gesten aus dem Fahrzeug. »Hallo, ich benötige Hilfe.« Der Fahrer des Traktors hielt an und klappte seine Seitenscheibe hoch. »Gibt’s ein Problem?«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich auf der richtigen Straße bin. Mein Routenplaner hat kein Netz.«
Der Fremde richtete seine Mütze. »Sie sind wohl nicht aus der Gegend?« Sein Blick glitt hinab zu ihren Füßen, dann rüber zu ihrem Kennzeichen. Erst jetzt bemerkte Desiree, dass sie knöcheltief mit ihren Pumps im Schnee stand. »Nein, aus Frankfurt am Main.«
Er schnippte den abgebrannten Stummel seiner Zigarette aus dem kleinen Fenster und nickte. »Verstehe. Und wo solls hingehen?«
»Nach Wichtelheim.«
Er musterte sie skeptisch. »Sicher?«
»Wieso? Sagen Sie nicht, ich habe mich vollkommen verfahren?«
»Das nicht, aber um diese Jahreszeit ist da oben alles dicht. Es gibt keine freien Zimmer.«
»Oh, nein-nein, ich will nicht Urlaub machen oder so. Ich will zur Kinder- und Jugendunterbringung.«
»Verstehe.« Er klappte sein Fenster zu und stieg aus. »Mit den Reifen kommen Sie hier nicht weit. Haben Sie Schneeketten dabei?«
»Was?«
»Schneeketten für Ihr Fahrzeug, Lady. Haben Sie etwa das Schild unterhalb am Straßenrand nicht gesehen? Das auffällig hellblaue mit den weißen Reifen und den Schneeketten darauf.«
Desiree wies mit ihrer Hand zum Traktor. »Sie haben auch keine, oder? Also sagen Sie mir einfach nur wie weit es noch bis Wichtelheim ist.« Mittlerweile zitterte sie am ganzen Körper. Fröstelnd fuhr sie sich mit den Händen über die Arme und wippte von einem Bein aufs andere.
»Ohne Schneeketten keine Chance.«
»Aber ich muss zu meiner Tochter. Es ist wirklich dringend.«
»Ihr Kind ist da oben? Also schön, hängen Sie sich hinten dran?«
Keine Ahnung, warum Desiree angenommen hatte, dass sie dem Traktor nachfahren sollte. Allerding meinte der Fremde es wortwörtlich. Mit einem Abschleppseil zog er ihren Wagen noch gute zwanzig Kilometer eine Steigung herauf, bis sich rechts der Straße ein kleiner Waldweg auftat an dem ein halb zugeschneites Hinweisschild stand – Wichtelheim/ 5 Km.
Desiree/ Wichtelheim
Das Ortseingangsschild war an einer Seite abgebrochen. So, als hätte ein Bär sich darin verbissen. Desiree schauderte bei dem Gedanken an wilde gefräßige Tiere. Das Schneetreiben hatte weiter zugenommen und sie war froh, an einem Traktor zu hängen und nicht selbst auf einer Straße fahren zu müssen, die sie nicht sehen konnte. Alles in diesem Ort lag unter einer dicken Schneeschicht begraben. Lediglich die Schornsteine ragten aus dem glitzernden Winterweiß heraus und pusteten dicke Rauchwolken in den verhangenen Himmel. Langsam tat sich in ihr die Sorge auf, den Weg zurückzufinden. Der Traktorfahrer hielt vor einem großen Holztor. Desiree musste hart bremsen, um nicht aufzufahren. Der Fremde stieg aus, während sein Traktor weiter tuckerte. »Da wären wir.« Er machte das Abschleppseil von den Fahrzeugen los und legte es geschickt in Schlingen über Arm und Hand. »Die Klingel ist eingefroren, Sie müssen Hupen«, erwähnte er noch, bevor er sich zurück auf seinen Traktor setzte und den Gang einlegte, um weiterzufahren. Desiree sprang aus ihren Wagen. »Moment, ich habe mich noch gar nicht bedankt bei Ihnen.« Panisch kramte sie in ihrer Handtasche nach etwas Kleingeld.
