Mara und Ronja
„So, endlich Feierabend, Ronja“, sagte ich und schaltete den total hochwertig ausgerüsteten Arbeitsplatz aus, der sogar mit einer zweizeiligen Braillezeile mit je vierzig Zellen pro Zeile der Firma Papenmeier ausgestattet war. „Kennst du das La Martina? Das ist eine voll hippe Studikneipe in Adlershof und gut mit den Öffentlichen zu erreichen. Dort könnten wir beide eigentlich zusammen noch etwas essen gehen. Hast du Lust?"
„Lust schon, aber essen gehen kann ich mir nicht leisten. Danke aber trotzdem dafür, dass du deine Freizeit mit mir verbringen wolltest, Mara“, sagte meine neue Kollegin und verstummte.
„Hey, so war das doch gar nicht gemeint, oder willst du dich nicht von mir einladen lassen, weil du schon was anderes vorhast?“, antwortete ich viel zu offensiv, aber etwas anderes fiel mir auf die Schnelle einfach nicht ein.
„Das kann ich doch gar nicht annehmen …“, stotterte die Schüchterne und nestelte unbeholfen in ihren Sachen herum, die rund um ihren Arbeitsplatz verteilt ungeordnet auf dem Boden herumzuliegen schienen.
„Klar kannst du. Nur wenn du ‚nein‘ gesagt hättest, wäre ich jetzt so beleidigt, dass ich dich nicht ein zweites Mal fragen würde, ob du dich zum Essen mit mir einladen lassen willst“, sagte ich, ging neben ihr auf die Knie und half ihr beim Sortieren ihres Krempels. Als wir ihre Habe zusammen sortiert hatten und für Ronja wieder alles im Griff war, knuffte ich sie in ihre Rippen. „Los geht’s, ‚nein‘ gesagt hast du ja gar nicht und das bedeutet ‚ja‘.“
***
„Echt jetzt …?“, fragte ich Ronja auf dem Weg durch die feudale Hotellobby total geschockt. „Du lebst schon, seit du achtzehn Jahre alt geworden bist, von Hartz IV, Bürgergeld und Wohngeld in schäbigen WGs – und das nur, weil du blind bist und dir deshalb in den vielen zurückliegenden Jahren noch nie jemand einen Job gegeben hat, von dem du ordentlich leben konntest?“
„Ist das nicht immer so, wenn jemand blind ist?“, war ihre knappe rhetorische Gegenfrage, die so betont war, dass sie nach einer Feststellung klang, auf die Ronja gar keine Antwort erwartete.
„Bei mir war das nie so, und so, wie ich das sehe, hast du einfach verpasst, dich mal ein bisschen mehr anzustrengen, um dir eigene Wege in ein selbstbestimmtes Leben zu suchen“, antwortete ich der Frau, deren gerolltes ‚r‘ mich immer mehr anfixte, viel schroffer, als ich das vorhatte. „Hast du denn nie probiert, da irgendwie herauszukommen und ein selbständiges Leben zu führen? Gerade hier in Berlin gibt es doch vielfältige Möglichkeiten für Blinde, die ihr eigenes Leben führen wollen, um aus der Fremdbestimmung und der finanziellen Abhängigkeit von der staatlichen Stütze loszukommen.“
„Nicht für mich, ich seh ja seit dem Unfall gar nichts mehr“, wimmerte Ronja mit einer weinerlichen Stimme etwas daher, was mich mega aufbockte und ich alles brauchte, dass ich die Süße nicht anfauchte und sie für den Müll, den sie da gerade von sich gegeben hatte, in den Senkel stellte.
„Aber sich hängen lassen ist die schlechteste Option, und mit meinen zwei Glasaugen sehe ich auch nicht mehr als du“, sagte ich gütig, indem ich die Art zu sprechen meiner Professorin nachahmte, um nicht unkontrolliert aus der Haut zu fahren und meiner Gesprächspartnerin so, wie sie es verdient gehabt hätte, ordentlich den Kopf zu waschen.
„Wie? Du bist auch ’ne Vollblinde, Mara? Wie machst du das denn alles, ohne noch ein bisschen gucken zu können?“, raunte Ronja mir mit einer Mischung von Zweifel und Anerkennung, die in ihrer Stimme mitschwangen, zu. Im Gegensatz zu ihr war es für mich unvorstellbar, dass eine Frau, die schon jahrelang so stockblind wie Ronja war, so unselbständig wie sie unterwegs sein konnte.
