„Hast du was?“, fragte Mara, die Stimmungen wie die meisten blinden Menschen sehr feinfühlig wahrnahm.
„Mir ist dieses Jahr nicht so wirklich nach einer ausgelassenen Silvesterparty“, antwortete Ronja, die so blind wie ihre Lebensgefährtin war, und wand sich etwas steif aus Maras Umarmung. „Außerdem finde ich die Vorbereitung einer so großen Party, zu der du jede Menge Leute in deine Villa eingeladen hast, viel anstrengender, als ich mir das vorgestellt hatte.“
„Was heißt meine Villa und meine Party, Ronja?", hakte Mara nach, die sofort spürte, dass bei Ronja mehr dahintersteckte, als sie preisgeben wollte.
„Das ist doch alles deins hier“, zischte Ronja feindselig. „Deine Wohnung, deine Freunde, dein Leben … Und ich?“
„Hey Süße, was ist denn schon wieder los mit dir?“, sagte Mara und zog sich in die Küche zurück, um ihre Gedanken zu ordnen. Während sie sich um die letzten Details des kalt-warmen Buffets kümmerte, das dort schon aufgebaut war, überlegte sie, was die Ursache für das zunehmend aggressive Verhalten sein könnte, mit dem die feurige Rumänin ihr in den vergangenen Wochen begegnete: Seit dem Urlaub in Albanien kommt mir Ronja von Woche zu Woche unzufriedener vor. Es ist zwar schon einige Monate her, dass wir gemeinsam mit unseren Freunden, die ich schon eine gefühlte Ewigkeit aus der Inklusionssportgruppe meiner alten Heimat kenne, unterwegs waren, aber da hat es angefangen. Irgendwie herrscht seit dem Zeitpunkt, zu dem dort überraschend meine alte Jugendfreundin Mila, die jahrelang als verschollen galt, wieder in meinem Leben auftauchte, eine entfremdende Aufbruchstimmung in Ronjas Verhalten mir gegenüber. Ich frage mich nur warum? Eifersucht kann ich wohl ausschließen. Bei Milas nächtlichem Überraschungsbesuch in unserem Zimmer, von dem außer Ronja und mir niemand aus unserer Reisegruppe etwas erfahren durfte, war Ronja die ganze Zeit dabei und hätte mitbekommen, wenn zwischen Mila und mir mehr als freundschaftliche Berührungen stattgefunden hätten. Die Sache mit Wladimier, dem Russen, den Mila töten musste, um Fatmata zu retten, könnte auch dahinterstecken. Ein Trauma als Urlaubsmitbringsel wäre eine Erklärung. Oder liegt es an den abenteuerlichen Dingen, die sie im Schattenglut ohne mich erlebte? Mit dem Schattenglut hat sie ohne mein Zutun hier in Berlin ein kulturelles Begegnungszentrum entdeckt, das vor dem Hintergrund der Inklusion ein Treffpunkt für Menschen ohne Behinderung mit Betroffenen wie uns sein will. Das war an dem Tag, an dem ich sie zum ersten Mal alleine ließ, weil Alex mich zu dem Abenteuer mit dem Filmteam abholen kam, das mit einem ungleichen Kampf in einem Spaßbad endete. Die Eingeladenen, die heute aus dem Schattenglut zum Feiern kommen, sind aber doch auch meine Freunde und nicht nur Ronjas …
„Quando sono solo sogno all’orizzonte e mancan le parole …", ertönte Con te partirò aus Maras Handy, aber die Verbindung war schon wieder beendet, bevor sie den Anruf entgegengenommen hatte.
„Nanu, das war Alex“, murmelte sie leise vor sich hin, nachdem sie sich die Anrufeingangsliste hatte vorlesen lassen. Das Handy hatte sie noch in der Hand, als ein „Bing" den Eingang einer neuen Sprachnachricht meldete. Die Sprachnachricht von Alex, dem Schauspieler, mit dem sie an dem Tag, als Ronja das Schattenglut entdeckte, zum ersten Mal in ihrem Leben Sex mit einem Mann ausprobieren wollte und der mittlerweile einer ihrer besten Freunde geworden war, gab ihr den Rest.
„Das ist es also, Ronja …", schniefte sie, nachdem sie das Schlafzimmer erreicht hatte, und hörte, dass Ronja dabei war, alle großen und kleinen Habseeligkeiten, die sie besaß, mit beiden Händen in den riesengroßen Koffer zu werfen, den sie am Vortag vom Shoppen mitgebracht hatte.
