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Klappentext

 Nach einem Tag, an dem alles schiefging, rappelt die blinde Mara sich wieder auf und ergreift nicht nur bezüglich des Häuschens im Grünen, in dem sie sich als Studierende in Berlin einrichten will bemerkenswerte Eigeninitiative.

 

Was in der Vorgeschichte, die auch vom Vortag erzählt, alles schiefging, könnt ihr in ‚Nebeljob' lesen.

Aufgerappelt

„Hallo Frau Müller, det is der Buletten-Express, den se bestellt haben, wa …", quäkte die Stimme meines treuen Taxifahrers, den ich so gerne mochte, aus dem Lautsprecher meines Phones.

„Hi, Herr Stelzke, cool, dass sie gleich gekommen sind. Bin gleich bei ihnen unten…“, sagte ich voller Freude, sprang auf, schlüpfte in die Schäfte meiner Stiefel und griff nach meinem Blindenstock, um die Treppe hinunterzueilen, wo vor der Tür schon der Diesel, dessen Tuckern ich genau kannte, geduldig vor sich hin nagelte. Den Herrn Stelzke hatte ich noch aus der U-Bahn per Sprachnachricht gefragt, wie es bei ihm gerade mit Lust auf Buletten aussähe. Als ich danach total zerbröselt in meiner Ferienwohnung ankam, fand ich im Briefkasten die Unterlagen eines Immobilienhais, die mich zum Glück wieder auf andere Gedanken brachten. Bisher war heute einer der Tage für mich, die im Nachhinein für immer aus dem Kalender verbannt werden müssten. Da war gleich am frühen Morgen mein Gespräch mit einer Personalerin der Touristeninformation, die mich als Blinde für einen stinklangweiligen Job in ihrem Callcenter haben wollte. Dass ich den Termin dort vereinbart hatte, um, so wie viele andere Studierende das hier auch täglich taten, Touristen herumzuführen und ihnen die Stadt zu zeigen, schien ihr egal gewesen zu sein, weil sie mir das nicht zutraute. Der geplatzte Termin bei Frau Professor Grießhaupt, von der ich mir Unterstützung für das Problem erhoffte, das ich als Frau mit meinem noch männlichen Körper hatte, kam kurze Zeit später noch hinzu. Die Hoffnungen auf einen Job als studierende Hilfskraft an ihrem Institut konnte ich mir wohl gleich mit abschminken. Eine trostlose Fahrt mit einer überfüllten U-Bahn hatte mich dann vollends frustriert. Aber jetzt fluteten wieder schöne Gedanken an ein romantisches Häuschen im Grünen mein Gehirn. Im Nu spürte ich erneut aufkeimende Abenteuerlust und das Gefühl neuen Tatendrangs, der einen frischen Schub Energie in mir aufwallen ließ, und fand ohne Steltzkes Zutun auf Anhieb den Türgriff der Beifahrertür meines Lieblingstaxis.

„Sie sehen richtig hungrig aus, det war wohl 'n richtiger Notfall, wa?“, begrüßte er mich aufmunternd, nachdem ich ohne fremde Hilfe sein Taxi geentert hatte. Der nette Kerl fuhr sofort los, ohne mich mit unnötigen Worten überschwänglich dafür zu loben, dass ich mit meinen achtzehn Jahren gerade schon ganz alleine in ein Taxi eingestiegen war, das ich nicht sehen konnte. Die Bulettenbude, vor der er direkt vor dem Eingang parkte, kannte ich noch nicht und gab ihm wortlos meinen Parkausweis, der ihn dazu berechtigte, auf Touren mit mir Parkplätze zu nutzen, die für Behinderte reserviert waren. Das Essen war köstlich und die bittere Note des India Pale Ale, das die Berliner Kultbrauerei Fürst Wiacek mit besonders viel Hopfen braute, passte bestens zu dem scharfen Senf aus Bautzen, den es zu den leckeren Fleischküchlein gab, die in Schmalz knusprig ausgebacken worden waren.

