Emma Bieling
Mr. Xmas
Über das Buch:
Ein unvorhergesehener Schneesturm bricht über New York City herein und nimmt der Stadt, die niemals schläft, ein Stück weit das Tempo. Ausgerechnet an diesem schicksalhaften Tag muss Fran McKinney zu einem wichtigen Geschäftstermin. Kaum ins Taxi gestiegen gerät ihr Terminplan ordentlich ins Wanken. Völlig entschleunigt steht sie plötzlich vor der größten Herausforderung ihres Lebens. Und sie muss sich entscheiden: Kopf oder Herz?
Eine rasante Liebeskomödie im gewohnt humoristischen Stil a la Emma Bieling.
Copyright ©Emma Bieling
Ausgabe: 11/2023
Alle Rechte vorbehalten.
Jede Verwertung und Vervielfältigung, auch nur auszugsweise, sowie die Übersetzung dieses Werkes ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin gestattet.
Personen und Handlungen sind frei erfunden.
Bildmaterialien: nevbieling/bingKI
Umschlaggestaltung: nevbieling/bingKI/adobe
Lektorat/Korrektorat: Sabine Kirste
Satz: Emma Bieling
Druck: epubli, ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Digital: BookRix GmbH & Co. KG
»Der Dezember ist mitnichten gut für Tannen oder Fichten«
©Klaus Klages
New York City
Und dass du dieses Mal pünktlich bist. Ich möchte ungern ohne dich in die Preis-Verhandlung einsteigen. Es geht schließlich um ein ordentliches Sümmchen – hallen die Worte meiner Mutter nach. Auch noch Stunden später, als der Duft ihres Eau de Toilette längst verflogen ist. Wie eine Ballerina tanze ich vor dem Spiegel des mütterlichen Kleiderschranks mit meinem besten Kleid hin und her. Bei jeder Drehung hebt sich der untere Teil und spannt sich um meinen Körper wie ein Regenschirm. Gott, wie ich dieses Kleid liebe, auch wenn es mich an meinen Fast-Verlobten erinnert.
Steven, mein Fast-Verlobter und Ex
Steven - 51 Jahre, Unternehmensberater und im selben Haus wohnend - war vor einigen Monaten zufällig in mein Leben getreten. Na ja, eigentlich war das gar nicht so rein zufällig. Wie sich im Nachhinein herausstellte, hatte meine Mutter kräftig nachgeholfen. Abendessen, Theaterbesuche, Abschiedskuss vorm Apartment – mehr brauchte es nicht, um ein Paar zu werden, auch wenn er um einiges älter war. Mit ihm kehrte eine gewisse Ordnung in meinen Alltag und ein hoffnungsvolles Leuchten in Mutters Augen. Sie konnte es kaum erwarten, mich, die letzte von drei Töchtern, unter die Haube zu bringen und dauerhaft aus dem Hotel-Mama auszulisten. Ständig lag sie mir in den Ohren damit. Bis ich eines Tages schließlich nachgab und im Wolkenkratzer ganze vier Etagen zu ihm runterzog. Viel hatte ich ja nicht, außer einem Karton persönlicher Dinge und drei Koffern voll mit Klamotten und Schuhen. Als ich ankam, war ich voller Pläne und Visionen. Als ich ging, voller Wut und Enttäuschung. Eine Beziehung hatte ich mir völlig anders vorgestellt. Ich wollte nicht nur das hübsche Gegenstück sein, die ihrem Freund die Krawatte und Scheitelfrisur richtet. Ich wollte mehr als das. Aber spätestens beim Thema Familie und Kinder wechselte Steven stets unverfroren die Batterien für sein Hörgerät und ließ mich spüren, dass er nicht sonderlich an Nachwuchs interessiert ist. Mutter hingegen hatte nur wenig Verständnis für meinen Spontan-Auszug bei Steven, und ließ mich letztendlich mit mürrischem Blick zurück ins mütterliche Heim. Sie ahnte wohl, dass sie mich so schnell nicht los werden wird.
