Am 4.12.2022 wurde vom "Stern" die Kolumne:
veröffentlicht.
"Von Invaliden zu Cyborgs"
– jetzt lässt Putin Prothesen zu "coolen Gadgets" erklären
"Verseuchung" ist zwar ab 16 Jahren jugendfrei, wurde aber aus gutem Grund der BX-Kategorie Thriller zugeordnet und wird für Lesende, die leichte Unterhaltungsliteratur bevorzugen nicht empfohlen.
„Der iranische Botschafter hat schon wieder an das Essen mit ihnen erinnert“, sagte Nicole Krause, die persönliche Assistentin des deutschen Botschafters in Moskau zu ihrem Chef und schaute ihn fragend an. Auf dem Tisch vor ihr lag die aufgeschlagene Mappe mit der Tagespost.
„Als ob wir mit den Russen hier nicht nur schon genug Probleme hätten, aber der Kerl lässt wohl nicht locker …“, sagte er missmutig und blickte mit einer geduldigen Leidensmiene nach einem Terminvorschlag fragend in die braunen Augen seiner wichtigsten Mitarbeiterin.
„Er scheint sich jetzt auch mit einem Frühstück mit ihnen begnügen zu wollen und würde sie gerne kommende Woche um zehn Uhr am Morgen ins Hotel Metropol einladen“, sagte Nicole. Dann fügte sie noch hinzu, dass sie den Iranern, aber schon mitgeteilt hätte, dass ihr Chef so kurzfristig wenig flexibel sei und an diesem Tag auch schon um dreizehn Uhr wieder der nächste Termin in der Botschaft abstünde.
„Danke, das haben sie mal wieder perfekt in meinem Sinne vorbereitet. Um das Gespräch komme ich wohl nicht herum, nachdem er jetzt schon zum dritten Mal angeklopft hat“, sagte der Botschafter, der die Interessen der deutschen Demokratie hier verteidigen musste, lobend. „Wissen wir denn, was er will?“
„Ich vermute es geht ihm um die zwei Studierenden …, die Sache im Ziferblat, wenn sie sich erinnern …“, sagte Frau Krause und schob ihm, während sie sprach, zwei kleine zusammen getackerte Berichte dazu über den Tisch.
„Ah ja, die Sache mit den zwei Studentinnen aus Berlin, um die sich Enis Ganbat intensiver gekümmert hat, als ich mir das eigentlich erwünscht hätte“, sagte der Botschafter mit einem ärgerlichen Stirnrunzeln und schob die beiden Berichte gleich wieder desinteressiert zurück.
„Der zweite Bericht ist neu. Enis hat ihn mir gestern geschickt …“, sagte Frau Krause mild und strich sich ein paar Strähnen ihrer dunkelblonden Haare hinter ihr rechtes Ohr.
„Noch eine Romanze …?“, fragte der Botschafter und zog seinen Mund gequält schief.
„Nein, Herr Botschafter, keine Romanze. Der neue Bericht gehört wohl eher in die Kategorie ‚Thriller‘. Das Schlimme ist nur, dass wir noch nicht wissen, was davon Fiktion ist und was schon bald bittere Realität sein könnte“, sagte Nicole Krause. Ihre Stimme klang ernst, während sie vorsichtig einen der beiden Berichte wieder zur Mitte des Tisches zurückschob.
„Sagen sie mir erstmal einfach, was da drin steht …“, brummte der Botschafter mit einem ungeduldigen Blick auf die dicke Postmappe, die vor Nicole Krause lag und in der immer noch kein Blatt weiter geblättert worden war.
„An der Geschichte mit den Cyborgs scheint mehr dran zu sein, als wir glaubten und es kommt noch schlimmer … wenn Enis recht hat, geht es um Biowaffen. Neue Biowaffen. Biowaffen, die die Russen entwickeln, um die westliche Welt den Diktaturen zu unterwerfen“, sagte Krause in sachlicher Ruhe und wartet auf eine Reaktion.
„Was? …, geben sie das Ding schon her, …“, sagte der Botschafter und nickte anerkennend. Er wusste, dass er sich hier nicht nur auf Nicole, sondern auf sein ganzes Team verlassen konnte und lehnte sich in seinem Sessel zurück, um den knappen Bericht gleich zu lesen.
„Guten Tag Herr Oberst“, begrüßte Frau Dr. Konowalowa, die Direktorin der geheimen Einrichtung, die das russische Militär in der östliche Ukraine betrieb, den großen Unbekannten recht vertraut am Telefon. Die übliche Anrede, die sie verwendete, klang dabei eher aufmüpfig, als respektvoll gegenüber dem Mann ohne Gesicht. So nannten ihn die meisten, der wenigen, die überhaupt wussten, dass es ihn gab, wenn sie hinter vorgehaltener Hand über ihn sprachen. Aber auch das war für die wenigen gefährlich, weil selbst im Kreml nicht alle derjenigen, die im engsten Kreis des Präsidenten herum schleimten, von der Existenz dieses Mannes und den geheimen Projekten wussten, an denen er arbeiten ließ.
„Verdammt, Uljana, das wurde aber höchste Zeit“, bellte der Offizier in sein Telefon und verlangte eine sofortige Erklärung dafür, warum er so lange auf diesen Anruf warten musste. Mühe seinen Zorn zu verbergen gab er sich nicht, sondern donnerte, weil er es gewohnt war Menschen einzuschüchtern in einem fort und zelebrierte sein Lieblingsspiel mit der Angst selbstgefällig weiter.
„Ich hoffe, dass ihr wenigstens vorangekommen seid, meine Geduld ist bald zu Ende. Oder habt ihr alle schon vergessen, wie es um unsere Truppen steht, die im Gegensatz zu euch in Matsch, Schnee und Eis im Feuer liegen? Russland ist auf eure Ergebnisse angewiesen und wenn ihr nicht liefert …“, zischte er die Frau, die er offensichtlich näher kannte, schroff an und ließ den letzten unausgesprochenen Satzteil drohend im Raum stehen.
„Ja, sind wir“, antwortete sie kühl.
„Nur vorangekommen, oder wird jetzt auch mal etwas fertig?“, blaffte der Oberst und gab sich, so wie es seinem Selbstbild entsprach, das er narzisstisch von sich pflegte, schroff und ungeduldig.
„Die Termitox Neutralisierung scheint zu funktionieren“, gab sie ihm knapp zur Antwort und wartete auf seine Reaktion.
„Was heißt, scheint?“, fragte ihr Gesprächspartner lauernd.
„Nun ja, die beiden Neuen, die uns Vesevolod aus Deutschland geschickt hat, haben uns gewaltig weitergebracht, vor allem die Frau, die Susi heißt. Sie kann inzwischen schon wieder ganz gut sehen“, berichtete die Biologin in einem Ton, mit dem sie den Oberst spüren ließ, dass er mit Drohungen bei ihr nichts erreichen würde.
„Uljana, willst du mich missverstehen, oder hat dir der Krieg jetzt auch deine restlichen Sinne getrübt?“, fragte der Mann, der in Insiderkreisen als einer der gefährlichsten der russischen Armee galt, mit milder Stimme und entspannte sich in dem bequemen Ledersessel, in welchem er hinter seinem wuchtigen Schreibtisch saß. Leise zog er die oberste Schublade auf der rechten Seite seines Schreibtisches heraus, legte die geheime Personalakte seiner Gesprächspartnerin vor sich auf die abgewetzte grüne Schreibtischunterlage und öffnete sie genüsslich.
„Bei mir ist bis auf den einen Sinn, der mir geraubt wurde, überhaupt nichts getrübt“, zischte sie wie eine ins Feuer geworfene Schlange giftig zurück. Dabei musste sie sich, weil sie genau wusste, mit welchen Kniffen sie ihren Gesprächspartner Schach matt setzen konnte, ein stolzes Grinsen verkneifen. Ein Grinsen, das ihn gleich gefügig gemacht hätte, wenn er ihr gegenüber sitzen und dabei in ihre Augen hätte sehen können.