„Wenn du es mir vorher selbst gesagt hättest, wäre ich auch traurig gewesen, aber dann hätte sich meine Enttäuschung in vertretbaren Grenzen gehalten. Aber so, auf diese feige Art …, da muss ich echt aufpassen, dass ich dich nicht irgendwann anfange zu hassen.“
***
„Ach Susi, was für ein Glück, dass ihr drei die ersten Gäste seid", begrüßte die Gastgeberin zuerst die hübsche junge Frau, die rechts eine Oberarmprothese trug und schon viel Schlimmeres als sie durchgestanden hatte. Danach umarmte sie Alena, die aus der Ukraine stammte und wegen der Russen nicht nur erblindete, sondern auch mit entstellenden Verbrennungen ihres ganzen Kopfes leben musste. Enzo, den Mara als Letzten begrüßte, war als Inhaber eines italienischen Gourmetrestaurants für seine ausgezeichneten Weine so stadtbekannt wie Alena, die in der Küche traumhafte Köstlichkeiten zubereitete und im Schattenglut noch ein Dunkelrestaurant betrieb.
„Was ist denn passiert, Mara? … Wo ist Ronja …?", fragte Susi, die seit geraumer Zeit immer weniger Perücken trug, und kuschelte ihren Kopf, der sich so blank wie eine polierte Billardkugel anfühlte, zur Begrüßung freundschaftlich an Milas Wangen.
„Weg …", gluckste Mara, „… weg mit Alex …"
„Oje, das tut weh“, sagte Alena und drückte ihr maskenhaftes Gesicht an fast die gleiche Stelle, die vorher Susi berührt hatte, aber weniger zur Begrüßung, sondern mehr, um Mara einfühlsam Trost zu spenden. Susis glatte Kopfhaut und das weiche Plastik, aus dem ein Epithetiker Alenas Gesicht modelliert hatte, weckten Maras Erinnerung an eine andere Aufbruchstimmung, die sich nach den ersten Tagen hier in ihrer Wohnung zwischen Ronja und ihr entwickelt hatte. Eine, die sich gut anfühlte, weil sie in jener Zeit beide voller Tatendrang waren. Die glatte Haut erinnerte sie an das morgendliche Ritual unter der Dusche, mit dem sie damals erotisch in jeden neuen Tag starteten. Der Hautkontakt mit der Weichplastikhaube, die Alena in der Öffentlichkeit wegen der Sehenden trug, hatte für Alena die gleiche Funktion wie der Silikonhandschuh, der Susis rechter Hand die Optik eines natürlichen Körperteils verlieh, und wie die beiden Augenprothesen, die Mara seit ihrer frühesten Kindheit in ihren entleerten Augenhöhlen trug. Die Berührungen hatten Mara von ihrem Kummer abgelenkt und auf andere Gedanken gebracht. Die Oberfläche der Körperteilattrappe aus Silikon, mit der Ronja sie von dem Abenteuer mit Alex abbringen wollte, fühlte sich in ihrer Erinnerung sehr ähnlich an. Susis kahler Kopf erinnerte sie an zeitlich viel weiter zurückliegende Erlebnisse, die sie zusammen mit Mila in ihrem zu dieser Zeit noch männlichen Körper gehabt hatte.
„Ja, es schmerzt, aber die Krise mit Ronja ist ja nicht die erste Krise, die ich bewältigen muss. Damit hab' ich ja schon einiges an Übung. Über den Verlust von Mila, die vor meiner Zeit mit Ronja urplötzlich und ohne Vorankündigung wie ausgelöscht aus meinem Leben verschwunden war, bin ich ja auch hinweggekommen", erwiderte Mara ihren drei Freunden, die von Milas nächtlichem Besuch im Urlaubsresort nichts wissen durften. „Schließlich folgt auch nach dem heftigsten Sturm immer wieder Sonnenschein."
„Die Zuversicht zu behalten ist das Wichtigste, Mara", sagte Enzos Lebensgefährtin, die mit dem hübschen Ausgehgesicht, mit dem ihr Epithetiker ihr ihre Würde zurückgegeben hatte, bezaubernd aussah. Nur wenn sie alleine in der Küche arbeitete oder mit Enzo alleine war, verzichtete sie auf diese Verwandlung.
