Am 4.12.2022 wurde vom "Stern" die Kolumne:
veröffentlicht.
"Von Invaliden zu Cyborgs"
– jetzt lässt Putin Prothesen zu "coolen Gadgets" erklären
"Gadgets" ist zwar ab 16 Jahren jugendfrei, wurde aber aus gutem Grund der BX-Kategorie Thriller zugeordnet und wird für Lesende, die leichte Unterhaltungsliteratur bevorzugen nicht empfohlen.
Es tun sich regelrechte Abgründe darüber auf, warum Susi als junge Frau ihren rechten Arm und ein Auge verlor. "Gadgets" ist, so wie "Schneeblind" auch, eine eigenständige Kurzgeschichte, die als Rückblende weitere Einblicke in ein schon länger zurückliegendes Geschehen im Donbass gibt. Die Fiktion beginnt vor zehn Jahren, kurz nachdem russische Separatisten die ukrainische Halbinsel Krim und östliche Teile der Ukraine überfielen.
Die gegenwärtige Perspektive wurde schon in "Cyborgs", dann aber nicht als Rückblende und auch nicht mit Susi, sondern mit Fatmata in der Rolle der Hauptprotagonistin erzählt. Fatmata ist in unabhängiger Mission, aber die gleiche Sache betreffend sowohl in Berlin als auch in Moskau unterwegs. "Cyborgs" kann, muss aber nicht, unabhängig von "Gadgets“, zusätzlich vorher oder auch nachher ebenfalls als Kurzgeschichte gelesen werden.
Im Buch "Himmelfahrt" hat Susi in ihrer Rolle als Kamerafrau im Kapitel "Morgengrauen" ihren ersten Auftritt als Protagonistin und auf im Kapitel "Vergangenheit" wird einiges mehr über Susis und Pawels Vorgeschichte in Berlin erzählt. Die Fortsetzung von Susis Geschichte passiert im Kapitel "Lichtblick" und führt die Handlung mit der Reise der beiden ins ukrainische Kriegsgebiet fort.
Ich heiße Susanne Strassfeld und befand mich im Alter von siebzehn Jahren als Protagonistin in Lisa Mondscheins "Himmelfahrt - Das Buch" in der schwersten Krise meines Lebens. Mein Freund Pawel war damals schon vier Jahre älter als ich, also schon einundzwanzig Jahre alt. Mein Problem war, dass ich eine Krebsdiagnonse bekommen hatte und dem Tod quasi schon auf der Schippe stand. Die einzige Hoffnung, die mir als Alternative für eine vielleicht noch positive Prognose blieb, war laut meiner Ärzte meine sofortige totale Erblindung. Die Diagnose war ein bilaterales Retinoblastom der Stufe D. Die einzige Therapie der Schulmedizin war damals eine schnelle beidseitige Enukleation. Das heißt, beide Augen raus und stattdessen zwei Glasaugen rein. Mein Freund Pawel brachte mich, aus heutiger Sicht betrachtet glücklicherweise, mit einer anderen Option zunächst vom Regen in die Traufe. Weil ich mich wie eine Ertrinkende an den letzten Strohhalm klammerte, um nicht blind werden zu müssen, landete ich zunächst in einem geheimen als Sanatorium getarnten Labor des russischen Geheimdienstes im von korrupten Russen besetzten Donbass. Dort verlor ich zu Beginn der Therapie einen Arm und ein Auge, aber ich lebe immer noch und ich kann auch immer noch sehen, was aber auch hätte anders ausgehen können. Einiges von dem, was ich dort erlebte, beschreibe ich in der folgenden Kurzgeschichte, die reine Fiktion ist.
„Guten Morgen Susi! Hast Du gut geschlafen?“, sagte Anna und lobte Susi, die seit einigen Tagen schon wieder ohne ihren Blindenstock unterwegs sein konnte, für ihre Fortschritte.
„Ja, danke. Das Tagesprogramm mit dem vielen Sport, der hier immer zwischen den fachlichen Trainings stattfindet, schlaucht mich auch ohne die Sehschule schon so sehr, dass ich am Abend todmüde in mein Bett falle. Dann schlafe ich, so wie heute Nacht auch, fast immer wie ein Stein bis zum nächsten Morgen durch. Die Übungen, die ich zusätzlich für die Sehschule machen muss, sind zwar zäh, aber sie scheinen wirklich etwas zu bringen“, antwortete ich ihr gut gelaunt. Zwei Schritte weiter ließ ich mich dann auf den Hocker plumpsen, auf dem Anna zum Auftakt ihrer Termine mit mir immer zuerst eine Refraktion durchführte.
„Dein Visus ist schon wieder bei zweiundsiebzig Prozent. Wie ist es denn mit der Farbwahrnehmung? Ist sie besser geworden, oder siehst du, statt dem Weiß der Eiswüste und dem Blau des Himmels, immer noch abstrakte Kunstwerke?“, fragte Anna. Sie bedeutete mir mich auf dem Hocker zu drehen, mein Kinn in die Mulde des Spaltlampenrahmens zu legen und meine Stirn fest gegen die beiden Lederkissen zu drücken. Anna setzte sich mir gegenüber auf der anderen Seite des Tisches auch auf einen Rollhocker und schaltete das Licht des Untersuchungsgerätes ein.
„Die Farben sind noch intensiver geworden, aber wenn ich die gelbe Brille absetzte, sieht alles noch so unnatürlich aus, als hätte ich mir gerade einen Trip geschmissen“, witzelte ich. Das Farbsehen vermisste ich draußen im Schnee kein bisschen und mit dem Gelb der Schutzbrille konnte ich die von Tag für Tag immer deutlicher werdenden Kontraste sogar noch besser als ohne sehen.
„Schau mal, Susi …“, sagte Anna und drehte ihren Bildschirm so zu mir hin, dass ich auch sehen konnte, welche Datei sie gerade geöffnet hatte.
„Mein Benchmarking? … na und? Ich bin ja aus anderen Gründen als all die Anderen, quasi nur als Gast hier“, sagte ich und fragte mich, was Anna mir eigentlich sagen wollte.
„Außer in Englisch schaffst du fast überall gerade mal knapp fünfzig Prozent und im Kampfsport bist du mit siebenundzwanzig Prozent sogar das Schlusslicht der ganzen Belegschaft“, sagte Anna. Dann bückte sie sich, um die Schiebetür eines Schränkchens, das sich links ihres Rollhockers befand, zu öffnen.
„Ein Auge und ein Arm, reichen halt wohl nicht für mehr“, sagte ich schnippisch und verschränkte meinen linken Arm, in dem ich meine Hand unter meiner rechten Achsel mit meinem recht kurz geratenen Stummel fest an mich presste, bockig vor meiner Brust. Dann sah ich, was Anna aus dem Schränkchen zog und mir stockte fast der Atem.
„Hey, warum denn nicht?“, fragte Anna und tat so, als ob sie mein entsetztes Gesicht, die skeptischen Runzel auf meiner Stirn und meine ablehnend zu einem dünnen Strich zusammengepressten Lippen nicht sehen könnte.
„Das sieht doch so unnatürlich gruselig wie aus Frankensteins Labor und nicht wie ein ästhetischer Arm für eine Frau aus, die auch mal wieder hübsch herumlaufen möchte“, sagte ich angewidert. Die Armprothese, die Anna zwischen mir und dem Rahmen der Spaltlampe auf den schmalen Streifen des Tischs hingelegt hatte, sah so abstoßend wie eine Kreuzung aus Eiffelturm mit Kneifzange aus.
„Langsam, Susi“, sagte sie, stand auf und stellte sich hinter mich, um mir mit ihren beiden Händen von hinten meine Hals- und Schultermuskulatur mit zartem Druck durchzukneten. Auch physiotherapeutisch hatte Anna mehr drauf, als ich von ihr als Chirurgin vorher erwartet hätte.
„Das war keine gute Idee, mich mit diesem mittelalterlichen Ding so zu erschrecken“, gurrte ich und genoss weiter die Massage, die mir schnell geholfen hatte, den Schock zu überwinden.
