Nebeljob
Mara ist blind und zieht nach Berlin – Besen binden lehnt sie energisch ab
Neben Nebelstadt mein zweiter Beitrag, zum Kurzgeschichtewettbewerb Oktober 2023 in der Gruppe: Kurzgeschichten
Diese Kurzgeschichte gehört zur Reihe der Kurzgeschichten mit dem Namen "Schattenglut". Sie kann auch als eigenständige Kurzgeschichte unabhängig von den anderen Büchern der Reihe gelesen werden.
Klappentext: Mara wird volljährig und begibt sich in Berlin nicht nur auf Jobsuche. Ihr neues vorübergehendes Domizil ist eine Ferienwohnung. Diese befindet sich unweit eines geheimnisvollen Hauses im Grünen, in das sie einziehen will. Neben "Nebelfreunde" und "Nebelstadt" gibt es noch weitere Vorgeschichten.
„Oh Mara, endlich!“, rief meine Mutter vor Freude und fiel mir noch im Treppenhaus stürmisch um den Hals.
„Hey Mami, jetzt aber bitte nicht auch noch weinen vor lauter Rührung. Es waren doch nur ein paar Tage, die ich weg war“, antwortete ich ihr voller Elan. Die Freude unseres Wiederzusammenseins, die mich noch mit meinem Zuhause bei ihr verband, konnte sie deutlich heraushören und zog mich daraufhin noch fester an sich heran. Nach den Erfahrungen, die ich von meinem Berlin-Trip mitgebracht hatte, machte mich plötzlich irgendetwas nachdenklich. Es war eine Art Feeling das ich spontan nicht zu deuten wusste. Ein paar Sekunden lang grübelte ich weil ich einfach nicht so recht greifen konnte, was es war, das mir gerade aufgefallen war, bis der Groschen dann doch endlich bei mir fiel. Meine Mutter hatte eine Fähigkeit, die ich auch hatte, aber die keine meiner neuen Freundinnen und Freunde in Berlin so hatten wie wir. Marc, Neles Bruder hat sie auch, diese Fähigkeit, weil er auch blind ist. So blind wie ich und meine Mutter es auch sind und wie Mila, meine Freundin, die so mysteriös aus meinem Leben hier verschwunden war. Selbst mit Nele, bei der ich ein paar Tage in deren Zimmer im Studentenwohnheim wohnen durfte, war die Kommunikation einmal kurz fast so schwierig wie mit Leon, einem Mann mit dem ich mich in Berlin kurz eingelassen hatte, der so wie alle anderen dort auch sehen konnte.
„Mami, du hast es einfach drauf, aus meiner Stimme fast alles herauszuhören, was Sehende mir nur in meinem Gesicht und vielleicht noch aus meiner Körpersprache ablesen können“, sagte ich und fühlte mich auf Anhieb total von ihr verstanden. Wir genossen es beide, dass wir uns seit langer Zeit erstmals wieder so gut verstanden, was in unsere neu geschaffenen Mutter-Tochter-Beziehung total gut anfühlte. Daran hatte in den zurückliegenden Jahren nicht einmal unsere Fähigkeit, dass wir beide nur, aber dafür perfekt, non-visuell miteinander kommunizieren konnten, nichts ändern können.
„Ja klar, mein Schatz, ich könnte mir für mich, selbst nach unserer gemeinsamen Reise mit dem Zug, nicht vorstellen, mich so in die Welt der Sehenden zu stürzen. Einmal miterlebt zu haben, wie du das alles so selbständig hinbekommst, hat mich zwar echt beeindruckt, aber so schroff wie du mit manchen Menschen umgegangen bist, die dir oft ja nur helfen wollten, fand ich nicht wirklich gut. Manchmal war mir das sogar total peinlich“, sagte sie und gab mir damit zu verstehen, dass sie mein Abenteuer als abgeschlossen betrachtete.
„Aber jetzt haben wir uns ja wieder und ich freue mich total darüber, dass du rechtzeitig vor nach deinem achtzehnten Geburtstag, den wir nächste Woche gemeinsam feiern wollen, wieder gesund zu Hause angekommen bist. Dann muss nur noch der nasskalte Herbst vollends vorübergehen, bis wir es uns hier drinnen in der Vorweihnachtszeit zusammen wieder schön gemütlich machen können. Die besinnliche Zeit vor Weihnachten genießen können, ist doch immer wieder schön“, sagte sie und zog mich mit meinem Rollkoffer durch die Abschlusstür in unsere Wohnung.
„Hey, mein Lieblingstee“, sagte ich als mir im Flur schon der Duft des Tees in meine Nase zog, den ich vor geraumer Zeit in dem kleinen Laden entdeckt hatte, der auch marrokanische und tunesische Gewürze im Angebot hatte, mit denen wir auch unser leckeres Cuscus kochten, das damit immer so herrlich exotisch schmeckte.
„Ich habe beim Türken auch schon frisches Lamm gekauft“, sagte sie prompt und mir lief auch gleich das Wasser im Mund zusammen und freute mich darüber, dass sie mir mit einer meiner Leibspeise offensichtlich eine weitere Willkommensfreude bereiten wollte.
„Oh Mami, das ist lieb von dir, aber nach dem Tee, möchte ich vorher noch bisschen im Sportverein mit Marc trainieren. Der brennt bestimmt auch schon darauf zu erfahren, was ich mit Nele und ihren Freunden alles in Berlin erlebt habe“, sagte ich und spürte, dass sie mich am liebsten gleich voll vereinnahmt hätte.
„Du bist doch gerade erst angekommen und willst gleich wieder weg?“, antwortete sie zögerlich und gab sich wenig Mühe ihre Enttäuschung zu verbergen.
„Ja schon, aber nicht lange und danach kochen wir dann zusammen, ich freu’ mich wirklich schon sehr auf den Abend mit dir und auf das gute Essen freue ich mich natürlich auch“, sagte ich. Dass mir total mulmig war, weil ich krampfhaft darüber brütete, wie ich ihr möglichst schonend beibringen könnte, dass ich nach meinem Geburtstag nach Berlin umziehen will, sagte ich ihr aber nicht.
„Komm her und lass dich drücken, du erwachsenes Kind“, sagte meine, Mutter als ich an dem Tag, den ich mir schon so lange herbeigesehnt hatte, zu ihr in die Küche trat.
„Alles Gute zu deinem achtzehnten Geburtstag“, sagte sie, mit Tränen in den Augen, umarmte mich innig und ließ mich spüren, wie sehr sie darunter litt, dass ich mich schneller als ihr das lieb war in mein eigenes Leben freischwimmen wollte.
„Danke Mama und sei nicht traurig, schließlich können wir, auch wenn ich wieder in Berlin bin, jederzeit, wenn wir Sehnsucht nacheinander haben, telefonieren. Außerdem kannst du mich dort ja auch immer, wenn dir danach ist, besuchen kommen“, sagte ich gerührt und erwiderte ihre liebevolle Umarmung. Ihr Schmerz, den ich deutlich fühlen konnte, tat mir selbst mehr weh, als mir das lieb war, aber hier in der Provinz zu versauern, war keine Alternative für mich.
„Du wirst mir auch fehlen und genauso auch meine Clique vom Sportverein“, sagte ich leise, während ich mein Hals an den ihren drückte und dabei hoffte, dass sie sich schnell wieder fing.
„Ich hab solche Angst um dich, Mara und dann auch noch die Sache mit dieser Operation …“, schluchzte sie. Weil ich wusste, wie sehr sie unter der Geschlechtsangleichung, für die ich mich entschieden hatte, vielleicht noch mehr als unter der anstehenden Trennung litt, tat sie mir in diesem Moment wirklich total leid.
„Ach komm, Mama, jetzt wo ich Achtzehn bin, ist die Verantwortung dafür ja zum Glück nicht mehr bei uns gemeinsam, sondern nur noch ausschließlich bei mir“, versuchte ich sie zu trösten.
„Ja, ich weiß, aber ich habe trotzdem höllisch Angst davor, dass du diesen Schritt bereuen könntest“, schniefte sie und schob mir ein Schächtelchen in meine Hand, das mit einer Schleife verziert war.
