„Echt tough! So voll gleich mit Augenbinde beim Abholen“, begann Alex noch während des Einsteigens einen Small Talk mit mir und gab der schweren Tür des hohen Wagens danach einen kleinen Schubs.
„Poff...“ fiel sie einen Moment später mit einem dumpfen Geräusch neben mir satt in ihr Schloss. Mein Chauffeur hatte eine tiefe männliche Stimme und ich saß perfekt geschminkt neben ihm auf dem Beifahrersitz. Passanten, die vielleicht scheue Blicke ins Innere dieser protzigen Sänfte geworfen haben könnten, hätten mir an meiner schwarzen Kopfbinde sofort angesehen, dass hier gerade eine total blind irgendwo hingebracht wurde.
„Klar, das steht ja so in eurer Anzeige, dass ihr für diesen Auftrag ausschließlich mit blindfolded Models arbeiten wollt. Wenn ich ein Problem damit gehabt hätte, dass ihr nur Blinde sucht, hätte ich mich für dieses Casting doch gar nicht als Model beworben“, antwortete ich meinem Fahrer mit einem frech und keck klingenden Unterton in meiner Stimme. Während ich sprach, gab ich mich total lässig. Denn ich wollte gleich von Anfang an den Eindruck vermitteln, als ob es mir total egal sei, mich ohne Augenlicht in die Höhle der Löwen zu wagen. Genau genommen gab es da, neben meiner Augenbinde, auch noch einige andere Kleinigkeiten, die mich viel mehr als meine verbundenen Augen beschäftigten. Zum einen glaubte ich davon ausgehen zu dürfen, dass Alex, der zwar sehen konnte, dass ich nichts sehen konnte, trotz seiner Augen unfähig war, nennenswertes in meinen Gedanken zu lesen. Dessen war ich mir zumindest insoweit sicher, als er mir ohne direkten Augenkontakt wohl nicht wirklich tief in mein Inneres blicken konnte. Zum anderen war ich mir sehr sicher, dass ich ihm in dieser Hinsicht deutlich überlegen war. Im Gegensatz zu vielen andern, meist oberflächlicheren Leuten, hatte ich es nämlich außerordentlich gut drauf, aus dem Klang von Stimmen feine Nuancen herauszuhören. Deshalb bemerkte ich in Gesprächen blitzschnell, was die Menschen, die in meiner Umgebung sprachen, unausgesprochen antrieb und was sie im Schilde führten. Der Klang von Alex’ Stimme war mir gleich sympathisch, was mich aber nicht davon abhielt ihn dennoch zuerst auf die Probe stellen zu wollen. Schon seine ersten Worte, die in meinen Ohren offen und ehrlich klangen, ließen mich tiefer in sein Herz blicken, als er sich das wohl vorstellen konnte. Aus ganz anderen Gründen war ich aber vielleicht viel aufgeregter als er. Ja aus einem der Gründe sogar richtig kribbelig. Das wollte ich mir jedoch keinesfalls anmerken lassen. Es war ja auch noch viel zu früh und überhaupt nicht notwendig ihm jetzt schon weitere Details über mich auf seine Nase zu binden. Das, was er in unseren ersten gemeinsamen Minuten von mir hatte sehen, hören und riechen dürfen, musste fürs Erste reichen. Das, was ich heute mit ihm vorhatte, würde Alex noch früh genug merken und das auch nur, wenn er bis zum Ende des Tages mein Favorit bleiben würde. Er und seine Truppe dachten ja bestimmt noch, dass nur sie etwas mit mir, und nicht ich auch etwas mit ihnen anstellen wollte. Oder besser gesagt, mit einem von ihnen. Die Frage, ob und wann dieser Auserwählte dabei überhaupt auf mein kleines Geheimnis aufmerksam werden würde, stand zwar noch in den Sternen, aber wenn ich daran dachte, bereitete mir allein der Gedanke daran schon jetzt ein schlechtes Gewissen. Den wirklichen Grund dafür, warum es mir sogar sehr gelegen kam mich hier mit einer Augenbinde einschleusen zu können, wollte ich nämlich auf keinen Fall preisgeben. Mit meinen fast neunzehn Jahren war das, was ich vorhatte, ganz legal und dass ich bisher nur Sex mit Frauen hatte, wusste von den Leuten, die mir für meinen heutigen Auftritt eine Gage zahlen mussten sowieso niemand. Das war auch gut so, weil dieser Aspekt, wenn überhaupt, nur meine Freundin Ronja und mich etwas anzugehen hatte.