„Uljana, du freche Hexe, kennst einfach keine Angst“, sagte Orlejev und strich mit den Fingern seiner rechten Hand über das Passfoto, das auf dem Deckblatt in der rechten oberen Ecke ihrer Akte klebte. Die große sportliche Frau mit den pechschwarzen Haaren, die mit ihren achtundzwanzig Jahren schon sehr früh zur Direktorin aufgestiegen war, turnte den Oberst jedes Mal, wenn er wieder mit ihr zu tun hatte, total an. Er war regelrecht verrückt nach dem sehr speziellen Blick ihrer Augen, die schwarz umrahmt aus dem Gesicht der äußerst attraktiven Russin wie Edelsteine heraus leuchteten und immer deutlich schielten. Den Telefonhörer in seiner Linken, setzte er das Gespräch fort und dachte an die langen Beine, seiner besten Mitarbeiterin und die aufregende Nacht, die er mit ihr während des letzten Besuches in seiner luxuriösen Bleibe, die mit Stacheldraht gesichert war, verbracht hatte. Seine Privatresidenz war kein klassischer großer Bungalow, sondern das Bauwerk erinnerte mehr an ein tropisches Lustschloss inmitten einer unwirtlichen Eiswüste, das sich in der direkten Nachbarschaft der als Sanatorium getarnten Versuchsanlage befand, in der er Uljana als Direktorin eingesetzt hatte. Den Inhalt von Uljanas Akte kannte schon deshalb keiner so gut wie Orlejev, weil er sie selbst so zurecht geschliffen hatte, dass für Dritte alles so aussah wie er die Geschehnisse darstellen wollte. Als er die Stelle überflog, die beschrieb, wie tapfer seine clevere Favoritin sei, die als Studentin in seinem Auftrag in einem Militärlabor Versuche zur Entwicklung neuer Biokampfstoffe für ihr Vaterland durchführte, lächelte er zufrieden. Dabei, so stand es dort, habe sie durch einen Unfall im Labor zwar ihre beiden Augen verloren, aber deshalb nie aufgegeben, sondern ihre Forschungen bis zum heutigen Tag zum Wohle Russlands weiter betrieben. Orlejev blätterte zum Deckblatt zu Uljanas Passbild zurück und bekam regelrecht Herzklopfen als er an das dachte, was er gleich weiter mit ihr besprechen wollte. Auf den starren Silberblick ihrer eisblau strahlenden Kunstaugen, die Uljana besonders unnahbar und so kalt wie eine Nixe im Polarwasser wirken ließen, würde er, vielleicht schon beim nächsten Besuch bei ihr verzichten müssen. Wenn alles nach Plan lief zumindest, aber dieses Thema wollte er sich bis zum Ende des Telefonates aufheben.
„Ich eine Hexe …, Sergej?“, stichelte Uljana provokant mit jetzt süßlich klingender Stimme weiter und packte noch eine rauchige Note obendrauf.
„Das klingt so, als ob du dich vor dem Scheiterhaufen drücken wolltest, meine Liebe“, erwiderte Uljanas Förderer und gab sich keine Mühe, seine Erregung für die Frau zu verbergen, die ihm in schwarzes Leder gehüllt schon viele Nächte fast um seinen Verstand gebracht hatte.
„Das wäre dann das erste Mal, wo ich mich vor heißen Spielchen mit dir drücken wollte, aber ich weiß ja, wie sehr du mich noch als deine Giftmischerin brauchst“, gurrte sie in den Hörer.
„Uljana, du weißt, wie sehr ich dich schätze, aber lass das besser mit unseren Klarnamen. Das ist selbst in einem so persönlichen Kontext nicht ungefährlich am Telefon“, sagte er mit einem warnenden Unterton in seiner Stimme.
„Ja, ja, der FSB und sein unergründliches Netzwerk“, sinnierte Uljana und zeigte sich auch in dieser Hinsicht unnahbar und immun gegen alles, wovor andere Leute schon bei dem bloßen Gedanken an den russischen Geheimdienst vor Angst verstummten.
„Den FSB solltest selbst du nicht unterschätzen“, entgegnete der Mann ohne Skrupel, seine Warnung nocheinmal wiederholend, aber beim zweiten Mal etwas lauter.
„Sergej, wir telefonieren über eine sichere Leitung und zusätzlich noch über einen Zerhacker. Hat der Krieg denn dem größten Helden Russlands die Sinne vernebelt und dich so ängstlich und dünnhäutig wie die anderen Fettwänste im Kreml werden lassen? Der Aufenthalt in unserer Hauptstadt scheint dir diesmal wirklich nicht gutzutun. Du hättest doch auf mich hören und hier bleiben sollen“, flötete Uljana fies in ihren Hörer und genoss es, dass sie in dem Gespräch so schnell die Oberhand gewonnen hatte, was sie jetzt erst recht anfixte.
„Wolltest du mir nicht von deinen neuen Erfolgen berichten? Dein Ablenkungsmanöver wird dir, wenn alles nur heiße Luft war, auch nicht mehr helfen“, antwortete Sergej völlig entspannt und genoss es seine Gespielin wieder an die Leine zu legen.
„Du bist ein richtiges Dreckstück, Sergej, aber genau das macht dich so unheimlich sexy“, sagte Uljana. Sergej konnte aus ihrer Sprachmelodie heraushören, dass sie außer der Sehnsucht nach neuem Sex mit ihm als ihr Lover auch ihre Arbeit für ihn in seiner Rolle als ihr Chef gewissenhaft im Blick behalten hatte. Kurz darauf ratterte sie, wie eine Maschinenpistole, völlig emotionslos, mit kühler Stimme einen stichwortartig gegliederten, äußerst knappen, aber hinreichend vollständigen Bericht herunter.
„1. Susi und Pawel waren schon bei ihrer verspäteten Ankunft hier beide mit Termitox verseucht.
2. Susi wurde erfolgreich dekontaminiert und ihre Sehkraft wird gerade rekonstruiert.
3. Die Fortentwicklung von Pawels Kontamination wird von Anna, unserer Chirurgin, wissenschaftlich begleitet.
4. Morgen bekommt Susi von Anna ein Hirnimplantat eingesetzt.
5. Die Bestrahlungen haben sich zwar zum Entseuchen bewährt, aber sie immunisieren nicht.
6. An einer verbesserten Immunisierung arbeiten wir noch.
7. Unsere bionischen Prothesen funktionieren in manchen Bewegungsmustern schon besser als biologische Glieder.
8. Die Fortschritte mit unseren bionischen Augen sind vielversprechend", sagte Uljana und beendete ihren Vortrag ohne weitere Kommentierungen.
„Kommt noch etwas …?“, fragte der Oberst, den die lange Gesprächspause nervte, in der er seine wichtigste Mitarbeiterin nach deren Vortrag nur leise atmen hörte. Wie von Uljana beabsichtigt hatte das Warten Orlejev erneut gehörig provoziert.
„Ich dachte, sie bevorzugen die Fragerunde, Herr Oberst“, antwortete ihm die Direktorin so freundlich und so hochnäsig wie eine Universitätsprofessorin gegen Ende der Vorlesung.
„Wozu noch ein Hirnimplantat, wenn Susi schon wieder sehen kann?“, fragte Orlejev, gab sich jovial und blies sich wie ein Gentleman auf, der gegenüber einer toughen Frau nicht als ideenloser Spielverderber dastehen wollte. Einerseits reizte es ihn, sich außer an Uljanas Körper auch an ihrem Intellekt zu reiben und andererseits machten ihn ihre gekonnten Frechheiten, ohne dass er das je zugeben würde, total an.
„Weil ihr außer einem Auge auch noch ihr rechter Arm fehlt“, antwortete Uljana listig.
„Ahh, die Unbesiegbare hat plötzlich doch Angst vor den Tücken der Technik bekommen“, konterte Orlejev.
„Pahh, als ob ich mit der Wiederherstellung von Susis altem Raumsehen wertvolle Zeit für nichts verplempern würde, Orlejev!“, fuhr sie ihn wie eine Furie mit glaubhaft echt gespielter Entrüstung an und war gespannt, wie das Spielchen weitergehen würde.
„Als wir vor kurzer Zeit über die Testung dieses neuen Implantats, das auf dem visuellen Kortex des Gehirns appliziert werden muss, sprachen, erklärtest du mir noch, dass du alles Weitere im Selbstversuch erforschen müsstest. Du selbst seist die einzige geeignete Probandin dafür. Das waren deine eigenen Worte“, sagte der Oberst und erinnerte sich daran, dass er sofort dagegen argumentiert hatte.
„Die Situation hat sich mit Susi grundlegend verändert und dir dürfte es doch gerade gelegen kommen, wenn bei mir, mit meinen zwei Dummys drin, bis auf weiteres alles so bleibt wie es ist, oder täusche ich mich?“, sagte sie mit einem süffisanten Grinsen in ihrer Stimme.
„Das ist immer noch keine Erklärung dafür, dass Susi morgen ihren Schädel geöffnet bekommt, während deiner plötzlich zu bleiben soll“, erwiderte Orlejev ohne auf die zweideutige Anspielung seiner Gesprächspartnerin einzugehen.