„Oh, eine Geburtstagsüberraschung“, sagte ich entzückt, hoffte, dass der melancholische Teil unseres beginnenden Geburtstagsfrühstücks mit der Geschenkübergabe beendet war und machte mich ans Auspacken. Meine Mutter werkelte indes am Herd herum und gleich danach roch es zu dem Brutzeln, das aus ihrer Richtung zu mir herüberdrang, sehr würzig nach geräuchertem Speck. Während ich noch im Bad war, hatte sie in aller Früh auch den Tisch schon wunderschön, für uns beide gedeckt. Vor mir dufteten Wurst, Käse, mit vermischten Gerüchen frischen Gemüses um die Wette und ich war total neugierig, auf den Inhalt des kleinen Päckchens. Behutsam erkundete ich die Schleife und befreite es von dem seidig glatten Papier, ohne es zu zerreißen. Einen Moment später ließ ich die kleine Schatulle, die ich in meiner Hand hielt, aufschnappen und entdeckte, dass sich im Inneren zwei Kammern befanden. In der einen Kammer fand ich ein filigranes Kettchen mit einem Herzchen, in das auf der Vorderseite gut fühlbar mein Name Mara eingraviert war und auf der Rückseite die Zahl Achtzehn, nahm es heraus und untersuchte den Verschluss. Als ich es mir um den Hals legte und das kalte Metall auf meiner Haut fühlte, spürte ich Freudentränen auf meinen Wangen.
„Oh Mami, danke! Du hättest mir keine größere Freude damit machen können, mir auf diese Weise ausgerechnet heute zu zeigen, dass du mich als deine Tochter so akzeptierst, wie ich bin“, sagte ich total gerührt. Währenddessen befühlte ich überglücklich das dezente, feminine Schmuckstück, das sie mir geschenkt hatte.
„Dass mir das nicht leicht gefallen ist, weißt du, aber ich will dir einfach damit zeigen, dass ich nur glücklich sein kann, wenn du es auch bist, mein Kind“, sagte sie. Dazu streichelte sie mich in meinem Nacken, während der Speck im Hintergrund noch intensivere Röstaromen im Raum verbreitete.
„Was ist da denn noch drin?“, frage ich schniefend, zog meine Nase hoch und wischte mir mit meinem Ärmel die Tränen ab.
„Die Kapsel solltest du nicht öffnen, selbst Gold wird nämlich fleckig, wenn es mit Fingern in Berührung kommt“, sagte sie geheimnisvoll während ich die kleine Ronde, die ich aus der Schatulle genommen hatte, neugierig befühlte.
„Gold?“, fragte ich stutzend.
„Ja, das Kettchen und das Herzchen sind aus Silber. Ich weiß ja, dass du keinen Goldschmuck magst. Das andere ist ein Notgroschen, von dem ich hoffe, dass du ihn nie brachen wirst“, sagte sie mit einem ängstlichen, aber auch stolzen Unterton in ihrer Stimme.
„Mama, was ist das?“, fragte ich sie etwas hilflos und drehte die kleine Plastikscheibe, in der sich etwas sehr Schweres befinden musste, zwischen meinen Fingern.
„Herr Braustein war so freundlich, mir einen Krügerrand für dich zu beschaffen“, sagte sie und fügte hinzu, dass sie hoffe, dass ich die Symbolik ihres Geschenkes richtig deuten würde.
„Du hast Angst, dass mir eines Tages mein Geld ausgeht und ich in der Fremde unter die Räder komme?“, sagte ich mit einer Mischung aus Freude und aufkeimender Wut, die ich jedoch nach besten Kräften versuchte zu unterdrücken.
„Ja, Mara, aber ich habe gelernt, dass meine Angst nicht deine Angst ist, weil du, so wie es scheint, noch gar nicht weißt, wie Angst sich anfühlt. Darüber bin ich sogar froh und ich weiß auch, dass dein Vorhaben nach Berlin zu ziehen, um dich dort in das Leben der Sehenden zu stürzen und inklusiv zu studieren genau das richtige für dich ist. Dass ich mir Sorgen darüber mache, ist aber nicht dein Problem, sondern meines. Du bist halt einfach wie das Goldstück für mich, das du gerade in der Hand hältst und ich wünsche dir von ganzem Herzen, dass du es nie als Notgroschen von dir geben musst. Und jetzt iss …“, sagte sie und stellte einen köstlich riechenden Teller vor mich hin, während im Hintergrund das Mahlwerk der Espressomaschine schnurrte.
„Oh Mama! Du hast mir das schönste Geburtstagsgeschenk gemacht, das sich eine junge Frau wie ich nur wünschen könnte. Meine Freiheit! Mit Worten, kann ich dir nicht beschreiben, wie lieb ich dich habe und jetzt will ich dich umarmen“, schluchzte ich erst kurz und heulte danach wie eine Schlosshündin los.
„Na komm, schon gut, Mara, ich wollte dir einerseits wirklich eine Freude machen, aber dich andererseits auch auf die Gefahren hinweisen, in die du dich dort begibst“, sagte meine Mutter ganz weich. Ihre Worte klangen dabei so liebevoll, dass sie mir, obwohl ich sonst mit ihrer überfürsorglichen Art, die ich oft als Einmischung in meine Angelegenheiten deutete, überhaupt nicht klarkam in dem Moment, gar nicht negativ aufstießen. Ein ganz kurzer Anflug von Wut hatte sich zum Glück so schnell verflüchtigt, wie ich ihn nur einen winzig kleinen Moment als in mir aufkeimendem Zorn wahrgenommen hatte.
„Guten Morgen, Herr Braustein“, begrüßte ich unseren Bankberater bei der Sparkasse und winkte ihm nett mit der ihm zugewandten Handfläche meiner rechten Hand zu. Mit der Linken hatte ich schon die Lehne meines Besucherstuhls ertastet und setzte mich so zügig hin, dass ihm keine Gelegenheit blieb, sich bei mir mit ‚Stühlchen bei Rücken‘ einzuschmeicheln. Meinen Blindenstock hatte ich während dieses etwas trickreichen Manövers mit meinem rechten Unterarm so an mich gedrückt, dass sich ihm auch keine Chance zum Händeschütteln bei mir bot.
„Ah, welch netter Besuch, die junge, jetzt auch erwachsene, Frau Müller, in Begleitung der stolzen Mutti“, hörte ich den widerlichen Braustein schleimen und es schüttelte mich fast mir das mitanhören zu müssen. Das seichte machohafte Getue, mit der er meine Mutter bis diese endlich auch neben mir auf ihrem Stuhl saß umschwänzelte, klang wie gewollt und dann doch nicht gekonnt und ließ mir fast übel werden. Meine armen Ohren ertrugen sein Gesülze, das sich wie lauwarmer Sabber anhörte und ich setzte dazu ein neutrales Pokerface auf, das hoffentlich bisschen arrogant und für den Kerl entwaffnend selbstbewusst aussah.
„Meine aufrichtige Gratulation zum Anpfiff ins Leben, Frau Müller, und das gleich mit einem üppigen Stipendium, einem großzügigen Geburtstagsgeschenk und einer glänzenden Zukunft vor Augen. Da fehlt jetzt nur noch der Jugendsparbrief“, sagte der Banker in einem Ton, der sich nach üblem Feixen anhörte.
„…, und die Augen, die fehlen ja auch noch“, zischte ich gereizt.
„Mara!“, … schrie meine Mutter entsetzt auf, der meine kleine Frechheit unendlich peinlich vorgekommen sein musste.
„Äh, entschuldigen sie bitte“, stammelte der Braunstein hilflos herum und ich hätte mir am liebsten selbst Beifall für meine Schlagfertigkeit und für den damit erzielten Volltreffer geklatscht.
„Über den Sparbrief reden wir später“, sagte ich dem noch verdatterten Braustein und übernahm die weitere Lenkung des Gesprächs.
„Bei meinem Stipendium handelt es sich, so wie es aussieht, um eine monatlich wiederkehrende Zahlung auf unbestimmte Zeit, oder?“, stellte ich dem Braunstein, die erste meiner für diesen Termin sorgfältig vorbereitenden Fragen.
„Ja Frau Müller, sehr üppig für eine Studierende“, grummelte der von mir so herrlich angepisste Macho inzwischen erkennbar frustriert vor sich hin.
„Sie hat es ja auch nicht einfach dort“, sagte meine Mutter kleinlaut dazwischen.
„Nein, natürlich nicht, aber nicht so wie du denkst, Mama. Einfach will ich es ja auch gar nicht haben. Natürlich werde ich mir so wie andere Studierende auch einen Job suchen und für meinen Lebensunterhalt mit meinen eigenen Händen arbeiten“,
„Also dann doch den Sparbrief?“, sagte der Bankberater und ich hörte am Knarzen des Leders seines bestimmt zu protzig wirkenden Sessels, dass er sich entspannt zurücklehnte.
