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Traumwelten

„Mila, bist du das wirklich?", stieß Mara schlaftrunken hervor und fragte sich, ob der Körper, der sich unerwartet zu ihr und Ronja unter die Decke gekuschelt hatte, real oder nur eine Fiktion unterbewusster Träume sei.

„Ja, ich bin hier, um wenigstens euch beiden reinen Wein einzuschenken", antwortete die Besucherin, die sich kurz zuvor nahezu lautlos durch das Ressort geschlichen hatte, in dem Mara und Mila mit der Inklusionssportgruppe ihres Turnvereins einen gesponserten Urlaub in Albanien verbrachten. Ohne dass sie von anderen Gästen bemerkt wurde, war die Blinde, die sich in stockdunkler Nacht prima ohne Licht orientieren konnte, durch die nur einen schmalen Spalt breit geöffnete Tür in das unbeleuchtete Zimmer der beiden Frauen geschlüpft, die beide das gleiche Handicap wie sie hatten. „Habt wegen meines Überraschungsbesuchs, von dem hier außer euch niemand etwas mitbekommen darf, bitte keine Angst."

„Mila …? Die Verschollene? …", meldete sich Ronja, die von Maras schlaftrunkener Frage ebenfalls geweckt und jäh aus ihren Träumen gerissen worden war. Im Gegensatz zu Mara klangen ihre ersten Worte trotz des überraschend unterbrochenen Schlafs und der vielen mysteriösen Ereignisse, die sie in den vergangenen Tagen zusammen mit ihrer Freundin erlebt hatte, hellwach, unerschrocken und von kritischem Misstrauen begleitet.

„Was das alles zu bedeuten hat, muss ich gar nicht verstehen", schluchzte Mara vor Freude und umarmte Mila innig. „Zuerst will ich dich nur ganz doll drücken und mich darüber freuen, dass du lebst, Mila. Das muss einfach sein, nachdem ich mir so viele Jahre Sorgen um dich gemacht habe. So gesund, wie du dich anfühlst, geht es dir entgegen meiner schlimmsten Befürchtungen offensichtlich ganz hervorragend, und das reicht mir voll und ganz", nuschelte Mara durch einen Schwall Freudetränen, die ihre Rührung mehr als die gesprochenen Worte zum Ausdruck brachten.

„Reinen Wein, bezüglich der Hintergründe dieser rätselhaften Reise und der mysteriösen Geschehnisse der letzten Tage?", fragte Ronja kühl und gefasst dazwischen.

„Ja, Ronja, gut kombiniert. Nicht nur die Reise geht auf mein Konto, aber das, was alles dahintersteckt, ist so viel größer, dass ich euch das, selbst wenn ich wollte, nicht einfach erklären könnte", antwortete Mila, löste sich sanft aus Maras Umarmung und begab sich auf der Matratze in den Schneidersitz.

„Deine Kleidung macht mir Angst", sagte Ronja, während ihre Fingerkuppen über den seidig glatten Catsuit glitten, den Mila trug.

„Das mag sein, aber sie ist nützlich, um sich in der Nacht vor Blicken Sehender zu verbergen", antwortete Mila sanft und sprach gleich in noch größeren Rätseln weiter. „Auf deinem nächtlichen Ausflug mit Akasha war dir der Dress so nützlich, wie er Mara als gute Tarnung während des Finales im Wasser bei Pawels Ende diente."

„Mila …! Woher weißt du das alles?", hauchte Mara, die inzwischen auch im Schneidersitz schräg gegenüber von Mila auf der Bettdecke saß und nach den Händen ihrer Jugendfreundin tastete, fast ehrfürchtig.

„Euch alles zu erzählen, wäre unnütz und würde euch und die anderen nur zusätzlich gefährden. Dennoch bin ich zu euch gekommen, um das Wichtigste klarzustellen, weil ich insbesondere dir, Mara, mehr als allen anderen Menschen auf der Welt dankbar dafür bin, was du für mich getan hast“, erklärte Mila so, dass ein mildes Lächeln ihre Stimme begleitete, während sie Maras Hände hielt. „Kurz nach der Tragödie im Moor", erzählte die nächtliche Besucherin in Ronjas Richtung weiter, „aus der mir Mara so geschickt, wie wir sie kennen und schätzen, herausgeholfen hat, tauchte ich, wie ihr beide wisst, unter. Gleich danach baute ich die Geschäfte, die ich von meiner korrupten Familie übernommen und nur noch kurz in deren altem Geschäftsmodell weitergeführt hatte, auf meine Weise zu einem Unternehmen um, das ähnlich eines Geheimdienstes bis heute erfolgreich mit sensiblen Informationen handelt. Nur wenn es sich nicht vermeiden lässt, greife ich mit Interventionen ein. So, wie das in der vergangenen Nacht auch bei Wladimir unvermeidbar notwendig geworden war …"

„Du warst das …?", fragten Mara und Ronja fast im Chor, „ … aber warum …?"

