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Spiegelbilder

Welche Farbe der Dacia hatte?

Daran kann ich mich heute nicht mehr erinnern.

 

Was folgte, war noch übler als der Junkie, der ihn fuhr.

 

In bösen Träumen und an schlechten Tagen verfolgt mich meine Vergangenheit.

 

An besseren Tagen lässt meine Erinnerung mich an den alten Spiegel in unserer Küche denken und an meinen Großvater will ich mich nicht mehr erinnern.

Țuică

Das Knurren, das mich aus dem Schlaf aufgeschreckt hatte, ließ mich im ersten Moment an nahrungssuchende Bären denken, die in letzter Zeit immer häufiger in entlegenen Dörfern wie unserem auftauchten. Noch vor wenigen Monaten wagten sich nur die hungrigsten Muttertiere bis zu dem Müllberg vor, neben dem das Gehöft meines Großvaters lag, in welchem sich das Zimmer meines Bruders befand. Dort drinnen stand auch mein Bett. Seit mein Bruder sein Glück im Westen suchte, wo er sich als Hilfsarbeiter auf Baustellen durchschlug und uns ab und zu so viel Geld schickte, wie er entbehren konnte, war es mein Zimmer. Neben mir tickte der alte Wecker, den meine Mutter von meiner Großmutter geerbt hatte und der, seit sie auch tot ist, auf meinem Nachtisch seinen Dienst tat. Ohne auf das Ziffernblatt zu sehen, wusste ich, dass es gegen sechs Uhr am Morgen sein musste, weil mir das rötliche Licht der Morgensonne, das durch die vom Schmutz eingetrübten Scheiben meines kleinen Fensters fiel, die Uhrzeit verraten hatte. Das Knurren kam aber nicht aus dem Stall, der sich unter meinem Zimmer befand, sondern von meinem Magen. Bevor mein Großvater unser letztes Schwein geschlachtet und das meiste von dem Fleisch verkauft hatte, wurde ich viele Jahre vom Grunzen der Schweine wach, was allerdings auch schon Monate her war. Aber heute war etwas anders als sonst und ich war auf einen Schlag hellwach. Mein Magen, an dessen Knurren ich mich wegen des Hungers, den wir zu ertragen gelernt hatten, schon langsam gewöhnt hatte, signalisierte mir Nahrung. Köstliche Nahrung, ein üppiges Frühstück, so wie früher. Der Duft von gebratenem Schweinebauch mit Zwiebeln und Ei, begleitet von dem süßlichen Geruch warmer Milch und einer kräftigen Maisnote, der sich unter dem Türspalt durchzog, ließ mein Herz sofort höherschlagen.

„Macht Großvater etwa Mamaliga cu branza?“, murmelte ich noch etwas schlaftrunken vor mich hin und stürmte zu der Waschschüssel, neben der ein Krug mit kaltem Wasser zum Waschen und Zähneputzen stand. Dann sprang ich in meine abgetragenen Sachen und erspähte, bevor ich über die alte Holztreppe zur Küche hinunterstürmte, im Augenwinkel einen alten Dacia in unserem Hof, den ich hier vorher noch nie gesehen hatte. In der Küche angekommen sah ich auf den rohen Bohlen des Küchentisches tatsächlich eine große Schüssel mit Polenta, die mit Käse überbacken in Milch schwamm. Auf den Tellern, die vor zwei Männern standen, waren noch letzte Reste von Ei im Fett des Schweinebauchs erkennbar. Den Mann, der dort neben meinem Großvater saß und am frühen Morgen schon mit ihm Țuică, einen in Rumänien neben Palinka oft schwarz gebrannten und häufig wegen Methanolverunreinigungen giftigen Pflaumenschnaps trank, hatte ich noch nie gesehen, aber er sah zum Fürchten aus.

