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Vorwort

Nebelfreunde

Sex ist nicht alles …, oder doch?

 

Mein Beitrag zum Wettbewerb April/Mai 2023 in der Gruppe:  Schreibwettbewerbe "Erotik"

Mein Beitrag in gekürzter Form, zum 47. Wettbewerb Oktober 2023 in der Gruppe: Kinder und Jugend

 

Diese Kurzgeschichte gehört zur Reihe der Kurzgeschichten mit dem Namen "Schattenglut". Sie kann auch als eigenständige Kurzgeschichte unabhängig von den anderen Büchern der Reihe gelesen werden.

Silbersteinstraße

„Det, is die Silbersteinstraße“, sagte der Taxifahrer mit seinem für diese Stadt typischen Berliner Dialekt, während er das Taxi, in dem ich saß, nach der Fahrt um die letzte Kurve vor unserem Ziel verlangsamte. Den Typ, der mich fuhr, fand ich echt nett und seine offene Art brachte uns gleich zu Beginn unserer Fahrt ins Gespräch. Nachdem ich meine erste Nacht in Berlin spontan mit einer Frau verbracht hatte, war ich am Morgen vor dem Bahnhof Berlin-Mitte in das Taxi eingestiegen, in dem ich nach einer längeren Fahrt durch die Stadt noch immer saß. Es befand sich mittlerweile schon kurz vor dem eigentlichen Ziel meiner Reise, einem Studentenwohnheim in der Silbersteinstraße. Sowohl interessiert fragend, als auch höflich und kurzweilig von der Stadt und von sich selbst plaudernd, hatte mein Taxifahrer schnell eine lockere Unterhaltung entwickelt. Obwohl ich, seit ich denken kann, mit meinen beiden kosmetischen Augenprothesen stockblind unterwegs bin, ermöglichte er es mir mit seiner Offenheit, mir während unseres Gespräches schnell ein eigenes Bild von ihm zu machen. Die Hilfe, die er mir anbot, um mich in das Gebäude zu bringen, wollte ich schon deshalb gerne annehmen, weil ich ihn nett fand. Einerseits hatte er schnell mein Vertrauen gewonnen und andererseits wollte ich ihn mit meiner Vorliebe für selbständige Abenteuer nicht frustrieren. Hinzukam, dass ich froh darüber war, dass er mich zuerst höflich fragte, ob ich die von ihm angebotene Hilfe überhaupt haben und entsprechend meiner eigenen Entscheidung in Anspruch nehmen wolle.

„Ja gerne“, sagte ich und öffnete, nachdem das Taxi zum Stehen gekommen war, vorsichtig meine Tür. Vorsichtig deshalb, weil ich in der Großstadt, in der es auf der rechten Seite oft Fahrradwege gab, mit meinem Tatendrang keine Radfahrenden gefährden wollte, die hier, wie ich aus meinen Recherchen über Berlin wusste, am Morgen oft zahlreich unterwegs sein könnten. Nach dem Aussteigen sog ich mit einem tiefen Atemzug Luft durch meine Nase. Der Geruch des sonnigen Herbstmorgens, dessen Sonne mir die Haut auf meinem Gesicht und auf meinen Händen wohlig wärmte, war überwältigend. Es war der Duft von Freiheit, Unabhängigkeit und Selbstverwirklichung, den ich in diesem Moment genussvoll auf mich wirken ließ und der zuckersüß schmeckte. Ich war angekommen. Angekommen bei Nele, mit der ich meine neue Wahlheimat Berlin erkunden wollte. Nach wenigen Stufen erreichten wir die Haustür, die sich mit einem saugenden Zischen öffnete, bevor ich am Arm des Taxifahrers in das Gebäude eintrat.

„Riecht nach Frühstück“, sagte ich, „lecker!“

„Det is det Treppenhaus und drei Stufen hoch geht's weiter rein, wa! ...“, sagte mir der Taxifahrer.

„Danke, ab hier komme ich gut alleine klar“, antwortete ich ihm und verabschiedete mich von dem Fahrer, den ich noch im Auto für die Fahrt hierher bezahlt hatte.

„Ok, denn mal jute Zeit hier und wenn sie mal wieder wohin wollen ...“, sagte er und schob mir unaufdringlich seine Karte an meinen Handrücken, die ich dankend annahm und gleich in meiner Jeans verschwinden ließ. Die meisten Stimmen, die ich vor mir hörte, schallten etwas dumpf aus dem Raum heraus, der eine Art Aufenthaltsraum sein musste. Aus dem Raum drangen auch Untertöne, die ich als leises Geklapper von Besteck auf Tellern und von Löffeln wahrnahm, die ab und zu am Rand von Tassen klingelten. Nur links von mir waren zwei Stimmen, die nicht weit von mir murmelten, ohne dass die Sprechenden schon Notiz von mir genommen hatten, weil sie sich offensichtlich von mir abgewandt unterhielten und deshalb gegen eine dort befindliche Wand sprachen.

„Hey, bist Du Mara?“, hörte ich kurz darauf aus der gleichen Richtung Rufe zu mir herüberschallen. Mit meinem Rücken an der gegenüberliegenden Wand angelehnt, hatte ich meinen Blindenstock vor mir senkrecht auf dem Boden abgestellt. Eigentlich wollte ich mich so ungestört und in Ruhe auf die Geräusche konzentrieren, die mir alles über die Umgebung verraten konnten, was ich wissen musste, um mich hier zu orientierten und mich danach ohne fremde Hilfe zur nächsten Etappe weiterzubewegen. Nur die zwei Stimmen, die plötzlich fragend meinen Namen zu mir sagten, hatten mich dabei ungebeten gestört.