„Nein, das ganz bestimmt nicht, Herr Braustein. Sie dürfen mir ein Tagesgeldkonto einrichten und mehr erstmal nicht“, entgegnete ich ihm überraschend nett und packte noch ein perfekt geheucheltes Augenzwinkern obendrauf.
„Dass sie in diesem Fall viel weniger Zinsen bekommen, ist ihnen aber schon klar, junges Fräulein“, sagte er mit einem selbstherrlich nach Besserwisserei klingendem Tonfall.
„Keine Sorge, Herr Braustein, mir wird schon rechtzeitig etwas einfallen, wofür ich das Geld verwenden will. Aber sagen sie mal, wie sieht das denn eigentlich mit der Herkunft des Geldes aus?“, fragte ich ganz naiv.
„Mit dem Sparbrief, das habe ich bereits prüfen lassen, kämen sie mit den Gesetzen, die zum Schutz vor Geldwäschegeschäften immer schärfer werden, nicht in Konflikt. Wir passen ja schon auf unsere geschätzte Kundschaft auf“, sagte er und machte gleich danach wieder eine rhetorische Kunstpause.
„Danke, aber ich bin davon überzeugt, dass ich auch selbst gut genug auf mein Geld und auf mich alleine aufpassen kann. Schließlich ist es eine monatlich wiederkehrende Zahlung gleichen Betrages“, ergänzte ich, bevor ich von meiner Mutter unterbrochen wurde.
„Mara, siehst du nicht, dass das ohne vernünftige Beratung nicht geht und sogar wenn du etwas falsch machst, kriminell werden kann. Davor habe ich dich schon vor unserer Abreise nach Berlin gewarnt“, sagte sie von einer Mischung aus Rechthaberei und Angst begleitet.
„Nein ich sehe nicht und du Mama siehst auch nichts außer Gespenster. Aber sagen sie mal, Herr Braustein, wenn ich mir von dem Geld in Berlin eine Wohnung kaufen würde, wäre ich da nicht noch sicherer vor einem möglichen Vorwurf gegen bestehende Gesetze geschützt?“, unterdrückte mir ein innerliches Grinsen und wartete danach geduldig auf seine Antwort.
„Ach so, sie brauchen eine Baufinanzierung, das hätten sie mir auch gleich sagen können. Das wäre für sie natürlich auch steuerlich noch besser als ein Sparbrief“, kam darauf wie aus der Pistole geschossen von ihm. Dass das der nächste plumpe Versuch war, mich als Kundin an seine Bank zu fesseln, merkte ich zum Glück sofort.
„Sehen sie, es ist doch immer gut rechtzeitig selbst ein paar Hausaufgaben zu erledigen, Herr Braustein. Vielen Dank für ihre Zeit und wenn sie mir ein Finanzierungsangebot schicken wollen, können sie das gerne tun. Meine neue Adresse bekommen sie nach meiner Ummeldung beim Berliner Bürgeramt, schon wegen der Anpassung meiner Kundenstammdaten, von mir in den nächsten Tagen mitgeteilt. Bis auf Weiteres käme dann zu meinem Girokonto nur noch das Tagesgeldkonto dazu.“sagte ich, stand auf und winkte ihm wieder so zu, dass ich ihm nicht die Hand geben musste.
„Oh Mara, hoffentlich weißt du, was du tust“, sagte meine Mom, als wir in die nasskalte Herbstluft hinaus auf die Straße gingen.
„Ja, keine Sorge, Vorausdenken gehört ja zu unseren besonderen Stärken und ich habe auch schon einen Plan, was wir beide als Nächstes tun sollten. Wir gehen jetzt nämlich wieder in den Coffeeshop am Bahnhof und ich lade dich dazu ein, ein bisschen Coffein kann jetzt nicht schaden", sagte ich grinsend und ergriff ihre Hand.
„Schmeckt immer noch so gut, wie vor unserer gemeinsamen Reise nach Berlin, Mama“, sagte ich. Wir hatten gerade in der angenehm warmen Bahnhofshalle auf den Hockern an einem der Stehtische Platz genommen und nippten an den kleinen Tässchen als meine Mutter damit herausrückte, was ihr nicht passte.
„Mara, was sollte denn das mit dieser Wohnung eben und mit der Suche nach Arbeit in Berlin. Davon hast du mir die ganze Zeit noch nicht einen Piep erzählt? Ist es denn so, dass du gar nicht mehr wegen deines Studiums dorthin umziehen willst?“, fragte sie mich zwar auch etwas neugierig, aber eigentlich mehr säuerlich enttäuscht.
„Dass du mir Vorwürfe dafür machen würdest, ist mir schon lange klar, aber ich wollte uns mit meinen erweiterten Plänen auch nicht vor meinem Geburtstag die Stimmung verderben“, versuchte ich mich ihr gegenüber mehr als notwendig zu rechtfertigen.
„Ein Stipendium ist zum Studieren da. Arbeiten kannst du auch hier“, setzte sie bissig nach.
„Ich will ja dort auch studieren, aber eben nicht nur, Mama“, gab ich ihr brav zur Antwort und nahm mir ganz fest vor, diesmal nicht gleich zickig zu werden.
„Es ist wegen der OP, hab ich recht?“, hörte ich sie sagen und spürte, dass sie die unausgesprochene Frage, ob sie der Grund für mein Weggehen sei, noch mehr als der Abschied von mir quälte.
„Nein, das ist es auch nicht, die Stadt ist einfach so unheimlich interessant und richtig idyllisch“, begann ich ihr vorzuschwärmen.
„Eine Millionenstadt, ist doch nicht idyllisch. Wenn du naturverbunden leben möchtest, ist es doch hier viel schöner“, hielt sie vor und nippte wieder an ihrer kleinen Tasse.
„Absolut nicht Mama, dort gibt es sogar mitten in der Stadt Natur pur und Kanäle und Seen und den Spreewald gibt es auch. Die Berliner Feldmark ist riesig, ein grüner Gürtel mit Weiden und Wiesen umgeben die ganze Stadt. Dort gibt es Badeplätze und Radwege. An diesen schönen Orten riecht es nach Natur und der Wind der Freiheit ist allgegenwärtig. Selbst Bauernhöfe mit Tieren und glücklichen Hühnern gibt es und die Bauern verkaufen in ihren Hofläden frische Eier und andere eigen Erzeugnisse aus ihrer Landwirtschaft.
„Vielleicht da, wo teure Villen an zugebauten Seeufern stehen, die für die Städter nicht mehr zugänglich und auch nie erschwinglich sind“, setzte sie mir weiter zu.
Mama, ich habe ein total tolles Häuschen mitten in der Natur entdeckt. Die Miete scheint billiger als drinnen in der Stadt zu sein, unweit ist ein öffentlicher Badeplatz und Bus und U-Bahn kann ich ohne fremde Hilfe leicht erreichen“, beschwor ich sie.
„Mir kommt das alles so vor, als wolltest, du auf Teufel komm raus nur weg von hier“, sagte sie dann resigniert und stürzte den Rest ihres Kaffees auf einen Zug in sich hinein.
„Nein, Mama, ich will nicht, dass am Bahnsteig Tränen fließen. Ich gehe allein zum Bahnhof und freue mich schon auf deinen ersten Besuch bei mir in Berlin. Dann nahm ich sie in unserem Flur ein letztes Mal in den Arm und litt Höllenqualen, während wir beide innig umarmt in Tränen ausbrachen. Nachdem wir uns voneinander gelöst hatten, wuchtete ich den schweren Rollkoffer hinaus auf den Absatz vor der Treppe und gab ihr einen letzten Kuss. Es brach mir selbst fast das Herz und ich fühlte mich innerlich total und richtig mies dafür, was ich ihr gerade angetan hatte. Den Stock in meiner Rechten zog ich den größten Koffer, den wir hatten, über das Pflaster hinter mir her auf das kleine Türchen zu, das unseren Vorgarten von der Straße trennte. Das dumpfe Rumpeln klang wie ein trauriger Trommelwirbel in meinen Ohren und mir war sonnenklar, dass ich den Absprung nie mehr schaffen würde, wenn ich jetzt weich werden würde. Als ich den Bahnhof erreichte, raste mein Herz immer noch und ich schwitze aus allen Poren. Im Regionalexpress in Richtung Marburg wurde es dann schnell besser und ich lenkte mich mit meinem Handy ab. Auf Booking fand ich mit meinem Smartphone im Stadtteil Zehlendorf schnell eine kleine passende Ferienwohnung für mich, die ich sofort mit meiner neuen Visakarte buchte. Der Bahnhof Marburg weckte, als ich dort in den ICE nach Berlin, für den ich eine Sitzplatzreservierung hatte, umstieg, weniger gute Erinnerungen und ich war froh, dass ich diese Stadt jetzt auch hinter mir lassen konnte. Während wir in Berlin-Spandau einfuhren, griff ich wieder zu meinem Handy.