„Sorry, Herr Steltzke, dass ich die Fahrt nach Adlerhof absagen musste“, sagte ich zu ihm, nachdem er mich nach dem netten gemeinsamen Snack wieder an der Ferienwohnung abgesetzt hatte, in der ich seit meiner Ankunft in Berlin zur Überbrückung, bis ich etwas Besseres gefunden hatte, temporär lebte. Nach einem Powernap, einer heißen Dusche und einem doppelten Espresso mit Unmengen Zucker drin, ging es mir dann wieder richtig gut und ich hängte mich ans Telefon.

„… Wie? Bei Frau Grießhaupt ist kein neuer Termin mehr möglich?“, fragte ich den sich smart anhörenden Typen, der in ihrem Vorzimmer den Abfangjäger mimte, und beendete das Gespräch mit einem kühlen Ciao. „Volltrottel“, bellte ich mein Smartphone an und dann kam mir, anstatt endgültig gefrustet aufzugeben, eine neue zündende Idee. In dem Vorlesungsverzeichnis, das mir Herr Rathling in Braille ausgedruckt hatte, fand ich auf Anhieb, was ich suchte, und ergriff dann sofort wieder mein Handy.

„Hi, Nele, ich bin’s“, begrüßte ich die Frau am anderen Ende der Verbindung. Sie war die Schwester eines Freundes, die ursprünglich auch aus dem gleichen Dorf stammte, in dem ich so wie sie in der Provinz aufgewachsen war. Erst als ich ihr in Richtung Berlin folgte, um dort so wie sie zu studieren, kreuzten sich unsere Wege vor Kurzem wieder. Nele war hier meine erste Anlaufstelle gewesen und inzwischen auch eine meiner besten Freundinnen geworden.

„Okay, dann treffen wir uns vor der Vorlesung, gegen 15:30 beim AStA, dank’ dir!“, beendete ich das Telefonat, legte auf und rüstete mich für einen Spaziergang ins Grüne.

Notlüge

„Entschuldigen sie die Störung“, begrüßte ich die ältere Dame, die nach mehrmaligen Klingeln dann doch noch an der Haustüre des idyllischen Häuschens erschienen war, das ich mit Nele während eines Spaziergangs gefunden hatte. Nele hatte mir das Schild hinter dem Zaun vorgelesen, auf dem der Name Immobilien-Mayer und die Telefonnummer der Leute stand, die hier mit der Vermietung einer Wohnung beauftragt zu sein schienen. Das Gebäude stellte ich mir wie eine einsam gelegene Villa aus einem Märchen vor, in dem eine alte Fee wohnte, die mich wohlgesonnen aufnehmen wollte, und nahm mir vor, mich von meiner besten Seite zu zeigen.

„Ich spende nicht!“, hörte ich eine scharrende Stimme sagen und spürte diese Wut, die ich noch nie sonderlich gut im Griff hatte, in mir aufflammen. Die gute Fee, die ich mir wünschte, war nullkommanichts zu einer kratzbürstigen Hexe mutiert und ich musste mir ganz schnell etwas einfallen lassen, um mir hier nicht gleich alles zu vermasseln.

„Das dürfen sie bei mir auch nicht, aber zahlen müssen sie trotzdem. Mara Müller ist mein Name, ich vertrete nämlich die Finanzbehörde“, flunkerte ich.

„Finanzamt? Bei mir ist alles legal und die Steuern sind auch alle bezahlt“, war zumindest einmal eine gemäßigtere Antwort, als die diskriminierende Begrüßung.

„Darf ich zu Ihnen reinkommen?“, fragte ich mit gespielter Gelassenheit und konnte mir ein Grinsen nicht unterdrücken, während ich gespannt die frischen Windgeräusche auf mich wirken ließ, die aus den Blättern der Bäume schallten. Der Park, der die alte Villa umgab, verströmte einen etwas feuchten Geruch, der prima zu dem schönen herbstlichen Tag passte und der Wärme der Sonne eine besondere Note verlieh.