„Weil er ein Schläfer der Russen war, der bald den Auftrag erhalten hätte, die meisten von euch zu töten", erklärte Mila kühl.

„Dazu hätte er in den vergangenen Tagen unzählige Chancen gehabt …", wand Ronja zweifelnd ein. „Als wir am Strand waren, zum Beispiel, und was sollte die Russenmafia, mit der er sich angelegt hatte, überhaupt für ein Interesse daran haben, welche von uns von ihm töten zu lassen?"

„Gegen deine Schlussfolgerung, Ronja, spricht einiges und mindestens zwei Aspekte, die du nicht wissen kannst", entgegnete Mila. „Zum einen war Wladimir eine Art menschliche Drohne, die nur auf Anweisung handelte, und zum anderen hätte der Rest von euch erst nach Maras erfolgreicher Entführung eliminiert werden sollen.“

„Wie ...? Die Russenmafia wollte mich entführen?", schrie Mara auf. „Warum das denn und wohin?"

„Nicht die Russenmafia", erklärte Mila, „sondern der russische Geheimdienst, der mit einer Vielzahl perfider Ideen längst damit begonnen hat, zu versuchen, unsere westliche Welt zu destabilisieren. Aber nicht alle Aktionen, die auf den ersten Blick so scheinen, sind Teil der hybriden Kriegsführung, und nicht alle Aktionen, die mittlerweile gern auch der Russenmafia in die Schuhe geschoben werden, wurden tatsächlich von dort initiiert. Hinter dem Plan, dich zu entführen, Mara, steckt kein Geringerer als Oberst Orlejev. Susis Pawel war das letzte und auch das schwächste Glied in einer längeren Kette dunkler Gestalten. Seinen Verbindungsoffizier nach Russland war Vesevolod Orlejev. Diesen erfolglosen Sohn des eigentlichen Drahtziehers, dem Oberst Sergej Orlejev, lerntet ihr unter seinem Decknamen Wladimir kennen. Zur Strafe für die Misere, die eigentlich Pawel zu verantworten hatte, wurde ihm in Russland nicht nur eine Gehirnwäsche verpasst. Einige Zeit später hat ihn sein eigener Vater zu seiner letzten Mission losgeschickt und ihn als ferngesteuerte Marionette hier auf dich und deine Freunde angesetzt."

„Rache für Pawel?", stieß Mara aus. „Dann schwebt Susi in Berlin in viel größerer Gefahr als wir hier, und ich bin an allem schuld."

„Keine Sorge, das habe ich alles im Blick", antwortete Mila mit einer Formulierung, die in diesem Zusammenhang unter blinden Menschen so normal wie unter sehenden Gesprächspartnern war. „Schuld trifft dich, Mara, kein Fünkchen. Genau das Gegenteil ist der Fall, aber das ist einer der Gründe, warum du diejenige bist, die auf Oberst Orlejevs schwarzer Liste ganz oben steht. Deshalb solltest du besonders wachsam und aufmerksam bleiben und die Fähigkeiten, die wir beide Marc zu verdanken haben, auch zukünftig so konsequent wie gegen Pawel zu deinem eigenen Schutz und auch für den deiner Freunde einsetzen. Wegen unserer besonderen Fähigkeiten mache ich mir übrigens weder um Alena noch um dich oder um mich ernsthafte Sorgen. Alena ist ebenfalls eine starke Frau, die, so wie wir, über gut trainierte Kampftechniken verfügt und in Berlin nicht nur auf sich selbst gut aufpassen kann. Solange Susi im Schattenglut in Alenas Umfeld bleibt, denke ich, dass dort niemand nah genug an sie herankommt, um ihr ein Haar zu krümmen."

„Aber warum Rache für Pawel?", griff Ronja Maras Frage noch einmal recht schroff auf und fügte den zweiten Teil des angefangenen Satzes mit einem nach bockiger Ungeduld klingenden Unterton hinzu. „… und das mit dem Orlejev-Sohn als Marionette im Zusammenhang mit einer Gehirnwäsche klingt für mich mehr wie ein aus einer utopischen Traumwelt kommendes Hirngespinst als nach einem glaubwürdigen Fakt."