„Das tut mir leid, Susi, aber wenn du mir eine Minute mehr Zeit gelassen hättest, wäre es gar nicht so weit gekommen. Du wirst hier zu nichts gezwungen. Dennoch solltest du aber erst einmal so lange abwarten, bis du die Einzelheiten zu all dem kennst, was wir hier noch mehr Gutes für dich tun können“, sagte Anna freundlich, ohne mir meine Eskapade krumm zu nehmen. Dass die fertige Prothese noch eine individuell für mich angefertigte kosmetische Verkleidung bekommen sollte, konnte ich ja nicht ahnen, weil sie an dem Stahlgitterarm, den ich sah, auch nicht vorhanden war.
„Was heißt individuell angepasst?“, fragte ich Anna, nachdem ich mir den Roboterarm, der mit seiner furchterregenden Zange, die wie eine sichelförmige Astschere mit rasiermesserscharfen Klingen wirkte, mehr nach Fleischwolf als nach einer kosmetischen Prothese, mit einer hübschen schlanken Hand aussah.
„Den myoelektrischen Nahkampfarm, den du gerade in der Hand hast, habe ich nur noch als Anschauungsobjekt hier. Außer für diesen Zweck ist er für mich, weil er mittlerweile technisch total überholt ist, schon vor geraumer Zeit so unbrauchbar geworden, dass er eigentlich auf den Schrott, oder allenfalls noch in ein Museum gehören würde", erklärte mir Anna. Die fast schon theatralische Mine, mit der sich Anna zu den rätselhaften Worten vor mir erhob, ließ mich ihr stirnrunzelnd einen fragenden Blick zuwerfen. Das, was ich gerade sah und hörte, hatte in meinem Kopf noch mehr Fragen aufgeworfen, als dass es mir Antworten auf die Fragen, die mir vorher schon in mein Hirn geschossen waren, lieferten. Sowohl Annas auf mich irgendwie verschwörerisch wirkende Mimik, als auch die ausholende Gestik, mit der sie sich bewegte, hatten dann aber plötzlich doch mehr Neugier als Abscheu für eine neue Rechte für mich in mir erweckt.
„Ein myoelektrischer …“, weiter kam ich nicht und ließ vor Schreck den Blecharm fallen, der einen Augenblick später begleitet von schepperndem Getöse derb auf die Steinfliesen polterte. Der Aufschlag war so heftig, dass der Motor, der vorne wie ein Geschwür über dem Scharnier, das dort statt eines richtigen Hanggelenks angeschweißt worden war, abbrach und nur noch an bunten Drähten an dem Monstrum hing. Mein Auge war vor Schreck weit geweitet, als ich kapierte, was Anna vorhatte. Der Schreck hatte mir meine Stimme so verschlagen, dass ich nicht einmal mehr zu einem Aufschrei fähig war, nachdem Anna damit begonnen hatte, sich die Ärmel ihres Arztmantels bis über ihre beiden Ellenbogen hinweg hochzukrempeln. Bis zu diesem Moment war es für mich unvorstellbar, dass es tatsächlich schon Prothesen gab, die amputierte Menschen sogar in die Lage versetzten, hochpräzise feinmotorisch extremst anspruchsvolle Augenoperationen durchzuführen. Anna hatte mit ihren beiden falschen Händen beim Massieren sogar genau die richtige Mischung zwischen zärtlich und kernig anregend treffen können, das hatte ich gerade selbst an meinem eigenen Leib verspürt.
„„Wie kann das sein, dass du …?“, stotterte ich herum, weil mir gerade eine total schrille Frage in meinen Kopf geschossen war. Warum …? Wie kann das sein …? Kann Anna mit ihren beiden Roboterhänden, die total ansprechend aussehen und sich unglaublich filigran bewegen, vielleicht wirklich bessere Fähigkeiten, als Menschen mit zwei normalen Armen haben?
„Sowas geht mit so einem Myelektrikarm?“, brummelte ich ungläubig und bückte mich nach der unnatürlich verkrümmt neben mir auf dem Boden liegenden Prothese, die wohl doch nicht so mittelalterlich war, wie sie auf den ersten Blick für mich aussah.
„Nein Susi, das heißt übrigens myoelektrisch und nicht Myelektrik. Myoelektrische Prothesen sind zwar viel besser, als ganz funktionslose kosmetische Prothesen, aber die Entwicklung der Unterarme, wie ich sie trage, steckt erst noch in den Kinderschuhen. Einen moderneren myoelektrischen Arm, kann ich dir aber auch, wenn du Angst vor den Tücken der Technik haben solltest, mit bestem Gewissen empfehlen.
„Ich kann mir das Ding ja nochmal genauer ansehen“, sagte ich kleinlaut zu Anna, weil ich mich inzwischen schon auch ein bisschen für mein übergriffiges Verhalten schämte.
"Annas Prothesen sahen so täuschend echt aus, dass ich vorher gar keine Chance hatte zu erkennen, dass sie auch eine Krüppelin war. Von daher hatte ich mir auch nichts vorzuwerfen." Dann hätte ich mich natürlich viel feinfühliger benommen und mir auch Zeit für das Mitleid genommen, das sie zum Trost verdient gehabt hätte. Die hässliche Blechprothese erinnerte mich zwar immer noch mehr an die eiserne Hand des Götz von Berlichingen, als an eine prothetische Versorgung der jüngeren Vergangenheit, aber Annas Exponat hatte inzwischen auch meine Neugierde geweckt. Im Gegensatz zu ihren aktuellen Händen sah nicht nur die scharfkantige Kralle, sondern auch der hautfarben lackierte Unterarm, der schon rundum verbeult und mit vielen Kratzern und Farbabplatzungen übersät war, nicht mehr sehr vertrauenerweckend aus. Auch die dunkelbraunen Lederschäfte, die wie Schnürstiefel mit abgeschnittenen Füßen aussahen, wirkten auf den ersten Blick alles andere als modern und ansprechend sexy wie hohe Stiefel waren sie schon gar nicht.
„Hier Susi, auf diese Elektroden kommt es an“, sagte Anna und deutete mit dem perfekt gestylten Fingernagel ihres rechten Zeigefingers auf drei silbrig aus dem Leder heraus funkelnde elektrische Kontakte, die wie die Köpfe von Nieten aussahen. Sie befanden sich alle drei innen drin in den Lederschäften, in denen der Armstumpf so fest eingeschnürt werden musste, dass der Kunstarm sicher genug am noch von der Amputation verschont gebliebenen Stummel befestigt war.
„Elektrische Kontakte?“, fragte ich, während ich den herunter baumelnden Elektromotor bestaunte, der, bevor ich ihn abgebrochen hatte, offensichtlich dazu da war, die hässliche Kralle, wie auch immer zu bewegen.
„Ja, Susi, auch nachdem dir dein Arm amputiert wurde, senden die Muskelfasern in deinem Stumpf jedes Mal, wenn der motorische Kortex in deinem Gehirn deine fehlende Hand bewegen will, immer noch fleißig elektrische Signale im Millivolt Bereich aus. Die Elektronik in diesem Arm funktioniert wie ein kleines Transistorradio, das die elektromagnetischen Wellen eines Radiosenders ja auch so verstärken kann, dass aus den Lautsprechern wieder die Musik herauskommt, die im Studio gerade abgespielt wird. So gut wie du inzwischen schon wieder siehst, kannst du das vor dem Spiegel sogar mit bloßem Auge sehen. Jedes Mal, wenn du etwas bewegst, was nicht mehr da ist, bewegt sich die Muskulatur in deinem Stumpf ein bisschen anders. Bestimmt hast du auch schon beobachtet, dass die Stümpfe Armamputierter beim engagierten Erzählen oft mehr oder weniger so kräftig zucken, dass sogar leere Ärmel regelmäßig Wellen schlagen. Das liegt daran, dass unser Gehirn sich vehement dagegen wert zu akzeptieren, dass nach Amputationen etwas fehlt, was früher mal da war.