„Guten Morgen, Großvater“, sagte ich enttäuscht darüber, dass die beiden mir von den Fleischhappen nichts übriggelassen hatten. Ohne den Fremden eines Blickes zu würdigen, schlurfte ich quer durch die Küche, bis ich zu dem blinden Spiegel kam, der über dem alten Waschbecken schief an der Wand hing. Seine Oberfläche war von zahlreichen Sprüngen durchzogen, die wie Spinnenweben aussahen und sich irgendwo in der Nähe der Mitte in einem blinden Fleck kreuzten, der bröselig und milchig trüb aussah. Selbst bei hellem Sonnenlicht wirkten die fahlen Bilder, die er noch zeigen konnte, farblos und trist. Die langen Haare, die mein rundliches Gesicht umrahmten, sahen darin stumpfer aus, als sie wirklich waren. Über Winter war meine Ausstrahlung eher grau als bleich geworden. Die Risse im trüben Glas gaukelten mir furchige Narben vor, die mein Antlitz gruselig erscheinen ließen. Von der ungesunden Kost war mein ganzer Körper während der letzten Monate pummelig aufgequollen und ließ mich auf den ersten Blick fraulicher erscheinen, als ich mich fühlte. Je nachdem, auf welches der geborstenen Stücke ich sah, konnte ich auch indirekte Blicke auf die beiden Männer werfen, die sich hinter meinem Rücken weiter betranken. Großvater war fast so hager wie meine Mutter geworden, die, als sie starb, nur noch vierzig Kilogramm wog. Der Blick seiner stumpf starrenden Augen war in den letzten Wochen vermutlich von Unmengen selbst gebrannten Fusels zusehends leerer, und die Fehlstellung seiner Augen verriet, dass er dabei war, infolge der Vergiftungen zu erblinden. Zuerst dachte ich, dass er mich nur vergessen hatte, und griff wie jeden Morgen nach der Bürste, mit der ich täglich meine Haare pflegte. Das einseitige Essen, mit dem wir uns begnügen mussten, hatte sie in letzter Zeit etwas strohig werden lassen. Das Bürsten zauberte dennoch etwas Glanz in meine pechschwarzen Haare, bevor ich sie danach wie an jedem Morgen zu einem Pferdeschwanz zusammenband.

„Ronja …“, brummte er, anstatt meinen Morgengruß zu erwidern, und ich sah in einer der schmutzigen Scherben, dass er, während er mich zu sich rief, ungeschickt und laut polternd an einem Stuhl herumzerrte. Der Platz, den er mir zuwies, befand sich am Kopfende des Tisches. Von dem grauen Holz der schon recht wackelig aussehenden Sitzgelegenheit war im Laufe der Zeit bereits die meiste Farbe abgeblättert, aber die anderen Stühle und der Tisch wirkten genauso trostlos. Die ganze Küche war in keinem besseren Zustand und der Zahn der Zeit hatte überall unübersehbare Spuren bitterer Armut hinterlassen.

„Ja, Großvater, ich komm’ ja gleich“, brabbelte ich die Wand an, während ich meine Haare durch das Haargummi zog, und begab mich danach mit einem Teller und mit einem Löffel bewaffnet zum Tisch. Das olivgrüne Hemd, das ich als Bluse trug, war weit geschnitten und fiel locker über den Bund der Fleckenhose, die früher genauso wie das Hemd auch meinem Bruder gehört hatten.

„Silviu ist deinetwegen hier“, sagte er mit schwerer Zunge und deutete zuerst auf meinen Löffel und dann auf den Topf, in dem abgesoffene Maisfladenstücke in lauwarmer Milch schwammen.

„Meinetwegen?“, fragte ich schüchtern und löffelte mir einen Berg Polenta aus der Milch, die schon von einer dünnen Haut überzogen war, in den tiefen Teller, den ich vor mir auf dem Tisch abgestellt hatte.

„Iss, er hat Arbeit für dich“, sagte Großvater, ohne mir in die Augen zu sehen, und goss von dem sauren dunklen Wein, den wir im Herbst wie jedes Jahr selbst gekeltert hatten, in einen Plastikbecher, bis dieser voll war.

„Arbeit?“, fragte ich misstrauisch, weil hier in unserem Dorf schon seit langer Zeit niemand mehr Arbeit finden konnte, und löffelte zu dem Bissen, den ich mir schon in den Mund geschoben hatte, noch von der klebrigen, viel zu sehr gesüßten Milch hinterher. Dass ich von dem Speck und den Eiern nichts abbekommen hatte, schien weder Großvaters blondem Gast noch ihm selbst ein Wort wert zu sein.

„Gute Arbeit an der frischen Luft“, antworte mir Silviu. Die pappigen Strähnen, die fettig neben einem abgewetzten Kragen auf seinen Schultern lagen, sahen richtig eklig aus.

„Trink Wein, Ronja, das macht Mut …“, nuschelte mein Großvater, dessen Atem schon wieder kräftig nach Schnaps stank, und schob mir den Becher hin.

„Ja, trink Ronja, das wird dir guttun“, hörte ich den schmierigen Widerling sagen, der zuerst sich und danach Großvater noch einmal aus unserer Plastikflasche ohne Etikett üppig nachschenkte und deren Gläser erneut mit hochprozentigem Fusel füllte.