„Heute bist du wirklich ein übler Kotzbrocken. Aber egal, hör mir einfach zu und unterbrich mich, wann immer du willst“, sagte Uljana, der Sergej jetzt doch wie ein Spielverderber vorkam.
„Uljana, Sergej ist ein Psychopath, der nur auf Frauen wie dich und auch auf solche wie Susi steht“, sagte ihre innere Stimme zu ihr und warnte sie eindringlich zu mehr Vorsicht. Weil sich Sergej ihr gegenüber entgegen seines früheren Verhaltens plötzlich so geschäftsmäßig sachlich verhielt, spürte sie auch selbst, dass sie sich zum ersten Mal wie von ihm kaltgestellt vorkam.
„Eigentlich wollte ich dir, nachdem Susi hier aufgetaucht war, gerade wegen deiner sexuellen Neigungen etwas entgegenkommen und im letzten Moment doch noch auf ein solches Implantat in meinem Hirn verzichten. Eine Entscheidung, die mir nicht leicht gefallen wäre, was ich natürlich überall, außer vor dir Sergej, sofort vehement abstreiten würde", sagte Uljana in einer Kühle die Orlejev frösteln ließ. Im Nachhinein konnte sie mit dem bisherigen Gesprächsverlauf, obwohl sie innerlich vor Wut kochte, jedoch mehr, als sie sich das anmerken ließ, zufrieden sein. An dem Punkt, an dem sie in dem gerade geführten Gespräch zu der Erkenntnis gelangte, dass der Reiz ihrer Blindheit für Sergej unerwartet verblasst zu sein schien, schmeckten für sie auf einen Schlag sowohl ihr Speichel als auch die Luft, die sie atmete, gallenbitter. Aus irgendeinem Grund, den sie nicht kannte, konnte sie ihn mit ihren beiden Fakeeyes plötzlich nicht mehr so wie früher anturnen und manipulieren. Wütend auf Sergej und auch auf sich selbst grübelte sie darüber, was passiert sein konnte. Diese unerwartete Enttäuschung machte sie wütender als alles Andere, über das sie sich jemals zuvor irgendwann einmal mächtig aufgeregt hatte. Dass der in ihrer Akte beschriebene Unfall eine Legende ist, wussten, so glaubte sie, bisher nur Sergej und sie selbst. Aber was war das noch wert, wenn sie ihm plötzlich nicht mehr trauen konnte? Aus ihrer Sicht sprach jetzt allerdings noch weniger als vorher für ihren Selbstversuch, aber Susi kam für sie jetzt erst recht nicht mehr, schon alleine wegen der in ihr aufflammenden Eifersucht, in Frage. Dass sie umplanen musste, weil sie eine Alternative brauchte war ihr klar, nur noch nicht wie.
Wenn ich nur wüsste, was diese plötzliche Entfremdung ausgelöst hat, die so urplötzlich zwischen ihm und mir steht. Schließlich haben wir einander mehr in der Hand, als Sergej das offensichtlich weiter akzeptieren will. Nur gut, dass ich immer recht schnell spüre, was in seinem kranken Hirn vorgeht. Genau das werde ich jetzt vorsichtig und clever nutzen, um meine eigene Haut zu retten, dachte Uljana verärgert, während sie weiter auf die Reaktion von Sergej lauschte.
„Uljana! Lass die Sentimentalitäten, wir sind im Krieg. Natürlich höre ich dir zu und ich vertraue auf dich und deine Arbeit. Muss ich noch mehr sagen?“, sprach der Oberst gelassen in seinen Hörer, griff nach einer dicken Zigarre und riss ein überdimensional großes Streichholz an. Dann wippte er in seinem Ledersessel zurück und starrte den zur Decke aufsteigenden Rauchkringeln nach, während er Uljana zuhörte.
„Der Verspätung, mit der die beiden Deutschen hier ankamen, war eine Geschichte mit einem Tumult auf einem Bahnhof vorausgegangen, in deren weiterem Verlauf Susi, ohne, dass sie wusste, was sie tat, Pawel schon vor deren Eintreffen hier mit dem Termitox vergiftet hatte.“ - Uljjana kam nur bis zum Ende ihres ersten Satzes, als Sergej sie zum ersten Mal unterbrach.
„Euphotox, Uljana! … nicht Termitox", korrigierte der Oberst mit nachsichtig klingender Stimme und blies genüsslich die nächsten Rauchkringel in die Luft.
„Eben nicht, Sergej. Pawel, war über Vesevolod in Deutschland irgendwie an Termitox gekommen und dachte, er müsse Susi, weil sie mental am Ende war, noch etwas Wirksameres als Euphotox geben", sagte Uljana, bevor Sergej sie erneut unterbrach.
„Alle zwei mit Termitox vergiftet? … und du konntest beide dekontaminieren, das ist wirklich ein Fortschritt, mit dem ich nicht so schnell gerechnet hätte, das eröffnet uns in der Tat, viel schneller als wir dachten, neue Möglichkeiten, Uljana", sagte Sergej mit zufriedener Anerkennung in seiner Stimme.
„Halt, halt …, ganz so einfach ist es jetzt doch noch nicht, Sergej. Da ist immer noch das ungelöste Problem mit dem Testosteron. Natürlich ist und bleibt es unser Vorteil, dass wir mit Susi nicht ganz bei null anfangen mussten", fügte sie mit einem Grinsen in ihrer Stimme hinzu und sprach gleich weiter. „Schließlich ist mir die Entgiftung vor längerer Zeit im Selbstversuch schon einmal gelungen. Das Einzige, das vor Kurzem mit der neuen Strahlentherapie bahnbrechend hinzugekommen ist, ist genaugenommen nur der Erhalt der Augen, der vorher selbst für Testosteron reduzierte Menschen, also auch für uns Frauen, im Zusammenhang mit den notwendigen Immunisierungen noch unmöglich war. Dass ich die Strahlentherapie bei Susi ungeplant mit dem zwischenzeitlich nur noch als Biokampfstoff vorgesehenen Termitox erproben konnte, war nur dem Zufall ihrer Vergiftung mit dem alten Zeug geschuldet. Wenn Vesevolod, sich das Termitox nicht ohne unser Wissen unter den Nagel gerissen und zur Verabreichung für Susi weitergegeben hätte, wären wir vielleicht nie dort hingekommen, wo wir heute stehen. Nach dem, was wir jetzt wissen, hätten wir auch gleich das Termitox weiterentwickeln und uns die Zeit für die Entwicklung und die Erprobung des um einiges weniger giftigen Euphotox total sparen können", sagte Uljana.
„Nicht ganz, Uljana, die Termitox Verbesserung und der Wegfall des Euphotox stiften erst Sinn, seit wir wissen, dass Susis vergiftetes Auge nach deiner neuen Strahlentherapie überraschenderweise doch wieder sehen kann. Was das Teststeron angeht, stimme ich dir zu, nur dass du versuchst Vesevolod, den elenden Dieb und seine Raffgier in Schutz zu nehmen ärgert mich dabei. Aber um diesen abtrünnigen Taugenichts, der sich in Deutschland von seinen Schlampen seine Nüsse schaukeln lässt, während unsere Truppen hier für Russland kämpfen, werde ich mich später selbst kümmern", brummte der Oberst grimmig und kam wieder zum Thema zurück. „Wenn alle unsere Soldaten solche Eier wie ich in ihren Hosen hätten, wäre die Entwicklung des Euphotox sowieso völlig unnötig gewesen. Nur deshalb kamst du ja auch mit der Idee zu mir, dein Gift, seiner berauschenden Wirkung wegen, zur Stärkung des Kampfgeistes auch auf unserer Seite einzusetzen. Unser Problem war bisher ja nur die Auswirkung der Vergiftung auf die Augen unserer tapferen Kämpferinnen und auf die Weicheier, die unsere Offiziere mit der Peitsche in die Frontlinien prügeln müssen. Dennoch ist es so …, aber nein …, ich möchte, was dieses Thema betrifft, wirklich nicht mit dir streiten. Schon deshalb nicht, weil ich größten Respekt für geblendete Heldinnen wie dich und deine tapferen Kämpferinnen empfinde", verwarf der Oberst seinen ersten nicht zu Ende gesprochenen Satz und fing mit dem, was er gerade sagen wollte, noch einmal neu an. „Du weißt, wie sehr ich dich und deinen Körper schätze, aber ich habe nie einen Hehl daraus gemacht, dass ich davon überzeugt bin, dass welche wie du unbrauchbar für das Feld geworden sind. Genau das ist ja aus der Sicht des FSB auch der große Vorteil von deinem Zeug in seiner Verwendung als Kampfstoff hinter den Linien, wenn es um die Zermürbung und die Demoralisierung der Zivilbevölkerung geht", sagte der Oberst mit weicher Stimme und gab seiner Direktorin zu verstehen, dass er mittlerweile gewillt war, ihr weiter geduldig zuhören zu wollen.
