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Klappentext

Emilia bekommt von Matteo im Makerspace ihrer Uni gezeigt wie ein 3D-Drucker funktioniert und wie einfach sie diesen selbst bedienen kann. Nach einem zufälligen Blick durch die Glastür macht Emilia Matteo auf eine Schwangere aufmerksam, deren Ziel auch der Makerspace zu sein scheint. Die rätselhafte Frau hat ein außergewöhnliches Anliegen …

Makerspace

„Schau nur, wie filigran die Details herauskommen“, sagte Matteo zu Emilia, die Industriedesign studierte und mit ihm voller Begeisterung dem 3D-Drucker zuschaute, der eine Figur druckte, die sie für ihre Studienarbeit als Anschauungsobjekt brauchte.

„Ja es ist echt faszinierend, wie gut das alles funktioniert und dazu kommt noch wie unkompliziert das Gerät bedienbar ist“, antwortete sie ihm fast ehrfürchtig. „Du hast mir das richtig gut erklärt und mir auch gleich noch gezeigt wie ich das selbst machen kann. Das ist voll cool."

„Technik, die begeistert, halt …“, schmunzelte der angehende Maschinenbauingenieur, mit den kurzgeschnittenen braunen Haaren, der sich als studierende Hilfskraft im Makerspace ein paar Euro zu seinem BAföG dazuverdiente.

„Voll krass, wie schnell das geht“, bemerkte Emilia staunend, die sich vorher gar nicht vorstellen konnte, wie die von ihr am PC modellierte Figur auf der Druckplatte als reales Objekt entstehen konnte. Wie ein Gewächs wuchs sie aus dem Nichts heraus Millimeter für Millimeter von unten nach oben. „Ich kann es fast nicht erwarten, bis der Druck fertig ist und ich das erste Ergebnis meiner Arbeit in meinen Händen halten kann.“

„Da bist Du nicht alleine. Es gibt ’ne Menge Leute, die nicht wissen, dass das 3D-Drucken so wie in der Biologie funktioniert, dort wächst ja auch alles so wie es gebraucht wird. Die Zeiten wo das, was du haben willst aus einem Klotz herausgeschnitten oder aus dem Stein geschlagen werden muss sind vorbei", kommentierte er das, was sie sahen.

„Wenn man vom Teufel spricht …", raunte Emilia, die kurz aufgesehen und durch die Glastüre hinaus auf den Vorplatz vor der Mensa geschaut hatte, an dessen Rand sich eine Schwangere dem Makerspace näherte.

„Au Scheiße, ich glaub’, die ist auch noch blind …“, entfuhr Matteo spontan ein unüberlegter Spruch, während er den Weg der Frau verfolgte, die sich dem Randstein entlang, einem langen weißen Stock vor sich her schwingend, zügig dem Makerspace näherte.

„Was meinst du mit ‚auch noch‘, Matteo?“, zischte Emilia, deren Sitz sich plötzlich versteifte.

„Sorry …, ist mir halt so rausgerutscht und das mit dem Teufel kam zu dem von dir“, versuchte er sich zu rechtfertigen und davon abzulenken, dass sein Kopf so rot wie eine Tomate angelaufen war.

„Schon gut, ich glaub’ die will zu uns …“, antwortete Emilia, als sie sah, dass die Frau mit dem runden Bauch schon die Treppe vor der Tür erreicht hatte und mit ihrem Stock nach dem Türausschnitt tastete, knuffte Matteo mit dem Ellenbogen und schenkte ihm ein vermittelndes Lächeln.

„Guten Tag“, hörte Emilia Matteo dann sagen, der zur Tür gesprungen war und diese für die Besucherin geöffnet hatte. „Kann ich ihnen helfen …?

„Guten Tag, vielleicht …“, antwortete die Frau, die ihre langen blonden Haare zu einem dicken Zopf geflochten trug, der über ihrer rechten Schulter auf einer dunkelblauen Windjacke über ihrer warm verpackten Brust lag. „Wenn das hier der Makerspace ist, hoffe ich schon …“

„Ja, der Makerspace ist hier und ich bin Matteo, aber kommen sie doch erstmal zu uns rein“, und trat einen Schritt zur Seite.