„Schöne, pralle Möpse hast du, Ronja“, schob er nach. Die eiskalten Blicke seiner blauen Augen, die schamlos meinen Körper musterten, machten mir Angst.

„Was ist das für eine Arbeit, die ich da tun soll?“, fragte ich und bemühte mich, meine Stimme fest und selbstsicher klingen zu lassen.

„Keine schwere Arbeit und gut bezahlt“, sagte er und schob meinem Großvater ein dickes Geldbündel rumänischer Lei über den Tisch.

„Du musst nur ein paar Ausländern etwas bei der Jagd zur Hand gehen. Mehr nicht, und wenn sie einen Bären schießen, darfst du dich mit ihnen an frischem Fleisch satt essen. Aber nur wenn du nett zu ihnen bist, und dann darfst du von dem Fleisch auch noch so viel wie du tragen kannst für deinen Großvater und für dich mit nach Hause nehmen“, sagte der Fremde und nickte mir mit einem verlogen aussehenden Lächeln zweifelhaft aufmunternd zu.

„Trink deinen Becher leer und geh …“, befahl mir mein Großvater barsch, griff nach dem Geld und dann nach seinem Glas.

„Noroc și fericire“, hörte ich Silviu dazu nur sagen, der sein Glas, gegen das meines Großvaters klirren ließ, als wollte er damit einen Deal besiegeln. Prost und Glück, so lautet die deutsche Übersetzung des rumänischen Trinkspruchs. Eine andere Wahl, als auf mein Glück zu vertrauen, blieb mir offensichtlich nicht.

„Zieh dir Stiefel an, Ronja. Im Wald ist es hier im April noch recht feucht, aber das weißt du ja“, herrschte mich der Fremde in einem Ton an, der keine Widerrede zuließ und stand auf. Die schweren Schnürstiefel, die ich schon während des Winters getragen hatte, stammten noch aus der Zeit, als mein Bruder beim Militär war. Sie gehörten inzwischen auch mir. Meine ausgetretenen Sommerschuhe waren mir schon gegen Ende des vergangenen Sommers zu klein geworden und passendere Schuhe hatten wir keine mehr.



***

 

Der Dacia, in dem ich mich auf dem Beifahrersitz angegurtet an die Tür presste, um möglichst viel Abstand von dem nach Pflaumenfusel stinkenden Fahrer zu gewinnen, glich einer fahrenden Müllhalde. Wenn ich an die im Dreck herumliegenden Spritzen denke, deren Nadeln entweder verbogen oder abgeknickt waren, wurde ich sogar umgeben von Sondermüll aus meinem Dorf gebracht. Im schlammigen Schmutz, der die Fußmatten überzog, lagen zertretene Medikamentenverpackungen und zerknautschte Displays, aus denen bis auf wenige schon alle Tabletten und Kapseln herausgerückt waren. Oje, ein Junkie, dachte ich, und das machte mir noch mehr Angst als die Mengen Țuică, die Silviu schon intus hatte.

„Hier, nimm das Chrystal, das wirkt besser als euer gepanschter Wein“, tönte der betrunkene Lenker neben mir. Seine Hände zitterten, als hätte er Parkinson, obwohl sie zum Glück beide auf dem Lenkrad lagen, anstatt mich berühren zu wollen. Einen Moment später löste sich seine rechte Hand und wühlte im Unrat unter seinem Sitz nach einem noch nicht ganz entleerten Folienstreifen, der trotz Schmutz silbrig in der langsam heller scheinenden Sonne glitzerte. Auf einer knöchern wirkenden Handfläche streckte er mir etwas hin, das von der Form ein bisschen an ein Pfefferminzbonbon erinnerte.

„Ich will das alles nicht …“, entgegnete ich und spürte panische Angst.