 

 

Friedenspfeife

„Danke für den Tee“, sagte ich zu der Frau, die mich dann doch zügig hereingebeten und mir einen Platz auf der Terrasse angeboten hatte, auf der sie sich schon vor meinem Besuch niedergelassen haben musste. In der Wolldecke, die sie mir gegeben hatte, spürte ich noch einen Hauch ihrer Körperwärme. Außerdem hatte ich gehört, dass sie ein Buch zur Seite legte, bevor sie die Decke, die sie mir gab, aus einem Haufen Kissen hervorgenestelt hatte.

„Eine Notlüge?“ – Na, du hast vielleicht Ideen, Kindchen.

„Sorry, mir fiel halt so spontan nichts anders ein, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen, und wenn ich sie wegen ihres Spendenspruchs gleich dumm angemacht hätte, wäre das bestimmt keine bessere Idee gewesen“, antworte ich der Dame, die sich inzwischen richtig nett anhörte, mit einem schiefen Grinsen.

„Das, mit meinem dummen Spruch tut mir echt leid. So forsch, wie ich dich voller Elan zielstrebig auf mein Haus zustürmen sah, konnte ich mir nicht im Entferntesten vorstellen, dass du wirklich blind bist“, war die beste Antwort, die ich mir wünschen konnte. „Willst du auch eine?“, fragte mich die Dame schon, bevor ich das Knistern der Folie gehört hatte, mit der das Zigarettenpäckchen, nach dem sie gegriffen hatte, umhüllt war.

„Als Ersatz quasi für ‚ne Friedenspfeife‘?“, grinste ich und fand dort, wo ich das Knistern gehört hatte, die Hand mit ihren Kippen und griff zu. Ihre vom Rauchen kratzige Stimme hätte ich jünger eingeschätzt als die kalte Haut ihres Handrückens, die mir, so trocken und runzlig wie sie war, nun doch schon fortgeschrittener gealtert vorkam. Meine Gesprächspartnerin taxierte ich auf so um die achtzig Jahre alt und knüpfte an den Verlauf des Gesprächs an der Stelle an, an der sie sich von meinen zügigen Schritten irritiert gezeigt hatte. „Ja, mit dem Stock bin ich ganz gut und auch gerne alleine draußen in der Natur unterwegs“, griff ich den Faden auf und fügte gleich hinzu, dass Gartenarbeit mir bestimmt auch gut von der Hand gehen würde. Zudem käme ja noch hinzu, dass das Werkeln in der frischen Luft eine gute Möglichkeit sei, um nach einem anstrengenden Tag an der Uni den Kopf wieder freizubekommen.

„Wie kommst du denn jetzt auf Gartenarbeit?“, fragte die Alte und wunderte sich entweder über meinen abrupten Themawechsel, oder darüber, dass ich vielleicht mal wieder, ohne den Gesprächsverlauf geduldig zu entwickeln, mit der Tür ins Haus gefallen war.

„Der Mayer, hat mir das auch schon versucht auszureden. Genauso wie die Idee, hier einzuziehen. Nur abgezockt hat er mich dafür trotzdem schon sofort“, antworte ich ehrlich verschnupft und gab mich dazu weniger euphorisch und dafür an dieser Stelle jetzt frustriert und enttäuscht.

„Oje, der schon wieder! Den Kerl hasse ich mehr, als der Teufel das Weihwasser. Erst war er zuckersüß, und seit er den Auftrag, mir bei der Mietersuche behilflich zu sein, in der Tasche hat, nervt er mich von Woche zu Woche immer mehr. Mit immer fieseren Tricks kommt er hier dauernd unangemeldet an, um mir neue Vorschläge zum Umziehen in ein betreutes Wohnen zu unterbreiten, um die ich ihn nie gebeten habe. „Hinzu kommt, dass er mir seit neustem mein Häuschen am liebsten unter meinem Hintern wegverkaufen würde, sprudelte die Frau erregt.“

„Die Courtage hat der fiese Beutelschneider schon gleich nach dem ersten Gespräch in bar von mir abkassiert. Quasi als Vorschuss, bevor er dazu bereit war, mir einen Termin für eine Wohnungsbesichtigung zu geben“, berichtete ich ihr.

„Wenn du möchtest, gehe ich gleich nach unserem Tee mit dir hoch“, antworte die Vermieterin, der ich vor Freude am liebsten um den Hals gefallen wäre.