„Sergej, ich will um diesen Punkt auch nicht mit dir streiten, aber die Fähigkeiten unserer immunisierten Kämpferinnen sind nach wie vor beachtlich, das zeigen die Leistungen meiner Probandinnen hier im Sanatorium mehr als deutlich. Wenn du, nur weil sie für die Immunisierung alle blind gemacht werden mussten, keine Verwendung für sie siehst, liegt das ausschließlich daran, dass du ein sturer Bock bist", schnaubte Uljana hörbar verärgert.
„Dass du nicht mit mir streiten willst, glaube ich dir aufs Wort, du kennst schließlich meine Qualitäten", erwiderte Orlejev selbstgefällig und gab sich danach sogar etwas Mühe charmant zu wirken. „Deine Art, die Dinge mit Leidenschaft auf den Punkt zu bringen, gefällt mir immer wieder und das weiß meine freche Hexe auch ganz genau. Von mir aus kannst du sie auch alle sofort, für unser Vaterland und den verdienten Sieg ins Feuer schicken. Auf Sentimentalitäten brauchen wir in unserem Staat, dank unseres Präsidenten, der bei Problemen hart und konsequent durchgreift, zum Glück keine Rücksicht nehmen", sagte der starke Mann am anderen Ende der Leitung, knapp, aber immer noch versöhnlich.
„Unsere Soldaten werden mit dem Termitox im Blut unerschrockener und tapferer als Löwen kämpfen können. Sie werden ihre verbesserten Fähigkeiten vernichtend für unsere Gegner, jedoch nicht ansatzweise mit dem Einsatzwert wie meine immunisierten Probandinnen in unsere Truppen einbringen können“, sagte Uljana jetzt wieder kühl und gefasst und gab zu bedenken, dass Susi zwar wieder sehen konnte, aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt immer noch völlig offen war, ob sie so auch so genauso gut wie die anderen Frauen im Sanatorium immunisiert werden konnte. Auch daran, dass wir mit unkastrierten männlichen Soldaten wegen des Testosterons, auf das sich mein Gift am liebsten stürzt, bis auf Weiteres nicht weiter kommen werden, hat sich bis heute übrigens auch noch nichts geändert. Hinzu kommt, dass weder Anna noch ich vor Abschluss der Versuche mit Susi vorhersagen können, wo wir dann wirklich stehen. Das hängt auch davon ab, wie lange es Susis letztes Auge in der laufenden Versuchsreihe noch tut. Wir brauchen einfach noch etwas mehr Zeit, um zu klären, wie gut sie mit ihrem bis dahin noch erhaltenen Auge überhaupt immunisiert werden konnte. Genaueres, wissen wir erst, wenn wir Susis Immunwerte, nach der Entfernung ihrer beiden Augen, mit den Daten aus ihren früheren Versuchsreihen verglichen haben. Es wird noch Tage dauern, bis wir die frühen Werte alle haben. Bis dahin müssen wir Susi ihr letztes Auge eben noch lassen und darauf hoffen, dass es lange genug durchhält, bis wir alles haben, was wir von ihr brauchen. Drängeln hilft da auch nicht, mein lieber Freund. Dennoch ist es so, dass ihre Vergiftung uns schon jetzt viel schneller weitergebracht hat, als wir das noch vor wenigen Tagen dachten. Die Entwicklung des Euphotox bis zur Einsatzreife bei unseren Truppen, hätte, selbst wenn wir diese noch mehr zu beschleunigen versucht hätten, mit Sicherheit viel länger gedauert. Mit der neuen Therapie für das Termitox werden wir in Kürze viel schneller zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Hinzukommt, dass wir damit auch ohne eine immunisierende Prophylaxe schon alleine mit der Therapie viel mehr Möglichkeiten haben. Möglichkeiten, die bestimmt auch dem FSB gefallen werden …", bemerkte Uljana verschmitzt und näherte sich dem Ende ihres Berichts. „Was bei der Versuchsreihe, außer den beiden Augen aus Susis Kopf, wirklich herauskommt, weiß im Moment noch niemand", fügte die Russin abschließend noch mit einem Hintergedanken hinzu. Abwartend zündete sie sich genüsslich eine Papirossa an, deren scharfen Rauch sie sich, gleich als sie die Wärme der Glut auf ihrem Gesicht spürte, genüsslich in ihre Lunge zog. Lauernd wartete Uljana ab, ob und wenn ja, wie ihr Gesprächspartner, von dem keine andere Frau so gut wie sie wusste, was für einen Fetisch der skrupellose Oberst wirklich hatte, auf ihre letzte Anspielung im Hinblick auf Susi reagieren würde.
„Und was hast du mit den Deutschen vor, wenn deine Versuchsreihe abgeschlossen ist?", fragte Orlejev prompt.
„Pawel könnte uns danach bei den Söldnern doch eigentlich noch gute Dienste leisten, oder?", sagte Uljana listig und fügte süffisant grinsend noch einen Nachsatz hinzu. „So sauber, wie er inzwischen immunisiert ist."
„Pawel ist immunisiert?“, fragte der Oberst erstaunt und zog eine seiner Augenbrauen überrascht, aber auch stirnrunzelnd nach oben.
„Na klar, so vergiftet wie der Trottel hier ankam, blieb uns nichts anderes mehr übrig als ihn schnellstmöglich therapiebegleitend zu kastrieren“, antwortete Uljana ihrem Lover mit einem gelangweilten Unterton in ihrer Stimme.
„Das verstehe ich nicht. Wieso ist er deshalb immunisiert und warum dann der ganze Aufwand mit Susi?", fragte Uljanas Gesprächspartner etwas irritiert.
„Oje, Sergej, hast du im Biologieunterricht wirklich so schlecht aufgepasst?“, antwortete die Biologin ihm schnippisch.
„Alles hängt also nur am Testosteron?“, bohrte der Oberst weiter, ohne auf Uljanas Provokation einzugehen.
„Na klar! Wovon reden wir denn sonst die ganze Zeit?", zog ihn seine Loverin noch mehr auf und genoss es, ihren Chef mal wieder an einer seiner schwachen Stellen erwischt zu haben.
Mit seinem plumpen Ablenkungsmanöver, braucht er mir nichts vorzumachen. Testosteron hin oder her …, als ob mir nicht längst klar wäre, wie spitz er auf die Deutsche ist. Ob wegen ihres fehlenden Arms oder weil sie blond und jünger ist, aber das ist mir egal, sobald ich sie erwische, werde ich sie mit Haut und Haare verbrennen, dachte Uljana von Eifersucht besessen.
„Bitte nehmen sie doch Platz, Frau Strassfeld“, sagte der deutsche Botschafter in Kiew und machte dazu eine einladende Handbewegung.
„Danke“, sagte Susanne und setzte sich müde in einen schweren Ledersessel. Pawel und sie waren kurz nach ihrer Ankunft am Hauptbahnhof der ukrainischen Hauptstadt von einem hilfsbereiten Polizisten einem Mitarbeiter der deutschen Botschaft anvertraut worden. Dieser hatte ihr gerade eben auch den Sessel, in dem sie saß als eine höfliche Geste ihres Willkommensein etwas von dem massiven Tisch, der im Büro des Botschafters für Besprechungen zur Verfügung stand, zurückgezogen. Aber Susanne hatte sich in ihrer Haut noch nie in ihrem Leben so unwohl wie in diesem Moment gefühlt. Die Feldkleidung ohne Hoheitsabzeichen, die sie noch trug, hatte auch etwas unter den Strapazen ihrer Flucht gelitten, aber in ihrem Inneren sah es viel schlimmer aus. Ihr Gesicht wirke glanzlos und ihr haarloser Kopf sah gespenstig grau und matt aus. Susanne schämte sich plötzlich sogar dafür, dass sie entweder von dem Gift, oder wegen der Nachwirkungen der Therapie ihre ganzen Körperhaare komplett verloren hatte. Weder von ihren Augenbrauen, noch von ihren Wimpern war ihr ein Härchen erhalten geblieben. Im Sanatorium hatte sie trotz des psychischen Drucks, dem sie dort erstaunlich gut standgehalten hatte, nie solche oder ähnliche Minderwertigkeitsgefühle an sich beobachten können, wie sie diese jetzt nach ihrer Rückkehr in die zivilisierte Welt überraschend verspürte.