„Was heißt schon Studio? Das ist ja nur ein kleines Atelier, die machen gar nicht so große Sachen wie die drüben in Potsdam im Filmpark Babelsberg. Pawel, der Produzent ist ein aufgedrehter Arsch, aber Susi, die Kamerafrau, also eigentlich seine Lebensgefährtin und die alte Visagistin Marga, die sind beide voll ok und bremsen den auch ganz gut ein, wenn er wieder mal hohl dreht.“
„Sag mal Alex, hast du eigentlich schon einen Plan vom Drehbu …“ schaffte ich gerade noch neugierig ein paar Worte vom nächsten Satz zu sagen bevor ich dann plötzlich wie von einem Hammer getroffen durchgeschüttelt wurde und froh war, dass mich mein Sicherheitsgurt auffing.
„Tuuutttttt!!! quietsch …“
„Aaahh! … Scheiße! Pass doch auf!“
„Geht’s noch, Alte …?“
„… Alles gut Mara? Hast du dir wehgetan …?“ hörte ich Alex besorgt aufschreien, während er sich damit abmühte, den schlingernden Koloss auf der Straße zu halten.
„Nee geht, war nur der Schreck. Was war denn?“ bemühte ich mich darum, die Panik, die mich wegen des plötzlichen Zwischenfalls ergriffen hatte, verbal so gelassen wie möglich zu kaschieren.
„Die Olle wollte einfach ohne Vorwarnung vor uns über die Straße rüber … und mit 170 Inch, das sind immerhin zehn Meter Gesamtlänge weichst du halt nicht mehr so einfach jemand aus. Mit diesem langen Teil wird das schnell ’ne recht knifflige Nummer wenn du mal wo spontan einen Haken schlagen musst.“
„Hab schon gehört, dass du mich nicht mit einem Kleinwagen abgeholt hast, aber zehn Met … …?“ … dann brach mein nächster Satz schon wieder unerwartet ab und ich war von einer Sekunde auf die andere total weg.
Das kleine Mädchen, das ich sah, lag nur mit einem grünen Flügelhemd bekleidet auf einem blitzblank polierten Tisch aus Edelstahl. Bis auf das rhythmische Heben und Senken ihrer zerbrechlich klein wirkenden Rippen bewegte sich nichts außer mir in dem Raum.
„Wo bin ich nur?“, fragte ich mich selbst und versuchte meine schwarze Augenbinde zu ertasten. Aber war ich denn wirklich dort, an diesem Ort, der mir irgendwie bekannt vorkam? Wieso konnte ich auf einmal sehen? Alles hier, wo auch immer ich mich befand, war total unwirklich. Das gleißend helle Licht und das strahlende Weiß tat mir nicht nur in meinen Augen, sondern auch in meinem Kopf weh. Offensichtlich war ich mit dem Mädchen bis auf die vielen piepsenden Maschinen ganz allein. Die gespenstige Stille wurde immer wieder nur durch das pumpende Zischen eines Beatmungsschlauches unterbrochen, der mit einer Sauerstoffmaske auf dem Gesicht der Kleinen fixiert war.
„Bin ich überhaupt hier?“, fragte ich mich weiter, als ich weder meinen Kopf noch meine Haare an der Stelle finden konnte, an der ich sie kurz vorher noch tasten konnte. Dort, wo sie unter dem schwarzen Band hervorgequollen waren, das ich noch fest um meinen Kopf geknotet in deutlicher Erinnerung hatte, war jetzt plötzlich nichts mehr. Das Mädchen, das dort wie auf einem Opfertisch lag, war abgesehen von seinem Kopf bildschön. Selbst das Gesicht der Kleinen sah, wenn man über die entstellenden Details, die Betrachtern leider sofort ins Auge stachen, hinwegsehen wollte, noch außerordentlich hübsch aus. Die süße Maus sah auch nicht wirklich krank, sondern eher bemitleidenswert aus. Ihr eines Auge war abgesehen von den fehlenden Haaren auch sehr auffällig. Anders als bei anderen Mädchen in ihrem Alter, schimmerte ihre Pupille weißlich trüb und sah nicht so pechschwarz, wie die eines gesunden Auges aus. Ganz offensichtlich kam noch erschreckender hinzu, dass es bei ihr ein zweites Auge überhaupt nicht mehr gab. Dem Mädchen fehlte zwar ein Augapfel, aber es schien trotzdem nicht todkrank zu sein. So reizfrei wie die leere Augenhöhle war, sah sie auch trotz des fehlenden Auges eher gesund als krank und schon gar nicht eklig aus. Nur ihr traurig nach oben starrendes linkes Auge war offensichtlich noch krank. Leblos starrte es in die grellen Lichter, die wie Sonnen auf das