„Ja, sieht man mir wohl an“, antwortete ich viel zu schroff.

„Ja klar, wir sind Sophie und Jona … Nele hatte dich eigentlich für gestern Abend angekündigt, aber du bist ja gleich nach deiner Ankunft irgendwo versackt", sagte die gleiche männliche Stimme, die mich kurz vorher mit meinem Namen angesprochen hatte und ergänzte, „ … hattest du denn schon ein Frühstück?"

„Nein, aber ich höre ja, wo es hier etwas zum Frühstücken gibt“, sagte ich noch immer etwas reserviert, aber schon etwas freundlicher, weil ich die Stimme jetzt schon viel sympathischer fand und auch nicht gleich mehr als nötig zicken wollte.

„Wir studieren gerade den Speiseplan für die kommende Woche und wollten danach auch gleich Frühstücken gehen“, antwortete Jona total nett.

„Wisst ihr wo Nele ist?“, fragte ich.

„Sie ist schon los zur Uni, aber ihre letzte Vorlesung endet um zwölf Uhr und danach will sie gleich, ohne einen Haken durch die Mensa zu schlagen, wieder hierher zurückkommen. Sie war bisschen enttäuscht gestern Abend, als sie deine What's-App bekam. Aber sie muss nächste Woche in Entwicklungspsychologie eine Klausur schreiben …“, ergänzte Jona freundlich und ich fand ihn von Satz zu Satz netter.

„Frühstück klingt gut. Daran hab ich in der Tat auch gerade gedacht“, sagte ich und ging mit meinem Stock vor mir voraus, auf die Tür zu, aus der das Geklapper kam, wo ich im Türrahmen stehen blieb, um mir einen Überblick zu verschaffen.

„Wäre aber auch kein Problem, wenn du erstmal für dich alleine hier ankommen magst“, hörte ich Sophie hinter mir sagen, die mir mit Jona gefolgt war und geduldig mit ihm hinter mir vor dem Türrahmen wartete, bis ich mir überlegt hatte, was ich als Nächstes machen wollte. Sophies Stimme empfand ich auf Anhieb recht sympathisch und mir gefiel auch, dass die beiden mich nicht zu etwas drängten und mich auch nicht mit nervender Fürsorglichkeit zu betüdeln versuchten.

„Da vorne rechts ist die Ausgabe, richtig?“, fragte ich, mit meinem Kopf über die Schulter nach hinten gewandt.

„Ja, und schräg links von hier ist der Tisch, an dem wir, wenn welche von uns erst später zur Uni müssen, oft mit unserer Clique gemütlich beim Frühstück zusammen sitzen. Nele frühstückt auch immer an diesem Tisch“, antwortete Sophie mir entspannt und wartete mit Jona weiter geduldig ab, bis ich wusste, was ich vorhatte. Nur, dass das Geklapper plötzlich verstummt war, nervte mich gewaltig. Aber das kannte ich ja …

Die Blinde …, voll die Attraktion des Tages, dachte ich und fühlte mich von einem Moment auf den anderen total angepisst.

Na prima, das fängt ja gut an, dachte ich weiter und grübelte kurz darüber, was ich aus der Situation machen wollte. Ich kam mir mal wieder wie ins Mittelalter zurückversetzt vor. Dort hatten welche wie ich auch oft nur die Wahl zwischen betteln gehen, oder sich auf dem Jahrmarkt mit der Darbietung von zweifelhaften Kunststückchen, für die es mit etwas Glück ein paar selbstverdiente Almosen gab, über Wasser zu halten..

„Nele hat dich als ihr Gast angemeldet. Essensmarken gibt es hier nämlich nicht“, sagte Sophie und schob sich sachte mit Jona an mir vorbei.

„Frühstücken mit euch und Neles Clique ist auch ok für mich, wenn das passt“, sagte ich einlenkend.

„Na prima, willst du ’nen Arm? … an unserem Tisch sind noch einige Stühle frei“, sagte Sophie und blieb kurz vor mir so stehen, dass ich gleich darauf ihren Ellenbogen zu fassen bekam.

„Voll gern“, antwortete ich ihr. Nachdem ich gehört hatte, dass das Geklapper nach und nach wieder einsetzte, entspannte ich mich recht schnell wieder während Sophie mich zu dem Tisch führte und fühlte mich auch gleich wieder wohler.

„Hi, ich bin Mara“, sagte ich in die Runde, und orientierte mich an der Lehne des Stuhls, die Sophie mir gezeigt hatte, während ich meinen Rucksack von meiner Schulter gleiten ließ und mich setzte. „Ich bin Neles Freundin“, stellte ich mich vor, nachdem ich Platz genommen hatte.

„Hi Mara, ich bin Leon“, hörte ich eine so weich und einfühlsam klingende Männerstimme, dass ich sofort neugierig auf den Menschen wurde, zu dem sie gehörte. Sie kam von der anderen Seite des Tisches direkt gegenüber von mir und ich spürte ein leichtes Kribbeln, das mich warum auch immer im selben Moment an meine Freundin Mila erinnerte.

„Einen Kaffee für dich?", fragte Sophie, „…, zum Ankommen, oder kommst du lieber gleich mit zum Buffet?“, hörte ich Sophie mich unaufdringlich fragen.