„Möglicherweise denkst du, Ronja, dass ich mir anmaße, über übersinnliche Fähigkeiten zu verfügen, oder ich euch glauben machen will, in die Gedanken anderer Menschen lesen zu können, aber das ist nicht so, wie es auf den ersten Blick aussieht", sagte Mila beruhigend und tastete auch nach einer Hand von Ronja. „Übrigens ist es wenig hilfreich, so viele Fragen auf einmal zu stellen. Noch weniger clever wäre es, sie alle auf einmal im Stakkato beantworten zu wollen."

„Okay, dann erkläre uns doch erst einmal, was und woher du etwas von Akasha und mir weißt", erwiderte Ronja, die inzwischen noch misstrauischer als vorher geworden war.

„Das ist ein guter Anknüpfungspunkt, Ronja", antwortete Mila ausgleichend, „weil deine Geschichte sogar schon vor Maras Freundschaft mit mir begann.

Deine Story in Rumänien nahm ihren Anfang in einer Zeit, in der die Welt sich noch überwiegend analog organisierte, was aber nichts daran ändert, dass sich auch darüber üppige Spuren bis in unsere heutige digitale Transparenz hinein verewigt haben. Kurz nach meiner Flucht aus Deutschland stolperte einer meiner ersten KI-Bots über die Kurzinfo einer unbedeutenden Anzeigenzeitung, die in Bukarest verteilt wurde. Diese, auf den ersten Blick unscheinbare Randnotiz machte mich auf eine obdachlose Teenagerin aufmerksam, die durch den Elektroblitz einer explodierten Trafostation erblindete."

„Auf mich …?", hauchte Ronja, mit einem Zittern in ihrer Stimme.

„Ja, Ronja, auf dich", bestätigte Mila. „Danach fiel mir der Rest deiner Geschichte, der eigentlich der Anfang war: die Sache mit deinem Großvater, der dich an einen Drogendealer verkauft hat, und alles, was danach mit Akasha kam, ohne dass ich noch viel dafür tun musste, quasi automatisiert, wie von selbst, in den Schoß. Das Potenzial, das in meinen ersten neuen Suchmaschinen steckte, die ich mit ein paar eigenen Algorithmen und dem Anschluss an kostenfreie Opensourcedatenbanken zu einem wissensbasierten System aufgepeppt hatte, verblüffte mich zunächst selbst. Ohne dass ich dich kannte, Ronja, hatte ich plötzlich alle Details deiner Vita auf meiner Festplatte, die ich brauchte, um zu erkennen, dass Mara dir genauso wie mir und damit sogar sich selbst helfen könnte."

„Moment mal …", meldete sich Mara zu Wort. „Soll das heißen, dass du auch die Arbeitsplätze lanciert hast, die Ronja und mich, bevor die Pandemie kam, zusammengebracht haben?"

„Ja, Mara, auch deine Zeit in Marburg ist mir nicht verborgen geblieben, und da ich aus eigener Erfahrung weiß, was in dir und unserer Clique rund um Marc steckt, war die Lösung von Ronjas Problemen die optimale Aufgabe, um dir in Berlin etwas beim Wurzeln schlagen zu helfen", sagte Mila mit einem Grinsen.

„Das Stipendium und die Sache mit der Villa", fragte Mara, „da steckst dann wohl auch du, Mila, dahinter, oder täusche ich mich?"

„Ja, es war alles gut, sogar der ganze Covid-Mist hätte noch nicht genug durcheinandergebracht“, sagte Mila grimmig. „Aber mit dem Überfall der Russen auf die Ukraine war die Welt über Nacht total aus den Fugen."

„Hat das Ganze denn etwa auch etwas mit Wladimir, der Entführung und dem ganzen Töten zu tun, von dem du vorhin gesprochen hast?", fragte Mara.

„Und ob, und mit Susi …", bemerkte Mila, die Maras Fähigkeiten nur zu gut kannte und die Vermutung ihrer Freundin nur mit einer vagen Andeutung zwischen den Zeilen bestätigte.

„Ich verstehe nur Bahnhof", warf Ronja unwirsch ein.