„Ihre Geschichte klingt so unglaublich, dass wir sie im ersten Moment nicht ganz ernst nehmen wollten. Erst nachdem wir vom Außenministerium in Berlin, viel schneller als in ähnlich gelagerten Fällen, darüber informiert wurden, dass der BND den Wahrheitsgehalt ihres Berichtes keineswegs anzweifelt, machen wir uns ernsthafte Sorgen um ihre Sicherheit“, eröffnete der Botschafter besorgt das Gespräch.
„Darf ich fragen, wo Pawel, mein Freund ist?“, erkundigte sich die völlig Übermüdete.
„Er ist hier genauso wie sie vorläufig in Sicherheit, aber es scheint so, als ob er sich, im Gegensatz zu ihnen, nach deutschem Recht strafrechtlich verantworten muss“, sagte der Botschafter steif und sah Susanne dabei strenger als vorher an.
„Er hat mir doch nur mein Augenlicht gerettet und dafür einen noch viel höheren Preis als ich bezahlen müssen“, antwortete Susi matt und sah den Botschafter flehend an.
„Ich will sehen, was ich für ihn tun kann“, antwortete der Botschafter mit einem gütigen Nicken und griff zum Telefon.
„ …, das ist in Ordnung, aber wenn sie damit fertig sind, bringen sie ihn bitte sofort zu mir in mein Büro", hörte Susanne den Botschafter sagen und glaubte, dass ihr schon wieder ein weiterer Stein von ihrem Herzen fiel.
„Der BND möchte sie, Frau Strassfeld, schnellstmöglich in Berlin sehen und hat uns fürsorglich davon abgeraten, ihre Botschaft hier zu protokollieren“, fuhr der Botschafter besorgt fort.
„Welche Botschaft, Herr Botschafter?“, fragte Susanne etwas verwirrt.
„Ihre Geschichte, wie sie ihren Erfahrungsbericht nannten, wurde in Abstimmung des BND und mit dem für uns zuständigen Außenministerium in Berlin bereits als streng geheim eingestuft. Ungeachtet der Sorgen, die wir uns um ihre Sicherheit, insbesondere hier machen, sind sie natürlich, trotzdem eine freie Bürgerin der Bundesrepublik Deutschland. Leider ist es so, dass hier in Kiew die Diktatoren der ukrainischen Nachbarländer im Untergrund gefährlicher mit mischen als uns, das in solchen kritischen Situationen, recht sein kann. Das bereitet uns, wie schon gesagt, im Moment ernsthafte Sorgen", sagte der Botschafter.
„Um mich braucht sich doch niemand Sorgen machen, wenn dann um Pawel und Mirjam und was bedeutet ‚streng geheim‘? Das Ganze ist doch jetzt so gut wie vorbei und bis jetzt sogar noch überwiegend gut ausgegangen?", entgegnete Susanne etwas naiv.
„Das sollten sie nicht so einfach sehen, Frau Strassfeld und vor allem nicht auf die leichte Schulter nehmen. Ihr Einverständnis vorausgesetzt würden wir sie gerne so schnell wie möglich nach Berlin evakuieren. Es gibt auch Hinweise aus der Botschaft in Moskau, die darauf hindeuten, dass ihre Geschichte als Botschaft an uns lanciert worden sein könnte, oder als Warnung. Vielleicht ist es sogar eine Drohung. Ihre Geschichte scheint ein kleines Puzzleteilchen zu sein, das, wie der BND befürchtet, in ein großes grauenhaftes Bild des FSB passen könnte", sagte der Botschafter sehr besorgt.
„Was?“, schrie der Oberst außer sich vor Wut die Direktorin Uljana Konowalowa an, die er für den Zwischenfall verantwortlich machte.
„Ja, geflohen, alle drei, mit meinem Wolga, der, wie unsere Agenten vor einigen Minuten mitteilten, auf ukrainischem Territorium verlassen aufgefunden wurde“, sagte die Direktorin, ohne sich von dem Wutanfall ihres Gesprächspartners erkennbar einschüchtern zu lassen, in aller Seelenruhe.
„Es gibt kein ukrainisches Territorium, das ist alles Russland“, antwortete der Oberst grimmig, aber beruhigte sich etwas.
„Wir vermuten, dass die blinde ukrainische Schlampe dahinter steckt, die ich, weil sie eine der wenigen Implantierten ist, die schon mit einem Implantat der zweiten Generation ausgestattet wurde, mit Bedacht für diese heikle Aufgabe ausgewählt hatte. Wir hatten sie der Deutschen erfolgversprechend als Mobilitätstrainerin getarnt untergeschoben und sie so als unsere Augen und Ohren an deren Fersen geheftet“, rechtfertigte sich die Direktorin und gab sich dabei gegenüber ihrem Gesprächspartner ungerechtfertigt beleidigt. „Sogar alle ihre Termine mit Anna sind über Annas Implantat in bester Qualität archiviert. Wir haben alles Wesentliche lückenlos auf dem Server, vom Aufstehen bis zu ihrem zu Bett gehen, nur eine Erklärung dafür wie sie uns dennoch entkommen konnten, die haben wir noch nicht."
„Und wo ist das Problem, wenn sie, so wie du sagst, ein neues Implantat in ihrem Kopf hat?“, schnauzte der Oberst.
„Ihr Implantat ist seit einigen Stunden passiv und wir wissen weder wo sie ist noch, was sie gerade macht. Wir wissen nicht einmal, was sie vorhat und schon gar nicht, wie und warum sie uns vom Schirm verschwinden konnte“, sagte die Direktorin gereizt.
„Passiv? … und warum?“, wollte der Oberst wissen.
„Wir wissen es nicht, vielleicht ein Schlag auf den Kopf, oder ein Sturz …“, antwortete Konowalowa emotionslos.
„Oder Sabotage!“, sagte der Oberst grübelnd.
„Ausgeschlossen, das würden wir auf dem Server sofort bemerkt haben, aber ich warne ja nicht zum ersten Mal davor, dass unsere Technologie noch lange nicht so ausgereift ist, dass sie immer zuverlässig funktioniert.
„Wir müssen mit dem Schlimmsten rechnen“, schrie der Oberst in sein Telefon und begann sich danach erst richtig in Rage zu reden. „Uljana, wir werden sie schon auf dem Schlachtfeld aus allen Rohren unserer Feuer speienden Unterstützungspanzer mit deiner Wunderwaffe begasen und so dafür sorgen, dass all unseren Feinden ihre Eier im Schützengraben wie Seifenblasen zerplatzen“, schrie Orlejew wie von Sinnen in sein Telefon.
„Nein, Sergej, das wäre die falsche Strategie. Männer wie du sind einfach unfähig dazu, intelligent und leise, mit Gift zu morden“, sagte die Direktorin mit überheblich mitleidigem, aber überlegt leisem Ton in den Hörer ihres Telefons und steckte sich die nächste Zigarette an der Glut der alten an.
„Ich Dummkopf hätte deiner Implantierung gleich zustimmen sollen“, zischte Orlejev voller Zorn.
„Dann müsstest du jetzt nur ein geheimes Knöpfchen drücken, um mich für immer in meinem Körper zu isolieren und hättest damit auch mein Gift für immer verloren“, antwortete ihm Uljana völlig entspannt auf seinen unüberlegten Wutausbruch und sog einen weiteren Zug von dem starken Kraut tief in ihre Lungen.
„Glaubst du wirklich, ich würde dir mit dem Implantat je eine Gehirnwäsche verpassen und dir deinen kompletten Kortex verbrennen? Diese geheime Funktion ist in unserem System nur für den Notfall für richtige Saboteurinnen, also für solche wie für deine Geflüchteten, vorgesehen. Von welcher Strategie träumst du?“, fragte Sergej und gab sich wieder zuckersüß.
„Wir hätten Susi und Pawel gar nicht immunisieren, sondern sie als spezielle menschliche Kampfstoffdrohnen einsetzen sollen. Das Termitox verbessern und noch viel ansteckender machen, verstehst du? Es hochansteckend in die westliche Welt einsickern lassen …“, sagte die Frau mit dem Telefonhörer in der Hand grinsend und streichelte sich dabei mit der Sprechmuschel genüsslich an ihrem markanten Kinn.
„Aber sie könnten auch unsere Leute anstecken“, sagte Orlejev besorgt.
„Nicht wenn wir unsere Leute vorher immunisieren konnten, was allerdings noch länger dauern kann, als dir gefallen wird, Sergej. Aber wir könnten die beiden ja so lange in ihrem Urlaub beobachten lassen“, antwortete die Giftmischerin der Autokraten, wobei ihr der letzte Halbsatz nur geheimnisvoll gehaucht über ihre Lippen ging.