„Guten Tag, Herr Stelzke, sie gaben mir vor Kurzem ihre Karte und ich wollte sie fragen, ob sie mich um 16:45 vom Bahnhof Mitte nach Zehlendorf fahren können?
„Na det is mal ne jute Überraschung, die Frau Müller wieder, oder?“, sagte er und ich fand es total cool, dass er sich gleich wieder an mich erinnerte.
„Also wären sie dann da?“, fragte ich zurück.
„Ick kann sie och am Bahnsteig abholen?“, schob er hinterher.
„Nein danke, ich komme um 16:29 an, 'ne Viertelstunde reicht mir locker bis zur Invalidenstraße, Herr Stelzke, nur keine unnötigen Umstände“, antworte ich ihm mit einem Grinsen in meiner Stimme und legte auf. Als ich eine halbe Stunde später an der Gebäudeecke des Bahnhofs ankam, hörte ich schon einige Taxis tuckern. Meinen Fahrer erkannte ich auch gleich an seiner Stimme wieder, die mich fragte, ob er mir meinen Koffer abnehmen und in den Kofferraum einladen dürfe. Dass die Beifahrertür auf war, verriet mir das laut hörbare Radio und ich saß schon angeschnallt im Taxi als er einstieg. Die Ferienwohnung war genau richtig, nur die Vermieterin musste ich erst beruhigen, dass sie sich keine Sorgen darum machen müsse, dass ich blind bin und auch nicht darum, dass eine unbeaufsichtigte Blinde ihr die Küche abfackeln würde.
„Guten Morgen, Herr Stelzke, sie sind ja sogar überpünktlich“, begrüßte ich meinen Fahrer erneut, nachdem ich die erste Nacht in Berlin wie ein Stein geschlafen hatte, bis mich um 7:00 das Smartphone aus meinen Träumen gerissen hatte. Nachdem ich um 8:55 aus der Tür auf die Straße hinaus getreten war, hörte ich schon das wartende Taxi vor sich hin nageln.
„Auf den richtigen Schleichwegen is det in Berlin ken Problem. Nach mir kannste Tag und Nacht die Uhr stellen“, begrüßte er mich so gut gelaunt wie immer. Und jetzt zum Bürgeramt, wa … ?“
„Ja, um 10:00 ist der Termin“, bestätigte ich und schnallte mich an.
„Dat reicht ja noch locker für nen Kaffee und ne Bulette“, lachte Stelzke und fuhr los.
Die Kirchstraße 1 war nicht weit weg und es war bitterkalt draußen. Die Bude, an der wir für ein zweites Frühstück anhielten, hatte aber einen beheizten Zeltvorbau, in dem es köstlich nach frisch Gebratenem vom Grill, aber auch nach fettigen Pommes, Curry und Senf roch.
„Für sie auch?“, fragte mich die Berliner Schnauze, die mich begleitete.
„Ja, gern, aber nur wenn ich sie einladen darf“, antwortete ich etwas keck und genoss es gleich mitten drin in der Gemeinschaft der Berliner sein zu dürfen sowie bei deren Gepflogenheiten mitmischen zu dürfen.
„Aber nur wenn se für die Fahrt kene Quittung wollen, die Uhr hab ich nämlich schon abgedrückt“, sagte er gewitzt und ich musste herzlich lachen. Die Bulette befand sich zwischen einem Brötchen und das Ganze lag, wie ich schnell ertastet hatte, auf einem rechteckigen Pappkarton. Der Kaffee dampfte heiß, was mir half herauszufinden, wo er vor mir stand, aber er roch im Vergleich zu den Espressos, die ich sonst trank, total wässrig.
„Sehen sie wo Senf?“, fragte ich und hob höflich auffordernd die obere Brötchenhälfte von meiner Bulette ab.
„Soll ick bei ihnen och glech wat davon draufmachen?“, fragte er entspannt, bevor er was tat und ich nickte zustimmend.
„Danke, darf gern bisschen mehr sein“, lachte ich und wartete bis ich das blubbernde Scharren der Luft hörte, die mit dem Senf aus der Düse quatschte.
„Echt lecker, das war ’ne gute Idee von ihnen Herr Stelzke“, sagte ich nach dem letzten Happen und wischte mir mit der Serviette den Mund ab. Vom Kaffee ließ ich die Hälfte stehen und Stelzke verlor kein Wort darüber.
„Wenn ’se wollen bring’ ich ’se noch rein“, bot er mir an und ich verstaute meinen zusammengeklappten Stock noch bevor wir aufstanden in meinem Rucksack.
„Gern, zum Schalter zwei muss ich“, sagte ich und griff nach Stelzkes Ellenbogen.
„Perso hat ’se dabei?“, fragte eine Stimme, die nach humorlosem Bürodrache klang, meinen Begleiter und ich spürte, wie mir vor Zorn das Blut in meinen Kopf schoss.
„Die Dame hat bestimmt alles, was sie braucht“, sagte Stelzke und war danach blitzschnell verschwunden.
„Na dann“, hörte ich die unsympathische Stimme sagen und schob auf dem Resopal, das sich nach Amtsstube anfühlte, meinen Perso auf sie zu.
„Und der Meldeschein?“, fragte sie dann.
„Hab ich alles im Internet ausgefüllt“, sagte ich genauso kurz angebunden wie das Schreckgespenst, das mir gegenüber saß.
„Da fehlt noch die Adresse“ kam prompt die Antwort und ich schob ihr den Ausdruck aus Booking über den Tisch, auf dem die Anschrift meiner Ferienwohnung zu lesen war.
„Det geht ja nich“, hörte ich dann.
„Weil das 'ne Ferienwohnung ist und ’se dat ja gar nicht können. Und 'nen Platz in ’ner Wohngruppe jibt es ohne Warteliste nich“, blökte mich die dumme Kuh an.
„Danke, dann hätte ich gern ein Touristenvisum oder eine Aufenthaltsgenehmigung für die Wohnung in der meine Sachen sind und in der ich heute Morgen geduscht habe“, sagte ich ganz ruhig.
„Det jet nich“, bekam trocken zur Antwort.
„Danke, mir reicht’s auch“, sagte ich, stand auf, ließ meinen Stock aufklackern und war froh, dass ich den Weg nach draußen kannte.
„Ne Ummeldung hat 'ne Frist von längstens sechs Monaten“, hörte ich die Drachenstimme von hinten ein letztes Mal, als ich schon auf dem Weg zur Tür war und zeigte dem Drachenmonster über meine Schulter hinweg wortlos den Mittelfinger meiner linken Hand.
Wie ich es vermutet hatte war Stelzke bei seinem Taxi und ich roch zuerst , dass er eine rauchte bevor ich hörte, dass er vermutlich lässig an an seinen Kotflügel gelehnt auf mich wartete.
„Det jing aber schnell“, sagte er mit einem schelmischen Unterton als er mich so wütend wie ich noch war auf ihn zustürmen sah.
„Wissen sie wo Immobilen-Mayer in Zehlendorf ist?“, fragte ich und tastete nach der Beifahrertür seines Taxis in das ich dann gleich wortlos einstieg und drauf hoffte, dass mein Zorn schnell wieder verrauchte.
„Det is nur zehn Minuten von hier und da wollen se jetzt also hin?“, sagte er und fuhr ohne eine Antwort von mir abzuwarten los, was mir gerade recht war, weil ich echt gerade voll genug von unnötigen Worten hatte.
„Danke Herr Stelzke, ohne Quittung also“, sagte ich und legte, nachdem ich mich schon los gegurtet hatte, einen Fünfzig Euro Schein auf die Mittelkonsole.
„Det is aber jetze nich ihr Ernst, wa …“, sagte mein treuer Berliner Fahrer als ich schon fast ganz aus seinem Taxi ausgestiegen war.
„Doch, das ist ja auch für den Senf und wenn sie wollen darüberhinaus dafür mich da jetzt gleich noch hineinzubringen. Wenn ich mal wieder wohin will, melde ich mich bei ihnen. Dann gerne auch wieder ganz ohne Quittung und gerne auch wieder mit zusammen Buletten essen“, sagte ich und zwinkerte ihm dabei zu.