„Echt jetzt?“, fragte ich noch etwas ungläubig, klemmte mir den alten Blecharm, von dem auch noch einige schmale Lederriemen herab hingen, zwischen meine Beine und nestelte den Stoff meines rechten T-Shirt-Ärmels nach innen. Kurz darauf hing mein kurzer Oberarmstummel splitternackt von meiner Schulter herab und während ich mit der ollen Blechhand herumhantierte, fiel mir auch gleich auf, dass mein Stumpf tatsächlich dauernd zuckte, weil mein Hirn immer noch beide Hände nehmen wollte.
„Ausprobieren wird so aber nicht funktionieren“, hörte ich Anna mit einem kopfschüttelnden Grinsen sagen und sah sie fragend an.
„Das, was du gerade in der Hand hast, ist eine linke Unterarmprothese und das, was du bräuchtest, ist eine rechte Oberarmprothese. Außerdem müssen die Elektroden und der Schaft an jeden Menschen und dessen Stumpf individuell genau angepasst werden, anders funktioniert es nicht“, sagte Anna und kramte erneut in dem Schränkchen, aus dem sie den alten Blecharm hervorgezaubert hatte.
„Was ist das denn?“, fragte ich zwar neugierig, während ich beobachtete, was Anna alles zu einem großen Beistelltisch trug, aber Anna merkte trotzdem gleich, dass mit mir plötzlich doch irgendetwas nicht stimmte. Meine Enttäuschung darüber, dass ich den myoelektrischen Arm nicht gleich selbst ausprobieren konnte, war einfach zu groß. Natürlich gab ich mir alle Mühe, um Anna nicht auch noch enttäuschen zu müssen. Den Beistelltisch hatte sie vorher neben eine medizinische Behandlungsliege gerückt, über deren Liegefläche aus Hygienegründen frisches Papier gespannt war.
„Du willst es doch selbst auch ausprobieren, oder?“, fragte mich Anna verschmitzt, als sie eine mit lauwarmem Wasser gefüllte Wanne vor sich her tragend vom Waschbecken zurückkam.
„Oh ja, voll gern sogar“, rief ich erfreut und schaute etwas ratlos auf die alte Prothese, deren Elektroden in den Manschetten an so tiefen Stellen lagen, an denen ich schon keinen Arm mehr hatte.
„Setze dich einfach hier so auf die Liege, dass für mich rechts von dir noch bisschen Platz zum Arbeiten bleibt. Das Abgipsen deines Stumpfes ist eine Sache von wenigen Minuten und während der Zeit, die der Gips zum hinreichend ablüften braucht, zeige und erkläre ich dir noch ein paar weitere Dinge über verschiedene Prothesen. Am Beispiel, oder besser gesagt aus dem Vergleich meiner ausgemusterten Blechprothese und meinen neuen Händen wirst du den Unterschied der bewährten alten Technik im Gegensatz zu der bahnbrechenden neuen Technologie sicher schnell verstehen", sagte Anna. Mein T-Shirt war schnell abgestreift und dann saß ich auch gleich, mit meinem nackten Oberkörper vor Anna auf der Pritsche. Sie spreizte meine virtuelle Rechte etwas zur Seite, nahm die wabbelige Kuppe meines Stummels in ihre hohle Hand und forderte mich auf meine amputierte Hand so fest ich konnte zu einer Faust zusammen zu ballen. Während meiner ersten Kontraktionsübungen bestrich sie mir nicht nur meinen Stummel dick mit Vaseline, sondern massierte mir die ganze rechte Seite meines Oberkörpers vom Hals bis hinunter zu meinem Bauchnabel fast zärtlich bis über mein Brustbein hinweg ein. Zur Aufregung kam jetzt noch ein erregendes Kribbeln hinzu, das mich sogar noch erfüllte, nachdem Anna bereits damit begonnen hatte mich einzugipsen. Die lauwarmen Gipsbinden, die sie mir von meinem Schlüsselbein über meinen halben Busen bis zum Ansatz meines Schulterblattes nacheinander auflegte, fühlten sich auch kein bisschen unangenehm, sondern richtig schön feuchtwarm an. Nur ein bisschen Gips und Wasser sollte alles sein, was Anna brauchte, um mir nach ihrer großen Tat für mein Auge auch noch mit einer Alternative für meinen fehlenden Arm zu helfen. Das wäre wirklich zu schön um wahr zu sein, dachte ich, während Anna mich schon wieder von dem Gipsabdruck befreite und die gewonnene Form mit breiigem dünnflüssigen Gips ausgoss.
„So, das lassen wir jetzt mal fünfzehn Minuten so hier liegen und ich zeige dir inzwischen zuerst, wie die einfache elektrische Unterstützung in der praktischen Anwendung funktioniert“, sagte Anna, nachdem sie mich von den Gipsresten befreit und etwas eingecremt hatte. Kurz darauf wurde mir, als sich Annas rechte Hand unter ihrem linken Ellenbogen um den Schaft ihrer dort so gut wie nicht erkennbaren Unterarmprothese legte, wieder total mulmig. Sie erklärte mir, dass die künstliche Haut nanobeschichtet und beheizt sei, weshalb selbst während des Kontakts mit natürlichen Gliedmaßen, beim Händeschütteln zum Beispiel, nicht gleich auffiel, dass sie Kunstglieder trug. Kurz nachdem ich ein metallisches Doppelklicken gehört hatte, rutschte Annas linker Arm von dem kurzen Stummel, der ihr unterhalb ihres Ellenbogengelenks gerade noch so verblieben war. Das, was ich dann sah, war so schrecklich, dass ich im ersten Moment sogar mein Auge zugekniffen hatte und wie aus einem Reflex heraus dazu noch kurz mit einem schnellen Ruck meinen Kopf wegdrehte.
„Keine Angst, Susi, die Titanimplantate sind nur eine Option. Auch wenn du deinen Stumpf so rund wie er jetzt ist belassen willst spricht nichts gegen eine Versorgung mit modernen Prothesen für dich. Die Titanimplantate in meiner Elle und in meiner Speiche werden nur für die Cyborgfunktionen gebraucht, auf die ich zur Ausübung meines Berufes nicht verzichten kann“, sagte Anna und drückte mir, um mich abzulenken, etwas Labbriges in meine Hand.
„Igitt, das fühlt sich innen ja voll schleimig an“, sagte ich etwas angewidert, nachdem ich mir die Innenseite der grauen Socke angesehen und sie mir, dass ich sie auch von innen betasten konnte, zwischen meine Knie geklemmt hatte.
„Ja, aber das täuscht, Silikonliner fühlen sich innen nur feucht an, in Wahrheit sind sie ganz trocken, aber sie schützen, weil sie rutschfest auf der Haut kleben, diese sehr wirksam vor dem wund scheuern. Das passiert mit Prothesen, die nicht an solchen Titanadaptern wie ich sie habe fixiert sind, wenn du nicht aufpasst, schneller als du denkst. In diesen Fällen, muss die Haut nämlich ganz alleine alle Kräfte von der Prothese auf den Stumpf übertragen“, sagte Anna, nahm mir den Liner wieder ab, rollte ihn sich zuerst über ihren Stummel und danach über den Rest ihres linken Arms hinweg weiter den Oberarm hinauf bis unter ihre Achsel.
„Soll ich dir helfen?“, fragte ich, weil ich mir nicht vorstellen konnte, wie Anna, die sich zwischenzeitlich ihren alten Blecharm auf ihrem linken Armstumpf und um ihren Oberarm herum mit ihrer rechten Hand festgezurrt hatte, mit einer Hand ordentliche Schleifen hinbekommen wollte.
„Lass nur, das kann meine Hand viel besser als deine“, sagte Anna grinsend und ich wollte meinem Auge nicht trauen, als ich sah, wie flink sich ihre fünf Finger überkreuzten, streckten, klemmten und krümmten und in Windeseile sowohl die Oberarmmanschette, als auch der Lederschaft, in den sie sich ihren Stummel eingeschnürt hatte, so perfekt wie die Schnürstiefel von Soldaten mit zwei perfekten Schleifen verschlossen waren.