 

 

***

 

Nach drei Stunden viel zu schneller Fahrt über zum Schluss immer schmäler werdende Straßen las ich auf einem windschiefen Ortsschild, das von Eis, Kälte, Sonne und Hitze fast unlesbar verwittert war, Crângu Nou. Die Hauptstraße war unbefestigt und führte weiter zu einem Waldweg, dessen Verlauf sich in unberührte Natur fortsetzte. Unter mächtigen Bäumen hindurch holperte der Dacia über knorrige Wurzeln hinweg auf einen einsam gelegenen See zu, der trotz der späten Morgensonne immer noch von dichtem Nebel überwabert war. Die Luft roch modrig klamm, und am Ufer, das zwischen den Stämmen schemenhaft zu erkennen war, tauchte hinter vereinzelten verfallenen Gebäuden eine Jagdhütte aus dem Nebel auf. Die Uferböschung, auf der das schrottige Vehikel zum Stehen kam, sah torfig aus und ich riss, noch bevor der Motor erstarb, auf Hilfe hoffend, meine Tür auf und versuchte zu fliehen. Aber wohin, … zu der Hütte vielleicht, oder besser in Richtung Wasser? Von Panik getrieben rannte ich, so schnell ich konnte, in den Wald. Zu dem Hundegebell, das in der Nähe der Jagdhütte aufschwoll, hörte ich das rhythmische Platschen meiner Stiefel im Morast, das sich schnell verlor, als ich festeren Boden unter meinen Füßen hatte. Ob es nur ein Stein oder doch eine Kugel aus einem Gewehr der Jäger war, was mich niederstreckte, bekam ich nicht mehr mit.


***

 

„Wo bin ich?“, fragte ich mich, als mein Bewusstsein zurückkehrte. Alles stockfinster und Sonne auf nackter Haut? Wo ist der Nebel? Es weht kein Wind und es kann auch nicht Nacht geworden sein …“, das waren die ersten Fragen, die mir durch den Kopf gingen, bevor mein Bewusstsein wieder auf Touren gekommen war. Und meine Arme? Ich kann sie nicht bewegen. Seile um meine Handgelenke – wie kann das sein? Was ist mit mir passiert?

 

***

 

 

Oh Gott …, eine Schlinge um meinen Hals und meine Arme von Seilen waagerecht gestreckt – wurde ich zwischen zwei Bäumen aufgespannt? …, aufgespannt im Wald? Sehe ich aus wie an ein Kreuz geschlagen? Zum lebendigen Kreuz gemacht und meine Beine mit Seilen zu einem ‚X‘ gespreizt? Ich muss splitternackt sein, verrieten die kühle Luft und die wärmende Sonne meiner Haut. Was sind das für Schmerzen in meinem Bauch …? Wurde ich missbraucht? … und mein Kopf, er brummt, aber nicht vom Wein. Ich muss klare Gedanken fassen …, noch mehr Seile, die meine Knie nicht lassen. Ein Traum, ein böser Traum, ein Albtraum und meine Zunge, mein Mund – warum kann ich nicht sprechen? Kann doch keinen klaren Gedanken fassen, muss es lassen, kann es nicht fassen …, an meinem Hinterkopf, was ist das? … ein Knoten? …, oder eine Schleife? … und die Füße noch in Stiefeln … Meine Knöchel fixiert? … da muss meine Fleckenhose sein. Eine Melodie ist Ironie, … kann nicht brummen, muss summen …

„Nein, kein ‚X‘ …, unten ist nix. Oben ein Kreuz und unten ein ‚O‘ …, meine Füße nicht lose? … die Fußfessel ist meine Hose. Voll ist mein Mund, hab Stoff im Schlund. Durst im Nebel, es ist ein Knebel. Ich kann nicht schreien … muss weinen und reimen." Ich will auch nicht schreien, aus Angst, weil es dunkel ist. Geräusche von Menschen, die guter Stimmung sind aus der Ferne und Hundegebell – die Jagdhütte! Ja, es muss die Jagdhütte sein und ich bin nackt und gespreizt zwischen den Bäumen fixiert.

„Der Knoten, der Knebel, die Schleife macht Nebel …, eine Augenbinde, ich darf nicht sehen, was los ist. Mein Kopf gestreckt, die Schlinge? … im Geäst, unter dem ich hänge, … die Füße am Boden und Vögel auf Bäumen … senden mir Träume, … sitzen auf Ästen und Pfeifen … erblicken die Schlinge. Sie flattern und kratzen, scharfe Krallen wie Katzen", verhallte mein Singsang und wich einem Wimmern.