„An was denkst du denn gerade, Mara?", fragte Enzo, der auf dem Gesicht der Verlassenen plötzlich ein unerwartet verklärt wirkendes Lächeln entdeckte, und nahm sie als letzter der drei Neuankömmlinge auch in den Arm.
„An Mila und daran, wie wichtig es ist, so gute Freunde wie euch zu haben", antwortete Mara, ohne etwas von dem geheimen Überraschungsbesuch zu verraten, und schüttelte ihren Frust so gut es ging ab.
„Wollt ihr nicht ablegen und mit mir darauf anstoßen, dass das Leben auch schön bleiben kann, wenn gerade etwas, das man liebte, abhanden gekommen ist?“, sagte Mara und führte ihre Gäste in die Küche.
„Vielleicht muss Ronja Verpasstes nachholen", bemerkte Alena nachdenklich, mit einem noch immer tröstlichen Ton in der Stimme. „Sie ist eine Späterblindete, die erst in der gemeinsamen Zeit mit dir, Mara, wieder selbstständig und mobil geworden ist. Flügge, so wie du, raus in die Welt, um sich selbst zu verwirklichen", ergänzte Alena, während sie gemeinsam zur Küche gingen und sie sich von Enzos Ellenbogen leiten ließ, weil sie sich in Maras Wohnung noch nicht gut genug auskannte, um den Weg mit ihrem Blindenstock ohne fremde Hilfe finden zu können.
„Schön, dass ihr da seid", sagte Mara, nachdem Enzo den Champagner mit einem stilvollen Zischen so perfekt geöffnet hatte, dass ein leises Plopp wie ein Echo folgte, bevor er die Sektflöten füllte und jedem die seine in die Hand drückte. „In dieser Situation an Silvester allein zu sein, wäre jetzt der Super-GAU gewesen."
„In Albanien soll es auch im Januar recht gut sein und viel gemütlicher als im Sommer. Bisschen wie in Holland im Frühjahr …", sagte Alena, ohne deutlicher zu werden.
„Gute Idee, die Wintersemesterferien beginnen zwar erst im Februar, aber ’ne Woche hätte ich locker noch, um nocheinmal dort hinzufahren wo ich mit Ronja bevor der Ärger losging am Meer war", sprach Mara und nippte nochmal an ihrem Glas.
„War das mit dem Etwas verloren zu haben, um das man trauern will, es aber nicht ewig tun sollte, vorhin eigentlich mehrdeutig von dir gemeint, Mara?", fragte Alena und sprach nach der rhetorischen Frage gleich weiter. „Wir Blinde haben alle eine sehr besondere Wahrnehmung und du ganz besonders, Mara", und nippte, ohne weiterzusprechen, auch wieder an ihrem Glas.
„Du meinst, da herausgehört zu haben, dass ich die Schuld an der Sache mit Alex und Ronja schon bei mir selbst gefunden hätte, Alena?", sinnierte Mara leise in ihr Sektglas flüsternd so vor sich hin, als wolle sie ein Orakel befragen. „Das könnte passen, Alena, weil Ronja im Gegensatz zu uns eine Späterblindete ist, die mit ihrem Augenlicht etwas verloren hat, was wir beide gar nicht kennen. Mit dem Mobilitätstraining, das ich mit ihr machte, habe ich ihr erst das Tor zur Welt geöffnet, das sie brauchte, um mich verlassen zu können. Dass Ronja anders als wir ewig um ihren Sehsinn trauern muss und jetzt meint, mit Selbstzwang alles nachholen zu müssen, was sie verpasst hat?", fragte Mara nachdenklich. „Das war vielleicht dumm von mir …"
„Wenn du Verdienst anstatt Schuld gesagt hättest, wäre es das gewesen, was ich dachte", sagte Alena und nickte Enzo, der ihr unaufgefordert nachschenkte, dankbar zu. „Gerade blind geworden durch die Pubertät, ist kein Spaß, und es war alles andere als dumm von dir, dass du ihr ihre Freiheit geschenkt hast.“
„Für mich war meine Pubertät auch kein Spaß", brummte Mara und trank auf Ex ihr Glas aus.
„Wegen deiner Glasaugen?", fragte Alena.
„Quatsch, mit meinen Augen war ich immer okay, es waren die Klöten und der olle Pimmel, die nie zu mir passten", kam die Antwort ganz spontan so aus Maras Mund zurück, wie Alena es erwartet hatte.