„So Susi, schau her“, sagte Anna und sogleich hob sich ihr Unterarm begleitet von einem leisen Summen so an, als wolle sie mich mit dieser Geste zum Armdrücken über einer Tischplatte zu einem Spiel, oder einer Wette auffordern. Nur die grässliche Zangenhand hing nutzlos herunter und der abgebrochene Motor baumelte an den Leitungen wie das Pendel einer Uhr hin und her. Dann streckte Anna ihren Kunstarm, begleitet vom Summen zweier Motoren, gerade nach vorne hinaus und ließ ihren Unterarm danach von einem dritten Motor angetrieben im Ellenbogen um sich selbst herum rotieren. Danach stand sie auf und ging wieder kurz zurück zu dem Schränkchen mit der Schiebetür, um kurz darauf bei mir mit einem Obstkorb in ihrer Rechten zurückzukommen, in dem neben ein paar Äpfeln auch ein rohes Hühnerei und eine hautfarben lackierte Blechhand lag, die genauso lädiert aussah, wie ihr abgenutzter linker Arm.
„Was hast du denn mit dem Obst und dem Ei vor?“, fragte ich und sah Anna mit einem fragenden Blick an.
„Ich zeige dir jetzt gleich, wie man früher Griffübungen gemacht hat, um Anfänger im Gebrauch ihrer neuen Prothesen zu schulen“, sagte Anna und schraubte die beschädigte Zange mit ihrer Rechten einfach von dem Blecharm ab, um die andere Hand, die wie ein makaberes historisches Blechspielzeug für Kinder aussah, vorne an ihren linken Arm. Danach demonstrierte sie mir mit dem rohen Ei, wie gut mit dem alten Ding sogar noch ein vorsichtiger Pinzettengriff mit dem Ei zwischen Daumen und Zeigefinger durchgeführt werden konnte. Einen Augenblick später legte Anna das Ei wieder zurück in den Korb und streckte mir ihre Linke quer über den Tisch, an dem wir inzwischen gegenüber Platz genommen hatten und forderte mich auf, mit meiner Linken wie zu einer Begrüßung per Handschlag einzuschlagen. Das Blech fühlte sich kalt und unnatürlich an und die Noppen der grünen Gummis, die wie Fingerhüte über die Fingerkuppen gezogen waren, vermittelten ein noch weniger angenehmes Gefühl. Der Händedruck selbst war aber gar nicht so schlecht und ließ mich fühlen, dass Anna ihn sogar weicher oder fester werden lassen konnte. Das letzte Beispiel ihrer Demonstration, ängstigte mich dann wieder, nachdem sie den Apfel, den sie nach meiner Hand mit einem Faustgriff aus dem Korb genommen hatte, grinsend ohne jegliche erkennbare Anstrengung mit ihrer blechernen Hand, wie einen Schwamm zu Kompott zerquetschte.
„Oh Anna, dieser Arm ist ja ein richtiges Monster. Sei mir bitte nicht böse, aber das, was ich von dem Modell Frankenstein gerade gesehen habe, reicht mir zur Genüge. Wenn ich dazu keine andere Wahl hätte, würde ich lieber so bleiben wie ich durch die Amputation geworden bin und dazu stehen, dass der Krebs mir halt ein Auge und einen Arm im Tausch zurück zu einem gesunden Leben geraubt hat", sagte ich etwas enttäuscht.
„Ach Susi, hast du schon vergessen, was ich dir zu dem ollen Ding vorher gesagt hatte? Du kannst deine neue Hand genauso wie du meine Rechte siehst, sowohl als muskelelekrtisch gesteuerte Prothese, als auch in der moderneren Variante bekommen. Egal wofür du dich entscheidest, wird dein neuer Arm am Ende exakt auf dein Skelett und deine Proportionen angepasst nicht schlechter als eine meiner beiden Hände aussehen“, sagte Anna beruhigend und schnürte sich dabei die Manschetten wieder auf.
„Bevor du eine Entscheidung triffst, werde ich dir noch eine letzte Demonstration darüber zeigen, was heute der Stand der Technik ist, Susi“, sagte Anna, stand auf, schnappte sich das Blechmonster und verbannte es wieder in das Schränkchen mit der Schiebetür. Ihren modernen linken Unterarm, in ihrer Rechten tragend, kam sie gleich wieder zurück, um sich erneut gegenüber von mir auf ihrem Stuhl niederzulassen. Zu meiner Überraschung klickte sie sich den Arm aber nicht so wie ich das erwartet hatte auf ihren Stumpf, sondern ließ auch ihre Rechte begleitet von dem Doppelklicken, das ich schon kannte, neben ihren anderen Arm auf die Tischplatte plumpsen.
„Nicht erschrecken, Susi“, sagte sie grinsend und einen Augenblick später blieb mir fast mein Herz stehen, als ich sah, dass mir Anna mit der rechten Hand des Arms, der neben ihrem linken Arm vor mir auf dem Tisch lag, winkte.
„Komm, schlag nochmal ein“, sagte sie einen Augenblick später und ich traute meinem Auge nicht, als sich mir ihre linke Hand von ihrem vor mir auf dem Tisch liegenden Arm auffordernd entgegenstreckte.
„Wie machst du das?“, fragte ich und griff, weil ich trotz der Schocks extrem neugierig auf das, was ich hier gerade erlebte war, vorsichtig mit meiner Linken nach Annas ausgestreckter linker Hand und erwiderte die freundliche Geste.
„Mit meinem Brainport, kann ich das genauso wie mit meinen ursprünglich gewachsenen Gliedern machen, nur dass die Prothesen viel feinfühliger und viel stärker als meine alten Hände sind“, sagte Anna und streichelte mir dabei mit ihrem Däumchen zärtlich meinen Handrücken.
„Ein Brainport?“, fragte ich nach der Bedeutung dieses sehr technisch klingenden Begriffs, dessen praktische Anwendung mich mehr an solche makaberen Zaubertricks, wie die in Cabarets immer mal wieder schadlos zersägte Jungfrau erinnerte.
„Ja, ein Brainport ist ein Hirnimplantat, das es ermöglicht direkt vom Kortex aus, also direkt von der Hirnrinde ohne Umwege über Stammhirn und Wirbelsäule Prothesen noch viel schneller und präziser als über das Nervensystem der Evolution anzusteuern. Du kannst dir die Übertragung so ähnlich wie bei kabellosen In-Ears vorstellen", sagte Anna, beugte sich mit ihrem Oberkörper über den Tisch und näherte sich dabei mit ihren beiden Armstümpfen den trichterförmigen Öffnungen, die an den Enden der Schäfte ihrer künstlichen Unterarme wie dunkle Höhlen klafften. Sofort nach der Aktivierung der magnetisch unterstützten Andockfunktion flutschten ihr die beiden Prothesen wieder über ihre kurzen Armstummel und saugten sich unter ihren Ellenbogen fest. Mit dem charakteristischen Doppelklicken arretierten sich Annas perfekt gestylte Hände exakt ausgerichtet an den Titanimplantaten, die umgeben von Narben aus ihren beiden kurzen Stumpfenden herausragten und verbargen die nötige Technik wieder unter ihrer ansprechenden Nanohaut.
„Alles perfekt, oder Susi?“, sagte Anna und streckte mir ihre beiden Hände mit den Handrücken nach oben bis dicht vor meinen Busen so entgegen, dass ich ihre Nails und die Ringe, die sie an ihren langen schlanken Fingern trug, ganz in Ruhe aus der Nähe bestaunen konnte. Mein T-Shirt lag noch immer an der Stelle, an der ich es wegen des Gipsabdrucks abgelegt hatte und als ich meine Hand so ausstreckte, dass Anna ihre kuschelig weichen Hände zart in meine nach oben geöffnete Handmulde legen konnte, durchzuckte mich ein wohliges Kribbeln. Diese Hände waren nicht nur so schön wie die eines Models, sondern ihre Berührungen prickelten auch in einer Weise erotisch, wie ich das vorher so noch mit keiner anderen Frau erlebt hatte. Dass sich meine Brustwarzen vor Erregung gestellt hatten, war mir genauso peinlich wie das aufgeregte Zucken, mit dem der Stummel an meiner rechten Schulter signalisierte, dass meine Rechte die ganze Zeit auch schon unermüdlich, aber leider erfolglos, versuchte Annas aufregende Hände zu berühren.