 

***

 

Die Schlinge, die mich dazu zwang, das Warten auf mein Schicksal hocherhobenen Hauptes zu erdulden, raubte mir neben jeder vermeintlichen Chance auf Erlösung auch fast alle Luft zum Atmen. Das gerade noch rechtzeitige Erwachen empfand ich als Mischung aus Glück und Pech. Doch plötzlich weckte mich keine neue Atemnot, sondern ein aufgeregtes Flattern um meinen wattigen Schädel. Nach dem Flügelschlag spürte ich die Krallen einer Krähe auf meiner Schulter, die frech und neugierig an etwas auf meinem Hinterkopf herumzupfte. Voll Schaudern dachte ich an ein altes Märchen. Als ich klein war, las mir mein Vater gelegentlich vor dem Einschlafen gruselige Geschichten vor, die ich am liebsten mochte, wenn sie richtig aufregend und spannend waren. Das war in der Zeit, als wir noch viele Schweine und noch keinen Hunger hatten. Das dicke Märchenbuch war steinalt und bestand aus vergilbten Seiten, von denen viele im Laufe der Zeit schon rissig geworden waren, und sah ziemlich zerfleddert aus. Schwer ruhte es in seinen Händen und mir glühten vor Aufregung oft beide Ohren. Die Geschichte erzählte von einem Galgen, an dem vergessene Verurteilte, solange baumelten, bis ihre sterblichen Reste von selbst herabfielen. Die einzigen, die ihnen halfen, sich aus dem schändlichen Bild zu schleichen, das sie für gelegentlich Vorbeiziehende abgaben, waren die Krähen, die unaufhörlich pickten, bis die Sünder geläutert waren. Zuerst pickten sie sich die gebrochenen Augen der Toten, damit sie noch frisch und schmackhaft waren, bevor sie danach erst welk wurden und schlussendlich nutzlos vertrockneten.

 

***

 

Dass mir die Krähe mein Augenlicht zurückgeben wollte, hätte ich nicht zu träumen gewagt. Kaum hatte sie die Schleife aufgenestelt, segelte meine Augenbinde in dem sanften Lüftchen, das noch wehte, so friedlich zu Boden, als wäre meine Welt noch vollends im Gleichgewicht. Endlich wieder hell und ich zwar wirklich splitternackt und mutterseelenallein, aber wenigstens außer Sichtweite der Jagdhütte. Glück im Unglück – nicht wie im Märchen – jetzt musste ich nur noch hier weg. Schnell weg von hier, aber wie …?

 

***

 

Kopfschmerzen, mein Schädel lädiert, aber der Knebel machte mir außer den Fesseln am schlimmsten zu schaffen. Mein Hirn funktionierte jedoch zumindest wieder so gut, dass ich wieder klare Gedanken darüber fassen konnte, wie ich mich aus meiner mir ausweglos erscheinenden Lage befreien könnte. Bevor ich leise herannahende Motorengeräusche hörte, konnte ich nur grübeln und ausharren. Sie näherten sich rasch und ich erkannte zuerst an der Lackierung des Ladas und kurz danach an den blauen Lichtern auf dem Dach, dass, warum auch immer, unerwartete Hilfe nahte. Die Fesseln machten es mir unmöglich, die Polizisten durch Winken auf mich aufmerksam zu machen.

„Hier bin ich … hierher“, würgte ich in meinen durchweichten Knebel, der widerlich nach altem Motorenöl schmeckte, aber vom Kauen schon von Speichel durchweicht und auch schon etwas zerfasert war. Erst als ein Jäger, der beflissen in alle Richtungen außer in meine sah, von der Hütte auf die Polizisten zuging, wollte ich weder winken noch schreien oder in anderer Form auf mich aufmerksam machen. Die drei begrüßten sich kurz darauf, so wie nur alte Freunde es tun. Zum zweiten Mal an diesem Tag sah ich, wie ein Geldbündel den Besitzer wechselte, diesmal von dem Jäger zu zwei offensichtlich korrupten Ordnungshütern.

 

***

 