„Nimm’s ihr nicht übel und freu dich drüber, vielleicht taucht ja Mila oder eine wie sie irgendwann mal wieder in deinem Leben auf", sagte Alena und schnüffelte nach etwas Herzhaftem zum Knabbern. „Sind das Käsesticks mit Salami?"
„Ihr meldet euch ja, wenn ihr Hilfe braucht", kommentierte Enzo Alenas Neugier, weil er längst verstanden hatte, dass Blinde Hilfe hassten, um die sie nicht gebeten hatten, während Mila zur Tür huschte, um die nächsten Gäste willkommen zu heißen.
***
„Haben alle Sekt? Es ist schon fünf vor zwölf“, rief Mara, die schon gut beschwipst und wieder bestens gelaunt war, mit kräftiger Stimme in das Wohnzimmer, in dem die meisten Gäste lautstark in Grüppchen lachten und einige sogar schon ansatzweise lallten. Enzo und Tim waren noch nicht ganz mit der Tastführung durch, die sie sich für Mara und Alena überlegt hatten, und ganz im Element der Hobbyfeuerwerker unterwegs, die sich mit den beiden blinden Frauen noch durch die improvisierte Abschussrampe hindurchbewegten, als von den Nachbargrundstücken schon das Zischen der ersten Abschüsse, begleitet von Donnerschlägen, zu hören war. Mara hielt gerade interessiert eine Rakete mit einer besonders dicken und auch sehr langen Treibladung in der Hand und erkundete das Schutzrohr, das über die Zündschnur gestülpt war. Tim hatte ihr eine Übersetzung des Etiketts, das den Feuerregen der Rakete beschrieb, an der Uni in Braille ausgedruckt und ihr vorher in die Hände gegeben. Dieses und die Rakete in der einen Hand und mit der anderen den Feuerwerkskörper abtastend, lauschte sie, was Tim ihr über die Kapsel und über die kirschroten Leuchtkörper, die sie enthielt, erzählte. Die leuchtenden Kirschen durften sich erst sehr hoch, weit über den tiefer explodierenden Feuerschweifen, entfalten, die gleich grün, gelb und weiß vom Himmel fallen werden, während das Rot zeitgleich von oben in das Bunt hineinrieseln wird.
Mit geröteten Wangen unterhielten sich Alena und Mara zu dem fortwährenden Zischen, das in ihren Ohren so filigran wie die Vielfalt der Farben klang, über die Pracht des Feuerwerks, als sich plötzlich ein total enthaarter Kopf von hinten zwischen die beiden schob. Alena kicherte und glitt zur Seite, während Mara fast das Herz stehen blieb, als zwei Hände, die sie sofort erkannte, wie heiße Flammen um ihren Hals züngelten. Mara spürte das Bedürfnis, den Namen der Frau, der ihr sofort auf der Zunge lag, voller Freude laut herausschreien zu wollen, was ihr jedoch nicht mehr gelang. Das Organ, das sie nicht nur zum Sprechen brauchte, war vorher schon zu tief in einem Mund gelandet, der sie mit Haut und Haaren zu verschlingen suchte.
***
„Mila, ich bin so glücklich", hauchte Mara, die sich schweißnass an ihre Jugendfreundin kuschelte, die wieder so überraschend in ihrem Leben auftauchte, wie sie Jahre zuvor verschwunden war. „Du fühlst dich noch schöner als früher und wahnsinnig erregend an.“
„Dass dir das gefallen würde, machte mir die Entscheidung, mich von meiner Körperbehaarung zu verabschieden, etwas leichter", antwortete die Frau, die vor fünf Jahren noch herrlich lange Haare hatte. „Das war das letzte Mal, wo wir Sex zusammen hatten. Eine lange Zeit, in der viel geschehen ist, war das, und ganz anders als in dieser provinziellen Kleinstadt, wo es so abrupt zum Abschieb kam, weil ich fliehen musste“, antwortete Mila. Wie die flauschige Decke, unter der die Liebenden sich gerade neu entdeckten, wallte Milas pechschwarze Haarpracht damals nach dem Liebesspiel über beide Körper.
„Denkst du auch gerade an die winzige Kammer auf dem Dachboden über der Wohnung meiner Mutter, die vollgestopft mit alten Kissen und Decken unser erstes kleines Reich war?“, fragte die Blonde, die zu diesem Zeitpunkt noch den Umzug in den für sie richtigen Körper vor sich hatte, und stöhnte vor Lust auf, als Milas Fingerkuppen hauchzart über ihren Kitzler glitten, der nach der Geschlechtsangleichung heute sogar noch besser als früher ihre Eichel funktionierte.