»Nicht nötig«, brummte er, zog seine Mütze vom Kopf und klopfte den Schnee daran auf seinen Knien ab. »Na dann, frohes Fest, Lady. Ich hoffe, Sie haben ein richtig tolles Geschenk für Ihre Tochter dabei.«
»Nein-nein, wir bleiben nicht bis Heiligabend.«
»Sie wollen noch heute wieder herunterfahren?«
Desiree nickte.
»Vergessen Sie es. Noch ein-zwei Stunden, dann fährt hier nix mehr.« Mit seinem markanten Kinn wies er hinauf zum Himmel. »Da kommt noch ordentlich mehr runter.«
»Und was ist mit dem Streudienst? Die Straßen werden doch bestimmt bald geräumt, oder?«
Ein schallendes Lachen ertönte aus der Fahrerkabine. »Wenn es hier einmal anfängt zu schneien, kommt nicht mal ein Schneepflug die Straße hoch, glauben Sie mir.«
»Und was ist mit Ihnen? Sie könnten mich doch sicher wieder herunterbringen.«
»Und wie genau sollte ich das tun?« Er lehnte sich schon fast amüsiert aus der geöffneten Fahrertür in Erwartung einer schlagfesten Antwort.
»Sie haben schließlich diese riesigen Reifen, nicht wahr? Die kommen doch ganz bestimmt durch jede Schneeverwehung. Und meinen Wagen könnten wir doch vielleicht auf den Anhänger fahren. Ich bezahle Ihnen auch einhundert Euro.«
»Einhundert?«
Desiree sah Ihre Chance gekommen. Wenn es um Verhandlungen ging, hatte sie die Nase vorn. Und das nötige Kleingeld. »Zweihundert Euro.«
»Ich befürchte, dass Sie mit Ihrer Tochter wohl einige Tage hier oben verbringen müssen.«
Desiree konnte nicht glauben, was sie hörte. Hatte er gerade eben ihr unschlagbareres Angebot abgelehnt? Das konnte sie nicht hinnehmen. Eine Desiree Erdmann ist noch aus jeder Verhandlung als Siegerin hervorgegangen. »Ich verdopple auf vierhundert Euro.«
Er lachte erneut auf, schlug seine Tür zu und klappte das Seitenfenster auf. »Sparen Sie sich das Geld und genießen Sie das Weihnachtsfest abseits der Stadt, Lady.« Dann warf er den Motor an und knatterte davon. Desiree blickte ihm nach. Das glaube ich jetzt nicht. Das erste Mal in ihrem Leben hatte sie eine Verhandlung verloren. Sie spürte, wie ihre Mundwinkel zitterten und zwang sich, ihr Gesicht nicht zu verziehen. Sie wusste, dass sie kurz davor war, in Tränen auszubrechen. Jetzt bloß nicht heulen, mahnte sie sich selbst. Sie straffte sich, schüttelte den Schnee aus ihrem Haar und beugte sich ins Innere des Wagens, um kräftig zu hupen. Kurz darauf öffnete sich das Tor automatisch. Vor ihr lag ein schneebedeckter Pfad, der an weihnachtlich geschmückten Sträuchern vorbeiführte, und an dessen Ende sich ein schlossartiges Gebäude erhob, aus dem fröhliches Kinderlachen drang.
Kinder- und Jugendheim „NaturGut“
»Ich hoffe, Sie hatten eine gute Fahrt bei dem Sauwetter da draußen.« Viktoria Sachs reichte Desiree lächelnd die Hand. »Aber kommen Sie erst einmal rein, Sie sind ja völlig durchnässt.«
Das mag daran liegen, dass der Weg vom Tor zum Haus lang wie eine Marathonstrecke ist, fuhr es Desiree durch den pitschnassen Kopf. Dennoch versuchte sie freundlich herüberzukommen. »Ach was, das ist doch keine Tragödie.« Aus ihrem kastanienroten Haar tropfte der geschmolzene Schnee. Und ihre Schuhe machten schlüpfrige Geräusche beim Gehen. Sie war definitiv nicht auf diese Art von Winter eingestellt.