"Gibt's auch Espresso?“, fragte ich zurück, „... gern mit viel Zucker drin?“

„Klar, bring ich dir gerne mit“, sagte Sophie und verschwand mit Jona.

„Keine Vorlesung, Leon?“, fragte ich und griff das Gespräch auf.

„Nee, erst heute Nachmittag …“, war die Antwort.

„Was studierst du?“, fragte ich.

„Theologie …“, hörte ich von gegenüber.

„Glaubst du?", fragte ich.

„Jeder glaubt was, … und ja, ich kann’s …, also an Gott glauben, meine ich, aber der ist ja auch für die da, die es nicht können. Und du?"

„Ich kann’s nicht, aber ich hab auch nichts dagegen“, sagte ich und verstaute meinen Stock, den ich, während ich sprach, zusammenklappte, in meinem Rucksack. An Lehnen oder Tischen angelehnte Blindenstücke hatten richtig viel Talent immer im falschen Moment von einer Kante zu rutschen, dann umzufallen und auf diese Weise unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Noch mehr hasste ich es, wenn mein Verräter irgendwo neben mir auf dem Tisch lag und für Sehende den Anschein erweckte, dass ich dauernd alles anfassen wollen würde.

„Willst Psychologie oder Sozialpädagogik machen, hat Nele mal erzählt, oder?“, fragte Leon weiter.

„Na prima, da hat sie ja wohl schon richtig viel über mich ausgeplaudert“, bemerkte ich zickig.

„Was heißt ausgeplaudert? Sie hat uns nur bisschen was über dich erzählt, weil sie sich auf deinen Besuch hier schon mega gefreut hat. Ist das schlimm?", fragte Leon und brachte mich mit seiner ausgleichenden Bemerkung gleich wieder runter.

„Nee, eigentlich nicht schlimm … Ich kann halt nur Gerede über mich nicht so gut ab“, antwortete ich ihm nachdenklich und spürte, dass mich der Klang seiner Stimme und wie er das gerade zu mir gesagt hatte, total von der Konzentration auf meine Umgebung ablenkte.

„Blinden sagt man nach, dass sie misstrauisch seien“, sagte Leon, total offen, ohne jede Aggression in seiner Stimme und schaffte es mich damit zu verblüffen. Im ersten Moment war ich mir gar nicht im Klaren darüber, ob ich sauer werden, oder ob ich sein unbeschönigt wirkendes Wesen in Verbindung mit der Direktheit, mit der er mit mir kommunizierte, lieber gernhaben wollte.

„Berlinern sagt man nach, dass sie bisschen direkt unterwegs sind, oder?“, antwortete ich ihm ich schnippisch.

„Oh ja, damit hatte ich, als ich hier neu ankam auch meine Probleme. Aber es wird von Tag zu Tag besser und nur um den heißen Brei herumzureden bringt ja für einen angehenden Seelsorger auch nichts“, sagte Leon und biss in ein knuspriges Brötchen.„Hier Mara, dein Espresso“, hörte ich in dem Moment Sophie sagen und fühlte mich richtig gut angekommen.
„Danke, Sophie, coole Clique …“, antwortete ich und spitzte dabei meine Ohren, um abzuspeichern, wo sie meine Tasse vor mir abstellte, aber richtig konzentrieren konnte ich mich nicht mehr darauf.

„Er ist ein Mann“, hörte ich meine innere Stimme. „Mara, was soll das? Pass lieber auf, was du machst ..."

„Ja, besonders Leon, der kann prima zuhören und hat für gelegentliche Problemchen immer das passende Wort“, sagte Sophie während sie sich mit Jona wieder zu uns setzte.
Problemchen? ... leicht gesagt, dachte ich ... ob Nele hier auch schon verraten hat, dass ich noch immer in einem falschen Körper lebe?

„Hhm ...“, sagte ich und wartete, ob Leon etwas dazu sagen würde, während ich nach meinem Espresso greifen wollte, aber dann war es schon passiert. Scheppernd kippte mein Tässchen, nachdem ich es mit meinem Handrücken am Rand gestreift hatte, um und zerschellte gleich darauf mit einem schrillen Klirren auf den Fliesen des Fußbodens. Die Stille, die den Raum gleich nach meinem Missgeschick erfüllte, gab mir den Rest.
„Ich hab's noch gesagt“, sagte meine innere Stimme zu mir, „Das hast du nun davon. Natürlich starren sie jetzt alle auf das blinde Huhn, das nicht mal mit einem Espresso klarkommt, ohne etwas zu zerdeppern. Das kommt nur davon, dass du dich nicht darauf konzentriert hast, was du machen wolltest. Und alles nur wegen Leon ..., war's das wirklich wert?"
"Nein, es war wegen Mila, wehrte ich mich mit einer Mischung aus Zorn und Frust gegen meine innere Stimme und kämpfte mit den Tränen.
„Quatsch, es war nicht wegen Mila. Ich spüre die Schmetterlinge in unserem Bauch so deutlich wie du. Fang jetzt bloß nicht an zu flennen, sondern steh halt einfach zu deinen Gefühlen, nachdem du uns schon so blamieren musstest."

„Woran hast du denn gerade gedacht, Mara?“, fragte Leon ganz ruhig. „Da war doch was …, das hab ich dir angesehen …, etwas, das dich bedrückt, oder?“

„Ach, schon gut … so etwas passiert Blinden halt manchmal“, sagte ich kleinlaut und hörte, dass Sophie und Jona ohne Hektik zu verbreiten aufgestanden waren. Das Geklapper und Gemurmel setzte gleich danach genauso wie beim ersten Mal so schnell wieder ein, dass ich mich schneller als ich dachte, wieder fing. Einen Augenblick später, als er weiterfragte, realisierte ich, dass ich mit Leon ganz alleine am Tisch saß und er diesen Moment geschickt dafür nutzen wollte, um mir etwas zu signalisieren.