Inspektion

„Meine Tasse ist leer und die Kanne auch“, sagte die Vermieterin und stand auf, um mir die Wohnung zu zeigen.

„Ich hab auch leer“, entgegnete ich und war ganz hippelig vor lauter Neugier.

„Mara, eine Frage hätte ich noch, bevor wir hochgehen… Wenn ich dich das überhaupt so fragen darf…“, sagte sie dann, und mir war sofort klar, was sie fragen wollte.

„Ich bin total blind, also wirklich stockblind, falls es das ist, wonach sie mich fragen wollen. Sehen geht bei mir gar nicht, aber das ist kein großes Problem für mich. Damit komme besser klar, als sich das Sehende vorstellen können, und auch die Besichtigung der Wohnung wird bestimmt gut klappen“, antworte ich ihr ganz offen.

„Oh, das tut mir leid, ich wollte auch nicht indiskret sein“, war die Antwort, und ich spürte, dass sie mir dabei scheu in meine Augen sah.

„Meine Augen sind halt nur noch Glasprothesen, aber ich kann alles, was mir wichtig ist, auch so gut wahrnehmen – nur anders halt, als Sehende“, ergänzte ich, weil ich spürte, dass sie mit meiner Blindheit etwas überfordert und deshalb unsicher war. Für Sehende, die ich mochte, waren solche Erklärungen die schnellste und beste Methode, um Berührungsängste abzubauen. Dann stand ich auch auf und griff nach meinem Stock, den ich zusammengefaltet neben mich auf den Sessel des Terassenmöbels gelegt hatte, das aus Rattan war.

„Wenn es ihnen nicht unangenehm ist, würde ich mich gerne an ihrem Arm bis zur Wohnungsabschlusstür durch das Treppenhaus führen lassen und die Wohnung dann von dort aus alleine mit meinem Stock erkunden. Könnten wir vielleicht durch den Garten zur Eingangstüre gehen? Wenn wir dort starten, könnte ich mir gleich den Weg von der Haustüre bis zur Abschlusstür der Wohnung einprägen“, sagte ich und streckte meine Hand unaufdringlich in Richtung ihres Ellenbogens aus.

„Na dann mal los, Kindchen“, sagte sie, und der Körperkontakt mit dem, uns meine Hand durch den Ärmel der dicken Strickjacke, die sie trug, verband, fegte letzte Reste von Vorbehalten wie von einem Windstoß weggeblasen davon. Der Hausflur roch intensiv nach Bohnerwachs und das Holz der alten Treppe knarrte auf jeder Stufe, die wir weiter hinaufstiegen. Das schwere Klirren von Schlüsseln, die zu einem Schlüsselbund zusammengefügt waren, sagte mir, dass es hier noch keine modernen Sicherheitsschlösser gab. Das Holz der Abschlusstüre passte zu dem alten Türschloss und fühlte sich etwas roher an, als ich das von den Oberflächen moderner Kunsstofftüren kannte. Die Luft in der Diele der Wohnung roch im Gegensatz zu dem gut gelüfteten Treppenhaus, in dem sich zu dem Geruch der Bodenpflege frische Herbstluft hinzugemischt hatte, muffig und abgestanden. Durch den Stoff meiner Jeans hindurch spürte ich rechts von mir die Wärme von Sonnenstrahlen, die mir zeigten, wo sich in dem Wohnzimmer, das wir gerade betreten hatten, ein Fenster befinden musste.