„Dann mal los und danke“, sagte er neben mir und wartete bis ich seinen Ellenbogen gegriffen hatte, bevor er mit mir an seinem Arm lostrabte.
„Wie sieht die Bude hier denn aus? Futuristisch, edel-rustikal oder nach Bruchbude?“, fragte ich ihn, während er mich eine Treppe, die nur wenige Stufen hatte, hinaufführte.
„Alte Backstein Fassade, ehemalige Fabrik, mit modernen Fenstern und alles blitzeblank herausgeputzt“, hörte ich ihn sagen und war begeistert, wie treffend er die Dinge, die er sah, so knapp beschreiben konnte. So hab ich das am liebsten, weil er das Gesehene total gut in knappe Worte fassen konnte, ohne es mehr als nötig zu werten.
„Ich will die Fassade gerne anfassen. Geht das ohne, dass sie mich in den Vorgarten führen müssen?“, fragte ich neugierig.
„Det is gar ken Problem, hier können se klingelen und rundherum is alles Fassade“, sagte er grinsend und führte meine Hand an den Rahmen einer Gegensprechanlage.
„Super Wortspiel, Herr Stelzke. Dann lassen sie mich jetzt mal mit meinen Augen hinter diese Fassade gucken und wenn ich wieder wegwill, ruf’ ich sie wieder an, ok?“, antworte ich dem süßen Kerl, der nur kurz lachte und danach ohne dumme Sprüche zu machen, mit federnd klingenden Schritten verschwand. Die Fassade fühlte sich kein bisschen bröckelig, aber eisig kalt an und der Mörtel zwischen den Steinen war kein bisschen feucht. Die Kanten der Ziegelsteine erzählten alte Geschichten, sie mussten wirklich recht alt, aber aufwändig neu verfugt worden sein. Als ich das Taxi lostuckern hörte, lies ich meinen Stock aufklackern und drückte auf den Klingelknopf.
„Ja, bitte“, krächzte eine junge Frauenstimme, die nach eingebildeter Schnepfe klang, aus dem Lautsprecher.
„Ich bin wegen des alten Hauses hinter der Terrassenstraße hier“, sagte ich und drehte mein Gesicht zu der Halbkugel, die ich über der Klingel ertastet hatte, weil ich mir sicher war, dass sich hinter dem Plastik eine Torkamera befand.
„Haben sie einen Termin?“, krächzte die Stimme.
„Nein, aber Kaufinteresse“, antwortete ich ohne lange nachzudenken und prompt schnurrte der elektrische Türöffner.
„Oh, sind sie blind?“, flötete die gleiche Stimme, die jetzt zwar nicht mehr krächzte, aber nicht weniger dümmlich klang, als ich durch das nach Bohnerwachs riechende Treppenhaus im ersten Obergeschoss angekommen war. Die Tür, in der das Repräsentationshäschen rechts von mir stand, musste sehr hoch sein, weil schon das Treppenhaus etwas von der Akustik einer Kirche hatte und sich das Knarren der alten Türscharniere nach feudalem Herrenhausstil angehört hatte.
„Ja, ich hab mich aber dran gewöhnt, dass Leute, die sehen können, mir meine Blindheit schnell ansehen. Aber nur, wenn sie eine scharfe Beobachtungsgabe haben“, sagte ich und lies meinen Stock vor mir auf Brusthöhe von rechts nach links pendeln, bis die Schöne sich wieder gefangen hatte, was einige Sekunden dauerte.
„Herr Mayer ist gerade in einer Beratung. Sie müssten sich noch etwas im Wartezimmer gedulden“, stotterte sie mich dann unbeholfen an, bis ich ihr sagte, dass ich ihr gerne folgen wolle, wenn sie die Freundlichkeit hätte vorauszugehen. Auf Fluren der Wand entlang jemandem zu folgen ist mit dem Stock eine der einfachsten Übungen, mit der sich Sehende immer wieder aufs Neue verblüffen ließen.
„Tja, also …“, hörte ich das Mäuschen piepsen, nachdem wir im Wartezimmer angekommen waren und ich entlang den Wänden schnell die Sitzgelegenheiten gefunden hatte.
„Nein, nicht die Heftchen vom Lesezirkel, ich hab selbst etwas zum Lesen dabei, aber einen Espresso würde ich gerne nehmen“, erlöste ich die Hilflose und packte meinen neuen Canute 360 aus meinem Rucksack aus. Den hatte ich mir aus dem ersten Budget meines Stipendiums geleistet. Dieser Braille-E-Bookreader ist zwar etwas unhandlich und mit drei Kilogramm auch kein Leichtgewicht, dennoch bin ich damit jetzt in der Lage wo immer ich will neu downgeloadete E-Books, die vorher nur mit der Software Calibre mit einem Duxbury Plugin konvertiert worden sein mussten, zu lesen. Das Einzige, das ich zu meinem neuen Leseglück immer noch brauchte, ist eine Steckdose.
„Oh, mein Espresso, danke. Können sie den bitte in der Nähe einer Steckdose abstellen, den passenden Stuhl finde ich dann schon selbst. Geht dann einfach, immer der Leitung nach und schon hab ich's", sagte ich und lies den Stecker grinsend vor meinem Oberkörper so wie vor der Tür schon meinen Blindenstock vor mir hin und her pendeln.
„Aber ja natürlich“, stotterte die Arme total von der Rolle, der ich es nicht besser gönnte. Bei dummen Fragen war ich oft bisschen nachtragend, aber das war jetzt ihr Problem und nicht meines. Kurz darauf hörte ich, dass sie einen Stapel Heftchen auf einen der Stühle umschichtete und danach einen Gegenstand durch den Raum trug.
Ihr Espresso steht hier, sagte sie aus der mir gegenüberliegenden Ecke des Raums und ich stand auf und ging mit meinem Stock voraus auf ihre Stimme zu.
„Danke für die Umstände, die sie sich mit dem Tisch für mich gemacht haben“, sagte ich jetzt richtig nett und tastete nach der Tischkante und danach nach einem Stuhl, den ich gleich darauf rechts neben dem niedrigen Tisch fand. Der Stuhl schien der gleiche wie der zu sein, auf dem ich vorher gesessen hatte und ich setzte mich darauf. Der Espresso, den sie mir gebracht hatte, stand auf einer Untertasse, auf der ich neben einem Tütchen zwei Zuckerstücke entdeckte.
„Könnte ich bitte noch zwei weitere Stückchen Zucker haben?“, fragte ich sie, nachdem sie den Stecker in die Steckdose bugsiert hatte und legte mein Smartphone neben dem Tässchen auf den kleinen Tisch.
„Ja, bringe ich ihnen sofort, sagte die Süße, die jetzt fast so gut wie Herr Stelzke funktionierte, nur dass es bei ihr etwas länger gedauert hatte, bis sie begriffen hatte, dass Blinde nicht immer auch gleich blöd sind. Die Zeit verflog wie im Fluge und ich fragte, nachdem ich auf meinem Canute das Vorlesungsverzeichnis nach allen Vorlesungen von Frau Professor Grieshaupt durchsucht hatte, mit meinem Smartphone per E-Mail einen Besuchstermin für den Folgetag bei der Professorin an.
„Wen darf ich Herrn Mayer denn melden?“, riss mich die Stimme meiner neuen Assistentin aus meinen Gedanken.
„Mara Müller, Müller, mit Doppel-L und mit Umlaut, nicht mit ue“, sagte ich spitz und packte all meine Sachen, mit Ausnahme meines Blindenstocks, den ich auch auf dem kleinen Tisch abgelegt hatte, in meinen Rucksack.
„Frau Müller? Ich bitte um Entschuldigung, dass sie warten mussten, das ist eigentlich nicht der Stil unseres Hauses, sagte eine jovial klingende Männerstimme kurz darauf aus der Richtung, in der sich die Tür zum Flur befand.
„Kein Problem, ich hatte ja auch keinen Termin und bin hier einfach so bei ihnen hereingeschneit“, antwortete ich nett und zeigte mich von meiner besten Seite.
„Wollen sie mir bitte folgen“, hörte ich und dachte, geht doch! Dass das Häschen ihren Chef so gut gebrieft hatte, hätte ich ihr vor einer Stunde noch nicht zugetraut.
„Nun ja, so kalt ist es nun doch noch nicht, dass wir mit Schnee rechnen müssten. Aber lange wird es nicht mehr dauern, die Winter in Berlin haben es trotz Klimawandel immer noch in sich“, begann er einen Smalltalk, den er geschickt an mein ‚hereingeschneit‘ anknüpfte.