Kind hinab strahlten. Irgendwie wusste ich, egal woher genau, dass solche Augen auch ohne Narkose kein Licht mehr wahrnehmen konnten. Die absurde Situation, in der ich mich hier wieder fand, fühlte sich für mich in diesem Moment total komisch an. Es war eine diffuse Mischung aus Erinnerung, die sich mit wissender Intuition vermengte. Der Film, der hier gerade mit mir in der Rolle einer unbeteiligten Zuschauerin ablief, kam mir wie ein gruseliger Albtraum vor, der mich wie ein Tornado mit sich fort riss. Nach und nach dämmerte mir, dass das, was ich hier sah, nichts Grausames, sondern die nahende Rettung, für das kleine blinde Mädchen war. Ihr rechtes Auge war ihr offensichtlich schon früher, zum Glück noch so rechtzeitig entfernt worden, dass sie bald alle Qualen hinter sich lassen konnte. Selbst die Spannung der silbernen Klammer, die die Lider ihres kranken linken Auges so sehr aufspannten, dass es wie ein viel zu groß geratenes, kugelförmiges Glupschauge aussah, konnte das Mädchen wegen der Narkose unmöglich mit Schmerzen quälen. Aber wo waren die Ärztinnen und die Ärzte nur, die dem Kind helfen sollten? Im selben Moment, in dem ich mir diese Frage gestellt hatte, bemerkte ich, dass Alex, genauso körperlos wie ich mich selbst empfand, zu mir und dem Mädchen in den Raum schwebte.
„Die Krankheit heißt Retinoblastom, das ist ein sehr aggressiver, aber im Anfangsstadium noch gutartiger Augentumor, der meistens nur bei Kleinkindern zwischen dem ersten und dem dritten Lebensjahr auftritt, Mara“, hörte ich Alex beruhigend und tröstend sagen, während sich unsere körperlosen Seelen umschmeichelten und uns mit einem schönen Gefühl von Nähe zu einem Ganzen verbanden.
„Du weißt auch, was sie hat?“, fragte ich erstaunt darüber, dass Alex ebenfalls zu deuten wusste, was es mit dem, was wir hier gerade sahen, auf sich hatte. Überglücklich darüber, dass Alex jetzt wieder bei mir war, schmiegte ich mich an seine tröstenden Worte. Dabei stellte ich mir vor, wie ich seine Lippen mit meiner Zunge erkunden würde, wenn wir uns beide noch in unseren sterblichen Hüllen begegnen dürften. Doch diese Vorstellung war bei Weitem kein gleichwertiger Ersatz für die körperliche Nähe, auf die wir von einem Moment auf den anderen verzichten mussten, was mich plötzlich sehr nachdenklich werden ließ. Im ersten Augenblick war ich natürlich froh darüber gewesen, dass ich so unerwartet wieder sehen konnte. Doch kurz darauf wurde mir bewusst, dass mir mein zurückgewonnenes Augenlicht überhaupt nicht dafür nützlich war, um meine körperlichen Sehnsüchte mit Alex zu befriedigen. Genau genommen hatte ich sogar einen ganz schlechten Deal gemacht. Auf die Bilder von dem Mädchen hätte ich gut verzichten können, wenn ich dafür nicht meinen Körper hätte verlieren müssen. Als mir dann noch klar wurde, dass Alex inzwischen, so wie ich, ebenfalls zu einem unsichtbareren Geist geworden war, schlug meine Unzufriedenheit in bitteren Frust um. Alles außer ihn konnte ich wieder sehen. Aber für meine Wahrnehmung blieb das, wonach ich mich am meisten sehnte, dennoch verborgen. Nein, nicht für meine Augen, denn mir schien es so, als sei ich durch den Unfall plötzlich nicht nur blind, sondern jetzt ganz und gar ausgelöscht worden. Nicht mal mehr ausgebrannte Hüllen waren unseren liebenden Seelen geblieben. Die Zeit schien still zu stehen und Alex war hier und doch so unendlich weit fort. Unsichtbar wie er war, genoss ich voller Sehnsucht, dass er irgendwie da und doch nicht da war. Aber ich sehnte mich so sehr wie nie zuvor, um jeden Preis der Welt zurück in unsere fleischlichen Körper. Nach dieser schmerzlichen Erfahrung hätte ich lieber umgehend mein gerade zurückgewonnenes Augenlicht für einen sofortigen Rücktausch für meinen Körper angeboten. Ich wollte diesem Spuk hier, koste es was es wolle, nur ein schnellstmögliches Ende bereiten. Aber dann wurde mir bei meinem nächsten Gedanken wirklich eiskalt.