»Darf ich Ihnen einen heißen Tee anbieten?« Die Leiterin der Kinder- und Jugendunterbringung steuerte auf eine Tür im unteren Gang zu. Ein kleines handgemaltes Holzschild auf dem BÜRO geschrieben stand, hing an der Wand daneben. »Wir haben verschiedene Sorten Tee im Angebot, obwohl unsere Kids am liebsten Hagebuttentee trinken.«
»Danke, gerne.«
»Setzen Sie sich ruhig. Ich bereite Ihnen derweil unseren Favoriten-Tee zu.«
Desiree ging zum Stuhl und blickte sich um. Die Wände des Büros waren voll mit Fotos und gemalten Kunstwerken. »Wirklich hübsch haben Sie es hier.«
»Schöne Erinnerungen von über zehn Jahren die ich nun schon hier bin.« Viktoria stellte die Teekanne zurück auf eine Wärmeplatte unter der zwei Teelichter brannten. »Und das, obwohl ich damals eigentlich nur vertretungsweise eingesprungen bin.« Sie reichte Desiree das Teeglas. »Kluntjes?«
Desiree verstand nicht.
»So etwas wie Kandiszucker.«
»Ach so, nein danke. Ich trinke ihn lieber ungesüßt.«
»Da sind Sie disziplinierter als ich«, lächelte die Heimleiterin, warf einen Kluntje in ihr Teeglas und rührte hörbar laut um, während sie sich an ihren Schreibtisch setzte. »Ich bin ein regelrechter Zucker-Junkie. Aber verraten Sie mich nicht bei den Kids.«
»Werde ich nicht.« Desiree setzte sich ihr gegenüber, das wärmende Teeglas mit beiden Händen fest umgriffen. »Was hat Sie dazu bewegt zu bleiben? Ich meine damals, als Sie hierherkamen?«
Über Viktorias Augen huschte der Glanz von Erinnerungen. »Ach wissen Sie, es waren letztendlich viele Dinge, die mich an diesem Ort fasziniert haben. Die Schönheit der Natur, die rauen Winter, der Zusammenhalt der Menschen. Aber der entscheidende Faktor waren die Kinder dieser Einrichtung. Nirgends sonst sieht man so viele glückliche Kids die in vollkommener Harmonie mit sich selbst und dem Ort ihrer Unterbringung sind.«
»Wow.« Desiree nippte überrascht an ihrem Tee. Er schmeckte kräftig nach der schmackhaften Hundsrose, so wie die Hagebutte oftmals in alten Überlieferungen genannt wurde. Sie überlegte, wann sie zuletzt einen so leckeren Hagebuttentee getrunken hatte. Es musste Jahre zurückliegen.
»Aber kommen wir zum Grund Ihres Besuches.« Die Leiterin öffnete eine Mappe. »Sie und der Vater Ihrer Tochter Maike haben sich bisher das Sorgerecht geteilt wie ich dem Bericht des Jugendamtes entnehme. Gab es denn Anzeichen dafür, dass er mit seinem Teil der Sorge überfordert war?«
Desiree stellte ihr Teeglas ab und vergrub ihre Hände im Schoß. »Nein, nicht dass ich wüsste.«
»Und Maike kam mit ihrem Vater gut zurecht?«
»Ja, ich denke schon. Zumindest haben wir nie über ihn gesprochen.«
»Und die Trennung? Wie hat sie die verkraftet?«
»Ähm, ja …«Desiree blies ihre Wangen auf. So sehr sie sich auch um eine Antwort bemühte, sie hatte keine. Aus irgendeinem Grund hatte sie nie mit Maike auch nur ein Wort über die räumliche Trennung und Scheidung gesprochen.