„Ahh, in Urlaub in die USA, nach Japan oder nach Europa? Also einfach überall dort hin, wo unsere Leute, bis auf die Fahnenflüchtigen, wegen der Sanktionen im Moment eh nicht mehr sein dürfen. Das ist wirklich eine teuflisch gute Strategie“, sagte Orlejew, sog an seiner Zigarre und blies weitere Rauchkringel über sich in die Luft und verhoffte dann plötzlich … „Aber wie soll das funktionieren? Sind sie denn nicht beide immunisiert?", fragte er misstrauisch.
„Pawel ist und bleibt für unsere Zwecke als menschliche Biowaffendrohne ein Blindgänger. Da hast du wohl recht, aber solange Susi ihr Auge behält, reift sie, wenn wir etwas Glück haben, zu einer unscheinbaren Giftschlange heran. Das Beste an dieser Option ist, dass sie, ohne zunächst etwas davon zu ahnen, es erst merken wird, nachdem sie schon Unzählige neu infiziert hat“, flüsterte Uljana verschwörerisch in ihre Sprechmuschel.
„Das klingt in der Tat sehr erfreulich“, sagte der Oberst zunächst ausgesprochen zufrieden, ergänzte dann aber, „… ist das denn sicher, dass das Gift neu in ihr reifen wird? Uljana"
„Ich weiß es nicht, das hängt davon ab, wie schnell und wie gut sich ihre Antikörper in Richtung einer permanenten Immunisierung entwickeln werden, um das genau sagen zu können, hätten wir die Versuchsreihe abschließen müssen. Aber das ändert nichts an der neuen Strategie, die ich dir gerade vorgeschlagen habe, schließlich ist Susi nur ein unbedeutendes Versuchskaninchen von vielen.
„Dann weißt du ja jetzt, was du zu tun hast“, sagte der Oberst.
„Ja klar, die Spuren hier vernichten und an einem unverbrannten Ort mit Hochdruck das Termitox verbessern“, antwortete die Direktorin ihrem Chef, der das Telefonat kurz danach grußlos beendete.
„Evakuierung!“, sagte Uljana Konowalowa knapp in ihr Telefon und beendete gleich darauf wieder das Telefonat mit dem Genossen, der als höchster Offizier ihres Sicherheitsdienstes für Notfälle in der geheimen Anlage von Orlejews Spezialoperation zuständig war. Kurz darauf heulten Sirenen, Militärlaster fuhren lärmend auf und einige gepanzerte Fahrzeuge bewegten sich mit rasselnden Ketten zum Schutz des Konvois auf das Gebäude des Sanatoriums zu. In den Gesichtern der meisten Einzelkämpferinnen funkelten jetzt grüne LEDs ihrer bionischen Augen, mit denen sie sich trotz der stockdunklen Nacht mit ihren Restlichtverstärkern wie am helllichten Tage orientieren konnten. Die Aktion verlief blitzschnell, aber in einer gespenstischen Ruhe, weil das ganze Team sorgfältig auf diese Situation vorbereitet und trainiert worden war und nur wenige ein Wort sprachen.
***
Sirenen? … sie evakuieren! … dachte Mirjam in dem Moment als sie das Heulen hörte. Zum gleichen Zeitpunkt hatte sie sich mit dem schwarzen Wolga ihrer Chefin vorsichtig der Anlage genähert und stoppte sofort den Wagen, in dem sie alleine hinter dem Lenkrad saß.
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„Komm Uljana, ich bringe dich zu Orlejews Aurus, er steht direkt vor der Tür mit deiner Chauffeurin für dich bereit“, sagte Anna und streifte ihre Chefin besorgt um deren Wohl mit ihrer Armprothese an ihrer Hand.
„Nein, nicht in den Senat, bring mich zu den Terminatoren“, erwiderte ihr die Direktorin grimmig.
„Was willst du denn in einem unserer TOS 2? Die bleiben bis zum Schluss und haben keine schweren Waffensysteme zur Selbstverteidigung", entgegnete ihr Anna fassungslos.
„Das ist meine Schlacht und ich spüre besser als ihr alle, dass die Verräterin sich hier irgendwo aufhält“, und dabei ergriff so entschlossen den Oberarm ihrer Chirurgin, dass diese sich eingeschüchtert ihrem eisernen Willen ergab.
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Mirjam öffnete leise die linke Tür des Wolga und schlängelte sich vorsichtig heraus, um das Geschehen mit ihrem Gehör, dem sie besser als ihren künstlichen Augen trauen wollte, weiter folgen zu können. Kurz darauf hörte sie die Geräusche anderer Laster, die aus der Gegenrichtung mit hoher Geschwindigkeit auf das Sanatorium zu rumpelten.
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„Frau Direktor, unsere Feuerspeier sind alle einsatzbereit“, sagte die Kommandantin des Führungspanzers, deren Augen so wie die Augen der restlichen Panzerbesatzung grün blinkten.
„Das ist gut, dann komme ich ja gerade recht zum Einsteigen“, sagte Uljana schneidig und griff sich den Arm der Kommandantin.
„Möchten sie das Kommando übernehmen, Frau Direktorin?“, fragte die Kompaniechefin der Unterstützungspanzer, die eigentlich zum Ausräuchern von Feindnestern im Häuserkampf für die Unterstützung im Verbund mit Kampfpanzern konzipiert worden waren.
„Nein, das Kommando bleibt bei ihnen, ich möchte nur ein Bild der Lage behalten und falls nötig eingreifen können“, erwiderte Uljana knapp und ließ sich von der Kommandantin zur Einstiegsluke des Panzers führen.
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Warum ein Transport aus der Gegenrichtung? Was hat sie nur vor?, fragte sich Mirjam und zoomte die Ladung der Laster, die mit offenen Pritschen, aber hohen Ladebordwänden an ihr vorbei polterten, näher heran. Einen Augenblick später sah sie, was das wohl zu bedeuten hatte und erschrak vor dem, was die Russen hier offenbar im Schilde führten. Die angsterfüllten Gesichter, der ukrainischen Frauen, die auf den Lastwagen zusammengepfercht wie Schlachtvieh standen, erklärten alles, aber sie fühlte sich dazu verdammt, bei dem, was sich hier anbahnte, machtlos zusehen zu müssen.
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„Die Evakuierung ist abgeschlossen und die Statistinnen sind alle in den Gebäudekomplex getrieben worden“, meldete die Kommandantin nüchtern und schaute fragend die Direktorin an.
„Starren sie mich jetzt etwa ratlos an?“, blaffte Uljana die Kommandantin an und sagte, ich bin blind und sie machen jetzt einfach ihre Arbeit so wie sie es gelernt haben. Tun sie einfach so, als ob ich nicht hier wäre. Mehr wird nicht von ihnen verlangt, aber auch nicht weniger. Einen Augenblick später gab die Kommandantin den Feuerbefehl an ihre Kompanie und die Panzer verursachten mit ihren thermobaren Waffensystemen ein wahres Inferno, bei dem kein Stein des Sanatoriums auf dem anderen blieb und auch kein menschliches Leben. Das einzige, was kurz danach noch von dem barbarischen Akt zeugte, waren vereinzelte Flämmchen, Rauchwolken und verkohlte Leichen. Die Kommandantin meldete Vollzug und wollte gerade den Rückzug befehlen, als die Direktorin Einhalt gebot.
„Stopp, was zeigen die Wärmebildkameras?“, fragte sie scharf.
„Eine Glutwüste, Frau Direktorin, aber wenn sie noch eine Untersuchung mit Spähtrupps wünschen …?“, bot die Kommandantin ergeben an.
„Schwachsinn, ich fragte nach unserem Umfeld, die Lastwagen, die gerade abgefahren sind, flüchtige Personen, oder Fahrzeuge …, fuhr Uljana die Kommandantin der TOS-Kompanie schroff an und fragte sich dabei, wen sie für die mangelhafte taktische Intuition ihrer Spezialkräfte später zur Verantwortung ziehen könnte.
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Mirjam standen nicht von der Hitze, sondern von dem Genozid, den sie gerade mit ansehen musste, so viele Tränen in ihren Augen, dass ihr der Blick, den ihr ihre aktiven Prothesen so grausam auf ihre Hirnrinde spielten, total verschleiert vorkam. Wie durch dichten Nebel getrübt wiederholte sich das ganze Grauen in ihrem Kopf immer wieder wie ein Horrorfilm, der am Ende zum Anfang zurückgespult und dann erneut abgespielt wurde. Die Endlosschleife endete erst als das heiße Fauchen einer weiteren Feuerwalze auf sie zurollte und sie sich aus einem Reflex heraus von dem Wolga abdrückte und in schier freiem Fall eine Böschung hinabrollte.