„Christine …, Christine Müller“, sagte die Frau und streckte Matteo zur Begrüßung ihre Hand hin. Matteo ergriff sie nach kurzem Zögern.

„Und ich bin Emilia“, tönte es aus dem Hintergrund des Raums, wo der 3D-Drucker noch mit einem singenden Summen begleitet von einem melodischen Säuseln seine Bahnen zog.

„Das freut mich …“, antwortete Frau Müller, klappte ihren Langstock zusammen und kam gleich zur Sache.

„Könnten sie etwas für mich ausdrucken?“, fragte sie und zog einen USB-Stick aus der Tasche ihrer Windjacke, den sie Matteo so wie vorher ihre Hand hinstreckte und nahm der Blonden den Datenträger aus der Hand.

„Wenn die Datei ein geeignetes Format hat, könnte ich das gleich mal versuchen. Sie dürfen auch gerne dabei bleiben und …, ähh, warten bis es fertig ist. Oder sie kommen Morgen wieder …, das ginge auch", antwortete Matteo und war heilfroh, dass ihm nicht herausgerutscht ist, dass sie ja zusehen und mitmachen könne. Das machte er bei den Studierenden immer so, um sie auf diese Weise für das Selbermachen mit den Druckern zu begeistern.

"Nein, nein, ich bin überhaupt nicht in Eile und wenn sie mir zeigen wollen, wie das alles funktioniert wäre das prima. Auf das 3D-Drucken bin ich so neugierig wie auf den Ausdruck selbst", antworte die Schwangere, die sofort herausgehört hatte, dass Matteo einen Haken geschlagen hatte.

„Hi! … Darf ich Christine sagen?", klinkte sich Emilia, die inzwischen herbeigeeilt war, wieder in das Gespräch mit ein und berührte Christine mit ihrem Handrücken an deren Unterarm.

„Klar Emilia, sehr gerne …, darf ich?", sagte Christine erfreut und tastete nach Emilias Ellenbogen.

„Wenn es ok ist, würde ich dich zuerst mal nach hinten führen, dorthin, wo du den Drucker drucken hörst“, antwortete die Studierende und schob mit ihrer freien Hand sanft Matteo aus dem Weg. "Der Drucker der gerade läuft, druckt eine Figur, die ich für meine Studienarbeit selbst modelliert habe. Die dürfte so wie das hier aussieht in ein paar Minuten fertig sein. Darf ich fragen, was du gedruckt haben willst, Christine?" Matteo, der sofort geschnallt hatte, dass Emilia weniger Berührungsängste als er hatte, verdrückte sich dankbar und beschäftigte sich an seinem PC mit der Datei.

„Natürlich … gestern habe ich beim Frauenarzt eine Datei von einem räumlich aufgenommen Ultraschall meines Sohnes bekommen. Nachdem der Arzt mir verraten hatte, dass die 3D-Drucker, die es hier im Makerspace an der Uni gibt, davon ein taktiles Abbild herstellen können, habe ich sofort recherchiert wie ich hier herkomme. Vor lauter Neugier und Ungeduld schlief ich heute Nacht nicht mehr wirklich viel und machte mich gleich nach dem Frühstück mit den Öffentlichen auf den Weg hier her."

„Die Datei ist gar nicht so schlecht“, rief Matteo von seinem Arbeitsplatz dazwischen. "Ein bisschen nachbearbeiten muss ich die zwar noch, aber das dürfte schnell erledigt sein."