„Ist das, was ich gerade erlebe, das Leben nach dem Tod? Ist es das, wonach sich manche lebenden Menschen als Trost vor dem Tod so sehr sehnen? Ist das die Hoffnung, dass das Leben nach dem Sterben besser sein könnte als vorher?“, fragte ich mich und wollte mir gerade Gedanken darüber machen, ob richtig tot nicht die bessere Alternative für mich gewesen wäre. Im selben Moment wurde ich jäh aus meinen Gedanken gerissen, als ich sah, dass sich die geschlossene Tür, durch die Alex zu mir hier hereingeschwebt war, soeben doch wie von Geisterhand öffnete. Was ich sah, erfüllte mich nur solange mit melancholischer Zufriedenheit, bis ich hörte, wie Alex auf die veränderte Situation reagierte.
„Komm! Mara, mein Schatz, lass uns schnell verschwinden. Das, was hier jetzt gleich passieren wird, willst du nicht sehen.“
„Ich weiß auch, was passieren wird, aber warum sollte ich nicht dabei zusehen wollen, wie sie dem Kind sein Leben retten?“, fragte ich Alex entsetzt. Dabei bedauerte ich schmerzlich, dass ich meinen körperlosen Prinzen dabei nicht zartfühlend umarmen konnte, um ihn begleitet von Körperwärme von meiner Sichtweise zu überzeugen. Das, was ich in diesem Moment aus dem Klang seiner Stimme in seinem Herzen lesen konnte, wühlte mich nämlich richtig auf. Zunächst wollte ich sogar gar nicht glauben, wie er die Dinge hier sah, weshalb ich mich stur wie ein störrisches Kind innerlich mit meiner ganzen Kraft gegen die Bedeutung seiner Worte stemmte. Die kleine Gruppe, die auf das in tiefer Narkose weggetretene Mädchen mit langsamen Schritten zuschritt, bestand aus sechs Personen. Es sah aus wie eine kleine Prozession, die von zwei Frauen in langen weißen Gewändern angeführt wurde, denen dicht hinterher noch vier Frauen in grünen Gewändern folgten. Als sie bei der Schlafenden angekommen waren, bildeten sie einen Kreis um den Edelstahltisch, legten silberne chirurgische Instrumente und eine winzig klein wirkende Nierenschale auf kleinen Beistelltischen bereit, die auch aus Edelstahl waren.
„Mara, bitte lass uns gehen, sie werden das arme Kind gleich noch schlimmer verstümmeln. Siehst du denn nicht, dass die Arme schon mit einer leeren Augenhöhle genug vom Leben gestraft war?“
„Aber Alex, was redest du denn da. Ihre Augen waren doch schon vorher von dem Krebs blind. Ein medizinisch lebensrettender Eingriff ist doch etwas ganz anderes als eine Verstümmelung“, schrie ich ihn an und war jetzt fast froh darüber, dass man ohne Körper nicht mehr weinen konnte.
„Mara mein Schatz, so hatte ich es doch gar nicht gemeint, die Kleine tut mir doch nur so leid. Ein Leben ohne Augen ist doch schlimmer als die Hölle auf Erden. Sieh dir doch an, wie klein sie noch ist und sag mir ehrlich, was sie so noch vom Leben zu erwarten hat. Spätestens, wenn sie in das Alter kommt, wo jedes Mädchen schöner als alle anderen sein will, wird sie die Götter in Weiß hassen. Spätestens dann wird sie alle, die ihr das hier gleich antun werden, für ihre Tat verdammen“, antwortete mir Alex energisch und zog mich durch eine dicke Wand hindurch von diesem eigenartigen Ort mit sich fort.
„Nein Alex, so ist das nicht, sie war doch vorher auch schon blind. Ich bin mir sicher, dass sie ihr Leben mit all ihren verbliebenen Sinnen nicht weniger genießen wird wie du und ich auch“, sagte ich und versuchte ihn davon abzuhalten, mit mir von diesem Ort zu fliehen. Im selben Moment rasten unsere Seelen aber schon wieder auf einen weiteren, diesmal völlig lichtlosen und absolut undurchdringlich dicht erscheinenden Nebel zu. Nur einen Augenblick später befanden wir uns dann schon mitten drin in diesem Nichts, in dem Alex auf mich angewiesen war, weil er sich nicht mehr orientieren konnte. Von einer Sekunde auf die andere zitterte er am ganzen Leib, als er spürte, dass ich ihm helfen musste, sich zurechtzufinden. Die Dunkelheit, in der wir uns so unerwartet wiederfanden, ängstigte ihn. So plötzlich und so rätselhaft wie wir hier aus mir noch völlig unerklärlichen Gründen hergekommen waren, verschwanden wir nun auch wieder. Wir waren allein gekommen, aber verschwanden zusammen und Alex ließ sich dankbar von mir lenken, bis sich das Nichts für ihn wieder aufhellte. Ich spürte ganz deutlich, wie froh er darüber war, als er meiner für ihn lebensfremden Umgebung, die ihn so sehr geängstigt hatte, wieder so schnell entfliehen durfte.