„Milas Hellseherei hat nichts mit Traumwelten zu tun, Ronja. Es geht um die Hirnimplantate, von denen Susi uns berichtet hat. Die Russen haben sie entwickelt, um Menschen zu manipulieren, ihre Gefühle wie die von Wladimir zu steuern, sie zu Kampfmaschinen zu degradieren und um sich überall auf der Welt unbemerkt ihrer Augen und Ohren bedienen zu können. Mila scheint sich irgendwie Zugriff auf deren teuflisches System verschafft zu haben und offensichtlich nutzt sie es jetzt, um noch Schlimmeres zu verhindern …“

„Nach Oberst Orlejev hat sich die Polizei kurz nach Pawels Tod im Spaßbad in einem Nebensatz auch bei uns erkundigt", erinnerte sich Ronja nachdenklich und brachte mit dem ganz anderen Ton, der soeben in ihrer Stimme mitschwang, zum Ausdruck, dass sie plötzlich auch begann, die Zusammenhänge zu verstehen, und sich ihr Misstrauen fortan nicht mehr gegen Mila richtete.

„Auch Susi hat seinen Namen mehrfach in Verbindung mit einer Uljana Konowalowa genannt", ergänzte Mara, die zwar neugierig auf die Hintergründe, aber alles andere als froh über die ganze Entwicklung war. – Was will dieser russische Oberst überhaupt von mir, wenn es nicht die Rache für Pawels Tod ist, die ihn antreibt? –, fragte sich Mara, ohne ihre Gedanken auszusprechen, im Stillen. – Selbst wenn nicht alles so zusammengehört, wie Milas KI die Geschehnisse zu einem neuen, immer größer und skurriler werdenden Bild zusammengesetzt hat, fügen sich erschreckend viele der unglaublichen Aspekte, von denen Susi uns an Pawels Todestag in Berlin erzählt hat, in Milas Szenario ein. Ein Szenario, das nur auf den ersten Blick wie eine irreale Traumwelt wirkt und auch nur vordergründig den ersten Anschein erweckt, als erdachte Fata Morgana den Rahmen eines frei erfundenen Thrillers zu beschreiben. Die unterschiedlichen Erlebnisse aller Beteiligten fügen sich viel zu passgenau zu dem grauenhaften Bild zusammen, das nicht nur unsere kleine Clique, sondern die gesamte Ordnung aller Werte der westlichen Welt bedroht. Vieles deutet darauf hin, im alles entscheidenden Kern größtenteils wahr zu sein und die Perspektive auf eine völlig andere reale Welt, eine Albtraumwelt, zu eröffnen … –

 „Droht Mara hier denn überhaupt noch Gefahr von diesem russischen Offizier?", fragte Ronja, der es in dem albanischen Resort mit Strand, Sonne und Meer vor der Tür noch viel besser als in Maras Wohnung in der Berliner Villa gefiel, ins Blaue.

„Und Susi …?", warf Mara mit einem strafenden Zischen in Ronjas Richtung ein.

„Mila sagt doch, dass sie bei Alena sicher ist", schmollte Ronja zurück. „Wenn wir alle einfach hierbleiben würden, bis Mila das Problem mit dem Russen auf die gleiche Art, wie du, Mara, das mit Pawel gelöst hast, beseitigt hat, wäre die Welt wieder in Ordnung und wir würden auch keinen von uns neuen Gefahren aussetzen müssen."

„Alena traue ich nicht. Sie wirkt auf mich fast so unergründlich wie Pawel", brummte Mara unzufrieden und rang mit in ihr gegenüber Ronja aufkeimendem Ärger.

„Dein Bauchgefühl war auch schon besser, Mara", lachte Mila streitschlichtend auf. „Susis und Alenas Bindung ist der zwischen uns sehr ähnlich und ich weiß auch, warum sie euch darüber nie etwas erzählt haben.“

„Wie? … Die beiden waren auch mal ein Paar, so wie du und ich?", fragte Mara ihre Jugendfreundin Mila total verblüfft. „Warum sie uns gegenüber dann nicht dazu stehen, verstehe ich aber wirklich nicht. Deshalb stellt sich für mich an dieser Stelle mehr die Frage, ob diese Information tatsächlich wahr sein kann oder ob deine Tools hier irgendwelchen Fakenews aufgesessen sind.“

„Mir ging es anfangs wie dir, Mara, und ich dachte zunächst auch, dass das Schattenglut mitsamt der mysteriösen Alena zu Orlejevs Schläfernetzwerk gehört. Erst als meine neueren Bots auch auf die Server des BND zugreifen konnten, fand ich dort die Erklärung, die Alena entlastet hat", erklärte Mila und erzählte ihren beiden Zuhörerinnen eine Geschichte, die Mirjam als spätere Alena, nach Susis Rettung aus den Fängen der Russen in ein Zeugenschutzprogramm, gebracht hatte.