„Mit etwas Übung mit dem Stock und immer schön die Ohren auf ist das keine Hexerei, wenn es nicht anders geht, um alleine aus der Bude herauszukommen“, bemerkte ich recht trocken. „Hast du dich denn bisher nie gefragt, ob das mit der Stütze und dass dir bisher niemand einen guten Job gab auch ein bisschen an dir selbst, … vielleicht ja auch an deinem Stubenhocken liegt?“
„Ja, schon, aber das ist viel besser als all das, was ich vorher in meinem Heimatland ertragen musste“, antwortete Ronja. „Wenn ich nach dem Unfall, der mich blind gemacht hat, nicht das Glück gehabt hätte, bis zum Erreichen meiner Volljährigkeit in einer Wohngruppe in Deutschland unterzukommen, würde ich heute ja nicht einmal eine abgeschlossene Schulausbildung vorweisen können.“
„Na prima, viel genützt hat dir das bis jetzt aber nicht“, brummte ich, als wir durch den Haupteingang das Hotel verließen. Da Ronja, die ich ja eigentlich nur wecken wollte, weil ich sie mochte, kurz darauf schluchzend an meinem Arm hing, nagte ich, bis mir eine zündende Idee in den Sinn kam, über meine Unbeherrschtheit grübelnd, an meiner Unterlippe. „Hier, probier doch mal, ich helf’ dir auch“, sagte ich und drückte ihr einfach den Griff meines Blindenstocks in ihre rechte Hand. Die Kugel an der Stockspitze glitt so, als hätte ich den Stock noch in meiner Hand durch die Rillen des Leitsystems gelenkt, das sehbehinderte Gäste vom Ausgang des Hotels bis zur Rolltreppe der nahegelegenen U-Bahn-Station geleitete. Von dort war es auch für Blinde recht einfach, in die Berliner Unterwelt hinunter zu den Tunneln abzutauchen, von denen taktil lesbare Schilder auch Sehbehinderte ohne fremde Hilfe zu den richtigen U-Bahn-Linien führten. Meine Hand lag auf der weichen Haut, die Ronjas Finger überspannte, und die Hitze, die von dort in meine Handflächen strömte, fühlte sich unglaublich sexy an. „Oje, da hatte ich im Vergleich zu dir ja noch richtig Glück“, antwortete ich und griff nach der Hand der Frau, die mir total leidtat und mir wie ein Häufchen Elend vorkam, um sie zu trösten.
„Warte, ich hab Angst“, hauchte Ronja plötzlich und blieb ohne einen für mich erkennbaren Grund, so als sei sie plötzlich zu einer Salzsäule erstarrt, wie angewurzelt stehen. Im ersten Moment brauchte ich alles an Selbstbeherrschung, um der unselbständigen Heulsuse nicht gehörig den Marsch zu blasen, aber dann hörte ich es auch. Da war ein Unterton in den pulsierenden Großstadtgeräuschen, der da nicht hingehörte. Beschützend schlug ich meine Arme um die Verängstigte und beruhigte sie, so einfühlsam, wie ich es hinbekam, während meine Sinne in den Alarmmodus wechselten.
„Jetzt stehenzubleiben ist aber gar nicht gut“, flüsterte ich meiner Begleiterin ins Ohr und schob sie weiter in Richtung der Treppen, von denen ich wusste, dass dort alles hell ausgeleuchtet und es in der U-Bahn-Station viel sicherer als unter den Bäumen war, die bei Nacht nicht nur Stalkern Sichtschutz spendeten. Auf dem Weg nach Adlershof saßen wir beide in Fahrtrichtung Seite an Seite auf einer Doppelbank in der U-Bahn und berichteten einander so viel, wie es die Fahrzeit hergab, aus unseren so unterschiedlichen Leben. Nachdem Ronja sich beruhigt hatte, erklärte ich ihr, dass Stalker in Großstädten schon eine ernsthafte Gefahr für Frauen, die nachts alleine unterwegs waren, sein konnten und es richtig war, auf ihr Bauchgefühl zu vertrauen. Dass das Stehenbleiben unsere Situation verschlechtert hätte, kommentierte ich nur nicht, weil ich die Ängstliche nicht noch mehr verunsichern wollte, als sie es eh schon war. Stattdessen erklärte ich ihr, dass sie sich in meiner Begleitung darüber keine Sorgen zu machen brauche, und erzählte ihr, dass ich im Hinblick auf Selbstverteidigung so gut ausgebildet sei, dass solche Begegnungen für Stalker gefährlicher als für uns ausgehen würden. Interessiert hörten wir uns zu und Ronja konnte vor Staunen kaum glauben, wie autark und selbständig ich als Blinde mein Leben so gestalten konnte, wie ich es wollte, ohne dabei auf viel Hilfe von Dritten angewiesen zu sein. Ronjas Hand fühlte sich weich und warm an, und da sie den Körperkontakt offensichtlich so wie ich genoss, tat uns das beiden gut. Im Nu hatte sich Ronjas anfängliche Scheu gewandelt, und als wir uns der Haltestelle näherten, an der wir aussteigen mussten, war die Atmosphäre schon so locker und vertrauensvoll wie zwischen besten Freundinnen. Nach einem leckeren Essen gab's von dem guten Rotwein, den der Keller des La Martina zu bieten hatte. Danach tranken wir noch türkischen Kaffee, der mit viel Zucker zusammen mit dem Kaffeesatz aufgekocht in kupfernen Kännchen serviert wurde, die anstatt Henkel langstielige Griffe hatten. Ronja schwächelte erst, nachdem der Wirt, der mich schon als eine seiner guten Stammkundinnen kannte, mit der ersten Runde Raki zu uns an den Tisch kam und sich kurz zu uns setzte, um mit uns zu prosten. Die Gespräche, die wir größtenteils händchenhaltend führten, hätten wir bis zum Morgengrauen fortführen können, aber kurz vor der Sperrstunde rief ich vernünftigerweise Herrn Stelzke, den Fahrer meines Lieblingstaxis, an, beglich die Rechnung und half Ronja, die vom Alkohol etwas wackelig auf den Beinen war, in ihre Jacke.