Bitte nicht …, war das Letzte, was Mirjam dachte, als das Vakuum der Feuerbrunst ihr die Luft aus ihren Lungen sog.
Danach spürte sie nur noch eine sengende Hitze, die ihre beiden Prothesen sprengte und sie plötzlich ein helles Licht wahrnahm, das sie glauben ließ, dass das ihr Ende gewesen sei.
„Können sie uns hören?“, fragte die Ärztin im Schockraum der Notaufnahme des städtischen Krankenhauses, in dem von Tag zu Tag immer mehr Verletzte aus der Zivilbevölkerung, aber auch besonders schwer verletze Armeeangehörige eingeliefert wurden und schaute ratlos auf die verbrannten Reste der Uniform ihrer mit Verbrennungen übersäten Patientin.
„Morphium?“, fragte die etwas korpulente Krankenschwester, die sich schon mit Tränen in den Augen um die Schwerverletzte gekümmert hatte, bis sich die total überlastete Ärztin endlich Zeit für den Neuzugang nehmen konnte.
„Nein noch nicht, vorher sollten wir noch versuchen herauszufinden, wer sie ist und woher sie kommt. Das sieht gar nicht gut aus. Wenn wir es schaffen, ihre Identität zu klären, bevor sie uns wegstirbt, können wir danach wenigstens noch ihre Angehörigen über ihren Tod informieren. Viel mehr werden wir vermutlich nicht mehr für sie tun können", sagte die Ärztin kalt wie eine Hundeschnauze und beugte sich noch etwas tiefer über den verkrümmt vor ihr liegenden, mit Schüttelfrost zitternden Körper.
„Was sind das für eigenartige Fremdkörper in ihren Augenhöhlen“, fragte die Krankenschwester und fügte hinzu, „Wie Splitter sieht das nicht aus.“
„Stimmt, so etwas habe ich vorher auch noch nie gesehen“, sagte die Ärztin und versuchte die eingebrannten Fremdkörper vorsichtig mit einem sterilen Haken zu lösen. „Vielleicht hilft uns das sogar bei der Klärung ihrer Identität weiter. Eine von uns ist sie wohl eher nicht, aber die Reste ihrer Uniform lassen auch nicht den Rückschluss auf eine Angehörige der russischen Armee zu."
„Vielleicht eine Söldnerin? … oder doch eine von uns, die von den Russen dazu gezwungen wurde gegen ihre eigenen Leute anzustürmen?", überlegte die Krankenschwester laut weiter?
„Rufen sie die Militärpolizei dazu, die werden besser als wir wissen, was in diesem Fall zu tun ist. Reinigen sie die verbrannten Hautpartien, decken sie alles keimfrei ab und wickeln sie die Frau danach gut in eine Folie zur Brandwundversorgung ein", sagte die Ärztin und wollte sich schon abwenden.
„Nichts gegen Schmerzen?“, fragte die Krankenschwester.
„Nicht nötig und auch nicht hilfreich in diesem Fall“, rief ihr die Ärztin beim Gehen über die Schulter zu. „Sie ist so stark komatös, dass sie bestimmt auch ohne Schmerzmittel nicht mehr viel spürt. Sie darf nur nicht austrocknen, bevor sie der Vergiftung erliegt, die kaum vermeidlich ist, wenn soviel Hautfläche wie bei ihr verbrannt ist."
***
„We don't know who she is and what has happened with her“, sagte die Ärztin aus dem städtischen Krankenhaus zu ihrem jungen Kollegen, der den Learjet mit intensivmedizinischer Ausstattung begleitete bei der Übergabe der Patientin auf dem Flughafen von Bachmut.
„We was told, that It seams to be, that she is a importend witness for the Ministry of foreign Affairs“, sagte der deutsche Arzt zu seiner ukrainischen Kollegin, während der Pilot schon die Triebwerke des Jets aufheulen ließ und verabschiedete sich mit einem schnellen kollegialen Gruß.
„Guten Tag, Frau Strassfeld“, begrüßte Prof. Krassmann die Patientin, die ihr noch gut in Erinnerung war und blickte auf den leeren Ärmel, der von Susannes rechter Schulter herab hing. „Also doch Metastasen!“
„Nein, eben nicht und mein Auge ist auch wieder gesund, Frau Doktor“, sagte Susanne, zuckte für einen Moment mit ihrem Kopf zur Seite und blinzelte etwas Unterstützung suchend zu Pawel und zu dem Mann vom BND, der den Termin hier für sie alle so schnell organisiert hatte. Im Gegensatz zu der Verfassung, in der sie sich während ihres kurzen Aufenthalts in Kiew befand, fühlte sich inzwischen aber wenigstens in ihrer eigenen Haut wieder fast ganz pudelwohl. Die kupferfarbenen Locken ihrer Perücke leuchteten prachtvoll und vermittelten der toughen jungen Frau schon auf den ersten Blick einen Vorgeschmack auf ihr feuriges Temperament. Die mit Kajal aufgeschminkten Augenbrauen und die kontrastreiche Wimperntusche, mit der Susi ihrem Outfit den letzten Schliff verpasst hatte, passten perfekt dazu. Das einzige, das noch fehlte, um auch ihr strahlend grün und klar leuchtendes linkes Auge richtig zur Geltung zu bringen, war ein gutes kosmetisches Pendant für die leere Augenhöhle in ihrer rechten Gesichtshälfte. Die Prothese, die sie von den Russen bekommen hatte, fand Susi, sah aber im Vergleich zu dem schwarz getuschten Doppelstrich, mit dem sie die geschlossenen Lider ihrer rechten Seite dezent betont hatte, überhaupt nicht akzeptabel aus. Ihr russisches Zombie Auge, wie Susi es seit Kurzem abwertend nannte, war zwar recht bequem, aber es war nur aus reinem Kryolithglas ohne jegliche kosmetische Farbgebung hergestellt worden und sah deshalb wirklich mehr furchterregend als schön aus. Dass Susis fehlendes rechte Auge Fremde, denen sie so begegnete, letzte Spuren von ihrem Schicksal verrieten, taten ihrem Selbstbewusstsein keinen Abbruch. Aber auf die Perücke und die Schminke wollte sie auf keinen Fall mehr verzichten.
„Es war eine Vergiftung“, mischte sich der Beamte ein.
„Eine Vergiftung, mit den Symptomen eines Retinoblastoms?“, fragte die Ärztin und blickte den Herrn im Anzug stirnrunzelnd an.
„Ja, ein neues Gift, das die Russen entwickelt haben“, sagte Susi.
„Die Sache unterliegt strengster Geheimhaltung, Frau Professor“, fügte der Mann vom deutschen Auslandsgeheimdienst hinzu.
„Geheimhaltung? Wir sind eine freie Universität!", erwiderte die Professorin gereizt.
„Ja, absolute Geheimhaltung sogar!“, sagte der Agent und präsentierte der Ärztin seinen Dienstausweis. „Es scheint sich um eine neue biologische Waffe zu handeln, die Autokraten gedenken dafür zu nutzen wollen, um sich die westliche Welt zu unterwerfen.“
„Und warum sind sie deshalb hier bei uns und nicht in einer Klinik der Bundeswehr?“, fragte Frau Krassmann misstrauisch.
„Wir sind hier, weil sich die Ärzte der Bundeswehr besser mit der Behandlung von Augenverletzungen als mit der Beurteilung von Antikörpern gegen Krebserkrankungen auskennen“, sagte der BND-Mann sachlich.
„Solche Antikörper sind in der Wissenschaft nicht bekannt, wenn gleich wir uns diese sehnlichst wünschen würden, um unseren Patienten damit besser als mit den bekannten Methoden helfen zu können“, sagte Frau Krassmann etwas arrogant und blickte auf ihre Armbanduhr.
„Wenn sie Frau Strassfeld auf solche Antikörper untersuchen wollten, würde sich der Horizont der Wissenschaft vielleicht schneller erweitern, als sie das im Moment für möglich halten wollen“, erwiderte der Beamte und begleitete seine Ausführungen mit einer einladenden Handbewegung, die er auf Susi richtete.
Wir wären ihnen auch sehr verbunden, wenn sie die junge Dame auch auf Reste des Giftes untersuchen wollten und uns ihre Einschätzung über eine möglicherweise vorhandene Ansteckungsgefahr mitteilen würden.
„Eine Isolierstation haben wir hier nicht, aber in Kooperation mit der Onkologie, sollte das, das geringste Problem sein", sagte die Professorin, als sie die Tragweite des Problems verstanden hatte und griff sofort zu ihrem Telefon.