„Darf ich“, fragte ich, nahm die Hand vom Stoff der Strickjacke, ließ meinen Stock sich auffalten und bewegte mich ohne fremde Hilfe, konzentriert mit dem Stock vor mir hin- und herwischend, auf das Fenter zu, das nach Südosten ausgerichtet sein musste. Bevor ich es erreichte, um es zu öffnen, musste ich noch einige Balken des Dachstuhls umrunden, die vom Boden bis zur Decke reichten. Der Fenstergriff fühlte sich so alt wie einer an, den ich vor längerer Zeit bei einem Besuch in einem Freilichtmuseum mal in der Hand hatte. Die Beschläge qietschten und schrien gierig nach ein paar Öltropfen, und auch als das Fenster nach innen kippte, ging diese Bewegung nicht ohne knarzende Begleitgeräusche vonstatten. Das Schließen des Fensters erforderte etwas Kraftaufwand und das Umlegen des Hebels, der sich rechts unten über abgeblätterter Ölfarbe befand, war noch schwergängiger. Das alles störte mich aber überhaupt nicht. Ganz das Gegenteil war der Fall, weil ich mir die Wohnung mit Beibehaltung der authentischen Patina sorgfältig renoviert einzigartig romantisch vorstellte. Nachdem ich es geschafft hatte, die beiden maroden Fensterflügel nach innen aufzuziehen, drang ein Schwall frischer Herbstluft herrein, der die Wohnung schon in viel besserem Licht erscheinen ließ.

„Wie machst du das nur, Kindchen?“, hörte ich die alte Dame staunen, die noch immer in dem Türrahmen stand, der den Durchgang von der Diele in das Wohnzimmer ermöglichte.

„Mit bisschen Übung, ist das kein Ding“, gab ich ihr, erfüllt von Begeisterung und Neugier, zur Antwort. „Wenn's recht ist, würde ich mir dann jetzt gern Küche und Bad ansehen und die Tour einfach so nehmen, wie sie sich ergibt“, und fuhr damit fort, die Wohnung der Außenwand entlang weiter Zimmer für Zimmer zu erforschen. Das Bad fand ich rechts von der Tür zum Wohnzimmer nach Nordost weisend und stellte fest, dass es sich dabei um einen schmucklosen Anbau mit spartanischer Ausstattung handeln musste, der Raum jedoch erfreulich groß war. Es gab noch ein weiteres Zimmer, das vom Flur aus gegenüber der Tür zum Wohnzimmer Richtung Nordwesten ausgerichtet war. Der Boden des Raumes, der sich sowohl zur Nutzung als Gästezimmer oder als Arbeitszimmer anbot, war mit den gleichen rustikalen Holzbrettern wie die restlichen Räume der Wohnung belegt. An der Abschlusstür vorbei stieß ich gegenüberliegend von der Tür zum Bad in südwestlicher Richtung auf die Tür zur Küche, die nicht nur klein war, sondern sich auch so vergammelt anfühlte, wie sie roch. Die Tür zum Schlafzimmer befand sich von der Diele aus im rechten Winkel zu der Tür, die in die Küche führte, an der selben Wand, durch die es auch in das Wohnzimmer ging, also wieder in südöstlicher Richtung. Mit meinem Stock fand ich in dem Raum ein altes Ehebett und einen Kleiderschrank, der vielleicht nach einer gründlichen Restaurierung sogar als Antiquität durchgehen würde.

„Die Wohnung gefällt mir, sie ist schön groß“, sagte ich und klinkte mich wieder über dem Ellenbogen der Frau ein, die geduldig gewartet hatte, bis ich mit meiner Inspektion durch war.

„Ja schon, aber weil das Wohnzimmer so riesig und die wenigen anderen Räume recht klein sind, ist sie mit einer Grundfläche von einhundertneunzig Quadratmetern für die Vermietung an eine Familie, die eine große Wohnung braucht, weil sie mehrere Kinder hat, einerseits zu groß und andererseits doch zu klein. Rechnerisch reduziert sich die Wohnfläche wegen der vielen schiefen Wände zwar auf einhundertfünfzig Quadratmeter, aber für Kinderlose ist sie trotzdem viel zu groß, schon alleine des Putzens wegen“, antwortete die Vermieterin und fügte hinzu: „… Und in diesem Zustand wäre sie selbst dann, wenn sie kleiner wäre, eigentlich auch nicht vermietbar.“

„Das sehe ich anders. So wie sie ist, würde ich sie gerne nehmen und nicht nur renovieren, sondern auch etwas umbauen, wenn ich das dürfte“, sagte ich und hätte mir auf die Zunge beißen können, weil mir danach noch die selbstironische Bemerkung: „Ich bin ja blind“, dazu herausrutschte.