„Prima, dann zeige ich Christine inzwischen mal den Prusa. Der ist zwar nicht mehr der Neuste, aber weil der nicht verkleidet und alles gut zugänglich ist, dürfte das ganz gut passen", rief ihm Emilia zurück und wandte sich wieder an die Frau mit den großen blauen Augen. Als sie, den Drucker zwischen sich, an dem Tisch, auf dem der Prusa stand, gegenüber saßen, überlegte Emilia wie sie jetzt weiter vorgehen wollte. Sie wusste, dass viele Blinde nicht ganz blind waren und entschloss sich deshalb Christine einfach mit einzubeziehen, wie sie das jetzt zusammen machen wollten …

„Darf ich dich, bevor wir anfangen noch fragen, ob, oder besser gesagt wie viel du noch sehen kannst, Christine?“

„Ich seh gar nichts, aber ich bin schon seit ich denken kann stockblind. Mit zwei Glasaugen ist das halt immer so. Als Alternative zum Sehen komme ich jedoch auch mit anfassen und gegebenenfalls ein paar Erklärungen zum Thema selbst mit technischen Sachen ganz gut klar. Insoweit hab ich mich mit meiner Blindheit schon früh in meinem Leben recht alltagstauglich arrangiert", beantwortete Christine mit einem entspannten Lächeln Emilias Frage.

„Ok, also das vor dir, ist der Prusa. Das ist ein 3D-Drucker, der so ein Filament aus Thermoplast von einer Rolle nimmt und daraus dann das Druckobjekt macht", erklärte ihr Emilia, und führte ihre Hände an Christines Finger um sie so zu der Rolle zu führen, die auf einem Ständer über dem Drucker befestigt war. Christina erkundete die Spule und folgte dem Kunststofffaden bis zu dem Druckkopf.

„Verstehe …, und wo bin ich jetzt?“

„Das ist der Druckkopf und unten ist so ein kleiner Knubbel aus Metall, aus dem der teigig erhitzte Kunststoff dann herauskommt und wie mit einem Pinsel auf die Plattform aufgestrichen wird, auf der dann das Druckobjekt schichtweise aufgebaut wird, bis es fertig ist.“

„Ahh! Ok …, dann ist diese Fläche hier diese Plattform, oder?", stellte Christina fasziniert fest.

„Genau“, antwortete ihr jetzt Matteo, der sich mit einer SD-Karte, auf der sich die Druckdatei von Christinas Fötus befand, wieder zu ihnen gesellt hatte.

„Und was muss ich damit machen?“, fragte Christina, nachdem sie den kleinen Chip in ihre Hände bekommen hatte.

„Die Karte steckst du einfach hier in diesen Schacht“, antwortete ihr nun wieder Emilia, nachdem sie ihr mit Christines Zeigefinger die Stelle gezeigt hatte, wo die SD-Karte in den Drucker gesteckt werden musste.

„Und hier ist so ein Knebel, mit dem du die Datei auf der Karte auswählen kannst“, sagte Matteo, der sich jetzt auch traute Christinas Finger an die nächste Stelle zu lenken.

„Hhm …, den Namen der Datei seht ihr dann wohl auf einem Display, oder?“, stellte Christina fest und sagte: „An der Stelle bin ich ohne Sprachausgabe raus.“

„Beim Prusa schon, aber bei dem Bambu Lab, auf dem Emilias Druck läuft, könntest du das auch über den PC machen“, erklärte Matteo und fuhr fort. „Wir machen das jetzt einfach mal für dich, die Datei heißt: Christina.“

„Ich hätte sie Marvin genannt“, grinste Christina, die das alles Mega spannend fand und sich mit einem coolen Humor in das Geschehen einbrachte. Kurz darauf fing der Drucker an zu zucken und die Düse begann sich auf das Druckbett zuzubewegen.

„Die Düse ist jetzt zwar über 200 °C heiß, aber das ist nur die kleine Stelle unten am Druckkopf, an der sich jemand wirklich verbrennen kann. Traust du dich meinen Händen in den Bauraum der Maschine zu folgen?", fragte Emilia. „Ich pass’ schon auf, dass der Drucker dich nicht irgendwo einquetscht, wenn du magst.“

„Ok, zeig mal“, sagte Christine und legte ihre Hände so auf Emilias Handflächen, dass ihre Fingerkuppen darüber hinausragten.

„Uji …, das Druckbett ist ja auch heiß!“, stellte sie fest, ohne ihre Hände von Emilias zu nehmen.