„Ein Hirnimplantat? So eine Operation ist doch bestimmt sehr riskant, oder?“, fragte ich mit trockenem Mund, drehte und streckte mich, bis ich mein T-Shirt, das noch schräg hinter mir auf der Untersuchungsliege lag, erwischt hatte und streifte es mir wieder über. Das tat ich nicht nur, um meine Peinlichkeit zu überspielen. Seit meiner Amputation fühlte ich mich viel wohler, wenn mein Stummel vom kurzen Ärmel eines T-Shirts verborgen nicht ganz so nackt, wie oben ohne, nutzlos von meiner Schulter herab hing. Gleiches galt, seit ich so lange blind gewesen und mir meines unvollkommenen Körpers bewusst geworden war, nicht nur für meinen Busen, denn ich hasste es seither selbst beim Duschen und beim Baden, wenn ich fühlte, dass ich schutzlos nackt war. Die einzige Ausnahme machte ich bisher nur, wenn ich mit Mirjam, meiner Mobilitätstrainerin, heimlich Zärtlichkeiten austauschte, aber dann achteten wir besonders darauf, uns gut vor ungebetenen Blicken zu schützen.
„Aber nein, Susi. Das, was wir für das Applizieren eines Hirnimplantates machen müssen, ist im Gegensatz zu einer Amputation nur ein winziger, nahezu risikoloser Eingriff, bei dem am Gehirn selbst auch überhaupt nichts gemacht werden muss. Das Implantat ist aus einem neuen, absolut biologischen Material. Es ist eine Art Membran, die vom Körper so freundschaftlich wie die Halbinsel Krim von uns Russen annektiert wurde, völlig problemlos wie ein eigenes Organ akzeptiert wird. Schon deshalb wird das Implantat vom Immunsystem als Freund erkannt und nicht wie ein Fremdkörper bekämpft werden. Die Energieversorgung funktioniert wie die der Zellen und wie viel Energie unser Körper in unseren Muskelfasern beim Sport auf diese Art im Überfluss produzieren kann weißt du ja vom Benchmarking deines Trainings. Mit diesem Kniff brauchen weder Drähte noch gefährliche Akkus, die sich im Körper bei Überlastung zu sehr aufheizen oder sogar wie manche Handys in Flugzeugen im Schädel platzen könnten. All das gibt es bei diesem System nicht, weil wir, so wie die Evolution auch, ausschließlich mit Körper identischen Materialien arbeiten. Hinzukommt, dass die neuste Prothesengeneration nicht nur ein ästhetischer Gewinn für deinen Körper ist, sondern obwohl das diesen filigranen Kreationen niemand ansehen kann, damit auch ein Vorteil für deine aktive Sicherheit mit einhergeht.
„Bei allen Vorteilen, die ich dir nie glauben würde, wenn ich nicht mit meinem eigenen Auge sehen würde, dass fast alles, was du gesagt hast, tatsächlich so stimmen muss, nehme ich dir aber nicht ab, dass das Abnehmen der Schädeldecke so risikolos sein soll, wie du mir das gerade dargestellt hast“, sagte ich stirnrunzelnd. Während ich zusah, wie Anna sich mit graziös wirkenden Pinzettengriffen zwei neue Äpfel aus der Obstschale fischte und sie auf ihren Fingerspitzen vor meinem Auge wie kleine Bälle herum jonglierte, war mir schon fast klar, was als Nächstes kommen würde. So schön und zart wie diese Hände aussahen, waren sie beileibe nicht, schoss mir ein furchtbarer Gedanke durch meinen Kopf. Dem myoelektrischen Blechmonster sah man die Tödlichkeit, die seine Erschaffer in den teuflischen Arm hinein konstruiert hatten, wenigstens gleich an, aber diese Hände, um die es jetzt ging, waren offensichtlich noch viel gefährlichere Tötungsinstrumente. Dessen war ich mir in diesem Moment sicher. Als hätte Anna meine Gedanken lesen können, lachte sie nur kurz nett auf und schnippte mir einen der zwei Äpfel mit einem ihrer Zeigefinger so über den Tisch, dass er langsam auf meine linke Hand zu kullerte, während sie schon genüsslich in den anderen hinein biss.
„Quatsch, wie kommst du denn darauf, dass man dafür die Schädeldecke abnehmen müsste? Wir sind doch nicht mehr im alten Rom, wo nach den ersten Hirnoperationen der Menschheit, noch Gold und Silberplatten zum Verschließen des Schädels eingesetzt wurden. Das Implantat kannst du dir wie einen gut gepackten Fallschirm vorstellen, der, wie eine große gefaltete Tischdecke, erst der Breite nach und dann der Länge nach entfaltet wird und sich danach sachte im Hirnwasser schwimmend auf die Hirnrinde legt“, erzählte Anna, während sie ihren knackigen Apfel verspeiste, so entspannt, als würde sie gerade über das Wetter plaudern.
„Aber das Tischtuch muss doch trotzdem da rein“, sagte ich unwirsch, weil ich immer mehr den Eindruck hatte, dass Anna mich warum auch immer zu etwas überreden wollte, das mir gefährlich werden konnte. Aber dann spielte sie ihren letzten Trumpf, der mich zwar noch misstrauischer, aber auch noch neugieriger machte, aus.
„Ja, aber dafür brauchen wir nur vier kleine Bohrungen, die so klein sind, dass sie nach dem Einbringen und dem anschließenden Entfalten des Implantats nicht einmal verschlossen werden müssen. Wir spannen dann gleich wieder die Kopfhaut darüber und vernähen sie wie kleine Platzwunden mit zwei oder maximal drei kleinen Stichen. Direkt nach der Operation sieht man nur noch ein paar Tage lang die vier ein Euro großen Stellen, an denen die Haare partiell wegrasiert werden müssen und das war’s dann schon. Das Implantat überspannt übrigens nicht nur den motorischen Kortex, der sich unter der Schädeldecke ziemlich weit oben befindet, sondern es beginnt schon an den Schläfenlappen und erstreckt sich von dort über die orbitale Gyri bis nach hinten über den Okzipitallappen hinweg“, sagte Anna.
„Willst du mir damit etwa sagen, dass es hier sogar Prothesen gibt, die außer greifen, auch noch hören und sehen können?“, fragte ich in einer Mischung von erschaudern und Hoffnung in meiner Stimme.
„Nein, das sicher nicht, die Prothesen haben ja kein Gehirn. Sie sollen nur die Menschen, die sie tragen, dort ertüchtigen, wo sie ihre individuellen Handicaps haben, mehr nicht“, erklärte Anna mir nachsichtig und gab mir damit zu verstehen, dass sie mich für eine mit der Situation offensichtlich etwas überforderten Patientin hielt.
„Ein myoelektrischer Arm würde mir so ein Implantat aber doch ersparen?“, sagte ich etwas vorschnell.
„Sicher! Aber wenn du dich für ein bionisches Auge entscheiden würdest, bräuchtest du dafür doch ein Implantat. In diesem Fall, könntest du dann auch den besseren Arm dazu nehmen, weil unsere Implantate mittlerweile so standardisiert sind, dass sie im Zweifel auch alles andere, das noch ausfallen könnte ertüchtigen können. Das ist vor allem für unsere Soldaten wichtig, weil gerade bei den Besten oft schnell weitere Schwächen hinzukommen“, sagte Anna und schaute auf ihre Armbanduhr.
„Wie? Ihr habt hier künstliche Augen, die so gut wie echte Augen sehen können?“, brach es aus mir heraus.
„Nein Susi, sehen können diese aktiven Prothesen genauso wenig wie unsere Hände auch nicht hören können, aber Menschen mit dem richtigen Implantat, können damit viel besser als andere mit ihren biologischen Augen sehen. Genauso können mit dem Implantat auch alle, die das wollen, das Gras wachsen hören“, sagte Anna und beendete den Termin. Gerade, an einem Tag wie heute, an dem ich über so wichtige Entscheidungen nachdenken musste, war ich Anna auch besonders dankbar dafür, dass sie mich bis nach meinem Folgetermin bei ihr am nächsten Tag aus gesundheitlichen Gründen vom Training befreit hatte.