„Als ob ich unser gemütliches Liebesnest je vergessen könnte, in dem ich dir, meiner besten Freundin, damals noch deinen kleinen Kerl gestreichelt habe, den du immer so gehasst hast, weil du lieber gleich so wie ich auf die Welt gekommen wärst“, antwortete die Kahle. „Auch, wie sehr du schon, seit ich dich kenne, auf erotische Vorspiele mit duftendem Rasierschaum und scharfen Klingen unter der Dusche stehst, wollte ich nie vergessen.“
„Ja, glatte Haut, da steh ich wirklich mega drauf", hauchte Mara, die sich mit ihren Händen gerade sehr zärtlich und so neugierig, als seien ihre Finger sensible Fühler eines Insekts, jeden Millimeter von Milas Kopf ganz genau ansah. „Eine so perfekte Ganzkörperenthaarung hätte ich mir bei dir nichteinmal in meinen gewagtesten Träumen vorstellen können", schwärmte Mara, die gerade entdeckt hatte, dass Mila zwischenzeitlich weder Augenbrauen noch Wimpern hatte und auf keinem Fleck ihrer Haut von Kopf bis Fuß ein einziges Härchen mehr wuchs. „Hast du auch wo Tattoos?“, fragte sie, während sie nach den Piercings tastete, die Mila früher schon hatte, und ließ ihre Hände auf dem frischen Schweißfilm über Milas Brüste hinweg auf samtweicher Haut weiter abwärtsgleiten.
***
„Ein Urlaubsmittbringsel?", fragte Mara nachdenklich und ließ dabei die Ampulle, die Mila für ihre Freunde aus ihrer Heimat Albanien mitgebracht hatte, nachdenklich balancierend auf den Fingerkuppen ihrer rechten Hand rotieren.
„Der neueste Impfstoff gegen die Biowaffen, die Russland plant, in den nächsten Monaten gegen die westliche Welt einzusetzen", sagte Mila, die gekommen war, um Mara mit sich in ihre sichere Villa nach Albanien mitzunehmen und das Leben all der Freunde zu schützen, die sie im Kampf um den Erhalt der freien Welt unterstützten. „Sie werden zwar alle wie Susi ihre Haare verlieren, aber der Impfstoff wird ihnen ihre Fortpflanzungsfähigkeit und ihre Sehkraft erhalten", sagte die Agentin, die auf eigene Rechnung arbeitete und die in Mara die erste Freundin ihres Lebens gefunden hatte und der sie, wie Ronja aus ähnlichen Gründen, zu ganz viel Dank verpflichtet war.
„Mila, mit Worten kann ich gar nicht hinreichend beschreiben, wie glücklich ich darüber bin, dass wir eine zweite Chance zusammen haben könnten, aber mein Platz ist hier in Berlin bei meinen Freunden, die offensichtlich auch deine Freunde sind. Obwohl ich die Zusammenhänge noch nicht überblicke, sehe ich keinen Grund zu fliehen.“
„Dann lass dir von mir helfen", sagte Mia und streichelte ihre Freundin liebevoll. „Seit unserem nächtlichen Geheimtreffen weißt du, dass die wichtigsten Geheimdienste der Welt bei mir Informationen kaufen, die sie nirgends anders bekommen können, und ich werde dir alles sagen, was ich meinen Datenbanken zu deinen Fragen entlocken kann. Alles, was ich weiß, gehört auch dir.“
„Kurz vor Mitternacht kam es mir gestern mal so vor, als ob Alena etwas von unserem Treffen, das ja eigentlich geheim bleiben sollte, gewusst haben könnte", sagte Mara und wartete dann schweigend auf Milas Antwort.
„Dass Susi wegen eines korrumpierten russischen Offiziers ihren rechten Arm und ein Auge verloren hat, weißt du von ihr schon aus ihrem eigenen Mund, seit dem Tag, an dem du Alex ausprobieren wolltest", begann Mila nüchtern ihren aufklärenden Bericht. Dass Alena und Enzo sich in einem Zeugenschutzprogramm des BND befinden, dürfte dir hingegen neu sein. Aber Susi hat dir von Mirjam erzählt, die sie aus den Klauen der Russen befreit hat", entwickelte Mila weiter und gab Mara mit einer Denkpause eine Chance, selbst weiter zu kombinieren.