„Das nehme ich dir nicht ab“, sagte Leon zwar weich, aber in einem Ton, der mir klarmachte, dass ich erst gar nicht versuchen brauchte, ihm etwas vorzumachen.

„Jetzt red schon“, drängte mich meine innere Stimme. Reden tut gut, auch mit jemand über Mila reden, tut uns gut. Dass du mit Leon, jetzt und hier, vor allen anderen, nicht gleich über die Schmetterlinge in unserem Bauch reden magst, verstehe ich ja noch, aber …

„Hier ist ein neuer Espresso für dich, Mara“, sagte Sophie und stellte ihn an die gleiche Stelle wie den ersten vor mir auf den Tisch, den Jona vorher ohne Worte mit einem Lappen abgewischt und danach die Scherben zusammengekehrt hatte. Die zweite Chance verpatzte ich nicht und das Vertrauen, das ich daraus gewonnen hatte, wie souverän hier alle mit mir und meinem Patzer umgegangen waren, fühlte sich echt gut an. Es half mir dabei, über viele Dinge zu reden, die ich bisher alleine mit mir herumgeschleppt hatte. Die Zeit bis nach zwölf Uhr verging wie im Flug und es tat mir wirklich gut, meinen neuen Freunden von Mila, meiner ersten und besten Freundin zu erzählen. Als ich ihnen davon erzählte, unter welchen mysteriösen Umständen sie dann plötzlich wie vom Erdboden verschluckt völlig unverhofft aus meinem Leben verschwand, stockte allen der Atem. Dass mir und meiner Mutter wegen des Augenkrebsgens, das sie mir vererbt hatte, schon im Kleinkindalter beide Augen entfernt werden mussten, machte die Zuhörenden mehr als nötig betroffen. Ich musste ihnen erst erklären, dass meine noch immer nicht stattgefundene geschlechtsangleichenden Operation, bei der meine Mutter mich noch bis vor Kurzem nicht unterstützen wollte, für mich ein viel größeres Problem als meine Blindheit ist.

 

 

 

***

 

 

„Hey Mara!“, hörte ich Nele plötzlich rufen und voller Freude von der Tür auf mich zustürmen.

„Hi, Nele, ich freu’ mich auch mega …“, rief ich ebenfalls, schnellte von meinem Stuhl hoch und schaffte gerade noch die Drehung, bevor wir einander stürmisch in unsere Arme flogen. „… Tut mir leid wegen gestern, aber du weißt ja, wie sehr ich spontane Abenteuer liebe", flüsterte ich ihr in ihr Ohr und genoss den frischen Duft ihrer Haare.

„Kein Problem, hast mir ja noch rechtzeitig geschrieben. Dass ich mich um dich, genauso wenig wie um meinen blinden Bruder Marc sorgen muss, weiß ich doch längst zu gut. Hat dich mal wieder der Hafer gepikst?", fragte Nele und drückte mich dabei weiter ganz doll.

„Und wie …“, platzte es aus mir heraus.

„Sorry, dass ich dich nicht gleich nach deiner Ankunft hier selbst begrüßen konnte, aber wie ich sehe, fühlst du dich in unserer Clique auch ohne mich schon recht wohl“, sagte Nele. Dabei blickte sie mit einer gespielt streng hochgezogenen Augenbraue über meine Schulter hinweg und streifte Leon, was ich ihrer Mimik, weil sie ihre Schläfe während dessen noch immer an meine Wange gepresst hatte, deutlich entnehmen konnte, mit einem schnellen Blick.

„Wenn meine Freundin Mara ihre autarke Mobilität spontan unter Beweis stellt, haben nämlich nur diejenigen schlechte Karten, die sie mitleidig bremsen, oder aufhalten wollen.“

„Glaub ja nicht, dass ich das nicht mitbekomme, wenn jemand hinter meinem Rücken Grimassen zieht“, sagt ich und knuffte Nele dabei frech.

„Seelsorge kommt halt gut an“, sagte Leon.

„Puh …, und das nicht nur bei Mara. Eigentlich müsste ich nämlich noch bisschen büffeln, aber spätestens um neunzehn Uhr, will ich durch sein und dann endlich auch selbst etwas mit Mara unternehmen", sagte Nele mit einem fragenden Unterton in ihrer Stimme, der verriet, dass es Ihr etwas peinlich war, mich gleich wieder alleine lassen zu müssen.

Dafür, dass Nele wegen ihrer anstehenden Prüfung etwas knapp mit ihrer Zeit dran ist, hab ich ja vollstes Verständnis, dachte ich. Voll angefressen fühlte ich mich plötzlich aber wegen etwas ganz anderem.

„Seelsorge?“, fragte mich meine innere Stimme. „Leon, als Aufpasser, als Anstandsboy oder als …?“, weiter kam sie nicht, weil ich ihr, in mich selbst grimmig zurück brummend, schroff ins Wort fiel.

„Wenn ich einen Führhund haben wollte, hätte ich doch längst einen …“, aber bevor ich Nele zickig anblaffen konnte, hörte ich wieder Leons Stimme

„Also, wenn du magst, Mara …, ich muss nicht büffeln …“, sagte Leon weich und unaufdringlich, „ … und ich würde auch gerne noch etwas mehr Zeit mit dir verbringen."