Ich …
… bin übrigens Fran, 35 Jahre und die älteste von drei Schwestern. Ich bin die Träumerin in der Familie und ich bin die einzige, die noch unverheiratet ist, was mir aber absolut nichts ausmacht. Meiner Mutter schon. Und deshalb versucht sie jede nur denkbare Möglichkeit zu nutzen, mich zurück in die offenen Hände meines Fast-Verlobten zu schubsen. Das Fenster klemmt, die Tür knarrt, der Wasserhahn tropft – und jedes Mal steht Steven Gewehr bei Fuß, bereit, alles im Apartment meiner Mutter zu reparieren und mich ganz nebenbei damit zu nerven, dass er der richtige Partner für mich sei.
Times Square, 14:04 Uhr
Entspannt lehne ich mich in die komfortablen Ledersitze des Taxis zurück und blicke hinaus ins Schneetreiben. Wann gab es jemals so viel Schnee in New York? Und ich meine damit nicht ein paar Schneeflocken, die sich auf dem Weg zwischen Nordpol und Europa verirrt haben und versehentlich in New York gestrandet sind. Nein, der winterliche Einbruch scheint dieses Mal dramatischer zu sein.
„Da vorne geht´s nicht weiter“, brummt der Fahrer genervt und knipst das Radio an.
Es handelt sich um einen der heftigsten Schneestürme seit Jahrzehnten an der Ostküste der USA, dröhnt es aus dem Lautsprecher und mir wird schlagartig bewusst, dass ich überhaupt keine Winterstiefel besitze.
„Verflucht, alles dicht. Da fährt nix mehr.“
„Ich muss aber pünktlich im Geschäft meiner Mutter sein“, bringe ich mich in Erinnerung. „Heute werden wichtige Geschäftspartner erwartet.“
„Tut mir leid, ich kann´s nicht ändern.“
Er stellt den Motor ab und rollt bis auf wenige Zentimeter an einen Pick Up. „Endstation, Lady.“
„Oh nein, nein, nein! Links daneben ist eine Lücke, da kommen Sie doch durch.“
„Das ist keine Lücke, sondern die Rettungsgasse.“
Ich versuche nicht hysterisch zu klingen und senke meine Tonlage. „Okay! Was kostet mich die Rettungsgasse?“
Er blickt mich entrüstet an. „Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst? Das würde mich meinen Beförderungsschein und eine saftige Geldbuße kosten.“
Ich kenne die Masche und weiß, dass er nur den Preis hochtreiben will. Allerdings zwickt mein Slip unangenehm, sodass ich mehr als willig bin, die Verhandlung abzukürzen. „Einhundert Dollar extra, wenn Sie die Rettungsgasse nehmen.“
„Einhundert?“, wiederholt er überrascht, als könne man ihn nicht bestechen.
Ich atme hörbar laut aus. „Also schön, Einhundertfünfzig Dollar und meinen Starbucks-Gutschein.“ Dabei wippe ich von einer Pobacke zur anderen, um dem Zwicken ein Ende zu setzen. Doch der String bohrt sich nur noch unangenehmer in meine Po-Ritze, was daran liegen mag, dass er viel zu klein ist. Verdammt, wie konnte ich glauben, dass ich nach dreitägiger Salat-Diät in meine alte Konfektionsgröße passe? Schuld daran ist die Verkäuferin, die damals auffällig laut nach meinem Gewicht fragte, während mein Fast-Verlobter im Laden nach sexy Unterwäsche für mich Ausschau hielt. Logo, dass ich in seinem Beisein nicht mit der Wahrheit rausrücken konnte und mich ganze 10 Kilogramm schlanker schummelte. Dumm nur, dass er mir seitdem ständig sündhaft teure Unterwäsche in Größe 36 kauft. 36!!! Hallo, geht´s noch? Welche Frau Mitte dreißig trägt denn bitte Kleidergröße Barbie?
„Hm“, murmelt der Fahrer nachdenklich und blickt sich verstohlen um.
„Okay, abgemacht.“
Er startet den Wagen und beschleunigt so schnell, dass die Hinterreifen durchdrehen und wir eine aufgewirbelte Schneewolke hinterlassen. Dem Geschäft meiner Mutter schon etwas näher, atme ich erleichtert auf und zücke meinen Lippenstift. Nicht nur, dass ich die für Mutter so wichtigen Verhandlungen hinter mich bringen will, auch freue ich mich unheimlich auf das »Danach«, einen stinknormalen Mädels-Abend bei meiner Freundin Alicia bei Chips und Cola.
