„Typisch Grießhaupt, das passt ja wieder voll zu dem zweifelhaften Ruf dieser Frau, vor dem ich dich schon vorher gewarnt habe“, sagte Nele, als wir an der Tür zu dem Hörsaal ankamen, in dem die Vorlesung, zu der ich wollte, schon zwanzig Minuten begonnen hatte, bevor wir dort verspätet eintrafen.
„Hört sich ja nach einer wilden Orgie an“, kommentierte ich das Geschehen, das sich hinter der noch verschlossenen Türe abspielte, tastete nach dem Türgriff, den ich gleich danach gefunden hatte, und schob mich durch den Türspalt. Nachdem der Schnapper wieder leise in der Türfalle geklickt hatte, stand Nele neben mir in dem Raum und raunte mir etwas ins Ohr.
„…, die lässt hier doch tatsächlich einen Porno aus dem Internet laufen, und zwar einen, der es in sich hat und der bestimmt nicht jugendfrei eingestuft ist“, hörte ich sie sagen und spürte, dass sie sich absolut nicht wohl in ihrer Haut fühlte.
„Siehst du irgendwo am Rand einen freien Sitzplatz?“, raunte ich mürrisch zurück, weil es mich ankotzte, dass ich in dem mir unbekannten Raum schon wieder auf fremde Hilfe angewiesen war.
„Rechts vorne sind noch einige Klappstühle frei“, flüsterte Nele, nach deren Arm ich widerwillig gegriffen hatte, weil ich mich hier, ob ich das wollte oder auch nicht, von ihr führen lassen musste.
„Danke, Nele, einer reicht mir, du musst ja nicht bleiben; … Raus, find’ ich alleine.“
„Wie du meinst!“, brummte sie säuerlich und führte mich ein paar breite Stufen hinab, die sich mit meinem Stock wie Eselsstufen in einer mediterranen Altstadt anfühlten, aber mit einem struppigen Teppichboden belegt waren. Das Gestöhne aus den Lautsprechern wurde mit jedem Meter, den wir weiter nach vorne kamen, lauter und Nele musste fast schreien, nachdem wir die erste Reihe mit den freien Sitzgelegenheiten erreicht hatten, um mir eine weitere Frage zu beantworten.
„Sind das Latinas? Das hört sich nämlich sehr nach Portugiesisch an“, fragte ich sie deutlich umgänglicher, nachdem mir klar geworden war, dass ich sie mal wieder blöd angepflaumt hatte, anstatt ihr meine, für ihre Hilfe angebrachte Dankbarkeit durch respektvolle Höflichkeit zu zeigen.
„Glaub schon, aber das ist nicht alles“, sagte Nele und schob mich einen Sitz weiter, um sich danach neben mich zu setzen.
„Danke, dass du noch ein bisschen bleibst, war gerade nicht so gemeint. Aber jetzt sag halt, was noch ist!“, antwortete ich ihr neugierig, während ich meine Ohren spitzte, um dem ekstatischen Treiben so gut es ging folgen zu können.
„Da sind nur Frauen, aber alle mit Schwänzen, und sie poppen einander, was das Zeug hält“, sagte mir Nele mit einer sachlichen Note, die sich ein bisschen angewidert anhörte.
„Ah, Shemales, ok“, bemerkte ich zu einem besonders laut anschwellenden Japsen und den dazu pressend ausgestoßenen Atemzügen, die sich so anhörten, als ob auf der Leinwand gerade welche von den Darstellerinnen ejakulierten. „Du Nele, ich hab das nicht böse gemeint vorhin – echt nicht! Und ohne fremde Hilfe hätte ich es auch nicht zu dem Stuhl hierher geschafft, aber jetzt komm’ ich hier wirklich alleine klar und ich spüre auch genau, dass dich hier gerade einiges aufbockt“, sagte ich und schob ihr meine Hand unter ihren Po, um ihr zu bedeuten, dass es besser wäre, wenn sie sich jetzt verdrücken würde.