»Das Mädchen wurde nicht einbezogen?«
»Sie hat nie danach gefragt oder etwas gesagt.«
Viktorias Blick wurde ernster. »In Maikes Alter ist es für Kinder am schwierigsten mit der Trennung ihrer Eltern umzugehen. Ihr Schweigen ist kein Indiz für Ignoranz oder Empathie, sondern ein Zeichen für Rückzug und Schuldgefühle.«
»Warum sollte sie Schuldgefühle haben?«
»Das liegt daran, dass Maike zur Zeit Ihrer Trennung alt genug war, um komplexe Gefühle im Zusammenhang mit Konflikten und Schuld zu verstehen, wenn auch nicht ganz so vollständig wie es Erwachsene können. Gerade Mädchen neigen dazu sich unterbewusst die Frage zu stellen, welche Rolle sie bei der Trennung der Eltern gespielt haben. Solche wiederkehrenden negativen Gefühle können langfristig zu Depressionen führen.« Ihr Blick wanderte hinüber zur Wand. »Sehen Sie die brennende Schneeflocke?«
»Ja, ein wirklich seltsames Bild.«
»Gemalt von Ihrer Tochter am Tag ihrer Ankunft.« Viktoria seufzte betroffen auf. »Es symbolisiert die Zerrissenheit in der Maike steckt. Es ist ein mit Wachstiften gezeichneter Hilferuf.«
Desirees Blick wanderte vom Bild zurück zu Viktoria. »Und das sehen Sie alles in dieser Schneeflocke?«
»Nicht nur. Auch in Maikes Verhalten.« Die Leiterin blätterte sich weiter durch die Papiere in der Mappe. »Ihr Exmann gab unter anderem an, dass Sie beruflich sehr eingespannt sind.«
»Ähm … na ja, nicht immer. Er übertreibt mal wieder.«
»Wirklich?« Viktoria schaute voller Skepsis über den Rand ihrer Brille. »Ich habe Ihnen fünf Nachrichten auf Band gesprochen, ohne einen Rückruf zu erhalten.«
Autsch! Das hatte gesessen. Desiree rutschte nervös auf ihrem Stuhl hin und her. Mit einer Ausrede konnte sie Viktoria Sachs nicht kommen, das war ihr klar. Sie versuchte sich in Schadensbegrenzung. »Es war viel los an diesem Tag. Ständig riefen Kunden an oder wollte irgendwer etwas …« Im wirklich ungünstigsten Moment klingelte ihr Handy, obwohl das Ding die ganze Zeit keinen Empfang hatte. Sie musste nicht darauf blicken, um zu wissen, wer der Anrufer war. Mit dem Gefühl eines kleinen Kindes, beim Lügen ertappt worden zu sein, schob sie ihre Hand in die Handtasche und taste sich durch den Inhalt. Ist ja meist so, dass diese Dinge, die man sucht, ganz unten vergraben liegen. So auch das blöde Handy. »Entschuldigung«, murmelte sie peinlich berührt, während sie das Gerät zum Schweigen brachte. »In der Firma gibt es gerade ein größeres Problem.«
Ganze zwei Stunden hatte Desiree im Büro der Leiterin verbracht und über ihre Rolle als Mutter gesprochen, dabei drei Gläser Tee getrunken und sich so einige Ratschläge angehört. Mutter zu sein endete eben nicht mit der Tatsache ein Kind unter Schmerzen auf die Welt zu wuchten und jenes sensible Wesen bis zum Erreichen seiner Volljährigkeit finanziell abzusichern. Da war noch jede Menge mehr dazwischen. »Tja, tut mir wirklich leid, aber der Wetterbericht sagt keine Wetterveränderung voraus«, erklärte Viktoria Sachs und überreichte Desiree einen dunkelgrünen Anorak, sowie eine knallrote Strickmütze mit Schall. »Passendes Schuhwerk finden wir auch noch für Sie in der Kleiderkammer. In diesem Jahr ist sie besonders gut gefüllt dank der unermüdlichen Unterstützung unserer Sponsoren.«
»Das ist nun wirklich nicht notwendig.«
»In Ihrem dünnen Designermantel frieren Sie sich hier oben zu Tode. Und Ihre Schuhe …« Viktorias Blick wanderte hinab zu Desirees Füßen. »Sind auch nicht gerade gebirgstauglich.«
Desiree blickte geschockt auf die Sachen. Sie konnte noch immer nicht glauben, dass sie die nächsten Tage in diesem verschneiten Ort festsitzen würde. Alle möglichen Gedanken rotierten in ihrem Kopf herum. Sie biss sich panisch auf die Unterlippe. »Ich werde gebraucht in meiner Firma. Gibt es denn wirklich keinen Weg irgendwie zurück zur Autobahn zu gelangen?«