„Mara, was ist denn los?“ hörte ich Alex aufgeregt rufen und spürte, dass er meinen Kopf in seinen Händen hielt.
„Ein Unfall?“, fragte ich noch halb weggetreten, mit etwas verwaschen klingender Stimme.
„Nein Mara, kein Unfall, ich konnte doch noch rechtzeitig ausweichen. Eigentlich war alles lange vorbei, als du plötzlich mitten im Satz ohne erkennbaren Anlass noch einmal voll weggekippt bist.
„Stimmt, du hattest mir doch gerade irgendetwas über diesen irren Schlitten, in dem wir hier zusammen sitzen, erzählt oder?“, antwortete ich Alex, während mir wieder dämmerte, wo ich gerade war und was ich hier vorhatte. Vor meinem Absturz hatte er mir gerade ganz stolz gesagt, dass der Wagen, mit dem er mich abgeholt hatte, irre lang sei. Noch immer benommen tastete ich verunsichert nach meiner Augenbinde und fröstelte bei dem Gedanken an den Albtraum, der mich gerade heimgesucht hatte. Meine Augen waren noch blickdicht verbunden und ich spürte gar nicht mehr, wie ich erneut wegsackte.
Alles eiskalt, kein Streicheln mehr von Wolkenfetzen auf der Haut. Der Nebel war mittlerweile unbeschreiblich dicht, kalt und gierig geworden. Seine Farbe veränderte sich noch kurz zu einem warmen Grau, das weder blendete noch hell oder dunkel erschien. Dann verflüssigte er sich zu einem Brei. Klebrig zäh war das farblose Nichts, in dem alles Licht des Lebens, das die armen Seelen hier umgab, ertrank. Diese Welt war weder hell noch dunkel, nicht schwarz oder weiß und sie sah auch nicht nach irgendetwas aus. Der lichtlose Brei fühlte sich ähnlich dumpf wie taubes Blei an, das Licht fraß und Erinnerungen an farbige Bilder, solange verblassen ließ, bis sich alles Visuelle restlos im Nichts der Unendlichkeit verloren hatte. Von meiner Freundin Ronja, die ihr Augenlicht im Alter von dreizehn Jahren wegen unbehandelter Entzündungen verloren hatte, wusste ich, dass die meisten Späterblindeten nach ihrer Erblindung ganz lange und ganz oft nur noch die Farbe Schwarz sahen. Allerdings nur dann, wenn sie wach waren. Ronja erlebte jetzt schon seit ungefähr zehn Jahren jeden ihrer Tage als eine solche tiefschwarze Nacht. Aber in ihren Träumen konnte sie die Welt in ihren Erinnerungen noch wie damals vor ihrer Erblindung als sehende heranwachsende Jugendliche sehen und sich an den schillernden Farben der Natur und des Lebens erfreuen. Außer manchmal, wenn sie von dieser für sie allgegenwärtigen tiefen Schwärze träumte, die sie vermutlich auch ihr ganzes restliches Leben lang weiter so begleiten würde. Aber in ihren Träumen konnte sie auch Dinge, die sie in der Gegenwart erlebt hatte, plötzlich doch wieder gestochen scharf in farbigen Bildern sehen. Das gerade Erlebte wiederholte sich für Ronja, obwohl sie inzwischen genauso blind wie das kleine Mädchen war, nachts nocheinmal wie in einem 360° Kino. Dann fühlte sie sich im Zentrum dieser Kuppel wie in einer Filmrevue umgeben von bunt bewegten Bildern ihrer Fantasie. Aber wenn wir tagsüber zusammen loszogen, war meine Freundin im Gegensatz zu mir eine unverbesserliche Schwarzseherin, die oft den Mut verlor und aus meiner Sicht schon wegen den geringsten Kleinigkeiten unsicher wurde. Das ständige Schwarzsehen meiner Freundin lag vermutlich daran, dass Ronja genauso wie dem kleinen Mädchen, dem gerade das letzte Auge entfernt worden war, nach ihren Entzündungen auch kein Sehrest mehr verblieben war. Im Gegensatz zu Ronja konnte aus dem kleinen Mädchen aber nie eine Schwarzseherin werden. Ganz im Gegenteil. Das kleine Mädchen würde schnell lernen, sich in einem nicht nur farblosen, sondern in einem unsichtbaren, weil völlig lichtlosen Nebel, glücklich zu entwickeln. Spätestens, wenn das kleine Mädchen im Verlauf seiner weiteren Entwicklung richtig denken gelernt hatte, würde es sich an nichts, als dieses sie lichtlos umgebende indifferente Nichts erinnern. Ein Nichts, das es immer und überall hin begleiten würde, ohne es jemals schwarzsehen zu lassen. Ein Nichts, das es nicht andres kennen würde und in dem es sich viel besser orientieren können würde, als Sehende sich, das je vorstellen können werden. Die süße Kleine würde deshalb auch ohne ihre eigenen Augen nie so schwarz wie Ronja sehen. Ihr kleines Gehirn war nämlich, als sie ihr letztes Auge verlor, noch viel zu jung, um noch rechtzeitig den Unterschied zwischen schwarz oder weiß und hell oder dunkel sowie die Vielfalt von Farben erlernen und visuell abspeichern zu können.