„Herein!“, tönte eine sympathisch leicht rauchig klingende Frauenstimme aus dem Krankenzimmer, das noch immer rund um die Uhr von einem Polizisten bewacht wurde, obwohl das Krankenhaus der Bundeswehr in Ulm auch so schon einen beachtlichen Sicherheitsstandard hatte.
„Guten Morgen Alena, es ist erstaunlich, wie schnell sie sich erholen und es freut mich persönlich, dass ich derjenige bin, der sie auf dem Weg ihrer Genesung begleiten darf“, sagte der hochgewachsene und gutaussehende Besucher freundlich. Die Tür hatte der Mann mit dem auffällig gut trainierten Körper gleich nach seinem Eintreten wieder hinter sich geschlossen. An Tagen wie diesem erkannte Alena an dem Hauch seines während des ersten Blicks in die Kamera, oft etwas schelmischen wirkenden Grinsens sofort, wenn er besonders gut gelaunt war. Die Kamera war gleich, nachdem es ihr wieder besser ging an dem blechernen Rollwagen, der sich immer neben ihrem Bett befand und an dem auch ihr kleiner Esstisch aufgeklappt werden konnte, montiert worden.
„Oh, frisch vom Frisör? Mit den kurzen Haaren sehen sie ja richtig fesch aus, Herr Schuhmann", sagte Alena und erwiderte auf diese Art den Hauch des schelmischen Lächelns, das ihr bereits seit dem ersten Tag, an dem sie ihrem persönlichen Verbindungsbeamten zum ersten Mal gesehen hatte, ausgesprochen gut gefiel. Noch besser gefiel ihr, dass er von Natur aus, trotz seines Berufes, ein lockerer Typ geblieben war, mit dem es deshalb auch leichter fiel, offen über schwierigere Themen zu sprechen.
„Danke, danke Frau Huber, man tut eben, was man kann, um den Ansprüchen interessanter Damen wie ihnen gerecht zu werden“, säuselte der Besucher, der Alenas Kompliment als Aufforderung zu einem kleinen Flirt verstehen wollte.
„Wenn es ihnen nur darum geht, lieber Herr Schuhmann, können sie sich zumindest für mich die Kosten für teure Haarschnitte zukünftig sparen, aber sie wollen damit ja sicher nicht nur meinen Ansprüchen gerecht werden, oder?“, stichelte die Frau aus ihrem Bett zurück und war darauf gespannt, ob er die Überleitung zu einem etwas heiklen Thema so schon erahnen würde.
„Wie soll ich das denn verstehen, Alena? Ich hoffe, dass ich sie mit meiner laxen Art nur etwas irritiert habe. Falls doch, war das dann so nicht von mir beabsichtigt gewesen. Noch hoffe ich, dass nicht Schlimmeres hinter ihrer Bemerkung zu vermuten ist“, antworte er prompt.
„Gar nichts Schlimmes. Aber ich weiß, dass weder es weder ihnen persönlich noch den anderen Damen und Herren ihres Hauses gefallen wird zu erfahren, dass ich mich dazu entschlossen habe, mir das Implantat schnellstmöglich entfernen zu lassen. Sie geben seit Tagen ihr Bestes für meinen Schutz, aber ich weiß, wie gefährlich die Zeitbombe, die in meinem Kopf tickt, in den Händen der Russen ist. Sie wissen das auch und deshalb hoffe ich auf ihr Verständnis“, ließ Alena die Bombe, die sie seit Tagen beschäftigte, platzen. „Selbst wenn ich ihnen damit jetzt ihre gute Laune verdorben habe, lieber Herr Schuhmann, was mir sehr leidtäte, aber mein Entschluss steht fest.“
„Ihre Angst vor den Russen kann ich gut verstehen, aber sind sie sich wirklich sicher, dass sie sich deshalb für ein Leben in erneuter völliger Blindheit entscheiden wollen, Alena“, sagte der große Mann. Mit einer vorsichtig fragenden Handbewegung deutete er tonlos, begleitet von frustrierter Körpersprache an, dass er sich gerne auf Alenas Bettkante setzen würde und sprach während des Wartens auf eine Reaktion von ihr stehen weiter. „Sie haben eine neue Identität, die besten Leute überwachen sie rund um die Uhr, was soll da noch passieren?"
„Setzen sie sich zu mir, lieber Schumann. Ich werde es ihnen erklären und danach werden sie mich sicher verstehen", sagte Alena und legte ihre vernarbte zierliche Hand auf die ihres Gesprächspartners, bevor sie ihm von dem, von den Noncyborgs, gehackten Server erzählte.
„Wann soll der Eingriff durchgeführt werden?", fragte der hartgesottene Beamte mit trockenem Mund, nach dem er verstanden hatte, dass der FSB implantierte Leute nicht nur überall auf der Welt orten, sondern ihnen aus der Ferne auf Knopfdruck den kompletten Kortex ihrer Hirne irreparabel verbrennen konnten.
„Heute um 10:00 h, lieber Schuhmann, das ist in 20 Minuten", sagte Alena und zog den Stecker der Kamera aus der Steckdose neben ihrem Bett heraus.
"Eingesperrt im gelähmten eigenen Körper und völlig ohne Sinne … Ich verstehe sie zu gut, Alena", sagte Schuhmann und schniefte ob der Grausamkeit, die Autokraten für den Erhalt und den Ausbau ihrer Macht in Kauf nahmen.
„Zu Frau Huber? Dann sind sie der Herr Schuhmann, neh! … ?", sagte die junge Frau, die vermutlich eine Auszubildende war und mit dem verbindlich freundlichen Dialekt, den die meisten Leute in Thüringen pflegten, herzlich den Besucher begrüßte.
„Ohh, sie erwartet mich schon? Das freut mich …", sagte der Verbindungsbeamte des BKA, der sich für dieses Wochenende freigenommen hatte und völlig privat nach Bad Klosterlausnitz gefahren war, um Alena, die hier seit einigen Wochen in einer auf Brandverletzungen spezialisierten Klinik weilte, zu besuchen.
„Ja, sie freut sich schon seit Tagen auf ihren Besuch. Sie finden sie draußen auf der Wiese, obwohl ihr davor abgeraten wurde, sich in die pralle Sonne zu legen. Aber sie wird schon wissen, was ihr guttut und solange sie es nicht übertreibt …", plapperte die Nette und wies Schuhmann mit einer Handbewegung den Weg.
„Hey Alena! … schick siehst du aus", sagte Schuhmann zu der schlanken Frau, die sich, gleich nachdem sie seine Stimme gehört hatte, auf ihrer Decke zu ihm hin rollte und sich mit ihrem Kopf in einer Handfläche auf einem ihrer Ellenbogen abstütze.
„Sie sind später dran als ich dachte. Am Wochenende ist doch nicht so viel Verkehr, oder konnten sie es sich nicht verkneifen doch noch bei ihrem Frisör vorbeizuschauen?", fing die Frau, die einen knallroten und recht knappen Bikini an, gleich mit ihrem Besucher zu flirten. Sie trug eine Perücke mit langen, ganz glatten schwarzen Haaren und Pagenschnitt mit tief hängendem Pony, unter dem zwei große, strahlend blaue Augen in der Sonne glitzerten.
„Sorry, am Verkehr lag's auf jeden Fall mal nicht und außerdem bin ich rein privat hier. Mein Vorname ist Artur", sagte er schmunzelnd und ließ sich neben Alenas Decke auf die Knie sinken.
„Passt gut zu dir, kommt von Artus … und jetzt bin ich neugierig, ob du doch noch beim Frisör warst?“, sagte Alena, schlang ihre Arme um den Mann mit dem schelmischen Grinsen, das sie in seiner Stimme gehört hatte und wuschelte ihm frech durch seine Haare. „Alena, mein neuer Name aus dem Zeugenschutzprogramm, gefällt mir übrigens auch viel besser als Mirjam", ergänzte sie noch kurz bevor sie ihren Artus leidenschaftlich küsste.
„Du bist die stärkste und begehrenswerteste Frau, die ich kenne“, flüsterte Artur in Alenas vernarbte Ohrmuschel, bevor er sie erneut küsste und die beiden sich ganz dem Spiel ihrer Zungen hingaben, während sie eng umschlungen auf die Decke zurücksanken.
Texte: ©Lisa Mondschein
Bildmaterialien: ©pixabay
Cover: ©Fizzy Lemon
Tag der Veröffentlichung: 20.05.2023
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für alle die, die Menschen in der Ukraine dabei unterstützen und ihrem Mut zum Widerstand gegen Gewalt damit gerecht werden, dass sie nicht von Diktatoren fremdbestimmt werden könnten.