„Okay, Mara, nach der Vorlesung im La Martina in der Dörpfeldstraße, das ist hier ganz in der Nähe, Hausnummer vierundzwanzig. Lass dir gerne Zeit, ich hab ein Skript dabei, das ich noch durcharbeiten will, und du musst mir dann auch unbedingt noch mehr von dem Häuschen im Grünen erzählen“, sagte Nele, die mir meine Pampigkeit mal wieder verziehen hatte, ohne nachtragend zu sein.
„Prima, danke für deine Geduld und für dein Verständnis, du bist ’ne echt coole Freundin. Sobald mein Handy draußen wieder gutes Netz hat, find’ ich dich schneller wieder, als dir das vielleicht lieb ist“, sagte ich noch schnell, bevor sie nach einem leichten Knuffen meines Ellenbogens zwischen ihre Rippen aufstand und verschwand.
„Die Diskussion über das, was sie gerade gesehen haben, ist hiermit eröffnet“, sagte die Professorin und wandte sich noch kurz an Mara, vor der ihr Rednerpult auf der rechten Seite des Hörsaals stand: „Hier vorne begrüße ich die Studierende, die sich etwas verspätet hier eingefunden hat. Wie hier drin sicher niemandem entgangen sein dürfte, wird sie das Geschehen auf der Projektionsfläche mit einer anderen Wahrnehmung als wir wahrgenommen haben. In ihren Redebeiträgen würde ich heute deshalb gerne besonders sorgfältig ausformulierte beschreibende Details zu den visuellen Aspekten hören, auf die sie Bezug nehmen."
***
„Für uns als angehende Therapeuten war das ein ergreifendes Beispiel dafür, auf welchen Fakten die Traumatisierung Jugendlicher basieren kann“, sagte eine männliche Stimme, die sich recht weichgespült anhörte.
„Als ob die Welt besser würde, wenn Internetportale alle durch den Staat zensiert und reglementiert werden könnten“, rief ein Anderer dazwischen.
„Quatsch, hier geht es doch auch nur um die Anzahl der ‚Klicks‘ und um die Werbung, die den Konsum steuert“, sagte die erste Frauenstimme.
„Und um die Dicken in der Hose der Kommilitonen hier im Raum, die auf akademischen Diskurs machen, während sie damit befasst sind, das Lechzen nach schweißnasser Schokoladenhaut, gegen die Triebe, die in ihrem Inneren toben, niederzuringen“, äußerte die nächste Frau sich kämpferisch. „Den Betreibern geht es doch in erster Linie um den Fetisch der zahlreichen Testos, die auf sowas stehen, und weniger darum, ob solche Bilder Jugendliche traumatisieren könnten?“
„Eine gute Frage, Lea“, schaltete sich die Professorin kurz ein und fokussierte: „Es geht um die Resilienz von Jugendlichen während deren Pubertät und darum, dass wir verstehen lernen, welche Bilder bei ihnen Traumata auslösen können und warum das so stattfindet. Bevor diese und die Anschlussfragen dazu nicht so diskutiert sind, dass sie alle Antworten dazu in ihren persönlichen wissenschaftlichen Kontext eingeordnet und dort sinnvoll abgespeichert haben, können sie Betroffenen nicht qualifiziert helfen.“