Viktoria lächelte, während sie nach Desirees Händen griff. »Hören Sie, ich verstehe ja, dass das alles etwas plötzlich kommt. Aber nicht alle Dinge im Leben sind kalkulierbar. Das müssten Sie im Risiko-Management doch am besten wissen.«
»Aber …«
»Verwerfen Sie diese Gedanken, gönnen Sie sich stattdessen eine kleine Auszeit für sich und Ihre Tochter, unternehmen Sie was Schönes zusammen. Und so wie sich die Wetterlage beruhigt hat, können Sie mit Maike nach Hause fahren. Ich werde dem Jugendamt meinen Bericht zukommen lassen und dafür plädieren, dass Ihnen das Familiengericht das alleinige Sorgerecht überschreibt. Und jetzt zeige ich Ihnen unser Gästezimmer. Und danach bringe ich Sie zu Ihrer Tochter.«
Das Gästezimmer strahlte eine gewisse Gemütlichkeit aus, auch wenn das Mobiliar schon einige Jahrzehnte auf dem Buckel hatte. Es passte zum Rest des Gebäudes. Neben einem Kamin in der Wand lagerten Holzscheite die den typisch modrigen Geruch des Waldes versprühten. »Ich schicke Ihnen gleich Herrn Hahn, unseren Hausmeister, um den Kamin anzuheizen. Leider gibt es hier nicht in allen Räumlichkeiten Warmlufteinlässe.«
»Sie heizen noch mit Holz und Kohle?«
»Nein, ganz so rückschrittlich sind wir dann doch nicht«, erwiderte Viktoria Sachs. »Mit Pellets, um genau zu sein. Über ein Rohrsystem vom Keller aus gelangt die warme Luft in die vier Hauptbereiche unserer Kinder- und Jugendeinrichtung. Allerdings bleiben die Schlafräume der Kids unbeheizt, weil es gesünder ist.«
Desiree setzte sich aufs Bett. »Ich kann noch immer nicht glauben, dass er Maike einfach so abgegeben hat, als wäre sie ein Haustier, das zur Belastung geworden ist. Er hätte doch zumindest vorher mit mir darüber sprechen müssen.«
»Vielleicht hat er das versucht. Und vielleicht hatten Sie keine Zeit, um zuzuhören. Sie wissen selbst am besten wie stark Sie beruflich eingespannt waren.«
Desiree verdrehte ihre Augen. »Waren ist gut. Ich bin es immer noch. Gott, Jean-Pierre wird mich lynchen, wenn ich nicht bis heute Abend in der Firma auftauche.«
»Er ist Ihr Vorgesetzter?«
Desiree nickte.
»Auch Vorgesetzte haben Verständnis für unvorhersehbare Vorfälle.«
Desiree winkte lachend ab. »Oh nein, glauben Sie mir, er besitzt dieses Verständnis-Gen definitiv nicht.«
»Ich denke, Sie sind eine starke Persönlichkeit und werden eine gute Lösung finden.« Viktoria wies mit der Hand zur Tür. »Kommen Sie, jetzt überraschen wir Ihre Tochter. Sie ist oben im Kreativ-Raum.«
Maike saß an einem Tisch auf dessen Oberfläche getrocknetes Blattwerk, Äste, Kastanien und allerhand Farbstifte lagen. Mit einer Klebepistole bestückte sie ein Männchen im schwarzen Papiermantel mit ziemlich großen Augen. Als sie ihre Mutter erblickte, sprang sie auf und umarmte sie. »Schau mal, was ich aus Tannenzapfen gebastelt habe.«
Desiree rubbelte freudig über den Rücken ihrer Tochter und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Zeig mal her.«
Maike löste sich aus der Umklammerung und eilte zurück an ihren Platz. »Das ist ein besonderes Geistwesen.«
»Und dieses Geistwesen von hoffentlich freundlicher Natur ist so schön, dass wir es am Weihnachtsbaum ganz weit nach oben hängen«, fügte Viktoria hinzu.
»Quasi ein Heilungsmaskottchen, damit Eddy ganz schnell wieder gesund wird«, ergänzte Maike.
Desiree starrte überrascht zu ihrer Tochter, dann zur Leiterin »Eddy?«
»Ach, ich vergaß zu erwähnen, dass
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Emma Bieling
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Cover: Coverdesign by A&K Buchcover
Lektorat: rechtschreibprüfung24
Satz: Emma Bieling
Tag der Veröffentlichung: 30.11.2023
ISBN: 978-3-7554-6251-4
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Widmung:
Für Sabine & Tanja