„Die größten Schwachstellen unserer bionischen Systeme sind unvorhersehbare Einflüsse, die zeitlich begrenzte Totalausfälle zur Folge haben können oder die Steuerungen unserer komplexen Hilfsmittel sogar innerhalb von Sekundenbruchteilen ganz abstürzen lassen. Gerade Faustschläge auf den Kopf zum Beispiel, das haben unsere neusten Versuche ergeben, können solche auslösen. Noch schlimmer wären Hackerangriffe, die sich der Systeme bemächtigen könnten und mit Fehlfunktionen zur Gefahr für derart ausgestattete Soldatinnen oder Personen in deren Umgebung werden lassen könnten. Für die zivile Ertüchtigung in Charityprojekten sind diese Gefahren eher vernachlässigbar, aber nicht im Kampf Frau gegen Frau“, diktierte die übernächtigte Anna über ein Spracherkennungssystem in ihren Bericht, der heute noch an die Direktorin reportet werden musste.
„Im Kampfeinsatz sind myoelektrische, Draht verkabelte oder mit Bowdenzügen ausgestattete Prothesen, deutlich weniger anfällig und auch nicht hackbar. Nur für bionische Augen haben wir leider keine solche muskelelektrischen, oder andere Alternativen. Aber kampftaugliche Kunstglieder müssen nicht zwingend mit anderen Systemen digital vernetzbar sein. Sie funktionieren auch ohne Hirnimplantate sehr zuverlässig und sind selbst im Kampfeinsatz sehr robust und äußerst zuverlässig. In allen Fällen, in denen Soldatinnen wegen unbrauchbarer oder fehlender Augen bereits Hirnimplantate appliziert wurden, ist die Mitnutzung für Prothesen bei entsprechendem Bedarf zwar verlockend, aber nur in Verbindung mit einer zusätzlichen myoelektrischen oder einer anderen Datenfunk unabhängigen Redundanz zu empfehlen. Das Weiterschalten, das Bündeln sowie das Einspielen fremder visueller Informationen kann schwer beherrschbare Orientierungsprobleme sowie geistige Verwirrungen zur Folge haben, die in Einzelfällen sogar dauerhafte Psychosen auslösen können. Gegen die Verwendung von Soldatinnen ohne visuelle Wahrnehmung oder solche mit eingeschränkter eigener Motorik in Leitständen, an Computern oder in Denkfabriken bestehen keinerlei Bedenken. Die Auswertung der neusten Tests hat ergeben, dass eingeschränkte Personen diese Aufgaben nach entsprechenden Trainings in aller Regel sogar mit deutlich besseren Ergebnissen erledigen können. Die Nutzung eines bionischen Auges in Kombination mit einem noch oder wieder gut funktionierenden biologischen Auge wurde noch nicht erprobt. Gleiches gilt für das Übertragen von Bodycam- oder Filmsequenzen von Satelliten, aus Panzern oder von Flugzeugen an Hirnimplantierte ohne Einschränkungen. Für männliche Soldaten, die in Folge von Kampfhandlungen, Unfällen oder Krankheit derzeit noch als untauglich gelten, gibt es noch keine Daten, weil die bisherigen Erhebungen ausschließlich auf das Termitoxprojekt beschränkt erhoben wurden.“
In dem mysteriösen Sanatorium mitten in der eisigen Einöde war es totenstill und ich lag dort alleine in meinem Bett, in dem ich von den Anstrengungen des Tages todmüde schlief, während ich von einem Spaziergang durch den Spreewald träumte. Der Tag, von dem ich träumte, war ein wunderschöner sonniger Sommertag und der Wald war nahezu menschenleer, weil sich gefühlt ganz Berlin zum Wannsee und zu anderen Badegewässern aufgemacht hatte, um sich beim Planschen im kühlen Nass zu vergnügen. Die andere Variante, die ich gewählt hatte, war mir viel lieber, um mir auch auf angenehme Art Erleichterung vor der Hitze zu verschaffen. Im Wald war es für meinen Geschmack zumindest mir ebenfalls kühl genug. Die Ruhe und die friedliche Einsamkeit, die mich dort umgab, empfand ich deutlich angenehmer als das schrille Treiben am Wasser. Ganz so einsam war es aber dann doch nicht. Da war nämlich noch das Vogelgezwitscher, das in der Idylle zwischen dem leisen Rauschen der Blätter in den sanften Böen eines lauen Lüftchens wie ein instrumentales Lied der Bäume, des Windes und der Artenvielfalt klang.
„Klopf …, klopf, klopf … klopf“, trommelte ein Specht zu dem Lied der Natur seinen Takt dazu, der sich wie die Trommel eines afrikanischen Buschmanns anhörte. Dann wurde ich wach, aber das Klopfen war immer noch da. Schlaftrunken richtete ich mich auf und hörte, dass es von meiner Tür kam.
„Mirjam? Bist du das?“, flüsterte ich leise, nachdem es an meiner Tür schon zum zweiten Mal innerhalb einer Minute klopfte und ich realisiert hatte, dass das Klopfen nicht von einem Specht, sondern von einem Blindenstock verursacht worden war. Meine Uhr sagte mir schon, bevor ich den Lichtschalter der Lampe, die seit kurzem behelfsmäßig neben mein Bett platziert war, gefunden hatte, 2:33 Uhr an. Das Licht brauchte ich eigentlich nur für meine Übungen für die Sehschule, aber ich hatte mir auch schon wieder angewöhnt, es bei Nacht manchmal einfach so wieder anzuknipsen. Vor allem dann, wenn ich wie in dieser Nacht plötzlich wieder vor irgendetwas Angst bekommen hatte.
„Ja, Susi, mach schnell auf, es ist wichtig“, raunte sie mit heißerer Flüsterstimme, in der ich zum ersten Mal, seit ich Mirjam kannte, Angst wahrnahm.
„Was ist denn los?“, hauchte ich genauso leise wie sie in den dunklen Gang hinaus, während mein Türschloss leise klickte und ich sie durch einen schmalen Türspalt zu mir in mein Zimmer hineinzog.
„Du musst so schnell wie möglich weg von hier, und zwar ganz schnell, bevor sie es schaffen dich zu implantieren. Danach wärst du nirgends auf der Welt mehr vor ihnen sicher“, sagte Mirjam, die nach dem nächtlichen Ausflug in den mysteriösen Eispalast mit der noch mysteriöseren Thermalquelle nicht nur meine Mobilitätstrainerin, sondern auch meine einzige Freundin war. Die einzige Person von glaubte ihr hier im Gegensatz zu allen anderen wirklich vertrauten zu können. Außer Pawel vielleicht noch, aber selbst da hatte ich zwischenzeitlich immer mehr Zweifel.
„Hey, Mirjam, wie kommst du denn darauf? Hast du etwa heute an Annas Tür gelauscht?“, fragte ich und grübelte darüber, was sie da gerade für ein Teufel zu reiten schien, oder war es etwa Neid. Neid auf meine Fortschritte in der Sehschule. Die Sehschule, die für Mirji, genauso wenig wie für alle anderen hier, die ihre Augen entfernt und durch Glasaugen ersetzt bekommen hatten, ohne diese aktiven Augenprothesen, von denen mir Anna erzählt hatte, nicht mehr infrage kam.
„Nein, Susi, was denkst du denn von mir, außerdem hätte ich das auch gar nicht nötig. Selbst mit meinem alten Implantat, kann ich, wenn ich das will, auch durch die dicksten Wände, das Gras wachsen hören“, sagte sie und grinste mich im Schein der Lampe schräg an. Der Schatten ihres Körpers tanzte auf der weißen Wand hinter ihr wie ein böser Dämon herum, während Mirji ihren Blindenstock zusammen klappte und in ihrer Tasche verstaute, bevor sie an dem kleinen Tisch mit den zwei Stühlen Platz nahm und ein winziges Döschen aus ihrer Tasche hervorzauberte.