„Kindchen, ich würde dir wirklich gerne helfen, aber hier anzufangen würde mehr Geld verschlingen, als ich mir mit meiner kleinen Rente leisten kann“, sagte sie ohne auf meine schnippische Bemerkung weiter einzugehen, und fügte hinzu, dass der Hausverkauf in Verbindung mit einem Umzug in das betreute Wohnen bei Licht betrachtet wohl doch ihre einzige langfristige Alternative sein könnte.

„Ach kommen sie, schließlich wird nichts so heiß gegessen wie es gekocht wird, und was die Alternativen betrifft, hab' ich da ganz andere Ideen im Kopf als sie.“ Während ich das sagte, gab ich ihren Oberarm dann doch schnell wieder frei und rüstete mich neu mit meinem Stock. „Darf ich sie jetzt erstmal zu ihrer Terrasse zurückbringen, werte Dame?“, und marschierte sie untergehakt los zur Treppe. Die dreizehn Stufen, die ich gezählt hatte, klappten so perfekt wie der Linksbogen, den die Treppe nach der siebten Stufe von oben machte, und nachdem wir diesem gefolgt waren, traten wir kurz darauf wieder in das wärmende Licht der Herbstsonne, das wie Balsam für nachdenkliche Gemüter und gut gegen Sorgen war.

„Hätten sie noch Lust auf einen Plausch bei einer neuen Kanne Tee mit mir?“, fragte ich sie nachdem wir das Terassenmöbel wieder erreicht hatten.

Dankbar

„Danke Lissi“, sagte ich zu Luise, die mir während des Plausches nicht nur das ‚Du‘ angeboten, sondern mir auch ihren Kosenamen verraten hatte. „Danke, dass ich die Wohnung von dir bekommen und demnächst hier einziehen darf. Besonderen Dank will ich dir für dein Vertrauen in mich sagen und für die Chancen, die du mir damit eröffnest, hier ein selbstbestimmtes und freies Leben, als unabhängige Volljährige beginnen zu dürfen. Auch, dass ich mich in deinem Auftrag um die Ausfertigung meines Mietvertrages und vielleicht auch mehr mit dir kümmern darf, ist nicht selbstverständlich. Diesen Aspekt werte ich als bemerkenswerten Vertrauensvorschuss deinerseits, für den ich dir auch noch danken will“, sagte ich überglücklich und verlor dann noch ein paar letzte Sätze über den gierigen Mayer, der Luise so sehr bedrängte, dass sie sich zunehmend vor ihm ängstigte. „Bitte Lissi, mach dir wegen des Mayers keine Sorgen mehr, mit dem lassen wir uns auf keine dummen Spielchen mehr ein. Solchen Typen ihren Schneid abzukaufen und ihnen den Spiegel vorzuhalten, das ist eine besondere Stärke von mir.“

„Daran, dass du den unverschämten Mayer mit deinem taffen Auftreten und mit der Energie, die dich, wenn du ein Ziel verfolgst, antreibt, in den Griff bekommst, hab ich keine Zweifel mehr, Mara“, bemerkte Lissi, der offensichtlich ein letzter ganz anderer Aspekt neue Sorgen bereitete. „Aber wie du das, was du mir da eben alles so schön entwickelt hast, als Studierende finanziell allein stemmen willst, das kann ich mir nicht im Entferntesten vorstellen?“

„Darüber wollte ich eigentlich nicht reden und ich behalte diesen Aspekt auch gegenüber meinen besten Freundinnen und Freunden, solange es geht für mich“, stakste ich herum, weil ich auch Lissi nichts von einem mysteriösen Stipendium erzählen wollte, dessen Geld mir Monat für Monat auf mein Konto sprudelte.

„Oje Mara, nein! Du musst mir nichts erzählen, was du nicht willst. Jeder Mensch sollte sich seine Geheimnisse bewahren dürfen“, bremste die alte Dame mich, während ich darüber nachdachte, wie ich ihr das so erklären könnte, dass sie hinter mir keine krummen Dinger vermuten würde, die sie beunruhigen könnten.