„Du kannst auch gern bei mir in meiner Wohnung übernachten, Ronja“, bot ich ihr an, nachdem ich festgestellt hatte, dass sie mehr beschwipst war, als das in der aufgeheizten Luft im Gastraum den Anschein hatte, und der Raki in der Kälte zusehends seine Wirkung entfaltete. „Platz ist bei mir genug und es gibt sogar ein Gästezimmer, wenn du magst.“
„Ja, gern, auf mich wartet schon seit Jahren niemand, aber ich will dir nicht zur Last fallen“, antwortete sie mir dankbar mit leiser Stimme, in der ihre rollenden ‚r‘, so leicht betüdelt wie sie war, jetzt noch kehliger als vorher klangen. Lange warten mussten wir auf das Taxi eigentlich gar nicht, dennoch waren wir schon etwas durchgefroren, als Herr Stelzkes Diesel um die Ecke nagelte. Aber im Taxi war es dann gleich wieder so mollig warm wie vorher in der Gaststube.
„Den Weg kenn ick ja“, sagte Stelzke, der beobachtet hatte, wie fürsorglich und von zärtlichen Berührungen begleitet ich Ronja hinten rechts in den Fond seines Wagens bugsiert hatte und dann nicht wie sonst neben ihm den Beifahrersitz bevölkerte, sondern mich hinten links zu Ronja auf der Rücksitzbank platzierte. „Für Musikwünsche jern och wat sonst …, wat aus meiner Playlist, wenn's recht is wa …“, rief uns Herr Stelzke von vorne zu und startete für uns auf seinem Handy ‚Breaking Me‘ von Topic, während er das Taxi in Richtung Zehlendorf mit Kurs auf mein Häuschen im Grünen anrollen ließ.
***
„Es tut mir unendlich leid, dass ich ihnen beiden die Kündigung aushändigen muss, zu der uns die wirtschaftliche Situation der Pandemie in der Gastronomiebranche gezwungen hat“, sagte Herr Dielmann, der uns an unseren Arbeitsplätzen schon am frühen Morgen ein paar Tage nach der Verfügung des Lockdowns aufgesucht hatte.
„Wissen sie, Herr Dielmann …“, ergriff ich als erste das Wort. „Eigentlich wollte ich diesen Job ja am Anfang gar nicht machen. Aber so wie sie uns als feinfühlige Führungskraft begleitet haben, war das dennoch ein Gewinn für uns beide, der insbesondere mir mehr Freude und Einblicke in die Arbeitswelt von Blinden ermöglicht hat, als ich mir das vorher vorstellen wollte. Hinzu kommt, dass ich hier Ronja kennenlernen durfte, und das ist etwas, wofür wir uns beide bei ihnen bedanken können.
„Lieber Herr Dielmann“, klinkte Ronja sich in das Gespräch ein. „Auch ich will ihnen danken und sagen, dass dieser Job mir mit Mara an meiner Seite die Tür zur Welt geöffnet hat. Wie sie wissen, leben wir seit einigen Wochen in Maras Wohnung zusammen, und das war das Beste, was uns beiden passieren konnte."
Die ganze Geschichte: Himmelfahrt - Das Buch
Texte: © Lisa Mondschein
Bildmaterialien: ©pixabay
Cover: ©Fizzy Lemon
Tag der Veröffentlichung: 20.07.2025
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für alle, die sich auf Kompromisse einlassen, weil die oft nicht das Ende, sondern Brücken zu neuen Wegen sind.