„Onanie ist in der Zeit, in der Jugendliche damit anfangen, ihren Körper zu entdecken, so normal wie die Heftchen, die sich die Generation unserer Eltern oft unter der Hand dafür beschafft hat. In der Generation unserer Großeltern und den Generationen davor waren es die Bücher und Lexika, die auf dem Index standen. Schon entwicklungspsychologisch liegt diese Neugier über die Zusammenhänge von Sex und Spaß sowie die der damit zusammenhängenden Neigungen und Haltungen in unserer aller Natur. Dabei scheint es mir egal zu sein, ob das Material in Form von bewegten Bildern oder als aufklärendes bis hin zu rein pornografischem Schriftgut zugänglich ist. Schon lange bevor es das Internet gab, bestand ein natürliches Interesse an solchen Materialien. Das liegt in der Natur von uns Menschen“, führte eine Frauenstimme aus, die auf eine gefestigte Haltung der Sprecherin schließen ließ. „Die Ursachen für die Traumata, die uns in unseren Praxen erwarten, sind meiner Meinung nach mehr auf moralisch motivierte Stigmatisierungen und auf strafrechtlich relevante Übergriffe zurückzuführen.“
„Darf ich, …?“, fragte ich und stand auf. An die Seitenwand des Hörsaals gedrückt, an die ich mich mit meinem Rücken angelehnt hatte, stellte ich meinen weißen Langstock vor mir auf den Boden und legte meine beiden Hände über der Gelenkschlaufe übereinander auf den Griff, der aus Kork war. So konnte ich sowohl gut ins Plenum sprechen als auch gleichzeitig die Leiterin der Diskussion prima mit meinen Worten erreichen. „Ich bin übrigens Mara. So könnt ihr mich nun gerne auch beim Namen nennen und braucht nicht mit der Zuspätkommerin oder der Blinden zu improvisieren“, sagte ich einerseits als knappe Vorstellung, wie sich das gehörte, aber auch um die Vorstellung der Professorin zu kommentieren, die ohne eine meinerseitige Richtigstellung auch als Vorführung oder Diskriminierung interpretierbar gewesen wäre. „Was ich wichtig am Beitrag meiner Vorrednerin finde, ist, dass wir hier außer den viel diskutierten pornografischen Bildern und Videos auch andere gängige Formate in die Diskussion mit einbeziehen. Schriften und andere Darstellungen, für die es genauso wie für Bilder noch mehr gültige Gesetze als den Jugendschutz gibt. Insbesondere für Menschen mit Beeinträchtigungen müssen ja auch kritisch bewertete Materialien genauso gut wie für Uneingeschränkte ungekürzt zur Verfügung stehen. Damit meine ich nicht nur barrierefreie Bilder und Audiodeskriptionen, die uns Blinden ungefilterten Zugang zu Materialien mit großen Anteilen visueller Informationen wie zum Beispiel über den Pornoclip, den wir hier gerade gesehen haben, geben. Sondern ich denke in diesem Zusammenhang auch an die visuelle Welt, die für Menschen mit Hörbeeinträchtigung als Tor in die Welt so gebraucht wird, wie wir Blinde die Braille-Punktschrift für das Lesen von Texten brauchen. Die eigentliche Frage ist doch, ob weniger Restriktionen von Bildern, Tönen und Texten der Entwicklung von Jugendlichen eher schaden oder vielleicht sogar mehr bei ihrer Entwicklung helfen könnten?" Gleich nachdem ich fertig gesprochen hatte, setzte ich mich in einer Art halbem Schneidersitz auf der hölzernen Sitzfläche der Bestuhlung, etwas zur Seite eingedreht, auf den Knöchel meines rechten Fußes. So gewann ich etwas Höhe und konnte sowohl die Geräusche, die aus dem Plenum zu mir drangen, als auch die Akustik, die von Frau Grießhaupt kam, räumlich optimal lokalisieren.