„Wow", sagte Mara baff. „Das deckt sich genau mit dem Unglaublichen, das Susi mir aus ihren Erlebnissen in einem geheimen Sanatorium erzählte, das die Russen in der Ukraine betrieben, bevor sie es selbst schleiften und danach versuchten, der Ukraine dafür die Schuld in die Schuhe zu schieben.“

„Natürlich dürft ihr hier alle so lange, wie ihr wollt, bleiben", griff Mila Ronjas Vorschlag auf. „Was kann es Schöneres geben, als gesund und ohne finanzielle Sorgen, umgeben von besten Freunden, in einem Land wie meinem Heimatland am Meer zu leben. Das Vergnügen, die Sonne täglich auf wiegenden Wellen vom Wasser getragen und mit salziger Gischt kühl besprüht zu genießen, teile ich gerne mit euch und freue mich über jeden weiteren Tag, den ihr mir hier Gesellschaft leisten wollt.“

„Das ist mega lieb von dir, Mila, und ich freue mich unbeschreiblich darüber, dass ich jetzt weiß, wie gut es dir hier geht und dass du einen Ort gefunden hast, an dem du dich in Sicherheit selbst verwirklichen und dein Leben wie verdient genießen kannst", knüpfte Mara dankend an Milas Vorschlag an. „Es ist nur so, dass ich es in meinem Heimatland auch schön finde und ich meinen Beitrag dafür leisten will, dass wir auch dort so wie du hier noch viele Jahre weiter wie gewohnt in Freiheit leben können."

„Mara, du lebst in einer Traumwelt", klinkte sich Ronja wieder in das Gespräch ein, die ihre Freundin so gut kannte, dass sie schon ahnte, was sich in Maras Hirn gerade am Entwickeln war. „Nur entspricht die Realität, die sich gerade neu definiert, nicht deiner grenzenlosen Vorstellung von Selbstverwirklichung, die dir vorgaukelt, dass eine Handvoll Leute wie wir das gerade ins Wanken geratende Weltgeschehen wieder einbalancieren könnte."

„Nein, Ronja. Nein, nein und nochmal nein", widersprach Mara vehement und erinnerte Ronja aufbrausend daran, dass Susi auch von Experimenten mit regenerierten Cyborgs berichtet hatte, von denen sich die russische Regierung deutlich mehr Vorteile auf den ukrainischen Schlachtfeldern als von unversehrten Kämpfenden versprach.

„Über die koexistenten Traumwelten zu streiten, deren Schöpfer gegenwärtig fast täglich neue, leider immer zweifelhaftere Realitäten schaffen, bringt uns alle nicht weiter", griff Mila mild lächelnd ein. „Schauen wir uns die Welt doch einfach mal aus der Perspektive unserer Augen an und lasst uns diese Blicke auf das wirklich Wesentliche konzentrieren. Auf die Fakten, die wir mit unseren Wahrnehmungsmöglichkeiten besser als die vermeintlich mächtigen Akteure erfassen können. Die Gestalter der Zukunft, die nur das sehen können, an das sie selbst glauben, liefern uns in der digitalen Welt wie auf einem Fließband all das auf die Sekunde genau, was wir brauchen, um sie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen."

„Soll das etwa heißen, dass ihr beiden unsere kleine Truppe wirklich dazu in der Lage seht, mithilfe von Milas KI die noch freiheitlich geordneten Teile unserer Welt zu retten?“, fragte Ronja mit einem Hauch in ihr aufwallender Abenteuerlust in die Runde und atmete, wie von einer plötzlichen Hitzewallung ergriffen, heftig durch.

„Mit eurer Befreiung aus den Schlingen, die Pawel für euch ausgelegt hatte, habt ihr beide, Mara und du Ronja, schon vor mir und ohne meine Hilfe längst damit begonnen", erklärte Mila. „Ihr seid diejenigen, die die entscheidenden Verbindungen zu Susi und Alena gefunden haben, deren Geschichten ich erst danach mit der Unterstützung der von mir gesammelten anderen Informationen zu dem Bild zusammenfügen konnte, das bisher nur wir drei sehen."