„Sie wird aussehen wie ein Monster und ihr ganzes Leben lang nur gehänselt und gemobbt werden“, erwiderte mir Alex. Aber seine Stimme klang irgendwie unwirklich dünn und fern, als verlöre sie sich in diesem Moment in dem sich plötzlich doch schon wieder aufklarenden Nebel.
„Nein, sie wird kein Monster sein. Sie wird hübsche Augenprothesen aus Glas oder Acryl bekommen und damit nicht weniger glücklich leben als jeder sehende Mensch“, schrie ich ihn hysterisch an.
„Vielleicht lebt sie mit ihren künstlichen Augen sogar noch viel glücklicher als du, Alex. Woher willst du denn überhaupt wissen, ob sie das Sehen jemals vermissen würde, wenn sie es doch gar nicht kennt. Du redest wie alle, die nicht aus eigener Erfahrung wissen, wie es sich anfühlt, wenn man dem Tod von der Schippe gesprungen ist!“, fauchte ich weiter und befreite mich nervös zappelnd aus haarigen Armen, die mich sofort freigaben.
„Mara! Um Gottes willen, was ist denn los mit dir?“ Alex’ Stimme war plötzlich wieder so nah, dass ich seinen Atem riechen konnte. Sie klang kraftvoll und männlich, ganz vertraut und tief. Zuckersüß klang sie in meinen Ohren, obwohl sie trotz der Nähe sehr leise war. Ja, sie war mir vertraut, aber dennoch machte sie mir in diesem Moment etwas Angst, weil sie sich so unnatürlich weit entfernt von mir anhörte. Sie klang dünn und schwach, obwohl sie kraftvolles Volumen hatte. Sie war so schemenhaft, dass ich die besorgten Worte, die Alex zu mir sprach, kaum verstehen konnte. Das fühlte sich alles wie ein fürchterlicher Albtraum an. Lichtlose Wolkenfetzen griffen gelegentlich noch immer wie Häscher nach mir. Sie hielten mich noch so lange gefangen, bis mir aus dem Nebel plötzlich eine kräftige Bö mit einem eiskalten Schwall Wasser wie klatschender Regen mitten auf meinen Gesicht platschte.
„Mara? Geht’s dir wieder gut?“, hörte ich Alex mit besorgter Stimme fragen und spürte, wie mir peinlich berührt das Blut in meinen Kopf schoss.
„Ja, Alex, mir geht es wirklich wieder gut. Ich glaube, mir war nur kurz schwarz vor meinen Augen geworden. Der Kreislauf … von der Aufregung vielleicht …", sagte ich schnell und tastete nach meiner Augenbinde. Schnell stellte ich fest, dass diese mir während meiner Ohnmacht zwar schon gelockert worden war, aber dass sie zum Glück noch fest genug an Ort und Stelle saß.
„Wie schwarz geworden vor deinen Augen? Das kommt nur davon, weil du die ganze Zeit so stur Blindekuh spielen wolltest“, hörte ich Alex dann noch etwas beunruhigt, aber dennoch so als ob nichts Besonderes vorgefallen wäre antworten. Mit einem Lächeln knuffte ich ihn in seine coolen Rippen und war froh darüber wieder seinen Körper spüren zu können.
„Wolltest du uns eben nicht noch zum Set fahren? Oder hast du jetzt etwa Angst davor, dass mein Kreislauf uns das Finale vermasselt?“, stichelte ich ihn. Außer meiner Augenbinde war auch meine Seidenbluse von dem Schluck Wasser, den Alex mir, um mich wieder aufzuwecken, in mein Gesicht geschüttet hatte, nass geworden. Aber sehr lange konnte das Ganze nicht gedauert haben. Das hörte ich an der Geräuschkulisse, die ich aus den letzten Sekunden bevor ich zum zweiten Mal weggeklappt war, noch gut in Erinnerung hatte. Ob ich davon ausgehen durfte, dass Alex nur meinen Ausfall mitbekam, aber von meinem Albtraum nichts aufgeschnappt hatte, blieb völlig offen.