Die Sonne stand mittlerweile im Zenit, vom Nebel keine Spur mehr, und weil kein Wind ging, wärmte sie mir meine splitternackte Haut so sehr, dass mich nur noch meine Lage und die Erniedrigung fröstelten, ich aber nicht mehr richtig fror. Der Lada war nur noch als Punkt unter dem Schatten der Bäume zu erkennen, die den Hohlweg wie einen finsteren Tunnel wirken ließen. Einen Augenblick später sah ich zwei weiße Lichtpunkte aus der Schwärze auf mich zukommen, die sich viel schneller als der Polizeiwagen aus der gleichen Richtung annäherten, in der dieser gerade verschwunden war. Zwischen meinen gespreizten Beinen hatte ich inzwischen auch angetrocknetes Blut entdeckt und der Gedanke, woher meine Bauchschmerzen gekommen sein könnten, ließ mich noch mehr frösteln. Aber mein nach unten gerichteter Blick hatte auch etwas anderes entdeckt, das Hoffnung in mir aufkeimen ließ. Wie der alte Spiegel in unserer Küche hatte mich ein Lichtreflex, der mir das grelle Sonnenlicht in meine Augen spiegelte, auf etwas aufmerksam gemacht. Als ich genauer hinsah, erkannte ich die Klinge eines etwa zwei Meter vor mir halb in den Morast getretenen Jagdmessers, das ich mit meinen Füßen jedoch selbst nicht erreichen konnte. Trotz der Hoffnung, dass das Messer mir für meine Befreiung doch noch irgendwie nützlich werden könnte, erfüllte das, was ich noch sah, meine schlimmsten Befürchtungen. Mein zerschnittenes Höschen, das ich unweit des Messers auf dem Waldboden entdeckte, sprach Bände. Das Hemd meines Bruders, das aufgeschlitzt daneben lag und das ich auf meiner Haut trug, bevor sie mir meine einzigen Kleider vom Leib geschnitten hatten, ließ mich die Tatsachen meines Martyriums mehr als deutlich erahnen. Die zwei Lichtpunkte waren mittlerweile zu weiß glühenden Sonnen geworden. Sie kündigten die baldige Ankunft eines jetzt dunklen Wagens an, der sich mir, bis auf sein Licht für meine Augen unsichtbar, mit dem Schatten des Hohlwegs verschmolzen, annäherte. Blut zwischen meinen Schenkeln kannte ich schon seit vielen Monaten und auch die damit verbundenen Schmerzen, aber meine verletzte Seele schmerzte noch viel mehr. Sie hatten mich einfach genommen. Ob von vorne oder hinten, daran konnte ich mich nicht erinnern. Da ich von all dem nichts mitbekam, konnte ich das, was mit mir geschah, nur schmerzlich erahnen.

 

 

***

 

Aus den geöffneten Hecktüren des schwarzen Lieferwagens kletterten unbeholfen weitere fünf Mädchen, die so aussahen, als seien sie ein bisschen älter als ich, aber nicht viel. Fahrer und Beifahrer waren in Richtung Jagdhütte davon geschlendert, nachdem sie den Mädchen behäbig die beiden Türflügel geöffnet hatten, ohne ihnen dabei irgendwelche Beachtung zu schenken. Sie wirkten gleichgültig und waren in dem für Jäger typischen Grün gekleidet, interessierten sich aber weder für Getier im Wald noch für mich, sondern starrten stur geradeaus. Ob sie mich überhaupt gesehen hatten? Keine Ahnung, auf jeden Fall war es nicht nur besser so, weil ich splitternackt als wehrloses Opfer zwischen Bäumen aufgespannt in der Sonne hing, sondern weil sie auch nicht so aussahen, dass von ihnen Hilfe zu erwarten gewesen wäre. Die fünf Mädchen, die orientierungslos hinter dem Kastenwagen herumtrippelten, konnten mich nicht sehen, weil sie, so wie ich anfangs auch, alle Augenbinden trugen, und sie waren genauso splitternackt wie ich. Mein Knebel lag inzwischen fast ganz zerbissen und schon recht weich aufgelöst in meiner Mundhöhle und ich konnte sogar meine Zunge darüber schieben, ohne würgen zu müssen. Leise flüsternd hatte ich, kurz nachdem der Motor des Ladas zum Wegfahren gestartet worden war, auch schon eingeschränktes Reden geübt. Nur rufen, oder noch schlimmer schreien hatte ich mich noch nicht getraut, weil ich die Aufmerksamkeit der Jäger nicht auf mich ziehen wollte. Jetzt jedoch musste ich die Mädchen irgendwie auf mich aufmerksam machen, um uns in der Gemeinschaft so stark werden zu lassen, dass uns doch noch die Flucht gelingen könnte. Das ging nicht ohne vorsichtiges Rufen. Außerdem hatte sich der Geräuschpegel in der fernen Jagdhütte merklich gesteigert.

„Willkommensgejohle, das kommt mir wie gerufen“, lallte ich vor mich hin, um meine geschundene Zunge auf lauteres Rufen und verständliches Reden vorzubereiten.

„Sauft euch nur besinnungslos, so wie mein Großvater, der mich verkauft hat, ihr Bastarde“, stieß ich in Richtung des feuchtfröhlichen Gelages mit zur Seite gedrehtem Kopf wütend aus und kniff meine Augen zu Schlitzen zusammen, um sicherzustellen, dass von dort keine akute Gefahr lauerte.