„Noch einen Espresso mit vier Zucker und vielleicht ein Glas Wasser dazu, Frau Müller?“, sagte er, während er die Tür zu seinem Büro öffnete und wie ein Gentleman stehen blieb.
„Bitte nach ihnen, Herr Mayer“, sagte ich und er verstand sofort, dass ich es hasste angetatscht zu werden und ging den Smalltalk fortsetzend voraus, bis wir saßen und die Getränke sowie ein paar Kekse serviert waren.
„Das Objekt, für das sie sich interessieren, liegt weit ab vom Schuss und der Renovierungsrückstau ist beträchtlich“, begann er vorsichtig über das Geschäft zu reden.
„Das mag sein, aber die Lage im Grünen ist dafür umso schöner. Ich komme aus der Provinz und bin es gewohnt an heißen Sommertagen schwimmen zu gehen und unter Bäumen im Schatten zu laufen“, antworte ich geschmeidig.
„Ja, da stimme ich ihnen zu, aber wir hätten auch schöne Objekte im Zentrum im Angebot. Berlin ist eine grüne Stadt mit viel Wasser“, sprach er weiter.
„Ich bin aber wegen des Häuschens hinter der Terrassenstraße zu ihnen gekommen, weil ich gar nicht direkt in die Stadt ziehen will und vor dem Renovieren habe keine Angst“, sagte ich etwas nachdrücklich.
Nun ja, was heißt Häuschen, es sind immerhin einhundertzwanzig Quadratmeter Wohnfläche im Erdgeschoss, über die wir hier reden. Und das Obergeschoss hat auch fünfundsiebzig Quadratmeter Wohnfläche und das nur wegen einiger schräger Wände. Dazu kommt der große Garten und die alte Eigentümerin ist auf die Unterstützung der Mietenden insbesondere wegen der Gartenpflege angewiesen“, gab er mir hinterhältig zu bedenken.
„Das sehe ich genauso wie mit den anstehenden Renovierungsarbeiten und außerdem gibt es da ja auch noch Nachbarn und Freunde“, sagte ich und wollte nicht gleich den Eindruck erwecken, dass Geld bei mir nicht das Problem ist.
„Die Miete wäre es nicht, aber sie bräuchten eine Finanzierung für die Dienstleistungen, die dort anfallen“, schlich er sich an.
Können sie mir denn eine passende Finanzierung anbieten, wenn ich das erste Obergeschoss mieten wollte“, fragte ich scheinheilig.
„Da ließe sich sicher etwas machen, für solche Fälle haben wir Kooperationspartner, die auch jungen Leuten helfen können, die noch keine Sicherheiten in der üblichen Form bieten können, quasi zur Überbrückung, bis sie das aus eigener Kraft finanzieren können.
„Das klingt echt verlockend, wann kann ich denn mal in die Wohnung?“, hakte ich nach.
„Sie meinen so eine Art eine Besichtigung“, sagte er verklemmt.
„Ja genau. Eine Besichtigung, das ist genau das, was ich will“, bestätigte ich ohne auf seine Frechheit näher einzugehen.
„Wenn sie mit einem Vorvertrag, der uns unsere Courtage sichert und im Voraus bezahlt werden muss, einverstanden sind, gerne schon morgen“, sagte er. Dass in diesem Moment seinen Augen die Dollarzeichen wie Sterne am Himmel strahlten, war mir so klar wie das Amen in der Kirche und damit war spätestens jetzt klar, wo ich hier dran war,
„Wie hoch ist die Kaltmiete denn? Und wie berechnet sich ihre Courtage?“, fragte ich knallhart.
„Die Miete liegt bei Einzug bei neunhundert Euro und der Staffelmietvertrag verpflichtet sie neben der Inflationsschutzklausel alle zwei Jahre zu einer Mieterhöhung um fünf Prozent. Die Courtage beträgt vier Monatsmieten und sichert ihnen ein vierwöchiges Rücktrittsrecht für die Anmietung zu. Danach ist der Mietvertrag in den ersten fünf Jahren nicht mehr kündbar und danach ist eine ordentliche Kündigung mit einem Jahr Kündigungsrecht zum Folgejahr möglich“, leierte er mir seine Wucherkonditionen herunter.
Morgen passt mir nicht, aber übermorgen klingt gut. Wäre es für sie in Ordnung, wenn ich die Courtage zum Besichtigungstermin in bar mitbringe?“, fragte ich und stand auf, obwohl ich den Espresso und die vier Zuckerstücke noch nicht angetastet hatte.
„Sagen wir fünfzehn Uhr, in der Nachmittagssonne zeigt sich das Objekt von seiner besten Seite“, sagte der Geldhai ohne Skrupel.
„Na, wenn sie das sagen wird es schon stimmen mit der Sonne und so. Fünfzehn Uhr ist mir recht und den Vorvertrag kann ich doch sicher bis Morgen um zwölf Uhr vorab per E-Mail bekommen, oder?“, sagte ich und streckte ihm einen Zettel entgegen, auf dem meine E-Mail-Adresse stand.
„Den Vertrag können sie gerne Zug um Zug gegen die Courtage hier abholen kommen, selbstverständlich akzeptieren wir dann auch ihren Vorschlag mit der Barzahlung“, sagte er und erhob sich von einem Sessel, der während seiner Entlastung dankbar krächzte.
„Danke für das Gespräch. Ich werde Ihnen morgen um zwölf einen Boten schicken. Machen sie sich keine Mühe, ich finde selbst zur Tür“, sagte ich kühl und verließ grußlos das Büro des gottverdammten Halsabschneiders.
„Hallo Herr Stelzke, ich hoffe, dass sie eine erholsame Nacht hatten und ich sie nicht zu früh aufschrecke. Bitte rufen sie mich im Laufe des Vormittags zurück, ich wäre Ihnen dankbar, wenn sie gegen zwölf Uhr eine Fahrt für mich erledigen könnten“, sprach ich meinem Taxifahrer um 5:30 auf dessen Mailbox. Nach dem Termin bei dem Immobilienmakler übelster Sorte, war ich mit den Öffentlichen in die Silbersteinstraße gefahren, um den Abend mit Nele und deren Freunde zu verbringen, die mich zum Glück schnell auf andere Gedanken brachten. Zuerst waren alle überrascht, dass ich wieder in Berlin war und mich statt bei ihnen im Studentenwohnheim in Zehlendorf einquartiert hatte. Nachdem ich ihnen erzählt hatte, was ich vorhatte, waren alle spontan dazu bereit mich nach besten Kräften zu unterstützen. Sowohl für die Renovierung meiner neuen Wohnung als auch für meinem Umzug in die Feldmark sagten sie mir alle Hilfe zu, die ich in Anspruch nehmen wollte. Nele schwärmte von dem vielen Grün und den Wiesen im Park, die wir an den letzten sonnigen Herbsttagen dort draußen zusammen genossen hatten. Leon träumte von den frisch gelegten Frühstückseiern, die man dort zwischen Weiden auf den Gehöften von Bauern kaufen konnte und Sophie schwärmte vom gemeinsamen Grillen in meinem Garten im nächsten Sommer.
„Dass ich am Folgetag mit Frau Professor Grieshaupt auch über den anderen Umzug, der mich viel mehr beschäftigte, reden wollte, behielt ich für mich. Der Umzug in einen zu mir passenden Körper, war, weil mein achtzehnter Geburtstag inzwischen hinter mir lag, etwas, das nur noch mich persönlich anging und ich die Verantwortung für meine freien Entscheidungen ganz alleine zu tragen hatte. Dennoch erzählte ich, dass ich einen Termin mit ihr in Vorbereitung hatte. Mir war nämlich der Gedanke gekommen, dass ich ihr auf Minijobbasis ja auch als studentische Hilfskraft zuarbeiten könnte. Mich als mehrfach Betroffene offen über ungenutzte Potenziale der Inklusion in die Wissenschaft einzubringen, stellte ich mir spannend vor. Besonders schön fand ich an dem Gedanken, dass ich dann viel vom Homeoffice aus in meiner neuen Wohnung und auf Balkon oder Terrasse im Freien arbeiten und währenddessen die mich umgebende Natur genießen könnte.
„Guten Morgen, Frau Müller“, begrüßte mich mein Taxifahrer, der mich gleich, nachdem ich aufgelegt hatte, zurückrief und mich gut gelaunt ansprach.