„Hi Mara, ich bin Marten“, hörte ich von links über mir eine sympathische Stimme, die irgendwie nach einem ausgewogenen Menschen und gutem Zuhörer klang, der sich in der Nähe der Tür niedergelassen haben musste, durch die ich den Raum betreten hatte. „Klar, das ist schon alles so richtig, wie du das sagst, nur trifft es nicht auf das zu, worüber wir hier gerade reden. Aber das war ja nicht zu hören und sehen konntest du es ja auch nicht. Für normale Pornos mag das ja alles gelt …“
„Moment mal, Marten!“, ging ich dazwischen, ohne ihn ausreden zu lassen. „Dann sag’s mir halt, dass ich auch vernünftig mitdiskutieren kann. Dass da Latinas gepoppt haben, konnte ich aus dem portugiesischen Slang heraushören, und dazu hat mir noch jemand gesteckt, dass sie alle Schwanzmädchen sind. Also habt ihr ihnen beim Analverkehr zugesehen, und wie sie gekommen sind, konnte ich auch ohne ein überfürsorgliches Soufflieren prima selbst hören. Was meinst du denn, was mir da noch wo Wichtiges entgangen sein könnte, dass ich mir nicht auch ohne deine Hilfe eine richtige Meinung zu dem bilden könnte, über das wir hier gerade reden?“, und schnappte nach Luft.
„Erfreulich, dass die besonders sorgfältig ausformulierten beschreibenden Details zu den visuellen Aspekten langsam in Schwung kommen, und das bemerkenswerterweise von ihrer sehbehinderten Kommilitonin selbst“, bemerkte die Professorin mit einem schrägen Unterton und kurz erhobenem Haupt, das sie dann gleich wieder senkte und nach ihrem kurzen Redebeitrag wie vorher in den Unterlagen herumkritzelte, die sie vor sich liegen hatte.
„Sorry Mara, das sollte nicht diskriminierend rüberkommen und war auch keinesfalls so gemeint von mir. Hoffentlich nimmst du meine Entschuldigung für den Fehler an, den ich gerade gemacht habe. Das Missverständnis, das ich ausgelöst habe, ist mir nur deshalb passiert, weil ich das, was Frau Dr. Grießhaupt vorhin meinte, erst eben richtig verstanden habe“, antwortete Marten und ermöglichte mir, während er Luft holte, eine kurze Antwort.
„Kein Problem, Marten, bei sowas bin ich halt auch ein bisschen direkt und werd auch schnell pampiger als nötig, aber zum Ausgleich meines dann schnell streitbaren Egos bin ich von meinem Wesen her in fast allen Fällen alles andere als nachtragend. Was ist es denn, was du meinst, was mir von den visuellen Infos noch Wichtiges entgangen sein könnte?“, antworte ich vermittelnd und schenke ihm ein flüchtiges Lächeln.
„Es geht mir um die strafrechtliche Relevanz, die Uta mit angesprochen hatte und auf deren Beitrag du ja auch Bezug genommen hattest“, eierte der sich um Friede mit mir Bemühte weiter herum, kam aber dann doch schneller als ich ihm das einige Sekunden vorher noch zugetraut hätte, recht zügig auf den Punkt. „Dass die Darstellerinnen alle durch Eingriffe chirurgisch feminisiert worden sein mussten, konntest du ja nicht sehen, und das hätte ich dir eben zuerst beschreiben müssen, anstatt mit dem Informationsdefizit wie ein Elefant im Porzellanladen durch die ungeöffnete Tür zu platzen.“
„Verstehe, du meinst, wenn sie unfreiwillig kastriert wurden, um sie dann als Shemales zur Prostitution zu zwingen. Wenn es so wäre, was ich in diesem Fall wie vermutlich alle anderen hier im Raum auch verurteile, sähe ich das genauso wie du. Aber wie wäre es denn in dem Fall, wenn sie sich als Volljährige auf eigenen Wunsch freiwillig kastrieren ließen? Dann wäre die strafrechtliche Relevanz wohl eher ein Aspekt, der zu der Frage führt, wie tolerant ein Staat mit Diversität umgeht? Als Volljährige, so wie sie sind, sich und ihre Körper vor Kameras für Geld zu verkaufen, das sie zum Leben brauchen, hat meiner Meinung nach selbst hier in Deutschland keine strafrechtliche Relevanz. Ganz das Gegenteil wäre doch dann der Fall, wenn sie nur, weil sie anders sind, in der Öffentlichkeit zur Diskretion gezwungen werden würden. So ähnlich wie das bei dem dritten Geschlecht in Indien lange der Fall war und immer noch nicht gut ist. Dort leiden viele Betroffene zu ihrem Schicksal hinzu, selbst heute noch darunter, auf diese Weise zusätzlich diskriminiert zu werden, oder sehen das hier welche von uns anders?", fragte ich offen in die Runde.