„Prima, die sind mit sich selbst beschäftigt“, brabbelte ich weiter. Die Hunde gaben keine Laute mehr von sich. Vielleicht bekamen sie Fressen und waren so abgelenkt, dass sie mich, auch wenn ich lauter reden würde, nicht hören und uns auch sonst nicht wittern konnten.

„Hey! Thhrrchhh …“, rief ich leise in Richtung Ufer und stellte fest, dass ich zwar nicht richtig pfeifen, aber hörbar zischen konnte.

„Ihr da, hier her … Hier bin ich … Ich kann euch helfen und ich kann euch sehen“, probierte ich es etwas lauter und hörte zum Glück immer noch kein Hundegebell, aber ich beobachtete in der Gruppe der Mädchen eine Reaktion.

„Die Größte von allen, um die sich die anderen jetzt in einem kleinen Kreis scharen, hat eine wilde rote Lockenmähne und könnte sogar schon Sechzehn sein“, erklärte ich mir im Selbstgespräch und freute mich darüber, dass mir das Sprechen zusehends besser gelang.

„Ihr müsst herkommen, hierher und mich losschneiden. Ich bin gefesselt worden. Gefesselt zwischen Bäumen – mit Kälberstricken. Lauft auf meine Stimme zu. Hier ist außer uns niemand. Das kann sich aber schnell ändern, wenn die Jäger wieder kommen und Jagd machen. Jagd auf uns“, sprudelten die Worte wie ein Wasserfall aus mir heraus und ich sah, dass sich die fünf an den Händen fassten und sich mit der Rothaarigen an der Spitze vorsichtig zu mir vortasteten.

„Hier vor mir liegt ein Jagdmesser. Wenn ihr bei mir angekommen seid, könnt ihr mich damit losschneiden. Gleich habt ihr es geschafft, es fehlen nur noch die letzten zehn Meter. Tastet aber vorsichtig nach dem Messer, es sieht scharf aus und könnte euch verletzen“, sprach ich in einem Fort und spürte zunehmendes Herzklopfen. Einerseits redete ich, um ihnen die Richtung anzuzeigen und die kleine Gruppe zu ermutigen, und andererseits, um ihnen so viel Information wie möglich zu geben. Zu dumm, dass sie Augenbinden trugen, die sie ohne meine Ansagen orientierungslos hätten bleiben lassen. Dass sie alle blind waren, fraß eine Menge Zeit, weil sie auf dem schlüpfrigen Laub und dem von Unebenheiten durchzogenen Waldboden nur langsam vorankamen. Hinzu kamen die zahlreichen Wurzeln, die sie, weil sie nichts sahen, mit jedem neuen Schritt zu Fall bringen konnten.

„Gut …, weiter so, ihr schafft das. Wir durften keine Sekunde Zeit verlieren und eure Augenbinden müssen, wie meine, sobald ihr hier angekommen seid, runter“, rief ich ihnen aufmunternd zu. Kurz bevor meine Retterinnen endlich bei mir eingetroffen waren, stutzte ich plötzlich. Im Gegensatz zu meiner Augenbinde trugen sie nämlich keine, die aus alten Stofffetzen improvisiert worden waren, sondern welche aus sehr festem schwarzem Leder, das ihnen auf der Stirn mit einer Art Verschraubung um ihre Köpfe gespannt worden war. Die Verschlüsse aus poliertem Metall funkelten silbrig im Sonnenlicht und waren bei allen der fünf Mädchen mit kleinen Vorhängeschlössern gesichert, von denen gelegentlich Lichtreflexe aufblitzten. Die verchromten Klötzchen, die ihnen auf ihre Nasenwurzeln herab baumelten, sahen auf den ersten Blick wie kleine Amulette aus. Amulette, mit denen ihre Peiniger sie in erschreckend makaberer Weise als ihr Eigentum gebrandmarkt haben könnten. Also nicht nur, weil sie total ihres Augenlichtes beraubt worden waren, sondern so, als sähen die Jäger die Mädchen wie ihre Jagdtrophäen. Die ledernen Kopfmanschetten waren schon von Weitem erkennbar, viel massiver als normale Augenbinden beschaffen. Das vermittelte den Eindruck, dass die Jäger ihre Beute auf diese Art von purem Vergnügen getrieben und für die Gefangenen besonders erniedrigend als hilflos gemachte Sklavinnen kennzeichnen wollten.