Ja, gern. Das Umfeld hier bisschen zu erkunden, hatte ich mir eigentlich schon für heute Vormittag vorgenommen. Da hab jetzt voll Bock drauf und bisschen Bewegung kann nach so einem ausgiebigen Frühstück auch nicht schaden. Wenn du mich dabei begleiten magst, nehm ich dich gerne mit“, sagte ich keck und löste mich aus Neles Umarmung.

„Prima, dann nehm ich mir noch ’nen starken Kaffee mit und verschwinde gleich zu meinen Büchern“, sagte Nele und rief uns über ihre Schulter noch zu, „ um neunzehn Uhr, dann wieder hier, ok? … und dann zusammen kochen, oder wo essen gehen?"

„Ja klar, und jetzt troll dich und sei schön fleißig“, foppte ich Nele und wendete mich wieder Leon zu.

Orientierung

„Na was ist? … von mir aus kann’s losgehen, Leon“, sagte ich und ließ unternehmungslustig meinen Stock auf klackern. Diesen hatte ich schon kurz vorher aus meinem Rucksack heraus gefummelt, den ich mir während des Aufstehens, ungeduldig und total neugierig auf die anstehende Tour voll Freude auf meinen Rücken schwang.

„Geh nur, Mara“, sagte Leon und ich hörte, dass er mir mit einer ausholenden Geste wie ein Gentleman die Tür zum Treppenhaus wies, in dem rechts der Speiseplan hing. Den Weg zum Bürgersteig zurück kannte ich ja schon. Zumindest bis zu der Stelle, an der ich aus dem Taxi ausgestiegen war.

„Zum Aldi einen Rotwein kaufen und dann hinter der Bambachstraße gemütlich in Grüne, ok?“, sagte ich ganz lässig im Vorbeigehen und protzte damit, dass ich die Umgebung im Rahmen meiner Reisevorbereitung gut gecheckt und mir Wichtiges eingeprägt hatte. Dass Leon mich einfach so, ohne dazwischenzufunken, an sich vorbeizischen ließ, bockte mich voll. Gleich, nachdem ich mit der Kugel an meiner Stockspitze den Bordstein gefunden hatte, drehte ich mich nach links und gab so etwa vierzig Schritte richtig Gas. Erst als ich eine Lücke zwischen den parkenden Autos hörte, die mir gut genug für die Überquerung der Silbersteinstraße schien, wartete ich auf Leon.

„Ausgetobt?“, fragte er nur und legte mir seinen Arm so zärtlich um meine Schulter, dass mir fast die Luft wegblieb. Aber dann verblüffte er mich erst recht, als ich spürte, wie seine Hand sich oberhalb meines Ellenbogens um meinen Oberarm schmiegte und mich dort so elektrisierte, dass mein ganzer Körper in Wallung geriet.

„Komm, führ mich rüber, Mara. Ich lass’ auch meine Augen zu“, sagte Leon nur.

„Bitte jetzt nicht blöd anfauchen …“, mahnte mich meine innere Stimme streng.

„Ich hab doch gesagt, dass ich dich gerne mitnehme, Leon“, sagte ich grinsend, hauchte ihm einen flüchtigen Kuss auf seine Wange und marschierte, als weit und breit kein Auto in Hörweite war, los. Leon ließ sich von mir das Gemüse am Eingang erklären und versuchte sich ungeschickt, aber total putzig, mit geschlossenen Augen mit den Tütchen, die dort für frisches Gemüse auf kleinen Ständern auf die Hände von Kunden warteten. Die Waagen fand er natürlich nicht ohne meine Hilfe und kämpfte einen weiteren aussichtslosen Kampf mit den Tasten, auf denen die Symbole und die Nummern für die Gemüsesorten aufgedruckt waren.

„Gut gemacht, Leon, aber jetzt ist es Zeit für einen weiteren Rollentausch“, gab ich dann, für Leon vielleicht etwas überraschend, aber überglücklich von mir und kuschelte mich an seine Schulter.

„Echt jetzt? … ", fragte er mit einem sich fast unsicher anhörenden Grinsen in seiner Stimme zurück, während er mir dabei zusah, wie ich meinen Stock wieder in meinen Rucksack stopfte.

„Die Waagen sind leider nicht barrierefrei. Wenn ich alleine einkaufen bin, muss ich mir hier auch von jemand helfen lassen, aber dafür hab ich heute ja dich schon dabei."

„Also nur für die Waagen …?“, hörte ich Leon mit gespielter Enttäuschung fragen.

„Nee, auch für den Rotwein“, antwortete ich grinsend, um den beginnenden Flirt im Fluss zu halten und hakte mich bei ihm wie bei einer meiner Freundinnen unter.