„Also wenn es um Kastrierte geht, ist das ohne Zweifel traumatisierend für Jugendliche, besonders für Jungen. Wer das bezweifelt, sollte zuerst einmal in Sigmund Freuds Werken nachlesen, was es mit der Geisel der Kastrationsängste für Männer alles auf sich hat“, meldete sich eine Yasemin zu Wort, die mit türkischem Dialekt ein nicht nur grammatikalisch viel besseres Deutsch als die meisten Berliner sprach. „Mara, dir wollte ich noch zurufen, dass wir Frauen uns das vielleicht gar nicht richtig vorstellen können, was da im Kopf eines pubertierenden Jungen für Feuerwerke, begleitet von höllischen Albträumen, ausgelöst werden können, wenn sie beim Surfen im Internet unvorbereitet über solche Bilder stolpern.“
„Ja, Yasemin, das mag sich so darstellen, wie du das gerade gesagt hast. Aber nachdem Freud aus heutiger Sicht nicht mehr unumstritten gesehen wird, ist das vielleicht nur ein Aspekt, der von weiteren, die sich aus der Fortentwicklung gesellschaftlicher Moraldefinitionen ergeben, begleitet wird“, gab ich zu bedenken.
„Also mal Tacheles …“, ergriff ein Thilo das Wort. „Strafrecht hin oder her, arschfickende schwarze Eunuchen können nicht gut für Kinderaugen sein.“
„An dieser Stelle endet die heutige Vorlesung“, sagte die Professorin in einem scharfen Ton, der mehr als deutlich zum Ausdruck brachte, wie sie die Qualität des letzten Beitrags beurteilte. „Ihr persönliches Resümee zum 'Thema Trauma contra Fetisch' lassen sie mir dann, so wie wir das hier immer handhaben, über mein E-Mail-Postfach im Prüfungsamt im Format einer kleinen Studienarbeit zukommen. Vergessen sie nicht, alle Quellen, die sie nach ihren gründlichen Recherchen in ihrem Diskurs für die Beurteilung der herausgearbeiteten Aspekte heranziehen, als Link im Quellenverzeichnis ihrer Arbeit lückenlos zu dokumentieren. Auf das Lesen ihrer Abschlussstatements, insbesondere die Beantwortung der noch offenen Fragen im Hinblick auf einen wohldosierten Jugendschutz, respektvoll und passend gelebte Inklusion sowie Strategien zur Vermeidung unabsichtlicher Diskriminierung, freue ich mich besonders. „Abgabetermin ist heute in vier Wochen." Nach einer eher kühlen und kurzgefassten Verabschiedung durch die Dozentin leerte sich der Saal recht zügig. Begleitet von angeregtem und vielerorts kontroversem Murmeln verließen die Immatrikulierten den Veranstaltungsort. Als alle Studierenden den Hörsaal verlassen hatten und nur noch die Professorin und ich in dem Raum weilten, hörte ich ihre Schritte auf mich zukommen.
***
„Danke, Frau Dr. Grießhaupt“, sagte ich, nachdem sie gleich nach dem Ende der Vorlesung zu mir an meinen Platz gekommen war. „Das Angebot nehme ich gerne an. In die Dörpfeldstraße, die soll hier ganz in der Nähe sein“, und stand auf. „Darf ich …?“, fragte ich und tastete nach dem Ellenbogen der Professorin, der ich verschwieg, dass ich mit dem Weg, den ich mir eingeprägt hatte, auch alleine zurechtgekommen wäre.