„Das kann nur heißen, dass Alena die neue Identität von Mirjam ist und sich hinter Enzo der BND-Mitarbeiter verbirgt, der sich während des Einsatzes nach ihrer erfolgreichen Flucht aus der Ukraine in sie verliebt hat. Den Staatsdienst dürfte er quittiert haben, um hier mit ihr zusammenzuleben und für den Rest ihres Lebens rund um die Uhr gut auf sie aufpassen zu können. Deshalb auch das Schattenglutprojekt … Du hast dich ihnen allen vor mir zu erkennen gegeben und ihr habt zusammen immer auf mich aufgepasst", sprudelten die Worte, die für Mara Licht ins Dunkel brachten, nur so aus ihr heraus. „Für mich bleibt jetzt nur noch eine letzte Frage offen, Mila."
„Die nach der Rolle des korrupten Oberst Orlejev? Der Name, nach dem dich erstmals der ermittelnde deutsche Kommissar nach Pawels Tod im Spaßbad fragte und vor dem ich dich bei unserem Abschied aus deinem Albanienurlaub noch persönlich gewarnt habe“, erwiderte Mila wissend und setzte ihren Bericht fort. " Er ist einer der gefährlichsten Männer, die der russische Präsident Taras Nowikow in seinem Portfolio hat, und er ist der Projektleiter des Biowaffenprogramms, mit dem der Wille der freien Welt in den kommenden Monaten für immer gebrochen werden soll. China hat kein Interesse an einer atomar verseuchten Welt, aber zusammen mit Indien genug immer besser ausgebildete junge Menschen, die das demografische Problem in den Fabriken der freien Welt lösen könnten."
„Dann macht Taras Nowikov mit seinen Biowaffen, die Orlejev entwickelt hat, nur die Drecksarbeit für China?", fragte ich sugestiv und nickte zur Bestätigung der von mir festgestellten Tatsache vor mich hin.
„Nowikov ist schon jetzt Chinas Vasalle und in den letzten Monaten unheimlich unter Druck der Europäer geraten, die ihm vor wenigen Tagen die Leistungsfähigkeit eines neuen europäischen Feuerleitsystems bewiesen, hinter dem seine Berater eine neue KI vermuten. Der Erfolg ist in Wahrheit aber dem Spieltrieb der Wissenschaften in Verbindung mit neu umgesetzter Inklusion geschuldet. Freigeistige Gamer haben den roten Betonköpfen, die noch immer von einer für sie längst unerreichbaren Weltordnung träumen, mit Hirn und Papier ihre Schranken aufgezeigt. Das neue System kann für uns nicht nur eine Chance zur Selbstverwirklichung, verbunden mit dem Erhalt der europäischen Welt, eröffnen, sondern auch die Autorität Europas auf ein Niveau heben, das der Ukraine langfristige Sicherheitsgarantien ermöglicht“, beendete Mila ihre Ausführungen.
„Das einzige, was ich noch nicht verstehe, ist, warum du mich bei unserem Abschied persönlich so eindringlich vor Orlejev gewarnt hast“, fragte Mara nach. die zum Rest keine weiteren Fragen mehr hatte.
„Weil er ein Psychopath ist, der auf taffe Frauen wie seine giftmischende Hexe Ulijana, Susi, Alena, dich und mich steht“, sagte Mila mit klirrend kalter Stimme. „Du stehst auf seiner schwarzen Liste wegen deines Erfolgs im Spaßbadabenteuer jetzt noch vor Susi ganz oben."
„Warum nur, etwa weil ich trotz meiner Einschränkung selbständig genug bin, um selbstbewusst mein Leben zu leben und mich meiner Haut zu wehren, wenn es erforderlich ist?", fragte sich Mara laut.
„Nein, wegen deiner Augen und wegen deiner Stärke. Da kommen zwei Dinge zusammen, die ihm fast den Verstand rauben, und er sieht sich als Jäger, der sich durch dich selbst um seine Beute gebracht fühlt, nachdem ihm Pawel, den du im Spaßbad getötet hast, vorher noch Details über dich mitteilen konnte.
„Was für Details, verdammt nochmal, Mila?“, brauste Mara auf. „Ich bin doch nicht die einzige Blinde auf dieser gottverdammten Welt, die gut klarkommt und sich wehren kann."