„Ja, aber nur 60 °C, das ist wegen der Haftung der ersten Schicht", erklärte Matteo, der die beiden aufmerksam beobachtete und es echt stark fand, wie Christina mit starrem Blick auf nichts, mit ihren Händen verfolgte, was der Drucker machte.

„Komm’ ich zeige dir mal den Bambu, der ist gerade fertiggeworden, dann kannst du dir, wenn du willst, mal meinen Drachen ansehen. Den, den ich für meine Studienarbeit modelliert habe. Der ist nämlich gerade fertig geworden", sagte Emilia und führte Christina zu dem Nachbartisch.

„Der fühlt sich wie ein Dino an“, bemerkte Christina während ihre Finger wie die Fühler eines Insekts alle Feinheiten von Emilias Arbeit studierten.

„Kaffee?“, fragte Matteo. „Dein Fötus braucht noch vierzig Minuten bis er fertig ist.“

„Ja gern, gute Idee, aber fertig ist der noch lange nicht“, antwortete Christina mit einem verschmitzten Grinsen in ihrem Gesicht und ließ sich in die Kaffeeküche führen, wo es zum Kaffee noch ein paar Muffins gab.

Nebelschatten

„Das ist ein Puzzle, Marvin“, sagte meine Mutter an meinem zweiten Geburtstag und führte meine Hände über die Steinchen, auf denen ich Bärchen, Hasen und andere Tiere sah.

„Puzzle, Mama …?“, fragte ich und kuschelte mich an sie.

„Ja, du musst die Bausteine finden, die passen“, klinkte sich meine Oma ein und wuschelte mit ihren Fingern, die wie Spinnenweben aussahen über den Tisch.

„Lass mich …!“, pflaumte ich sie an und griff mir mein Bärchen.

„Wollen wir mal schauen, Marvin?“, hörte ich dann meinen Papa sagen und entspannte mich.

„Klick!“, … schnappte der Verschluss von Omas Handy, die wieder Geburtstagsfotos machte.

„Schau mal hier, der Braunbär …, der passt zum Wald, Marvin“, sagte mein Vater und schob mir das passende Teil schon richtig ausgerichtet in meine Hand.

„Der ist grau …, Papa.“

„Passt der Stein?“, kam anstatt einer Zurechtweisung eine Gegenfrage von ihm, die unglaublich motivierend zu mir herüberkam.

„Der passt …“, erwiderte ich konzentriert, aber doch unzufrieden.

„Dann ist doch gut, oder?“, hörte ich meinen Papi lobend sagen.

„Nein, er ist nicht braun …“, Papi.

„Rüdiger, lass ihn doch …“, meckerte meine Oma, „das Kind ist doch schon fast blind.“

„Ich bin nicht blind …“, Oma.

„Hoffentlich schlagen die Bestrahlungen endlich an, bevor es bei dem armen Jungen, doch noch wie bei seiner Mutter, zum Äußersten kommt“, druckste meine Großmutter herum und fing an zu weinen.

„Heute ist Marvins zweiter Geburtstag …“, kommentierte mein Vater. „Und dein Enkel hat sein Glasauge besser akzeptiert, als wir das alle zu hoffen wagten.“

„Diese Bestrahlungen waren für mich, als ich klein war, eine einzige Tortur …“, sagte meine Mutter erregt.

„Und wenn es genauso ausgeht wie bei dir?“, setzte die Mutter meines Vaters taktlos nach.

„Dann gibst du mir wohl auch noch alleine die Schuld daran. … lass ihn doch einfach mein Kind Ruhe, Gudrun!“, keifte meine Mutter meine Omi daraufhin richtig böse an.

„Hey! … Marvins Geburtstag …, okay?“, ging mein Vater dazwischen.