„Kommen sie, Frau …?“, sagte sie und schnappte sich im Vorübergehen die Aktentasche, die noch auf dem Rednerpult lag.
„Müller, Mara Müller …“, antwortete ich und schritt an ihrer Seite die mit Teppich belegten Eselsstufen hinauf auf die Tür des Hörsaals zu.
„Sie müssen neu eingeschrieben sein“, aber ihr Name kommt mir trotzdem irgendwie bekannt vor.
„Vielleicht wegen des Termins, den ich gestern um 11:30 Uhr bei ihnen in der Sprechstunde gehabt hätte, wenn dieser nicht abgesagt worden wäre?“, fragte ich höflich.
„Ja, genau, daher kenne ich ihren Namen, genau so ist es“, sagte sie. „Da vorne geht es jetzt gleich rechts ins Treppenhaus. Geht das mit den Stufen, oder lieber zum Aufzug?“
„Nee, schon ok, lieber die Treppe, mit dem Stock ist das kein Problem“, sagte ich brav und verkniff mir hinzuzufügen, dass ich ja nicht gelähmt bin und es außer mir noch viele andere Blinde gibt, die auch zwei gesunde Beine haben.
„Dann sind sie also gar nicht immatrikuliert!“, stellte sie mit einem strengen Unterton fest.
„Noch nicht, aber ihre Vorlesung fand ich megaspannend. Als Betroffene kann ich mit dem, was da alles diskutiert wurde, vielleicht sogar noch mehr als die bereits Immatrikulierten anfangen“, erklärte ich, um den Gesprächsverlauf vorsichtig auf meine persönlichen Themen umzulenken.
„Einen Therapieplatz bei mir kann ich ihnen leider nicht anbieten, selbst die Warteliste ist schon über die nächsten Jahre hinaus voll“, sagte sie und ergänzte: „Vorsicht Tür und dann gleich noch drei Stufen hinunter auf den Fußweg.“
„Es geht mir gar nicht um einen Therapieplatz, sondern um einen Job als studierende Hilfskraft. Vielleicht in der Sehwerkstatt? … bei Herrn Rathling? … oder an ihrem Institut?“, wagte ich mich vor und hoffte, dass es doch etwas weiter bis zur Dörpfeldstraße war, als Nele das gesagt hatte.
„Nur weil sie blind sind, liebe Frau Müller, sind sie keine Betroffene im Sinne der Forschungen, die wir an meinem Institut betreiben“, erklärte sie mir mit nachsichtiger Mine, und die Autos, die ich zwischen den Gebäuden vor uns immer lauter fahren hörte, wiesen mich darauf hin, dass meine Gesprächszeit so gut wie abgelaufen war.
„Seit ich vierzehn Jahre alt bin, nehme ich Histrelin, das sind jetzt vier Jahre, und bis vor wenigen Wochen konnte ich es kaum aushalten, auf meinen achtzehnten Geburtstag zu warten. Wegen der Geschlechtsangleichung, verstehen sie? Aber dann ist vor ein paar Tagen etwas passiert, mit einem Mann. Mit einem der früh wegen Krebs kastriert werden musste und bis dahin war ich fest davon überzeugt, dass ich eine Lesbe bin, die nur in den falschen Körper hineingeboren wurde …"
„Hier ist die Dörpfeldstraße“, kam ein kurzer Zwischenruf der Frau, die mir aufmerksam zugehört hatte und die höflich stehen geblieben war.