„Weg da!“, ruft der Fahrer hupend und steigt im gleichen Augenblick auf die Bremse, worauf sich das gelbe Taxi wie eine verirrte Kugel im Flipperautomat um die eigene Achse dreht und gegen mehrere Autos prallt, was zur Folge hat, dass ich unvorbereitet gegen die Rücklehne der Vordersitze schleudere und mir den Lippenstift quer übers Gesicht ziehe. Na toll, das auch noch!
„Alles gut bei Ihnen?“, fragt mich der Fahrer etwas irritiert über das kussechte Rot in meinem Gesicht.
Ich nicke und spucke den abgebrochenen Rest meines Chanel-Lippenstifts aus.
„Was rennt der verfluchte Bengel auch über den Times Square?“, flucht er und tritt die verzogene Fahrertür auf.
Bengel? Was meint er damit? Plötzlich bin ich alarmiert. Haben wir etwa gerade ein Kind angefahren? Schockiert über das Geschehene, steige ich aus und laufe zu dem Jungen, um den sich eine Menschentraube sammelt. Ich drängele mich hindurch, knie nieder und fühle seinen Puls. „Gott sei Dank, er lebt!“
„Fragen Sie ihn, ob seine Eltern versichert sind“, ruft mir der Taxifahrer zu und zieht einen Notizblock aus der Seitentasche der Fahrertür. Will er ernsthaft ein Kind für seinen Schaden blechen lassen? Ich werfe ihm einen zornigen Blick zu. „Was sind Sie nur für ein Mensch?“ Dabei lege ich alle Betonung auf das Wort Mensch, dass jeder heraushört, dass ich eigentlich Arsch meine. „Rufen Sie lieber einen Krankenwagen“, motze ich ihn weiter an und lasse ihn spüren, dass er sich die einhundertfünfzig Dollar extra abschminken kann. Behutsam hebe ich den Kopf des Jungen, auf dessen Stirn sich eine Beule abzeichnet. Er kommt zu sich, hustet und blinzelt mich an. „Bist du ein Schutzengel?
„Ich, ein Schutzengel? Wie kommst du darauf?“
„Weil du ganz blass bist, blaue Lippen hast und einen Riss im Gesicht.“
Okay, mit Riss meint er den Lippenstift-Unfall. Aber »Blaue Lippen«? Jetzt erst merke ich, wie stark ich zittere. Meine Zähne knallen geschossartig aufeinander und ich denke: Nur nicht die Zunge dazwischen bekommen.
„Krankenwagen ist unterwegs“, ruft einer der umherstehenden Passanten. Der Junge richtet sich auf, wischt sich den Schnee vom Kinn und blickt traurig auf die leere Hundeleine in seiner Hand. „Ich muss ihn zurückholen“, murmelt er und verdreht die Augen.
„Nicht doch, bleib bei mir“, versuche ich zu ihm durchzudringen und rüttele an ihm herum. Wie gerne hätte ich ihm jetzt meine Jacke übergeworfen, um ihn vor der Kälte zu schützen. Aber die war im Taxi. Hilfesuchend blicke ich mich um. „Hey, Sie da! Geben Sie mir Ihre Jacke.“
„Ich?“, erwidert der stark beleibte Mann und tritt erschrocken zurück.
„Ja, Sie!“
Er zögert.
„Nun machen Sie schon!“, harsche ich ihn an.
Angewidert folgt er meiner Anweisung und wirft mir die Jacke zu. „Warum helfen Sie dem Bengel? Ist doch bestimmt einer von den Straßen-Gangs, die die Leute beklauen“, murmelt er und kassiert sofort Kritik aus der Menge.
„Und selbst wenn, soll er deswegen erfrieren?“, zische ich den Fiesling an und balle meine Fäuste. Typen wie ihn kann ich einfach nicht leiden.