„Stopp, dreißig Zentimeter vor deinem rechten Fuß befindet sich jetzt das Jagdmesser …“, drückte ich aufgeregt durch die hinderlichen Fasern in meinem Mund in Richtung der Anführerin mit den roten Haaren heraus, die sich einen Augenblick später auf ihre Knie sinken ließ und versuchte, das rettende Messer zu ertasten.

„Etwas weiter nach links, sei vorsichtig …“, half ich ihr. „Eine knappe Handbreit noch, der Griff weist zu mir und die Spitze zeigt direkt auf dich zu in deine Richtung.“

„Ich habs“, flüsterte das Mädchen, dessen Stimme vor Aufregung, aus Angst oder wegen Beidem zitterte.

 

 

***

 

„Danke, jetzt müssen nur noch schnell die schrecklichen Dinger, die euch blind machen, ab“, sagte ich und rieb meine von den Fesseln geschundenen Handgelenke. Um keine Zeit zu verlieren, langte ich gleich, nachdem meine Finger wieder funktioniert hatten, nach dem Messer, das sich noch in der Hand der Rothaarigen befand. Noch bevor ich das Messer zu fassen bekam, blieb mir vor Schreck fast die Spucke weg. Meine Unterarme sahen beide total zerstochen aus und die Einstichstellen waren von kleinen Blutergüssen umgeben. Der Gedanke daran, dass der Junkie mich auch schon abhängig gemacht haben könnte und was alles noch mit mir geschehen sein konnte, ließ mich erstarren. Wie lange befand ich mich überhaupt in seiner Gewalt? Was war in dieser Zeit alles mit mir passiert …? Plötzliches Hundegebell riss mich aus meinen Gedanken. Es klang gefährlich, drang aus der Richtung der Hütte durch den Wald hindurch und näherte sich schnell.

„Wir müssen weg von hier“, schrie meine Befreierin auf. „Die Jäger lassen uns von ihren Hunden jagen.“

„Schnell zum Ufer, vielleicht sind wir im Wasser in Sicherheit“, stieß ich aus, ergriff die Hand, aus der ich das Messer übernommen hatte, und rannte mit den fünf blinden Frauen im Schlepp, die störrigsten Hindernisse meidend, so schnell es uns möglich war, los.

„Nein, bring uns zum Transporter. Wir müssen es schaffen, die Türen zu schließen, bevor uns die blutrünstigen Bestien erreichen und uns alle mit ihren scharfen Zähnen bei lebendigem Leib zerfleischen“, rief mir eine der hinter mir Rennenden zu, und ich wechselte sofort die Richtung. Kurz bevor wir den rettenden Kasten erreicht hatten, brach mir der Schweiß aus und ich sah noch ein Feuerwerk von Farben, während hinter uns die ersten Schüsse krachten und die Kugeln aus den Jagdgewehren über unsere Köpfe hinwegzischten. In letzter Sekunde erreichten wir, im Feuer der Jäger fliehend, noch gerade so den schützenden Laderaum, in den sich die von der Todesangst vorangetriebenen Blinden mit mir hineinwarfen. Ohne zu sehen, rempelten sie ungebremst gegen die Ladekante und kullerten aus freiem Lauf in die gähnende Leere des Transporters. Im letzten Augenblick hatte ich gerade noch die helfende Hand der Rothaarigen erwischt, die mich dann auch noch zu den fünf anderen auf die geriffelte Blechpritsche unserer Zufluchtsstätte in den Transporter hineinzog. Zwischen Pulverdampf und den Feuersalven sah ich als Einzige, wie furchterregend die Horde war, die auf uns zustürme. Allen voran war da auch eine Frau, die mit ihrem pechschwarzen Pferdeschwanz wie eine Amazone aussah und ganz anders als die anderen Jäger gekleidet war. Dann wurde mir plötzlich auch schwarz vor meinen Augen und alles wurde still und friedlich um mich herum. Das Krachen, mit dem die Türen hinter uns mit wuchtiger Gewalt zuflogen, hörte ich nicht mehr und das Klacken der Schlösser, mit dem die Türen verriegelt wurden, entging mir auch.

Fortsetzung mit Ronja

Schwarzmeerstadt

Ronja und Mara

Schwarzwasserdusche

Die Schattenglutreihe

Inklusion

Impressum

Texte: © Lisa Mondschein
Cover: © Fizzy Lemmon
Tag der Veröffentlichung: 18.04.2024

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Gegen Hass und Gewalt und für die Freiheit aller Menschen, in Würde und mit Toleranz.

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