„Danke, Lissy, aber wir könnten es so machen, dass ich dir die Papiere meiner Bank für die Finanzierung zeige, sobald sie steht. Die brauchen wir dann eh für den Termin bei einem Notar, und dann ist auch der Mayer dran …“, schlug ich dankbar vor und ließ mir dazu von meinem Smartphone die Uhrzeit ansagen.

„Auweia, Nele wartet gleich auf mich in der Uni …“, rief ich erschrocken und tastete etwas hektisch nach meinen Sachen, die ich auf den Rattan Gartenmöbeln abgelegt hatte, und nach dem Rucksack, der neben meinem Stuhl auf dem Terassenboden stand.

„Lass dich nicht aufhalten, Kindchen. Schön, dass du hier warst, und ich freue mich sehr auf deinen nächsten Besuch“, sagte die liebenswerte ältere Dame, während sie mich zum Abschied herzlich umarmte und wir uns ganz doll drückten.

Funkloch

„Wo bleibst du denn, ich hatte mir schon Sorgen gemacht“, empfing mich Nele, die sich vor dem AStA-Büro schon die Beine in den Bauch gestanden hatte, bis sie mich endlich völlig abgehetzt dabei erblickte, wie ich um die Ecke in den Gang stürmte, in dem sie auf mich gewartet hatte.

„Sorry, Nele, im Gebäude ohne Navi und dann noch ohne Netz klappt das halt manchmal nicht so, wie ich mir das wünschen würde. Bist mir hoffentlich nicht böse, wegen dem Warten und so …“, sagte ich, und unsere Umarmung zur Begrüßung war eine bessere Antwort als weitere Worte.

„Hast du den Job?“, fragte Nele neugierig.

„Nein, den nicht, aber die Wohnung“, platze die Neuigkeit vor Freude geradezu aus mir heraus.

„Nein, ich fasse es nicht …, etwa die in dem coolen Haus im Grünen, am Schlachtensee?“, rief Nele und warf sich mir vor Freude noch einmal an meinen Hals.

„Ja, genau die. Die alte Dame, die dort im Erdgeschoss wohnt, heißt Lissi, sie ist die Eigentümerin, und wir sind nach dem Rauchen einer spontanen Friedenspfeife schon nach kurzer Zeit ein Herz und eine Seele geworden.“

„Friedenspfeife? Sag bloß, du warst gleich pampig zu ihr?“, fragte Nele, die mich immer besser einschätzen konnte.

„Nee, sie war pampig, diesmal war es wirklich nicht ich!“, antwortete ich meiner Freundin mit unverhohlenem Vergnügen. „Als sie an die Tür kam und mich sah, dachte sie, ich mache auf blind, um sie anzubetteln. Deshalb kam sie dann halt erstmal ein bisschen schrullig rüber.“

„Auweia! … Das hat dann, so wie ich dich kenne, bestimmt gleich ordentlich geknallt“, erwiderte Nele und ich hörte, wie sie sich vor Schreck eine Hand über ihren Mund legte.

„Echt supi, wie du so über mich denkst“, grinste ich mit einem gekünstelten Schmollen. „Ob du es mir jetzt abnimmst oder nicht …? Ich hab’s einfach mal mit Humor probiert und das hat so perfekt geklappt, dass ich jetzt die Wohnung habe, von der ich träumte.“

„Ich freu’ mich so für dich! … und jetzt zur Grießhaupt in die Vorlesung, oder?“, sagte Nele und ich griff, ohne meinen Stock zusammenzuklappen, nach ihrem Ellenbogen und folgte ihr, auf den Weg konzentriert, durch die Gänge der Uni.

 

Vorgeschichte

Nebeljob

Fortsetzung

Nebelclip

 

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Impressum

Texte: © Lisa Mondschein
Bildmaterialien: ©pixabay
Cover: ©Fizzy Lemon
Tag der Veröffentlichung: 31.10.2024

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle, die an sich daran arbeiten, ihre Ziele mit Gelassenheit und Humor besser anstatt mit zickiger Selbstironie und gelegentlicher Wut auf sich selbst sowie die ganze restliche Welt zu erreichen.

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