„Zur Bambachstraße, dann auch ohne weiteren Rollentausch …?“, fragte Leon mit einem prickelndem Vibrieren in seiner für einen Mann untypisch weich und warm klingenden Stimme. Dabei befreite er sich zartfühlend aus meinem Arm, um mir gleich danach seinen Arm so über meinen Rücken um mich herum zu legen, dass er mich beim Gehen mit seiner Hand oberhalb meiner Hüfte streicheln konnte. Von der schon etwas erogenen Zone, an der er mich dort berührte, schlichen sich mir in wiederkehrenden Wellen wohlige Schauer durch meinen ganzen Körper. Meine Muskulatur reagierte nicht nur an dieser Stelle lustvoll auf den Mann an meiner Seite, dessen Körper sich aufregend sportlich, also total sexy und so gut trainiert wie mein eigener Body anfühlte. Meinen Begleiter, dessen Bariton in meinen Ohren wie eine zauberhafte Melodie mit meinen Gefühlen spielte, stellte ich mir mit breiten Schultern und mit einem sexy Dreitagebart vor. Nur Sekunden später wurde mir plötzlich klar, warum ich, seit ich diese Stimme zum ersten Mal gehört hatte, wieder dauernd an Mila denken musste. Leons Stimme war es, die mich an sie erinnert hatte. Sie klang fast so rauchig warm und weich wie ihre. Im selben Moment erinnerte mich, mein kleines Problem, das in der engen Jeans, die ich trug, trotz der Hormone, die ich nahm, daran, dass ich auch dort schon merklich auf Leons Zärtlichkeiten reagierte und brachte mich erneut zum Grübeln.

„Du solltest ihm reinen Wein einschenken, mit ihm vorher über unsere sexuelle Orientierung reden …“, mahnte mich meine innere Stimme. „Auf dem Weg zur Baumbachstraße, hätten wir dazu eine prima Gelegenheit“, und ich spürte, wie sich mein Körper sofort unangenehm versteifte.

„Hey Mara, was ist denn …?“, fragte Leon kurz bevor wir mit dem Rotwein, von dem er mir, weil er diesen als Überraschung für uns ausgesucht hatte, nicht gleich mehr verraten wollte, die Kassen erreichten. Im Vorbeigehen hatte er, wie ich hörte, auch noch einen Beutel Chips und eine Dose Nüsse mitgenommen.

 

***

 

Nachdem wir die Bambachstraße verlassen und den Kinderspielplatz, der sich dort befand, überquert hatten, waren wir noch etwas über vermoostem Gras weitergegangen. Hoch über uns säuselte, in den Kronen alter Bäume, die dem Ort, an den Leon uns gebracht hatte, eine besonders romantische Atmosphäre verlieh, friedlich der Wind. Auf einer Art Lichtung hatten wir hinter einem Buschwerk, eine gemütliche Holzbank gefunden. Während Leon mit seinem Taschenmesser die Rotweinflasche öffnete, erklärte er mir, dass die Büsche uns perfekten Sichtschutz böten. Ein idealer Ort, an dem wir ungestört reden konnten, verrieten mir die Umgebungsgeräusche, die nach Natur pur und nach behaglicher Einsamkeit klangen. Sogar die Geräusche der Großstadt, die mich immer noch faszinierten, verloren sich im Hintergrund dieser Idylle. Wir saßen einander ein Bein links und das andere rechts der Bank im Reitersitz gegenüber und ich hörte, wie sich der Wein in die Pappbecher ergoss. Das leise Gluckern wurde, als ich die Chipstüte aufriss und mit der Öffnung nach oben zwischen meinen gespreizten Beinen abstellte, kurz von dem Zischen der Naht und dem Knistern des Plastiks übertönt. Danach saßen wir beide noch eine kleine Weile still da und ich ahnte, dass Leons Augen mit neugierigen Blicken mein in der Herbstsonne strahlendes Gesicht abtasteten und schenkte ihm vorsichtig ein etwas scheues Lächeln. Außer den Chips standen jetzt nur noch die beiden Becher und die Dose mit den Nüssen, die ich nach der Chipstüte auch noch geöffnet hatte, zwischen uns. Die Flasche, hatte Leon nach dem Ausschenken in dem weichen Gras, das die Bank umgab, abgestellt und so schon etwas außerhalb unserer Reichweite in Sicherheit gebracht.

„Ohh, wie schön herb der duftet …“, sagte ich und streckte Leon, dem ich mittlerweile etwas weiter auf die Pelle gerückt war, meinen Pappbecher zum Anstoßen entgegen. „Ein Italiener, oder?“

„Montepulciano, 2019, … aus der Toscana“, gab mir Leon, nachdem wir getrunken hatten, zur Antwort und beugte sich vor, um mir seine Arme um meinen Nacken zu legen.

„Aaahh, das tut mega gut, und der Wein ist auch genau mein Geschmack“, sagte ich und legte meinen Kopf in den Nacken. Die erdigen Aromen des Weins entfalteten sich auf meiner Zunge und der Wind säuselte wie Musik in meinen Ohren, als ich kurz darauf zum ersten Mal Leons Lippen und ein zärtliches Knabbern an meinem Hals spürte.

„Du Leon, …“, sagte ich und stockte dann wieder.

„Pssst …, keine Angst“, hörte ich ihn leise flüstern, während er mich zwar zärtlich, aber doch so fest zu sich zog, dass mein aufgepolsterter Sport-BH, sich verräterisch gegen seine Brust presste.