„Was hast du denn vor?“, fragte ich völlig verdutzt, als ich sah, dass Mirjam sich total hektisch, mit ihrem Gesicht über meiner Tischplatte schwebend an ihren gläsernen Augen herumfummelte und mit irgendwelchen Kugeln aus dem Döschen herumhantierte. Erst als sie ihren Kopf wieder hochnahm, mich ansah und ich die grünen Dioden in ihren Augenwinkeln blinken sah, wurde mir schlagartig klar, was das Ganze zu bedeuten hatte.
„Und wenn sie uns orten?“, fragte ich entsetzt, weil mir in diesem Moment sofort dämmerte, was Mirjams Warnung zu bedeuten hatte.
„Geht bei mir nicht, weil ich eine aus der IT kenne, die mir meinen Transponder gehackt hat“, sagte Mirjam schelmisch und löschte das Licht meiner Lampe.
„Los komm!“, wir haben nicht mehr viel Zeit.
„… Und Pawel?“, fragte ich und hielt sie am Arm zurück.
„Sag, dass das jetzt nicht dein Ernst ist“, fauchte Mirji mich an, schnappte sich in der völligen Dunkelheit zielsicher meinen linken Arm und zog mich mit eisernem Griff um mein Handgelenk hinter sich her auf die Tür zum Flur zu.
„Ohne ihn würde ich jetzt stockblind in Berlin versauern“, monierte ich.
„Nein, Susi, ohne ihn wäre dein Körper nie mit Termitox vergiftet worden“, sagte sie mit eiskalter Stimme und schob mich in den Flur.
„Pawel soll mich mit Krebs vergiftet haben? Niemals! … sowas geht doch gar nicht“, zischte ich sie an und stemmte mich mit aller Gewalt, so gut es ging gegen den Fußboden.
„Komm endlich zur Vernunft, Susi. Das war nie Krebs, sondern ein neues russisches Gift, mit dem die Russen ihre Gegner demoralisieren und ihnen den Lebensmut rauben wollen. Sie werden damit in der Ukraine beginnen und danach die ganze Welt verseuchen und sich alle unterjochen. Der Plan ist, die Menschen, die ihnen nicht passen, mitsamt ihrer Völker ins Verderben zu stürzen und systematisch auszurotten.
„Und was hat mein Pawel damit zu tun?“, fragte ich misstrauisch.
„Das Spray, das er dir gab, war Termitox. Erst als Mut machende Kampfdroge für unsere eigenen Leute entwickelt, bis die Nebenwirkungen bekannt wurden, die bei Testosteron gesättigten Organismen Symptome von Hodenkrebs hervorrufen und bei Testosteron reduzierten Organismen eine Art künstlich verursachten Augenkrebs zur Folge haben. Es ist eine biologische Waffe, die sehr ansteckend ist, willst du noch mehr hören, oder kommst du jetzt endlich mit? Viel Zeit bleibt uns nicht mehr“, sagte Mirjam mit sorgenvollem Ton.
„Ohne Pawel, gehe ich nicht mit“, sagte ich stur und blickte Mirji dabei entschlossen in ihre grün blinkenden Augen.
„Er hat dich vergiftet!“, zischte Mirjam noch eisiger.
„Und selbst wenn, dann ohne böse Absicht, da bin ich mir sicher. Genauso wie ich ihn auch …“, sagte ich schuldbewusst, nach dem mir die Zusammenhänge mit dem Spray klargeworden waren.
„Wie du ihn auch?“, fragte Mirjam und wurde von einer Sekunde auf die andere stocksteif.
„Ja! … Ich auch, weil ich es war, die ihm, als wir uns auf dem Weg hier her, auf einem Bahnhof gegen russische Milizen verteidigen mussten, in letzter Sekunde auch von dem Spray gab. Ich konnte ja nicht wissen, dass es …“, sagte ich und kämpfte mit meinen Tränen.
„Ok, komm! … Lass uns reden“, sagte Mirjam und brummelte etwas, das ich nicht verstand, weil sie ein paar Sätze in ukrainischer Landessprache vor sich hin brummelte, bevor sie nachgab und mich durch den stockdunklen Gang wieder zurück in mein Zimmer führte. Ich hörte das Klicken des Türschnappers und ließ mich von ihr zurück zu dem kleinen Tisch führen, an dem wir uns wieder auf die zwei Stühle setzten.
„Wie machst du das nur alles ohne Stock, hier ist es doch so dunkel, dass ich nicht einmal einen Schatten meiner Hand vor meinem Auge sehen kann?“, fragte ich Mirjam. Da sie mich nicht zum ersten Mal damit verblüffte, wie genial sie ihr fehlendes Augenlicht mit ihren anderen Sinnen kompensieren konnte, hatte ich die Frage, nachdem wir beide wieder gesessen waren, zunächst nur rhetorisch gestellt. Eigentlich wollte ich damit nur etwas den Druck aus der angespannten Situation herauszunehmen. Die Antwort, die ich darauf von Mirji bekam, traf mich dann umso mehr mit schier unglaublichem Erstaunen.
„Das ist jetzt zwar unser geringstes Problem, Susi. Aber die Restlichtverstärker in meinen aktiven Prothesen und mein Brainport machen nicht nur das möglich“, sagte meine Freundin und ergriff tröstend meine Hand.
„Danke, dass du mir hilfst, Mirjam, aber ich hoffe, dass du mich jetzt auch ein bisschen besser verstehen kannst, warum ich Pawel hier nicht alleine mit seiner Infektion zurücklassen will. Nachdem ich dir gesagt habe, wie es uns zusammen ergangen ist, und was uns alles verbindet, kann ich ihn hier nicht einfach so, nur um meine eigene Haut zu retten, zurücklassen", antwortete ich nachdenklich und drückte ihr dabei dankbar ihre Hand.
„Reg dich ab, wir helfen ihm in dieser Minute doch schon. Sobald er im Fluchtwagen ist, bringe ich dich zu ihm“, sagte Mirjam knapp und ich hatte Mühe meine Tränen der Rührung unter Kontrolle zu behalten. Deshalb nahm ich Mirjam einfach ganz spontan in den Arm und wir drückten uns ganz fest.
„Das ändert aber nichts daran, dass du und Pawel in unmittelbarer Gefahr schweben. Aber um Pawel mache ich mir, im Gegensatz zu dir, keine Sorgen, weil er sich den Ärger hier selbst eingebrockt hat“, sagte Mirji und wand sich behutsam aus meiner Umarmung.
„Nein! Egal ob selbst eingebrockt oder nicht, ohne ihn und Anna hätte ich in Berlin mein Augenlicht längst schon für immer verloren. Dafür, dass die Russen Giftmischer sind, kann er genauso wenig wie du, ich und die vielen anderen hier, die dem Gift auch zum Opfer gefallen sind“, widersprach ich und wischte mir meine Tränen ab. Aber dann wurde ich plötzlich doch gleich wieder misstrauisch.
„Wieso ist Pawel denn plötzlich doch auf dem Weg zu diesem Fluchtauto? Du wolltest ihn doch gerade erst gar nicht mitnehmen?“, fragte ich stirnrunzelnd, als mir klar wurde, dass ich die ganze Zeit mit Mirjam zusammen war und sie nicht mal telefoniert hatte.
„Mein Brainport, Süße“, sagte sie nur und als ich verstand, was das Gemurmel sollte, bekam ich es erst recht mit der Angst zu tun.
„Wie? Dein Gehirn ist über das Ding, über irgendeinen Server, mit anderen Hirnen vernetzt?“, fragte ich mit einem schaudernden Zittern in meiner Stimme.
„Keine Angst Susi, davon können die Teufel nichts mitbekommen, zumindest noch nicht. Ich hab dir doch gesagt, dass wir uns gehackt haben. Nur deshalb sind wir für ihre KI noch unsichtbar und auch noch unhörbar. Wir nennen uns Noncyborgs und kämpfen hier so lange es geht für das Gute“, sagte Mirji mit ruhiger Stimme.
„Ich hoffe, Pawel ist auch wieder gesund“, antwortete ich voller Sorge.