„Klar, das ist es! …", entfuhr Mara ein kurzer Aufschrei, als sie das Gesamtbild mit all den giftigen Tentakeln erkannte, mit denen jede Traumwelt sich vor den Einflüssen der sie umgebenden Welten schützte. Jetzt sehe ich sie auch, die Traumwelten, denen nur ihre Eigenwahrnehmung verblieben ist, weil sie sich selbst mit ihrem eigenen Gift geblendet haben und sich für alles Schöne, das anders als sie ist, so blind wie Maulwürfe gemacht haben. Die Amerikaner, die nur noch Deals sehen und seit kurzem zu blind sind, um den Schaden, den sie durch enttäuschtes Vertrauen angerichtet haben, noch selbst erkennen zu können. Die Russen, die sich mit imperialistischen Strategien und Träumereien um die Vereinnahmung verbrannter Erde bemühen, die nuklear verseucht und mit Blut getränkt ist. Die Iraner, die von sich als Atommacht in einer Welt ohne Menschenrechte träumen, in der nur männliches Leben einen Wert hat und wo nur Männer mit der Macht ausgestattet sind, die Auslegung von richtig gelebter Religion zu diktieren. Dort sehe ich ein grausames Gesellschaftsbild, das von Zwang und Unterdrückung geprägt ist und in dem Menschen von Gerichten zur Strafe Glieder abgetrennt werden. Eine Welt, in der andersdenkenden Demonstrierenden von der Polizei zur Abschreckung von der Teilnahme an friedlichen Demonstrationen öffentlich mit gezielten Gummigeschossen die Augen ausgeschossen und Inhaftierten hinter dicken Gefängnismauern mit Säure Sinne geraubt werden."

„Wir können den Blick, den wir aus unserer Perspektive auf die Welt haben, genauso auf China richten, wo es um die Menschenrechte auch nicht viel besser bestellt ist als im Iran, in Südamerika und in vielen Staaten Afrikas", steuerte Ronja mit vor Aufregung rot glühenden Wangen bei. „Selbst in Indien, dem bevölkerungsreichsten Land der Erde, sind Muslime und Christen ungeachtet dessen, dass die Mehrheit sich dort als Demokratie sieht, vielerorts Repressalien ausgesetzt, die manche Betroffene sogar bis zum heutigen Tag mit ihrem Leben bezahlen müssen. Auch die Kooperation der Russen mit Nordkorea wirft interessante Fragen auf, aber die wichtigste Frage von allen scheint mir die zu sein, die für uns Europäer bisher unbeantwortet geblieben ist: Warum leisten wir uns in stoischer Ruhe über Jahre hinweg diese in unserer Selbstvernichtung enden könnende Feigheit? Nur durch unser Unterlassen befähigen wir die Russen, uns über das Ende des Krieges in der Ukraine hinaus in naher Zukunft an anderen Stellen angreifen zu können. Anstatt unsere eigene Rüstungsproduktion mit höchster Priorität und maximal möglicher Geschwindigkeit auf Hochtouren zu bringen, bekommen wir weiche Knie, wenn Russland uns mit atomaren Interkontinentalraketen droht, obwohl wir wissen, dass selbst China ihm deren Einsatz nie erlauben würde. Warum nur bekommen wir Europäer es nicht einmal hin, den Russen im Hinblick auf die Unterstützung der Ukraine mutig mit ausreichenden Waffenlieferungen wenigstens einen kleinen Teil unserer Stirn zu bieten? “

„Richtig, Ronja, genau das ist der Punkt, an dem wir gemeinsam mit unserem kleinen Team wirksam ansetzen können", lobte Mila. „Wir mischen uns gezielt so ein, dass die Verblendeten den Unterschied zwischen Freund und Feind einfach nicht mehr erkennen können. Ein einfaches Beispiel dazu: Solange Russland nicht weiß, wer hinter der jüngsten Sprengung einer seiner protzigen Staatskarossen steckt, mit der wir hofften, Orlejev zu erwischen, werden sie solange die ganze Welt verdächtigen müssen, bis sie den wahren Täter überführt haben. Täter, die hinter hybriden Offensiven stecken, die aus unserer Welt kommen, werden sie nicht sehen können, weil sie uns nicht sehen wollen. Dass wir in ihren Augen schwach, gebrechlich und bedürftig sind, gibt uns schon einen guten Schutz, aber wenn sie dazu gezwungen sind, mit uns im Dunkeln zu kämpfen, sind wir doppelt im Vorteil, weil wir das viel besser als sie können.

„Das europäische Problem wird leider nicht so einfach zu lösen sein, da es weit schwieriger ist, einen Täter für etwas zu finden, was längst überfällig ist, aber einfach nicht getan wird“, fügte Mara hinzu.

„Das sehe ich ganz anders“, ergänzte Mila mit einem schelmisch klingenden Unterton. „Was denkt ihr, was passieren wird, wenn eine KI morgen alle in Europa herstellbaren Waffensysteme in ausreichenden Mengen bestellt, die von der freien Welt benötigt werden, um Russland in die Schranken zu weisen? Alle Waffen, die Europa braucht, um dem Rest der Welt neben der Aufrechterhaltung der ukrainischen Wehrfähigkeit auch binnen kürzester Zeit die Kompetenz des europäischen Militärs zu beweisen?