„Wenn ich jetzt nur noch wüsste, was ich von dem geträumten Dissaster unbewusst ausgeplappert haben könnte, wäre alles in Ordnung und weiterhin in trockenen Tüchern“, grübelte ich. Eigentlich schien ja alles gut zu sein, aber wegen meiner kleinen Trickserei fühlte ich mich im Moment in meiner eigenen Haut einfach nicht so recht wohl.
„Da hast du dich ja richtig dumm, möglicherweise sogar ganz ohne Not in einer für dich schon lange vergessen geglaubten uralten Lüge verstrickt?“, hörte ich meine innere Stimme schadenfroh lästern.
„Na und“, knurrte ich trotzig in mich hinein und wurde richtig zornig auf mich selbst, aber meine innere Stimme war noch nicht fertig mit mir.
„Als ob man mit einer Augenbinde vertuschen kann, dass man mit zwei Glasaugen blind ist. Wenn sie uns als wir klein waren, mit den Enukleationen unserer verkrebsten Augen, nachdem sie eh schon blind waren, nicht unser Leben gerettet hätten, wäre jetzt auch Essig mit deinem Alex. So unkompliziert wie wir in den letzten Jahre völlig blind klarkamen, ist es umso dümmer, unsere Blindheit, unnötigerweise vertuschen zu wollen. Dein Alex hat doch längst kapiert, dass wir selbstbewusst und selbständig unterwegs sind. Natürlich wissen wir beide nicht, wie sehen wirklich geht, aber für das, was du mit Alex vorhast, nehmen Sehende auch lieber ihre Zungen und streicheln sich dabei zärtlich mit den Händen. Manche machen dafür vorher sogar das Licht im Schlafzimmer aus."
„Für die Wahrheit ist es nie zu spät!“, blaffte ich trotzig und entschlossen in meine Inneres zurück. Oder war es für die Wahrheit doch zu spät? Zumindest, wenn ich davon ausging, dass Alex mich als richtige Blinde abblitzen lassen würde, hatte ich bis jetzt eigentlich doch alles richtig gemacht. Für die Wahrheit war es zwar vielleicht schon zu spät, aber für eine scharfe Nacht mit Alex hatte ich meine Chancen noch nicht alle verpokert. Ich musste nur bei meiner Legende bleiben und Alex mit noch verbundenen Augen abschleppen. Nur damit würde ich ja schon hinreichend verhindern, dass mein Schwindel zu früh aufflog und deshalb war es ja insoweit immer noch ein guter Plan. Nur meine Augenbinde durfte ich mir nicht zu früh abnehmen lassen, das war alles. Aber das hatte ich ja eh nicht vor. Schließlich wollte ich genau das heute so erleben. Sex wie eine echte Sehende mit verbundenen Augen und nicht als die arme Blinde, die auch mal einen Mann ausprobieren will.
„Weiter zum Set …? Das kommt, so wie du drauf bist, nicht infrage", sagte Alex und steuerte die Stretchlimo auf den nächsten Parkplatz.
„Du stehst nämlich unter einem gefährlichen Schock, Mara, der eine Weiterfahrt unmöglich macht. Komm, nimm meine Hand, ein Glas kaltes Wasser hilft oft Wunder“, fuhr er fort, nachdem er nach dem Parken die Beifahrertür geöffnet hatte, um mich nach hinten in das luxuriöse Fahrgastabteil, der Nobelkarosse zu führen.
„Danke, mir ist schon wieder voll gut“, wiegelte ich etwas nervös ab, bis mir einfiel, dass ich die Situation prima für meine Interessen nutzen konnte. Meinen Widerstand aufzugeben und mir ohne weiterzuzicken beim Umsteigen helfen lassen war eine viel bessere Idee. Schon bevor der erste Hauch des Patschuliöls, das meine Nase mit dem Duft des Gentleman-Parfüms von Givenchy, begrüßte, spürte ich ein heißersehntes Kribbeln in meinem Bauch. Der Duft strömte durch die geöffnete Tür aus der coolen Limo heraus und das Interieur roch nach mit weichem Leder bespannten Polstern, die einluden darauf herumzutollen.
***
„Sind das Eiswürfel?, fragte ich voller Begeseterung als ich hörte wo und mit was Alex herumhantierte und schob mich an ihm vorbei. Einen Augenblick später hatte ich dann auch schon den Kühlschrank gefunden, der, das wusste ich, in solchen Luxusschlitten selbstverständlich war und den Champagner konnte ich sofort am Flaschenhals erkennen.