„Guten Morgen, Sie klingen zwar nicht übermüdet Herr Stelzke, aber nach einer Nacht mit schön ausschlafen hört sich das bei ihnen auch nicht an“, sagte ich und mir wurde bewusst, wie gerädert ich mich selbst fühlte.
„Is schon jut, bin halt immer auf Achse, wa …“, sagte er locker und ergänzte, „wo soll’s denn diesmal hingehen?“
„In die Brook-Taylorstraße 2, nach Trepow, um 11:15 müsste ich dort sein, geht das?“, fragte ich.
„Wollen se nochmal umziehen, nach Adlershof ins Studentendorf, wa, …?“, fragte er etwas direkt, aber so charmant, dass ich trotz meiner Müdigkeit spontan lächeln musste.
„Umzüge hab ich noch einige vor, aber nicht mehr ins Studentenwohnheim, da hab ich zwischenzeitlich andere Pläne“, antwortete ich und fragte, wann er mich denn abholen kommen wollte.
„Ne halbe Stunde reicht, wir fahren am besten Richtung Steglitz bis zum Botanischen Garten und dann die A100 am Tempelhofer Feld vorbei, det is um die Zeit jut zu fahren, is ja nich wirklich weit, wa …“, sagte er.
„Dann wäre da noch was, Herr Stelzke, ein Abstecher ohne mich nochmal zu dem Immobilienhai, zu dem sie mich gestern gefahren haben …“, sagte ich und Stelzke raffte sofort, dass ich dort keine neuen Freunde gefunden hatte.
„Für sie mach ich det glatt“, antwortete er mir ohne zu zögern. „Und dann wieder abholen in Adlershof?“
„Nee, auf dem Rückweg fahre ich lieber mit den Öffentlichen, ich will ja auch auf eigene Füßen mal alleine was in Berlin entdecken. Aber das Kuvert, das sie dort bekommen, könnten sie das vielleicht dann noch in den Briefkasten meiner Ferienwohnung werfen?“, fragte ich dann noch.
„Klar, mach ick dann och“, sagte Stelzke und danach legten wir beide auf. Mein Smartphone sagte, „Sechs Uhr, achtunddreißig“, zu mir und ich legte mir ein Memo für sieben Uhr mit der Adresse der Touristeninformation am Europaplatz 1 an. Danach präparierte ich mein Navigationssystem, weil ich mir auch diese Tour alleine mit Bus und Bahn zum Hauptbahnhof Mitte vornehmen wollte. Den Termin, den ich dort per E-Mail für acht Uhr Vormittags vereinbart hatte, würde ich noch ganz gut schaffen, bevor ich mit Herrn Stelzke, dann zu dem Termin mit Frau Professor Grieshaupt fahren wollte, den ich für halb Zwölf bei ihr in Adlershof bekommen hatte. Bevor ich ging, goss ich mir noch einen letzten doppelten Espresso in einen viel zu großen Kaffeebecher. Das war gerade noch der letzte Rest, der ich im Oberteil der original italienischen Espressomaschine befand, die ich hier in einem Schränkchen in der Küche gefunden hatte. Der Job, den die Touristeninformation Berlin für Studierende angeboten hatte, würde mir noch besser gefallen, als die Idee, die ich zu dem Gespräch mit der Professorin mitnehmen wollte.
Zu meinen Jeans hatte ich mich wegen der Kälte für meine winterfesten schwarzen Stiefel entschlossen und über mein schwarzes T-Shirt aus Baumwolle streifte ich mir einen dicken mittelblauen Kapuzenpulli von North Face. Die regendichte Jacke, die mein Farberkennungsgerät als helles Himmelblau bezeichnet hatte, war deutlich enger geschnitten als der Pulli, den ich darunter trug. Danach fehlte nur noch der füllige Schal, von dem ich wusste, dass er, als ich ihn gekauft hatte, schneeweiß strahlte und jetzt nach einigen Malen in der Waschmaschine bestimmt immer noch schön hell, zu meiner viel dunkleren Jacke passte. Wenigstens gegen die morgendliche Kälte fühlte ich mich so gut gerüstet.
„Guten Morgen, ich habe per E-Mail einen Termin mit Frau Melzkow, sagte ich als ich das große Touristenbüro pünktlich betrat und auch gleich den Tresen für die Beratungen gefunden hatte. Vorher hatte ich noch fast eine Viertelstunde in der Kälte verharrt und mich darüber gefreut, wie reibungslos meine Fahrt mit den Öffentlichen geklappt hatte.
„Sie wartet schon in ihrem Büro auf dich“, sagte eine junge Frauenstimme zu mir, deren Akzent sich fränkisch anhörte. „Deine Jacke kannst du bei mir lassen, ich führe dich gleich zu ihr.“
„Danke, wenn du einfach vorausgehst, ist das voll ok. Den Rest mache ich lieber mit meinem Stock, dann finde ich den Weg zurück nämlich alleine und die Jacke nehm ich auch lieber mit“, sagte ich mit soviel Charme wie möglich und machte dazu ein mega freundliches Gesicht. Nach dem Klopfen wurde eine Tür geöffnet und gleich war er wieder da, der Elefant der dann auf einmal den Raum beherrschte.
„Darf ich?“, sagte ich ganz lieb zu der Fränkin und schob mich, da sie noch im Türrahmen stand, sachte an ihr vorbei. „Frau Melzkow, …?“, und spitze meine Ohren, „ich bin ihr Termin …, Müller, Mara Müller.“
„Ach so ja, ich wusste natürlich nicht …“, stammelte sie und ich half ihr.
„Kein Problem, meinen E-Mails kann ja auch niemand ansehen, dass ich sie blind geschrieben habe“, sagte ich total tiefenentspannt und wartete ab, wie sie reagieren würde, nachdem sie sich wieder gefangen hatte.
„Nein natürlich nicht“, sagte Frau Melzkow und zögerte länger als ich mir das erhofft hatte, bis endlich auf mich zuschritt und ich ihr meine Hand hinstrecken konnte. Ihre Stimme klang jung, spritzig und sympathisch. Ihre Hand passte perfekt in das Bild, das ich mir gerade von ihr machte und ihre Hand fühlte sich auch gut an. So wie die eine Hand einer Frau, die regelmäßig Sport treibt, gesund lebt und auf ihre Figur achtet.
„Setzen wir uns doch Mara, und sag bitte Nicole zu mir. In der Tourismusbranche mögen wir es lieber, mit weniger Distanz zu den Menschen und das beginnt ja mit der Sprache“, sagte sie und bot mir Kaffee aus einer Kanne an, den ich hier nicht ablehnen konnte. In diesem Moment gings für mich um mehr als um den Willen, der notwendig war, um das bisschen Ekel zu überwinden, um so eine widerliche Plörre zu schlucken.
„Wie bist du denn auf die Jobs bei uns aufmerksam geworden, Mara?“, fragte Nicole mich dann aber auf einmal total nett, während ich unter Beweis stellte, dass ich Milch und Zucker ohne fremde Hilfe in meine Tasse bekomme und auch umrühren und trinken kann, ohne gleich mich selbst, oder etwas anderes zu bekleckern.
„Im Internet steht, dass Studierende in Berlin gerne als Tourismus Assistentinnen und Assistenten gesehen werden und viele Berliner das als ein der Stadt Respekt zollendes Engagement beurteilen“, sagte ich freundlich. Ich hoffte, dass ich meine Gesprächspartnerin so davon überzeugen konnte, dass ich nicht nur die Schlagworte der Anzeige gelesen, sondern zur Gesprächsvorbereitung auch sorgfältig auf relevanten Homepages recherchiert hatte.
„Ah“, sagte Nicole anerkennend. „Und für welchen Job interessierst du dich konkret bei uns?“
„Am liebsten würde ich Aufgaben mit intensivem Kundenkontakt erledigen. Seit ich klein war, bin ich bin schon immer gerne draußen unterwegs gewesen und ich fände es total spannend Leuten die Stadt zu zeigen. Ihnen sowohl die Sehenswürdigkeiten zu zeigen, als auch sie für die Geschichte der Artefakte zu begeistern“, schwärmte ich voller Begeisterung los.
„Du meinst jetzt aber nicht als Stadtführerin, oder?“, antwortete Nicole darauf steif.
„Doch, eigentlich wäre das genau mein Ding. Gerne auch international, ich spreche und schreibe fließend Englisch und Französisch, mein Spanisch ist nicht so perfekt, aber aus der Tonspur auch nicht wirklich schlecht“, sagte ich selbstbewusst, ohne mich dabei mit einem Eigenlob outen zu wollen.