„Rüdiger! Der Junge hat doch schon ein Glasauge …“, schluchzte meine Großmutter weiter und ließ nicht locker. „Die Pupille seines letzten Auges ist auch schon so trüb wie Schnee. Hier, sieh dir das Foto doch einfach an. Sein letztes Auge leuchtet auf dem Foto vom Blitz aufgehellt, so weiß wie das Licht einer Taschenlampe. Was das zu bedeuten hatte wissen wir doch alle …"

„Ja, aber wir wussten vorher auch schon alle, dass das Retinoblastomgen erblich sein kann und ich bin trotzdem überglücklich mit meiner Frau. Schon dafür, dass sie Marvin, deinem Enkel, mit mir sein Leben geschenkt hat, solltest du ihr mehr dankbar sein als mir. Ich bin ihr nicht nur dankbar dafür, dass sie Marvin zur Welt gebracht hat, sondern auch dafür, dass wir uns beide so lieb haben wie wir sind. Das sollte auch dir ein gutes Beispiel sein. Selbst dann, wenn Marvin auch erblinden muss, wüsste ich nicht, warum das, das Glück unserer Familie trüben sollte", sagte mein Vater und schloss Mama und mich vor den Augen meiner Großmutter tröstlich in seine Arme.

Nebelaugen

„Die Aussaat im Auge ihres Sohnes ist trotz der Bestrahlungen leider so weit fortgeschritten, dass nur noch die letzte Option bleibt“, sagte der Arzt und verhoffte betroffen.

„Christine …“, sagte mein Vater und schloss meine Mutter und mich in seine Arme. „Wir wussten vorher, dass es so kommen könnte, aber wir werden es auch so schaffen, oder was meinen meine beiden Lieblinge dazu?“

„Sie wollen unseren Marvin als nochmal enukleiren?“, stellte Christine gefasst fest, schob mich vorsichtig von sich und nickte stumm.

„Es ist die letzte Option, aber was soll ich ihnen noch mehr dazu sagen, sie kennen den Verlauf der Krankheit ja aus eigener Erfahrung, Frau Müller.

„Ja, ich weiß …“, antwortete meine Mutter und die Art wie sie es sagte ließ mich ihren Schmerz fühlen.

„Mein Balu ist auch blind“, sagte ich und kuschelte mich an mein Bärchen.

„Aber wenn er bei dir ist, der Balu, dann hast du keine Angst, oder?“, fragte der Arzt leise.

„Nein, Herr Doktor, er passt immer auf mich auf und ich hab ihn voll lieb.“

„Dein Balu hat ja auch zwei sehr schöne braune Augen, mit denen er zwar nicht sehen kann, aber auf dich aufpassen kann er trotzdem gut, oder?“, sagte meine Mom und nahm mich in den Arm.

„Ja, Mama, so wie du. Und Papa ist ja auch noch da, wenn jemand mal für uns wo was gucken muss."

Nebelfarben

„Rot …, sagtest du ganz konzentriert, bevor du das kleinere Klötzchen der wenigen Plastikbausteine auf den etwas größeren Würfel, der grellgelb leuchtete, gesetzt hattest“, erzählte mir meine Großmutter an meinem dritten Geburtstag, während ich auf ihrem Schoß saß. Den Turm, der aus unterschiedlich großen Würfeln bestand, hatte ich längst zu den Spielsachen gepackt, an denen ich das Interesse mittlerweile verloren hatte. Aber zum Wegwerfen waren mir meine alten Spielsachen zu sehr ans Herz gewachsen. Dass sie von dem vorletzten Kunststoffbecher, des sechsteiligen Bauwerks sprach, wusste ich sofort und lächelte sie etwas verlegen so lieb an, wie ich es in diesem Moment tun konnte. Dieser Turm ist eines jener Spielzeuge, die ich irgendwann total hasste und mit manchen erst später wieder Frieden schloss. Das Einrasten eines Würfels auf dem darunterliegenden Baustein ist mittlerweile wieder eine gute Erinnerung. Nur, dass der fünfte Würfel rot ist, weckte wieder diesen Frust in mir, an dem auch das freundliche Lächeln für meine Oma nichts mehr ändern konnte.

„Unser Sohn kann sogar schon Farben sehen“, hörte ich in dem Moment meine blinde Mutter, wie ein böses Omen, zu der Mutter meines Vaters sagen. Mein Papa, der schon bevor ich mein erstes Lebensjahr vollendete, für einige Monate im Ausland an einem Projekt arbeitete und deshalb in dieser Zeit länger abwesend war, fehlte mir an meinem ersten Geburtstag sehr.