„Das könnte die Traumwelt der Russen im Hinblick auf eine unverhofft erstarkte NATO spontan massiv eintrüben", sinnierte Mara leise. „Mir stellt sich jedoch die Frage, wie lange es dauern würde, bis der Bluff aufflöge.“

„Was für ein Bluff?", fragte Mila vergnügt. „Wir lassen unsere KI die für die Korrektur benötigte Historie in Form von geheimen Besprechungsprotokollen generieren und speisen sie zeitgleich in allen relevanten Knoten vom Beschaffungsamt der Bundeswehr sowie den wichtigen Netzwerken des Finanzministeriums bis hin zu den Produktionsplanungssystemen unserer Schwerindustrie so ein, dass alle Handelnden dort persönlich von dem Erfolg profitieren können."

„Das würde sowohl die europäische als auch insbesondere die deutsche Wirtschaft wie ein Turbo auf Maximalleistung triggern und in China Hoffnungen auf einen steigerbaren Verkauf rüstungsrelevanter Zukaufprodukte in die europäische Union wecken“, brach die Begeisterung für Milas Plan aus Ronja heraus.

„Alles gut soweit", stimmte Mara zwar zu, aber meldete auch Bedenken an. „Wo willst du denn so schnell neue, an diesen Systemen gut ausgebildete Kämpfende herbekommen, Mila? Mit deinem Plan hätten wir unsere Wirtschaft zwar endlich richtigerweise auch auf Kriegswirtschaft umgestellt, aber im Gegensatz zu Russland wollten und könnten wir uns nicht Menschen wie Sklaven als Kanonenfutter aus anderen Regionen der Welt beschaffen.

„Hast du den Trend hin zu Drohnen und zu dem Einsatz von Kampfrobotern als Infantriersatz nicht mitbekommen, Mara?", fragte Mila spitz. „… und die Inklusion scheint dir gerade auch vom Schirm gerutscht zu sein."

„Meinst du mit Inklusion uns?", fragte Ronja zaghaft, während sie angestrengt darüber nachdachte, was Mila in dem großen Bild sah, das ihr und Mara noch immer verborgen war.

„Oh, wie dumm von mir", schoss der nächste Satz wie aus einer Pistole geschossen aus Mara heraus. „Echt cool, Ronja, du hast noch vor mir gerafft, auf was sie hinaus will."

„Sind wir acht Akteure mit Beeinträchtigung nicht viel zu wenig, um erfolgreich die Freiheit retten zu können?", ergänzte Ronja. „Hinzu kommt, dass Mila die Einzige von uns ist, die KI gut genug beherrscht, um die Geister dieser virtuellen Armee, über die wir gerade reden, aus unserem Mikrokosmos heraus als hybride Friedenstruppe wie Robin Hood gegen die Mächtigen der Welt in eine David-gegen-Goliath-Schlacht zu führen."

„Nein Ronja, wir sind doch viel mehr“, lachte Mara auf, die plötzlich zum Scherzen aufgelegt war, nachdem sie in Milas Weltbild endlich auch die größte Community der Gegenwart sah, deren Armee nur darauf wartete, in das Geschehen eingreifen zu dürfen, um sich endlich auch den verdienten Respekt und die seit Jahrhunderten überfällige Autorität gegenüber den anderen zu verschaffen. „Du hast falsch gerechnet, Ronja. Wenn Du Inklusion sagst Darfst du weder Binta und Faith noch Alex und Tim aus unserer Gruppe herausrechnen, und unsere beiden in Berlin hast du auch vergessen. Wenn ich richtig gerechnet habe, heißt das, dass wir aus ca. 1,3 Milliarden Menschen einen großen Teil viel schneller mobilisieren, ausbilden und einsatzfähig machen können, als Russland genügend Panzer gebaut haben wird, um die Entschlossenheit der europäischen NATO durch einen Einmarsch im Baltikum oder in Finnland antesten zu können.

„Klar, mit dem Blick auf das große Ganze sehe ich es nun auch, und nein, Mara, ich glaube nicht, dass du dich verrechnet hast", stimmte Ronja ein, hob die Hand und schnippte kurz mit Daumen und Zeigefinger. „Gib mir fünf, Mara!", und einen Moment später klatschte das Geräusch von zwei sich exakt getroffenen Handflächen wie ein Weckruf durch den nachtschwarzen Raum, in dem die drei ihren ersten inklusiven Kriegsrat hielten.