Er winkt ab und verschwindet in der Menge. Seine Jacke scheint er demnach nicht wiederhaben zu wollen. Mit zittriger Hand bedecke ich den Körper des Kindes, mit der anderen halte ich seinen Kopf.
„Wann zur Hölle kommt der verfluchte Krankenwagen?“, brülle ich panisch aus Angst, dass der Junge stirbt. Ich fühle mich verantwortlich und ziemlich mies. Immerhin bin ich diejenige, die gedrängelt hat. Na ja, der Taxifahrer ist mindestens ebenso schuldig. Immerhin hat er am Lenkrad gesessen, bevor es krachte. Wo ist der eigentlich abgeblieben? Meine Augen huschen irritiert von den vielen Menschen durch die Menge. Er sitzt seelenruhig im Wagen und telefoniert. Kurz darauf trifft die Polizei ein und befragt die ersten Zeugen.
Hallo, kümmert sich mal irgendwer um das verletzte Kind?
„Krankenwagen ist gleich da“, brummt einer der Beamten und wirft lediglich einen kurzen Blick auf den Jungen zu meinen Knien. Alles ist so surreal, während die Schneeflocken dick wie Gänsefedern vom Himmel fallen.
Eine gefühlte Ewigkeit später
„Ist wahrscheinlich nur eine Gehirnerschütterung“, erklärt mir einer der Sanitäter und leuchtet dem Buben mit einer winzigen Stablampe in die Augen. „Wir nehmen ihn aber trotzdem zur Beobachtung mit.“
„Gut“, murmle ich erleichtert, dass dem Jungen nichts Schlimmeres passiert ist, und will aufstehen, um Platz für den Rettungsdienst zu machen. Doch das Kind greift nach meinem Arm und klammert sich fest.
„Nicht weggehen.“
„Alles wird gut, du bist in guten Händen“, versuche ich ihn zu beruhigen und lege seine kalte Hand wärmend zwischen meine.
Er sieht mich mit seinen rehbraunen großen Augen an und sagt: „Bitte, ich will nicht ins Krankenhaus.“
„Deine Mutter kann mitfahren“, meint einer der Sanitäter.
„Oh nein, ich bin nicht die Mutter“, stelle ich unmissverständlich klar, obwohl ich gerne ein Kind wie ihn haben würde. Doch das Schicksal hatte bisher andere Pläne.
„Ach so“, brummt er nachdenklich. „Dann können Sie uns wohl auch keine Angaben zu dem Jungen machen?“
Ich schüttle meinen Kopf. In meinen Händen halte ich immer noch die Hand des Jungen, der ängstlich umherblickt.
„Mir geht es schon viel besser“, sagt er und rappelt sich auf.
„Nicht doch, Kleiner. Du musst dich untersuchen lassen“, versuche ich auf ihn einzuwirken. Doch er scheint auf einmal rastlos zu sein, springt auf und wischt sich den Schnee von der Hose. Jetzt erst sehe, ich wie zerschlissen seine Sachen sind.
„Und wo willst du hin?“, harsche ich ihn an wie eine besorgte Mutter.
„Rudolph suchen, was sonst.“
Die Sanitäter blicken sich ratlos an. Dann mich. Wie bringt man ein Kind dazu, sich untersuchen zu lassen? Ich fühle mich unheimlich hilflos.
„Ich glaube, Ihr Handy klingelt“, ruft der Taxifahrer sichtlich genervt von dem Trubel. Was glaubt der, wie ich mich fühle? Aber Mister Chauffeur sitzt im trockenen Auto und bewegt sich keinen Zentimeter. Wütend stampfe ich zum Taxi, greife nach meiner Tasche, krame das Telefon heraus und klemme es mir zwischen Schulter und Ohr, während ich in meiner Geldbörse nach zwanzig Dollar suche.
„Wo bleibst du denn, Fran?“, hagelt es Kritik durchs Telefon. An der Stimme meiner Mutter kann ich deutlich den mütterlichen Zorn spüren, der jedem ihrer Worte anhängt.