„… der Mann war total ehrlich und offen zu mir und ich mag ihn sogar immer noch. Selbst nachdem er mir offenbart hat, dass ihn meine zwei Glasaugen sexuell stimulieren, mag ich ihn noch. Das alles ist so passiert, obwohl er seine beiden Hoden, so wie ich meine Augen auch, durch eine Krebserkrankung verloren hat“, beendete ich meine Wortsalven und fügte hinzu: „Nur um diese Zusammenhänge verstehen zu lernen, war ich heute auch in ihrer Vorlesung ‚Traumata contra Fetisch'. Als eine Betroffene, nur halt als eine, die dazu auch noch blind ist.“
„Tja, Frau Müller, dann sind sie tatsächlich auch im Sinne meines Instituts eine Betroffene. Das, was sie mir da gerade geschildert haben, ist auch wissenschaftlich gesehen ein außergewöhnlich interessanter Fall. Sagen sie mal, Frau Müller: Meinen sie, ihr Freund, also dieser Mann, würde sie zu einem gemeinsamen Termin mit mir begleiten?"
„Das will ich ihn gerne fragen. Er studiert Theologie und ist ein guter Freund, aber nicht mein Freund wie bei einem Paar. Eigentlich ist er mit einem Mann verheiratet und es war mehr so ein Knistern, in das wir da reingerutscht sind. Für Leon kam vielleicht das starre Schielen meiner künstlichen Augen als eine Art optischer Trigger hinzu, aber es fühlte sich für mich trotzdem ein bisschen wie Liebe auf den ersten Blick an“, erzählte ich der Wissenschaftlerin in der Hoffnung, dass ihre Neugier auf Leon und mich nach diesem Gespräch nicht mehr zu bremsen war.
„Kommen Sie gerne morgen um 16:00 Uhr mit ihm zu mir in mein Büro, das ist dann nach der Sprechstunde, und danach habe ich an diesem Tag dann auch keine weiteren Termine mehr. Welche Hausnummer ist das denn, da, wo sie hinwollen?“, hörte ich die freundliche Stimme meiner Begleiterin sagen und wäre ihr am liebsten vor Freude um den Hals gefallen.
„Die Vierundzwanzig, Frau Doktor. Er ist zwar ein recht offener Typ, aber wenn er nicht will, würde ich den Termin morgen gerne trotzdem, dann halt alleine mit ihnen, wahrnehmen“, äußerte ich meinen letzten Wunsch für heute und achtete darauf, den Satz als Zusammenfassung und nicht als Frage klingen zu lassen.
„Zusammen wäre besser, aber ich nehme sie auch gerne alleine in Empfang. Etwas pünktlicher vielleicht dann als heute zur Vorlesung …", sagte sie so, dass ich deutlich ihr schräges Grinsen heraushören konnte. „Wenn sie mir gleich gesagt hätten, dass sie in das La Martina wollen …, das ist genau gegenüber, nur noch über die Straße, dann sind sie schon dort.“
„Danke Frau Dr. Grießhaupt, machen sie sich bitte keine weiteren Umstände, den Rest schaffe ich mit meinem Stock locker alleine“, sagte ich winkend und machte zwei schnelle Schritte in Richtung Straße, wo die Kugel meines Stocks mir zuverlässig wie immer die Bordsteinkante rückmeldete. Nachdem ich Neles Tisch gefunden hatte, gab's nach einem knackig frischen Salat als Vorspeise eine leckere türkische Pizza und dann noch Rotwein satt bis zur Sperrstunde. Danach fuhr uns Herr Stelzke mit seinem Taxi zu mir in die Ferienwohnung, wo Nele, die meiner spontanen Einladung gefolgt war, dann das erste Mal, seit ich in Berlin war, bei mir übernachtete.
Nebeldeal kommt demnächst auch als Kurzgeschichte ...
Texte: © Lisa Mondschein
Bildmaterialien: © Google Gemini
Cover: © Fizzy Lemon
Tag der Veröffentlichung: 03.06.2025
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für alle, die anders als andere sind und engagiert darum kämpfen wollen, sich dort, wo es sein muss, unterstützen zu lassen, ohne eine Fremdbestimmung akzeptieren zu müssen.
– „Ich möchte das sein, was Du in mir sehen kannst.“ –