Eine eigene Erinnerung an meine ersten drei Lebensjahre konnte ich eigentlich genauso wenig wie jedes andere Kind haben, aber die Geschichten, die mir aus dieser Zeit erzählt wurden, gaukelten mir diese manchmal vor.

Großmutter hatte wie an allen meinen Geburtstagen wieder das Album mit meinen Kinderfotos in der Hand und ich wälzte ich mich etwas unwirsch von ihrem Schoß herunter, um mich auf dem Boden mit meinen neuen Geschenken zu beschäftigen. Die kurzen Jeans, das neue Sweatshirt und die Latzhose, in der ich vielleicht wie ein kleiner Bauarbeiter aussah, interessierten mich eigentlich gar nicht.

„Das Bärchen, das du im vergangenen Jahr bekommen hast, finde ich immer noch sehr süß, aber lamgsam passt es nicht mehr zu einem so großen Jungen wie dir. Schließlich bist du heute schon drei Jahre alt geworden, Marvin“, hörte ich meine Mutter mit vorwurfsvoller Stimme sagen.

„Auf den Fotos, die ich vor zwei Jahren gemacht habe, leuchten Marvins Augen auch schon etwas blasser als normale Augen“, sagte meine Großmutter. „Das hätte mir damals schon auffallen können, aber du mein Sohn, warst ja nicht da …“

„Danke, Papa, für die Puppe, sie ist wirklich süß“, jauchzte ich erfreut, nachdem ich das wonach ich suchte gefunden hatte.

„Aber geändert hätte das auch nichts. Als Risikopatient war Marvin schließlich seit seiner Geburt in Überwachung", hörte ich meinen Vater mit ruhiger Stimme sagen.

„Bella hat Schlafaugen, Mama“, sagte ich, nahm ihre Hand und legte sie auf das Gesicht meiner neuen Puppe.

„Mag sein, aber Puppen sind nichts für so große Jungs. Sie ist zu süß für dich."

„Nein, ist sie nicht!“, trotzte ich und suchte Zuflucht bei meinem Dad.

„Ja, Bellas Schlafaugen …, das war wie Liebe auf den ersten Blick für unseren Besten …, nicht wahr, Marvin?“, sagte mein Vater, während ich auf seinen Schoß krabbelte.

„Puppen mit echt funktionierenden Schlafaugen waren kurz nach dem Krieg das Modernste, was es gab, Sie waren sündhaft teuer und strahlten mit ihren wasserblauen Augen alle wie Engelchen. So wie Bella", sagte meine Oma.

„Hattest du auch eine, Oma?“, fragte ich neugierig.

„Ich nicht, aber meine beste Freundin Ulla und Ullas Puppe hieß Mona. Das weiß ich noch ganz genau."

„War Mona auch blind?“

„Alle Puppen sind blind, Marvin. Es sind ja nur Puppen …“, stotterte meine Oma ausweichend und blätterte in meinem Kinderalbum weiter, um die Situation zu überspielen.

„So blind wie Mama und ich, weil die ja auch alle solche Glasaugen wie wir haben“, erwiderte ich und streichele zärtlich meine neue Puppe.

Fortsetzung

Nebelspiele

Vorgeschichte

Nebeltraum

Inklusion

Schattenglut

Widmung

Für alle, die Inklusion aktiv leben und Menschen mit Beeinträchtigung offen und tolerant begegnen. Für Menschen, die Interessierten Chancen eröffnen und Einblicke in Neues ohne Fremdbestimmung gewähren. 

Impressum

Texte: © Lisa Mondschein
Bildmaterialien: © Ali Saadat / unsplash.com
Cover: © Fizzy Lemon
Tag der Veröffentlichung: 29.09.2024

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle, die Inklusion aktiv leben und Menschen mit Beeinträchtigung offen und tolerant begegnen. Für Menschen, die Interessierten Chancen eröffnen und Einblicke in Neues ohne Fremdbestimmung gewähren.

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