„Sorry, ich stecke fest und schaffe es nicht pünktlich.“
„Das merke ich! Du bist schon zehn Minuten überfällig, mein Kind. Was glaubst du, wie lange ich Mr. Minako noch hinhalten kann? Er ist schließlich nicht umsonst aus Tokio angereist. Also beweg deinen süßen Hintern her und mache es wieder gut, indem du eine feurige Präsentation hinlegst, die ihn quasi aus den Socken schießen lässt.“
„Der Times Square ist dicht und das Taxi hatte einen Unfall“, entschuldige ich meine Verspätung, drücke dem Taxifahrer das Geld in die Hand und klemme mir Mantel und Tasche unter den Arm, während ich zum Verletzten zurücklaufe.
„Und das Geld für die Rettungsgasse?“, höre ich den Taxifahrer hinter mir rufen.
„Was heißt Unfall?“, schallt es durchs Telefon.
„Was ist denn nun mit dem Jungen?“, drängeln die Sanitäter und mir wird plötzlich alles zu viel. Ich lasse einen Schrei ab, drehe mich zum Taxi um und zeige dem Fahrer meinen ausgestreckten Mittelfinger.
„Cool“, meint der Junge mit schmerzerfülltem Gesicht und hält mir ehrfürchtig die Ghetto-Faust entgegen. „Dem Typen hast du es ordentlich gegeben.“
Ich haue mit meiner Faust dagegen und lächle ihn an. Ihm scheint es wirklich schon besser zu gehen.
„Fran, was ist denn nun mit der Präsentation?“, kreischt meine Mutter, als würde sie kurz vorm Herzinfarkt stehen.
„Die übernimmst du“, schlage ich ihr vor und ernte ein klagendes „Was? Wer von uns hat sich denn wochenlang darauf vorbereitet? Du oder ich?“
„Dann improvisiere eben. Du, ich melde mich später“, würge ich sie ab und werfe das Handy in die Tasche. Sie hätte sich ja wenigstens mal nach meinem Wohlbefinden erkundigen können. Stattdessen ist das Geschäft mal wieder wichtiger.
„So, und jetzt zu dir“, beginne ich auf den Jungen einzuwirken und gehe in die Hocke. „Was hältst du davon, wenn ich mitkomme, du dich untersuchen lässt und wir später, wenn du entlassen bist, ein riesiges Eis verputzen?“
Er legt eine nachdenkliche Miene auf. „Wie riesig?“
Ich zeichne eine übergroße Portion Eis in die Luft.
„Abgemacht. Aber nur, wenn du mir nach dem Eis beim Suchen hilfst. Santa Claus braucht dringend seinen Rudolph zurück.“
„Du hast ein Rentier an der Leine spazieren geführt?“
„Quatsch, Rudolph ist doch kein echtes Rentier, sondern ein verkleideter Hund.“
Ehrlich gesagt, bin ich etwas verwirrt, stimme seinen Bedingungen aber zu. Den Geschäftstermin hatte ich so oder so vergeigt. So konnte ich wenigstens den Konsequenzen aus dem Weg gehen.
Hospital, 8th Ave
„Einen Brad Winters gibt es nicht an der Adresse, die der Junge angegeben hat“, erklärt mir die Krankenschwester vom Empfang. „Der Junge sieht auch nicht so aus, als würde er in dieser noblen Gegend wohnen. Ich vermute, ich muss die Jugendfürsorge anrufen.“
„Jugendfürsorge?“, stammle ich alarmiert. „Ist das wirklich nötig?“
„Ja, so verfahren wir immer, wenn wir Kinder reinkriegen, deren Eltern nicht auffindbar sind.“
Ich nicke, während die Dame zum Telefonhörer greift, und schleiche mich zurück ins Zimmer des Jungen. Die Hände hinter den Kopf verschränkt liegt er im Bett und blickt zur Decke.
„Hey du, alles gut?“, flüstere ich ihm zu.
„Wo ist der Kaffee, den du holen wolltest?“
„Was?“
„Na der Kaffee vom Automaten?“
„Ach so, der Kaffee“, murmle ich ertappt. „Den habe ich vergessen.“
„Du willst Kaffee holen gehen und vergisst den Kaffee?“, fragt er mich mit skeptischem Blick. „Du lügst.“
„Also schön, es war gelogen“, gestehe ich. „Aber du hast auch gelogen.“
„Na und, ich darf das, ich bin ein Kind.“
„Sagst du mir wenigstens wie dein richtiger Name ist?“
„Ich heiße Joe. Und du?“
Er streckt mir seine schmutzige Hand entgegen und lächelt mich an.