„Du hättest Zeit genug gehabt“, sagte meine innere Stimme zu mir und mir schwanden fast die Sinne. Leons Lippen waren viel weicher und heißer als seine Fingerkuppen, die unter meinem Oberteil, über dem Verschluss meines BHs, auf der nackten Haut meines Rückens kreisten. Nach einem leidenschaftlich langen Kuss mit viel Zunge, schaffte ich es gerade noch, mit einem gewagt großen Schluck meinen Becher auf einen Zug auszutrinken. Danach ließ ich den Becher einfach neben mir ins Gras fallen, bevor mir getrieben von unbändiger Lust alle Sicherungen durchbrannten und ich mich nach vorn auf Leons Körper warf. Er kippte sofort nach hinten um und die Chips, die ich unter mir begrub, knirschten bröselig zu dem kurzen dumpfen Plumpsen der Nussdose, die irgendwo im Gras landete. Uns wild durch unsere Jeans aneinander reibend tobten wir eng umschlungen begleitet vom Schmatzen unzähliger ekstatischer Küsse hin und her drehend auf der Bank. Wir vergaßen Zeit und Raum und ich kam erst wieder zu klaren Gedanken, nachdem sich mein kleiner Kerl in meine Jeans ergossen hatte. Als ich noch überglücklich nach Luft ringend in Leons Arme lag, stellte ich mit Vergnügen fest, dass auch seine Jeans im Schritt genauso durchgeweicht wie meine war.

„ … und jetzt mag ich dich auch mal ansehen", sagte ich neugierig und rappelte mich auf, um meinen Prinzen splitternackt auszuziehen. Dass er keinen Dreitagebart hatte, war mir schon vorher nicht entgangen. Im Eifer des Gefechtes war ich jedoch viel zu abgelenkt davon, mich darüber zu wundern, dass sich sein Gesicht genauso zart, weich und glatt wie die Gesichter von Mila und mir anfühlte. Leons Männlichkeit ragte noch immer imposant auf und ich fragte mich für einen kurzen Moment, ob er vielleicht noch immer nicht genug hatte. Aber dann, als ich entdeckte, dass er sich zwischen seinen Beinen, direkt unter seinem prachtvollen Luststab, nicht wie ein Mann, sondern wie eine Frau anfühlte, stutzte ich.

„Bist du etwa schon weiter als ich, weil dir da deine Nüsse komplett fehlen?“, stotterte ich und fragte mich, was mit Leon passiert sein konnte.

„Nicht erschrecken Mara, als ich fünfzehn Jahre alt war, musste ich auch einen Krebs besiegen, nur etwas weiter unten als du“, sagte Leon total ruhig und fügte hinzu. „Die Ärztin sagte damals zu meinen Eltern und zu mir nur recht kühl, 'Sex ist nicht alles'. Dass es so auch noch geht, verstand ich erst einige Zeit später, aber da war ich meine erste Freundin schon los", erzählte mir Leon und gab mir einen ganz lieben Kuss.

„Die verdient kein Mitgefühl“, platzte es zornig aus mir heraus und ich streichelte dabei voller Zuneigung meinen Prinzen. „Nur schade, dass sie nicht weiß, um was für einen coolen Mann sich die blöde Kuh gebracht hat“, ergänzte ich dann noch mit ehrlich gemeinter Gehässigkeit.

„Mara, du bist die tollste Frau, die ich kenne“, sagte Leon und küsste mich erneut sehr zärtlich, bevor wir damit begannen uns wieder anzuziehen.

„Jetzt aber flott, wir sind schon viel zu spät dran. Nele macht sich vielleicht schon Sorgen um dich …", hörte ich Leon sagen, während wir schon hastig in unsere Klamotten sprangen.

„Bestimmt nicht, vorher sorgt sie sich eher um dich …“, scherzte ich neckisch und knuffte Leon frech in seine Rippen.

„Weißt du Leon, dass das bei dir, so wie du bist, noch so gut funktioniert, ist für mich auch aus einem ganz anderen Grund ’ne total neue, sogar ’ne echt coole, Erfahrung“, sagte ich, während wir uns mit schnellen Schritten auf dem Rückweg befanden.

„Wie meinst du das denn jetzt?“, fragte Leon mit einem skeptischen Unterton in seiner Stimme und legte noch einen Zahn zu.

„Na ja, wenn ich die Geschlechtsangleichung meines Körpers machen lasse, muss das bei mir ja dann auch so ähnlich wie bei dir passieren und eine Psychologin hat meiner Mutter mit dem Gefasel von Verlust der Libido mächtig Angst gemacht. Das war auch der Grund, warum meine Mutter sich so lange so quer gestellt hat", sagte ich, während wir inzwischen schon wieder durch die Bambachstraße weiter zurück hetzten.

„Na dann ist ja alles gut“, sagte er und schnaufte aus.

„Was hast du denn gedacht, wie ich das sonst gemeint haben könnte?“, fasste ich nach, weil mich seine komische Reaktion und diese Hin und Her Fragerei im Nachhinein jetzt doch irritiert, oder anders ausgedrückt neugierig gemacht hatte und blieb unverhofft stehen. Irgendwie hatte ich plötzlich das Gefühl Leon unbeabsichtigt zu nahegetreten zu sein, oder ihn gar ohne böse Absicht irgendwie gekränkt zu haben.

„Na komm schon, was ist?“, sagte ich, zog ihn dicht an mich heran und schlang zärtlich meine Arme um seinen Oberkörper.

„Hm, ich dachte, es hätte ja auch so sein können, dass du nach der Erfahrung mit mir, wie du den schönen Sex, den wir gerade zusammen hatten, etwas nüchtern beschrieben hast, etwas anderes gemeint haben könntest. Zum Beispiel, dass du dabei eine Art Fetisch für Männer wie mich in dir entdeckt haben könntest", sagte Leon recht trocken, während er meine Umarmung innig erwiderte.

„Wie? Willst du mir etwa sagen, dass du meinst, dass es Frauen gibt, die darauf stehen?", blaffte ich ihn an, schob ihn rüde von mir weg und war richtig sauer darüber, dass er mir zutraute solche widerwärtigen Gefühle entwickeln zu können.