„Aber du bist diejenige, die er haben will und nicht haben kann, das macht ihn total kirre", war Milas leise Erklärung.
„Aber wie kommt er gerade auf mich?", seufzte Mara und ließ ihr Gesicht in ihre Hände fallen.
„Weil Vesevolod, den du als Wladimir kennst, ihm, seinem Vater, schon lange vor seinem Tod deine Krankenakte geschickt hatte, die er sich aus dem gehackten Computer der Ärztin verschafte, die dir wegen deines bilateralen Augenkrebses als Kind deine Augäpfel entfernen musste", presste Mila heraus, die es anwiderte, Mara erklären zu müssen, dass Orlejev nur auf ihr Handicap geil war und sich nicht die Bohne für Mara als Mensch interessierte.
„Willst …, willst du damit sagen, dass er es nur wegen meiner beiden enukleierten Augenhöhlen, in denen bei mir zwei blinde Glasaugen stecken, auf mich abgesehen hat?", stotterte Mara entsetzt.
„Nicht nur, dass du sehr jung blind gemacht werden musstest, kommt noch als besonderer Reiz für ihn hinzu. Du weißt noch nicht genug von Orlejevs Partnerin, Ulijana", erklärte Mila und holte weiter aus, als die geschockte Mara das eigentlich wollte. „Susi hat dir am Tag deiner Filmaufnahmen im Auto auf dem Weg ins Schattenglut von ihren Erlebnissen in dem geheimen Sanatorium erzählt …"
„Die verrückten Geschichten über diesen Psychopathen und was er mit wem hat, jucken mich überhaupt nicht. Ich will nur wissen, was das mit meinen Augen zu tun hat", fiel sie Mila ungeduldig ins Wort.
„Geduld, Mara", beruhigte Mila. Ich fasse mich so kurz wie möglich. Ulijana war die Direktorin der Forschungsanstalt und Susi konnte nicht wissen, dass die Frau ihre zwei Glasaugen nicht wegen des Laborunfalls trug, der auch in ihrer gefälschten Personalakte stand. Die Wahrheit ist, dass sie ihre Sehkraft für einen frühen Selbstversuch bei der Entwicklung des Giftes und für Orlejev gegeben hat, dessen Fetisch im Laufe der Zeit immer extremer wurde. Ulijana tischte ihm vor dem Liebesspiel immer neue Geschichten aus den Versuchsreihen auf, unter anderen auch die von Susis amputiertem Arm und dem ihr entnommenen Auge. So hat sie es auch mit deiner Geschichte gemacht und jetzt will er alles von der Frau, die keinerlei Erinnerung an ihr eigenes Sehen hat. Ulijana hat sich dabei verzockt, weil sie nicht damit gerechnet hatte, dass seine fanatische Gier auf dich, die sie selbst geweckt hat, so weit gehen würde, wie sich die Dinge bis heute entwickelt haben. Damit, dass ihr Lover sich wegen deiner Geschichte plötzlich nicht mehr für sie, seine für ihn geblendete Hexe Ulijana, und auch nicht mehr für ihre Geschichten wie die über Susi und die über die anderen Probandinnen interessieren würde, hatte sie nicht gerechnet. Die im Dienst der Wissenschaft und als Cyborgs für das russische Vaterland in chirurgisch modifizierten Körpern Lebenden wurden nach Susis Flucht, die Mirjam, also heute Alena, geplant und durchgeführt hat, an einen anderen geheimen Ort verlegt, von dem ich weiß, wo er ist, und den mein Agentennetz im Blick behält.
„Das ist ja noch grässlicher als alles, was ich befürchtet habe, seit ich die Berichte von Susi kenne", sagte Mara. „Susi und ich sind demnach auch hier in Gefahr."
„Nun verstehst du, warum ich gekommen bin und euch alle zu mir ans Meer mitnehmen will", sagte Mila und zog ihre beste Freundin zu sich heran, um sie zu umarmen.
"Darüber muss ich noch nachdenken, aber du könntest auch hier zu mir in meine Villa einziehen", erwiderte Mara, deren Lippen gerade Milas Mund gefunden hatten.
Texte: © Lisa Mondschein
Bildmaterialien: © Google Gemini
Cover: © Fizzy Lemon
Tag der Veröffentlichung: 15.05.2025
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für dauerhaften Frieden in einem unabhängigen und demokratischen freien Europa mit hinreichend stabilen Sicherheitsgarantien, nicht nur für die Ukraine.