„Prima, genau so sehe ich das auch", sagte Mila zufrieden und schnippte zuerst in Maras Richtung und nach dem Patschgeräusch auch zu Ronja hin ein zweites Mal mit dem Daumen und dem Zeigefinger ihrer rechten Hand. „Marc als Diplomaten für die Kommunikation aller nach außen zu richtenden Gespräche und als Verhandler für die Ziele unserer Mission zu gewinnen, könnte eure erste Aufgabe werden, die ihr morgen ohne mich zu erledigen hättet.“

„Ja, Marc ist derjenige von uns, der am besten dafür ausgebildet wurde, klare Ziele zu entwickeln, und nicht wie die Europäer sehenden Auges tatenlos durch das Weltgeschehen zu irren", sagte Mara mit einem Kloß im Hals, als ihr wieder bewusst wurde, dass sie Mila bald wieder verlassen und, viel schlimmer noch, dann wieder vergessen muss, dass es sie noch gibt. Milas Traumwelt war dazu verurteilt, weiter in der Dunkelheit zu gedeihen, weil nur das ihre Existenz garantierte, die vor den Blicken der restlichen Welt für immer im Verborgenen bleiben musste.

„Ihr werdet das auf der hellen Seite auch ohne mich besser als mit mir schaffen, liebe Mara, denn das ist deine Berufung, der du nicht nur in Bezug auf mich, sondern auch an der Seite von Ronja treu gefolgt bist", sagte Mila zu Mara, um den Abschied einzuleiten, und drückte zuerst Ronja lang und fest.

„Danke, liebe Mila, und das nicht nur für das schöne Bild, das du uns als glaubhafte Vision von einer freien und glücklichen Zukunft geschenkt hast“, schluchzte Ronja, der der Abschied von Mila fast genauso schwer wie Mara fiel. „Die Zuversicht, die unserer Rechnung in deinem Weltbild zugrunde liegt, in dem die Ressourcen von weltweit einer Milliarde Menschen mit Behinderung brachliegen und wir durch ihre Mobilisierung tatsächlich stark genug sein könnten, um neuen Frieden zu schaffen, ist Ausdruck der schönsten Traumwelt, die sich Betroffene und auch nicht von Einschränkungen betroffene Menschen zusammen wünschen könnten.

„Der inklusive Korrekturfaktor, der sich abgeleitet aus unserer Sportgruppe mit einem 4/12-tel-Zuschlag auf unsere Reccourccen-Prognose ergibt, dürfte sich nach einem erfolgreichen Ende unserer Mission noch gewaltig nach oben weiterentwickeln", sagte Mila zu Mara, die sie durch die nachtschwarze Ferienanlage ohne Ronja noch bis zum Strand begleitet hatte.

„Im Jahr 2083 soll entsprechend aktueller Prognosen die Weltbevölkerung mit 10,3 Milliarden Menschen auf der Erde ihren Zenit erreicht haben, das ist ausgehend von den derzeit etwas mehr als 8,2 Milliarden ein Zuwachs von etwa fünfundzwanzig Prozent in den vor uns liegenden nächsten 50 Jahren - die Effekte des Klimawandels bereits eingerechnet", sagte Mara, während sie Mila umarmte und sich wünschte, dass die Inklusion bis dahin Weltkulturerbe geworden sein könnte.

„Wir müssen sehen, was kommt", sagte Mila und wandte sich bereit zum Gehen von Mara ab. Sie ging schon über den Strand auf die tosenden Wellen zu, als sie sich noch einmal zu Mara umdrehte: „Nimm dich vor Orlejev in Acht", rief sie ihr über die Schulter durch den auffrischenden Wind noch zu, bevor sich das durch den Sand stapfende Geräusch ihrer nackten Füße in Maras Ohren schon wie eine schwindende Silhouette im Nebel verlor.

„Mila! … Was will Orlejev von mir?“, schrie Mara ihrer Freundin verzweifelt hinterher, aber sie hörte nur noch das Tosen der Wellen und den pfeifenden Wind.

Die Vor- und die Nachgeschichte - Über das Inhaltsverzeichnis könnt ihr einfach navigieren ...

Himmelfahrt - Das Buch

 

 

Die Vorgeschichte im Kurzgeschichten-Format

Die Schattenglut-Trilogie

 

 

Bypass für Spoilerfreunde

 Russisches Roulette

 

Impressum

Texte: © Lisa Mondschein
Bildmaterialien: © Google Gemini
Cover: © Fizzy Lemon
Tag der Veröffentlichung: 18.05.2025

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle, die sich als David gegen einen Goliath stellen wollen, der sich im Kampf selbst scheibchenweise entmachten wird …

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