Ich zögere. „Ist das auch wahr?“
„Ehrlich, ich schwöre.“
Es klingt ehrlich. Zumindest leuchten seine Augen wie die eines anständigen Jungen.
„Fran McKinney, freut mich, Joe“, erwidere ich und schüttle seine Hand. Wie alt mag er wirklich sein? Zehn Jahre, elf vielleicht? Auf keinen Fall ist er fünfzehn Jahre. Aber ich mag ihn nicht mit Fragen löchern und überlege, wie ich ihm die Sache mit der Fürsorge erkläre.
„Du, Joe?“
„Ja?“ Erwartungsvoll blickt er mich mit großen Augen an, doch ich stocke und ringe nach den richtigen Worten.
„Das Thorax-Röntgenbild ist ohne Befund“, stürmt der Arzt an mir vorbei und zückt das Lämpchen aus seiner Kitteltasche. „Es liegt demnach nur eine leichte Gehirnerschütterung vor.“ Dabei drückt er Joe zurück ins Bett und betrachtet seine Pupillen. „Soweit ich erkennen kann, ist da mit keinen ernsthaften Folgen zu rechnen.“
„Hörst du, Joe, das sind doch gute Nachrichten“, freue ich mich.
„Heißt das, ich darf jetzt gehen?“
„Aus ärztlicher Sicht spricht nichts dagegen. Aber entscheiden müssen das deine Eltern.“
Ich zucke zusammen bei dem Wort Eltern. Scheinbar hat er mit der Empfangsschwester noch nicht gesprochen.
„Danke Doktor“, stammle ich dem Arzt zu, der mir zunickt und das Zimmer verlässt. Dann herrscht für einen Moment Schweigen.
Ich atme schwer auf. Soll ich jetzt wirklich einfach so gehen und den Joe seinem Schicksal überlassen? Hin und hergerissen ringe ich mich zu einer Entscheidung durch und bereue sie sofort.
„Zieh dir die Jacke und deine Schuhe an, wir gehen.“
„Den Eisbecher essen?“, fragt er mich mit großen leuchtenden Augen.
„Ja, mach schon“, weise ich ihn an und blicke mich ängstlich um. „Und versuch so unauffällig wie möglich zu wirken. Und wenn dich jemand fragt, sagst du, dass wir dir nur eine Suppe vom Automaten holen, hörst du?“
Er nickt und springt vom Bett.
„Du bist echt in Ordnung.“
Ein typisches New Yorker Eiscafé
Das Telefon in meiner Tasche klingelt ununterbrochen. Ich muss nicht draufsehen, um zu wissen, dass der Geschäfts-Deal geplatzt und meine Mutter schwer enttäuscht von mir ist. Mutter wird mich dafür hassen und mich mindestens drei Wochen mit vorwurfsvollen Blicken strafen. Dennoch versuche ich mir meinen Appetit nicht nehmen zu lassen und bestelle zwei Eisbecher Tropical. Der Kellner lächelt mich an und fragt, ob ich sonst noch einen Wunsch habe. Wenn er mich so fragt, denke ich und bestelle gleich noch einen doppelten Cognac, um mein schlechtes Gewissen runterzuspülen.
Sekunden später erscheint der Kellner erneut und stellt das Cognac-Glas ab. Er wirkt südländisch, hat makellose weiße Zähne und einen knackigen Po. Ich blicke ihm hinterher, als er sich vom Tisch entfernt. Seine Mutter ist gewiss stolz auf ihn.
Ja, er lässt seine Mutter auch nicht im Regen stehen, wenn sie ihn braucht, dröhnt mein ohnehin schon angeschlagenes Selbstbewusstsein. Aber du, Fran, du bist einfach zu nix zu gebrauchen.
Mein Blick huscht vom Knackarsch des Kellners zurück zum Tisch und bleibt am Cognac hängen. Ich erhebe das Glas und führe es an meine Lippen.