„Für unser Callcenter würde das noch besser passen“, entgegnete mir Nicole.
„Ja, das glaube ich gerne, aber ich war noch nie eine Stubenhockerin. Selbst während des Abis war ich viel Outdoor, quasi als Ausgleich für das nervtötende trockene Lernen am Schreibtisch“, erklärte ich ihr und zog meine Bewerbungsmappe aus der Innentasche meiner Jacke. „Hier schau mal, da steht alles ... Ich hab immer viel draußen gemacht. Auf den Schein als Mobilitätstrainerin, den ich mit sechzehn Jahren bestanden habe, bin ich sogar ein bisschen stolz, weil es vor mir in ganz Deutschland keine Vollblinde mit sowas gab. Ich war wirklich die Erste.
„Mara, das mag ja alles sein, aber denk doch mal an die kulturellen Unterschiede. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass Leute aus dem nichteuropäischen Ausland sich für gutes Geld von einer Blinden durch unsere Stadt führen lassen wollen. Leute aus dem mittleren und Fernen Osten zum Beispiel. Glaubst du ernsthaft, dass die sich von einer Blinden etwas über Highlights unserer Stadt erklären lassen wollen, die sie selbst noch nie sehen konnte“, sagte Nicole in vernichtender Klarheit.
„Ist die Inklusion, denn nicht ein Stück unserer Kultur? Gerade für Leute, die aus Ländern kommen, in denen Familienmitglieder mit Beeinträchtigung heute noch vor der Öffentlichkeit versteckt werden, wäre es doch am wichtigsten. Ihnen durch eine Blinde ihre Augen für die Perspektiven Betroffener zu öffnen, fände ich richtig cool“, antwortete ich ihr so freundlich wie ich konnte, mit einer Gegenfrage, die gleich mit einigen Argumenten unterfütterte.
„Mara, glaub mir, dass das nicht funktionieren wird und unsere Berufsgenossenschaft würde so etwas bestimmt auch nicht gut finden“, frustrierte Nicole mich weiter.
„Der Berufsgenossenschaft, müssten wir eben beweisen, dass diese Tätigkeit auch Arbeitsplätze für Betroffene schafft, die nicht in ein Callcenter vermittelbar sind“, hielt ich dagegen, weil ich gelernt hatte, nie aufzugeben, bevor ein Pferd nicht ganz tot geritten war.
„Sobald in unserem Callcenter wieder neue Stellen geschaffen werden, könnte ich mir Dich dort wirklich gut vorstellen“, sagte Nicole, stand auf und ging zu ihrem Telefon.
„Ulla, haben wir noch von den Flyern vom Blindenhilfswerk in Steglitz da? Die sitzen, wenn ich das noch richtig in Erinnerung habe, in der Rothenburgstraße …“, hörte ich Nicole sagen und stand auch auf, weil mir klar war, dass das Gespräch an dieser Stelle beendet war.
„Deine Bewerbungsunterlagen, für eine zukünftige Stelle in unserem Callcenter, dürfen wir doch sicher behalten“, sagte Nicole, während sie mich zur Tür begleitete.
„Nein, tut mir leid, aber die brauche ich heute zur Mittagszeit nochmal. Mein nächstes Bewerbungsgespräch findet um elf Uhr dreißig in Adlershof statt und ich kann ja keine zwei Stellen annehmen. Eine ist mir für den Anfang genug, ich brauche ja auch noch bisschen Zeit zum Studieren“, sagte ich knapp und tastete nach meiner Bewerbungsmappe, die noch an der gleichen Stelle auf dem Tisch lag, wo ich sie abgelegt hatte.
„Bing", meldete sich mein Handy, kurz nachdem ich in die U-Bahn eingestiegen war und der Tag drohte sich noch schlechter weiterzuentwickeln als die elende Nacht davor. Frau Professor Grießhaupt, hatte gerade den Termin mit mir absagen lassen, zu dem ich in einer Stunde mit Herrn Stelzke aufbrechen wollte. Das fehlte mir jetzt gerade noch zu meinem Pech. Verständlicherweise war die U-Bahn proppevoll, weil in dem tristen Wetter, das die Menschen depressiv machte, niemand der Bahnfahrenden Lust auf Parkwege hatte, die oben in den Parks zwischen durchgeweichten Wiesen verliefen. Vor lauter Elend hatte ich einen Platz angenommen, der für alte Menschen, oder solche wie mich, mit Beeinträchtigung reserviert war, den mir ein netter Mensch mit einer sympathischen Männerstimme kurz zuvor angeboten hatte. Diese Plätze hasste ich sonst wie die Pest, weshalb ich sie normalerweise verschmähte und lieber zwischen den Normalen einen Stehplatz nahm, aber er war extra meinetwegen aufgestanden und ich hatte weder Energie noch Lust dazu ihn zu frustrieren. Von dem so mies gelaufenen Bewerbungsgespräch war ich noch so down, dass mir alles egal war, was mir offensichtlich anzusehen war und er mich vor mir stehend fragte, ob er mir noch irgendwie anders helfen könne. In dem Moment fiel mir der Flyer ein, den diese Ulla, die mich auf meiner Flucht vor ihrer Chefin an der Tür des Touristenbüros abgepasst hatte, recht penetrant aufdrängte, bevor sie die Tür nach draußen freigab. Statt des Jobs, den ich mir so sehr gewünscht hätte, hatte ich nur noch den blöden Zettel und mein Anschlusstermin war ja danach auch noch geplatzt.
„Ja, vielleicht schon“, sagte ich, weil ich viel zu matt und zu antriebslos war, um den Flyer mit meinem Smartphone in der überfüllten U-Bahn selbst abzuscannen und mir den Inhalt ohne fremde Hilfe vorlesen zu lassen.
„Gerne was denn? Du siehst so traurig und niedergeschlagen aus und da dachte ich, ich frag’ halt einfach mal. Ich heiße Nils und Du?", fragte der Typ, dessen Stimme nach irgendwo in Norddeutschland klang.
„Mara heiß ich …, magst dich nicht wieder setzen?“, fragte ich, rückte ein Stückchen zur Seite und rappelte mich, weil ich keinen Bock darauf hatte wie eine Hilflose auszusehen, so gut es ging wieder auf.
„Kannst mal gucken, wo das ist und ob da was von 'nem zu vergebenden Job draufsteht?“, sagte ich, gab mich tough und streckte ihm den Flyer hin.
„Klar, gib mal her ..., das ist in Steglitz, in der Rothenburgstraße 15", begann er.
„Hm, sogar ganz bei mir in der Nähe und der Job?", hakte ich nach.
„Glaub nicht, dass das für dich passt ... Das ist so ne Werkstatt für Blinde, die Körbe flechten und Besen binden. Versuch's doch besser in 'nem Callcenter, die gibt's doch zuhauf hier in Berlin", fing er an mich zuzutexten, anstatt mir vorzulesen was da wirklich stand.
„Oje, ich muss ja hier schon raus", sagte ich schnell, riss ihm den Zettel aus der Hand und bahnte mir den Weg zur Tür, die schon piepste und als ich sie erreichte noch so weit offen war, dass ich gerade noch hinausschlüpfen konnte.
„Hallo Herr Stelzke, der Termin in Adlershof hat sich erledigt. Hatten sie heute schon Bulletten?" sprach ich auf die Sprachbox und scannte danach den Flyer:
PLZ
12165
Ort
Berlin
Straßen
Rothenburgstr. 15
Geschäftsname
Blindenhilfswerk Berlin e.V.
HR-Nr.
VR23456NZ
Sitz
12165, Berlin
S.I.C
Soziale Einrichtungen f. Alleinstehende u. Familien
WZ2008
Sozialdienste für Behinderte
Tätigkeit
Blindenwerkstatt, Herstellung von Bürstenwaren, Korb- und Flechtwaren
„Wenigstens hat Nils mich weder verarscht, noch angelogen“, murmelte ich, während ich Espresso kochte, voller Zorn vor mich hin. Den Flyer zerknüllte ich, bevor ich ihn mit Karacho in den Abfalleimer feuerte, zu einem Wutball.
Texte: ©Lisa Mondschein
Bildmaterialien: ©pixabay
Cover: ©Fizzy Lemon
Tag der Veröffentlichung: 19.10.2023
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für alle die sich und ihrer Umgebung immer wieder beweisen, dass mehr möglich ist, als es auf den ersten Blick auschaut.