„Im Moment geht es dem Übeltäter, den du schützt, soweit wieder ganz gut, aber ihn mitzunehmen ist trotzdem keine gute Idee“, sagte Mirjam recht zugeknöpft.
„Oh nein, alles wegen des Giftes und ich bin schuld“, sagte ich und fasste mir voller Besorgnis für Pawel an meinen Armstumpf. „Ich hoffe, sie mussten ihn nicht auch …“, schob ich hinterher.
„Nein, das nicht, seine Glieder sind alle noch dran, er wurde gerade noch rechtzeitig kastriert“, sagte Mirji völlig trocken ohne dabei einen Ansatz von Mitgefühl zu zeigen.
„Ahhaaa …!“, entfuhr mir ein kurzer leiser Aufschrei. „Kastriert, warum das denn?“
„Hast du nicht aufgepasst, Susi? Bei uns Frauen schlägt sich das Gift auf die Augen und bei Männern auf die Hoden, aber das sagte ich dir doch schon“, entgegnete mir Mirjam so ungeduldig, dass ich noch mehr Angst bekam. Angst aber in diesem Moment auch vor ihr, weil mir ihre Kaltschnäuzigkeit fast genauso unmenschlich wie die, der russischen Übeltäter vorkam.
„Keine Angst Susi, wegen des fehlenden Testosterons wird er jetzt nicht gleich einen Rückfall erleiden, der auf die alte Vergiftung von dir zurückzuführen sein könnte. Sie haben ihm sogar seine Augen genauso behandelt, wie sie das bei dir vorher erfolgreich ausprobiert hatten. Dein Pawel ist im Moment wieder genauso gut entseucht wie du und ich auch. Aber im Gegensatz zu mir seid ihr beide nicht gegen neue Vergiftungen immun", plauderte Mirjam jetzt genauso entspannt wie vorher Anna in einem Tonfall, als ob sie mir wie meine Ärztin nur Belangloses vom Wetter erzählen wollte, über die grausamen Dinge, die hier passierten.
„Nur du bist immun?“, fragte ich leise und dachte, während ich hinter meiner Retterin herstolperte, darüber nach, was die Noncyborgs noch für weitere übermenschlichen Eigenschaften haben könnten.
„Ja, aber die Immunität hat eben ihren Preis, Susi. Das ist ganz einfach. Ohne Augen und ohne Hoden ist nämlich keine Infektion mehr möglich, weil dem Gift dann die Nährböden fehlen. Das ist auch der Grund, warum sie für das Termitox Projekt bisher nur Frauen ausgewählt haben. Die meisten hier sind Patriotinnen der russischen Armee, die sich in einem Auswahlverfahren für den Sieg ihres Vaterlandes qualifizieren mussten, nur einige Coachs wie ich und die Versuchskaninchen wie Pawel und du sind verschleppte Ukrainer und Strafgefangene. Die Zäune mit dem Stacheldraht haben sie nur aus Angst davor, dass wir ihnen als Blinde doch entwischen könnten, aufgebaut. Aber vor den fanatischen Russen hier, müssen selbst wir Noncyborgs uns mächtig in Acht nehmen.
„Soll das etwa heißen, dass die Patriotinnen noch gar nicht vergiftet waren, bevor sie hier angekommen sind?“, fragte ich total perplex, als mir aus der Bedeutung von Mirjams Worten ein gruselig grausames Szenario in den Sinn kam.
„Nein, natürlich nicht, vergiftet werden nur die Versuchskaninchen. Die Eingangsbehandlung nennen sie hier elegant Prophylaxe und wir Frauen haben insoweit sogar noch Glück, weil wir keine Hoden haben", scherzte Mirjam mit mir jetzt in einem mir völlig skurril und unangebracht erscheinenden schwarzem Humor.
„Oh Gott, Mirjam, bei dir also auch?“, fragte ich voller Mitgefühl und merkte, wie mir wieder Tränen über meine Wangen liefen.
„Nein, Susi, ich bin eine der wenigen hier, die nicht geblendet werden mussten, weil ich schon als Kind diese Krankheit hatte, deren Symptome identisch mit den Vergiftungen sind. Deshalb brachte ich als Früherblindete hier sehr selten zu findende, aber für die Zwecke der Teufel einzigartige Voraussetzungen für den Job als Mobilitätstrainerin mit, für den mich die Russen sogar richtig gut bezahlen. Eigentlich erfüllte sich hier für mich sogar ein mir unerfüllbarer geglaubter Kindheitstraum. Aber glücklich bin ich damit nicht wirklich, seit ich weiß, warum und auf welche skrupellose Art und Weise sie hier Technologinnen entwickeln, die ohne Krieg wirklich die Lebensqualität vieler Menschen steigern und viel Leid verhindern könnten", sagte meine unglaublich taffe Ausbilderin zu mir und ich verstummte vor Anerkennung als mir dämmerte was für eine mächtig starke Frau unsere Retterin ist.
„Ist Pawel wirklich da drin?", fragte ich als ich hörte, dass dicht vor mir die Tür eines schweren Wagens geöffnet wurde und quetschte mich einen Augenblick später scheu zu ihm auf die Rückbank, während ich im schwachen Licht sah, wie Mirjam sich hinter das Lenkrad setzte.
„Wenn sie euch zu fassen bekommen, werden sie euch weiter so lange als ihre Versuchskaninchen missbrauchen, wie ihr ihnen noch für ihre Forschungen nützlich seid. Deshalb sollten wir uns jetzt auch sputen, bevor sie mitbekommen, dass wir euch bei der Flucht helfen, sagte Mirji und fuhr unauffällig los in Richtung Tor, das schon weit geöffnet war.
„Oh Pawel, ich weiß gar nicht, wie ich dir jemals für all das danken kann, was du alles für mich auf dich genommen hast“, sagte ich und umarmte den ausgemergelten Körper, den ich noch kurz im Lichtschimmer der Innenbeleuchtung sehen konnte, bevor Mirjam die Fahrertür geschlossen hatte.
„Kein Problem, Susi“, antwortete Pawel mit dünner Stimme, während der schwarze Wolga mit seinen Insassen dem Verlauf der holprigen Straße in Richtung Westen folgte.
„Es tut mir so leid …“, sagte ich und schmiegte mein Gesicht an seine knochig gewordene Schulter.
„Du weißt es also schon, sagte er voller Scham“, und schob mich von sich weg.
„Bitte lass mich bei dir bleiben“, flehte ich ihn an und versuchte ihm zu vermitteln, dass sein schmerzlicher Verlust, wenn er meine Nähe weiter zulässt, für mich kein Problem werden sollte.
„Wir werden sehen müssen, was kommt“, sagte er zweideutig. Danach schliefen wir ein und wachten erst wieder auf, als Mirjam uns hinter der Frontlinie zum Aussteigen aufforderte und uns, nach einer herzlichen Verabschiedung noch zwei Zugfahrkarten nach Kiew in unsere Hände drückte.
***
„Herzlich willkommen zur Tagesschau“, sagt der Sprecher und begann mit den Meldungen des Tages.
Ukraine: Der russische Nachrichtensender RT, meldet, dass ukrainische Raketen in den Morgenstunden ein Sanatorium im Donbass, in dem sowohl russische als auch ukrainische Kriegsversehrte behandelt wurden, dem Erdboden gleich gemacht haben sollen. Es seien viele Tote zu beklagen, fast ausschließlich Frauen der russischen Armee. Es seinen aber auch einige Frauen aus der ukrainischen Zivilbevölkerung dort behandelt worden. Überlebende gäbe es keine, weil die Gebäude alle bis auf die Grundmauern niedergebrannt waren, bevor Hilfe eintraf. Die Leichen seine alle unkenntlich verbrannt. Der Wahrheitsgehalt dieser Nachricht ist für uns nicht überprüfbar.
Texte: ©Lisa Mondschein
Bildmaterialien: ©pixabay
Cover: ©Fizzy Lemon
Tag der Veröffentlichung: 21.04.2023
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für die Freiheit der Gedanken und gegen die physiotechnische Okkupation menschlicher Sinne