„Darf ich mal probieren?“, fragt mich Joe, als ich den Cognac ansetze und ohne zu zögern in einem Zug leertrinke. Er brennt auf der Zunge und meine Kehle wird ganz heiß. Ich werfe Joe einen zuckersüßen Blick zu.
„Du bist ein Kind. Und Kinder sollten Saft, Milch oder andere gesunde Dinge trinken.“
Er rollt mit seinen Augen. „Du weißt schon, dass die Milch, die wir trinken, eigentlich für die Kuh-Babys gedacht ist? Das ist nicht gesund, das ist Raub und ziemlich gemein.“
Ich stütze mein Kinn auf meine zusammengefalteten Hände und finde, dass er recht hat. Doch sagen tu ich ihm das nicht. Stattdessen überlege ich, welche Verteidigungsstrategie ich gegenüber Mutter zur Anwendung bringe.
Meine Mutter
59 Jahre alt und mindestens so auffällig wie Liz Taylor in ihren besten Jahren. Betritt Mutter einen Raum, sind alle Blicke auf sie gerichtet. Sie ist die Dominanz auf High Heels, während ich neben ihr wie eine Vertreterin der Grauen-Maus-Kultur wirke. Mutter verdient schon ein Leben lang im Schmuckgeschäft, reist viel nach Südafrika und entwirft alles, was mit Diamanten bestückt werden kann. Auch Penisringe. Ihre Handgelenke und Finger sind voller eigener Entwürfe. Ja, Mutter zeigt gerne, was sie hat und trägt ihren verdienten Reichtum erhobenen Hauptes zur Schau. Und solange ich meine Beine unter ihren Tisch strecke, ist sie nicht nur mein Boss, der für jedes neu designte Schmuckstück eine dementsprechende Präsentation erwartet, sondern eben auch Chefin von Hotel Mama, die sich in alle Belange meines Lebens hängt.
Aber zurück zum Eiscafé ….
Der Kellner kommt und serviert das Eis. Als er das leere Glas Cognac erblickt, wirft er mir einen überraschten Blick zu.
„Darf´s noch ein Doppelter sein?“
Hält der mich ernsthaft für eine Alkoholikerin? Schließlich habe ich ein Kind am Tisch sitzen und demzufolge auch große Verantwortung. Dann denke ich an erneut an Mutters Vorhaltungen, die mich zuhause erwarten, und nicke, bereitwillig mich ins Delirium zu saufen.
Nach zwei doppelten Cognacs fühle ich mich etwas erleichtert, aber auch beschwipst. Losgelöst von allen Sorgen, die dieser Tag mit sich gebracht hat, stochere ich im Eis herum. „Wo wohnst du eigentlich wirklich?“
Joes Augen huschen verlegen hin und her. Seine Lippen zucken, aber er bleibt stumm.
„Hey, ich bin dein Schutzengel, schon vergessen?“, hake ich nach und werfe ihm einen prüfenden Blick zu.
„Im Heim“, nuschelt er niedergeschlagen und schlürft den Rest flüssig gewordenen Eises aus der Glasschale.
Na toll, jetzt bekomme ich auch noch dieses gewisse Bauchzwicken, das ich immer bekomme, wenn mir Unrecht entgegenschlägt. Haben ihn seine Eltern etwa einfach so abgegeben wie einen Hund, den man nicht mehr will? Ich verstehe sowieso nicht, weshalb überhaupt Kinder in Kinderheimen leben, wenn gleichzeitig so viele Paare unglücklich kinderlos sind.
„Was ist mit deinen Eltern?“, hinterfrage ich die traurige Information in der Hoffnung, dass sie vielleicht nur gerade eine schwierige Phase durchmachen und den Jungen bald
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Emma Bieling
Bildmaterialien: nevbieling/bingKI
Cover: nevbieling/bingKI/adobe
Lektorat: Sabine Kirste
Satz: Emma Bieling
Tag der Veröffentlichung: 28.09.2020
ISBN: 978-3-7487-5891-4
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Allen ehrenamtlichen Weihnachtsfrauen & Weihnachtsmännern