"Schau mal was ich gefunden habe", rief ich verzückt und gab Alex einen Schubs, dass er nach hinten umkippte.
"Der schmeckt frisch entkorkt, am besten wenn er nach einer kurzen Dusche aus Bauchnäbeln geschlürft wird, bevor er zu warm dafür geworden ist", rief ich total aufgedreht und ließ den Korken nach einem lauten „Plopp" durch die Limo knallen.
***
„Du musst ein Hohlkreuz machen, sonst muss ich wegen deines Waschbrettbauches verdursten und für dich gibt’s dann statt wildem Sex auch nur eingelegte Rippchen", kicherte ich und fädelte Alex über ihm kniend, meine flache Hand zwischen seinen Beinen hindurch bis unter sein Steißbein, wo ich ihn mit meinem Däumchen über seinem nackten Po frech kitzelte. Im Gegensatz zu ihm war ich noch nicht ganz nackt, sondern hatte noch einen halbdurchsichtigen schwarzen String und einen Sport-BH aus dem gleichen Stoff an. Mein Höschen war aber schon so nass, dass ich es auch gleich ausziehen und Alex eine Kostprobe von meinem Schneckchen auf seine Zunge geben wollte. Aber vorher hatte ich noch, etwas ganz anderes mit ihm vor und rollte ihn, nachdem es mit dem Sekt aus seinem Nabel dann doch noch geklappt hatte, blitzschnell auf seinen Bauch. Gleich danach streifte ich mir meine Dessous ab und löste den Knoten an meiner Augenbinde, um sie anschließend meiner männlichen Beute anzulegen.
***
„Hey, was hast Du denn vor?“, kicherte ich, als Alex mir in mein Näschen biss und es, mit seiner Zungenspitze, so zärtlich umkreiste, dass ich es fast nicht mehr erwarten konnte, seine Zunge an anderer Stelle gleich nochmal so zu genießen. Wir knieten keuchend voreinander und streichelten einander zärtlich unsere Köpfe, leckten uns über unseren Lippen und zogen uns mit den Zähnen vorsichtig an unseren Ohrläppchen. Alex keuchte außer sich vor Begeisterung und ich hatte ihn auf diese Weise, ohne dass er Verdacht schöpfen konnte, auf seine erste erotische Reise in meine Welt mitgenommen. So erschlossen sich unseren Sinnen nicht nur unsere Gesichter, sondern auch tiefere Regionen unserer Körper und wir konnten von Minute zu Minute immer weniger voneinander ablassen. Was für ein prickelnder Augenschmaus, dachte ich mit einem verzückten Grinsen, als ich zum ersten Mal einen lebendig pochenden Männerschwanz total neugierig mit meinen Fingern umfing und machte meiner inneren Stimme eine lange Nase. Meine kleinen Brüste spannten vor Erregung, während sich darauf zwei Warzen hart streckten, um sich lüstern von Alex umzüngeln zu lassen. Sein pochender Luststab glitt wie Ronjas Strap-on zwischen meinen tropfnassen Schamlippen hin und her und ich keuchte vor Freude wie wild.
***
„Ist das so schön für dich?“, fragte ich unsicher, während meine Zunge Alex’ Eichel so vorsichtig umkreiste, wie sie das sonst mit Ronjas Lustperlchen tat und ich mich darüber wunderte, dass Sperma nach gezuckertem rohem Ei schmeckt. Der Geschmack dieses Mannes betörte mich wie Moschus.
„Und meinem Stängel ging vor dir noch keine Frau so zärtlich wie einer Zuckerstange an den Kragen“, kicherte Alex. Dabei ließ er von oben immer wieder wie aus einem Brausekopf neue Tropfen kühlen Champagner aus dem Hals der Flasche auf unsere Gesichter rieseln.
„Das Abspülen dieser feinherben Säfte und das sauber lecken, fühlt sich ja fast wie eine zweite Orgasmusrunde an“, kicherte ich wieder dicht vor Alex kniend und räkelte mich genüsslich auf seiner sektnass prickelnden Haut um ihn herum. Von hinten erlöste ich ihn von meiner Augenbinde und band sie mir noch bevor er mir in die Augen sehen konnte selbst wieder um.
Texte: ©Lisa Mondschein
Bildmaterialien: ©pixabay
Cover: ©Fizzy Lemon
Tag der Veröffentlichung: 27.02.2023
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für alle, die Mut zum Miteinander ohne Vorurteile haben und ein Herz mit respektvoller Toleranz ohne Berührungsängste mitbringen.