„Hey, hey, Mara! Komm mal wieder runter und sei nicht so empfindlich. Ob es Frauen gibt, die sowas mehr anmacht, als wenn noch alles dran ist, kann ich dir nicht sagen, aber bei Männern sind es mehr als du dir das im Moment vorstellen willst. Darf ich … ?", sagte Leon und nahm mich vorsichtig wieder in seine Arme.

„Macht dir das denn gar nichts aus, Leon? Mich hatte eigentlich nur der skeptische Unterton in deiner Stimme dafür sensibilisiert, dass ich dich mit meinem Satz unabsichtlich verletzt haben könnte", antwortete ich, legte meine Arme erneut um ihn und drückte meinen Kopf gegen seinen Hals, während ich versuchte meine Gedanken neu zu sortieren.

„Ach Quatsch, Mara. Meine Klöten sind ja nicht erst seit gestern weg. Ich hab mich damit so arrangiert wie du auch und das Beste, was ich daraus machen konnte, macht mir richtig Spaß."

„Aber ich hab doch Skepsis in deiner Stimme gehört?“, flüsterte ich zweifelnd weiter.

„Du bist sehr feinfühlig, Mara. Unseren schönen Sex als Erfahrung zu bezeichnen, fand ich halt nicht so gut, aber verletzt hast du mich damit kein bisschen. Was ich dir eigentlich sagen wollte ist, dass anders sein nicht nur schön, sondern auch sexy sein kann, richtig sexy, so ähnlich wie ein Magnet", sagte Leon und streichelte mir dabei zärtlich mein Haar.

„Mit Magnet meinst du Fetisch, oder?“, fragte ich leise.

„Ja und nein, Mara. Wir können es auch Bedürfnisse und deren Befriedigung nennen", flüsterte Leon in mein Ohr und knabberte dabei an meinem Ohrläppchen.

„Der Sex mit dir war wirklich schön, Leon. Komm, wir müssen weiter", sagte ich und hakte mich bei ihm unter. Während wir weiter hasteten, sagte Leon in einem Ton, als würde er mit mir gerade über das Wetter reden. „Jetzt fehlt dir nur noch der Vergleich."

„Du wärst nicht enttäuscht?“, fragte ich verdutzt.

„Nein, warum denn? So wie ich bin, muss ja nicht jedem sein Ding sein. Mir reichen diejenigen, die es sowie ich bin anturnt absolut aus", sagte er so selbstsicher und so weich, dass ich sein souveränes Grinsen deutlich hören konnte.

„Der Vergleich fällt mir aber, so wie ich bin, nicht in den Schoß“, sagte ich nachdenklich und ließ während des Weiterlaufens meine Gedanken fliegen.

„Trau dich nur. Wenn du es zulässt, wirst du dein Liebesleben genauso autark in den Griff bekommen, wie du es auch geschafft hast, dich ohne andere in deiner Welt zu orientieren", sagte Leon und machte an einer Hausecke eine Drehung.

„Ich meinte damit, dass ich 'ne Blinde bin“, versuchte ich klarzustellen.

„Mach’s wie ich“, sagte Leon und knuffte mich frech.

„Wie, du meinst, das gibt's auch als Fetisch?“, blaffte ich ihn unüberlegt und bisschen zu heftig an.

„Bei Männern weiß ich’s aus eigener Erfahrung und bei Frauen weiß ich’s nicht wirklich“, sagte Leon und ich war kurz davor ihm eine zu scheuern, aber wollte mich dann doch lieber beherrschen.

„Dich geilt also auf, dass ich blind bin?“, sagte ich trocken und wollte meine Botschaft so cool und lässig verpacken, wie Leon das tat, wenn er darüber sprach, dass er nichts gegen Leute hatte, die es anmachte, dass er kastriert werden musste.

„Das wäre eine zu starke Vereinfachung, aber wie du guckst, turnt mich schon richtig cool mit an“, antworte mir Leon grundehrlich und ich glaubte ihn dafür am liebsten erwürgen zu wollen.

„Ich kann aber doch gar nicht gucken“, entgegnete ich ihm mit einem schelmischen Unterton in meiner Stimme und legte dazu das schrägste Grinsen in mein Gesicht, das ich mir gerade noch so abringen konnte, während ich die Coole übte.

„Ich schon und du könntest mir ja auch einfach glauben, dass es mega sexy aussieht, wenn du so tust, als ob du es könntest und mir jetzt einfach einen Kuss geben“, sagte Leon, der so plötzlich wie ich vorher auch, einfach völlig überraschend stehengeblieben war. Sein Atem fächelte über mein Gesicht und ich hätte ihn vor Freude mit Haut und Haaren fressen können. Der Mann, in dessen Arme ich mich erneut warf, hatte eine knallharte, direkte Seite und eine zartfühlende, die ihm treffsicher suggeriert hatte, dass er besser mir die Initiative für das Versöhnungsangebot unserer Zungen überlassen hatte.

„Red doch da mal mit Nele drüber, eine zweite Meinung kann bestimmt nicht schaden“, sagte Leon. „Du musst schon bisschen aufpassen, dass es bei dir danach nicht so wie bei den Haremswächtern, der barbarischen Araber endet. Die haben ja nur deshalb unten alles radikal abgemacht bekommen, weil es ohne die Bällchen, bis aufs Junge machen alles auch unten ohne noch prima geht. Bei mir ist es ja wegen des Krebses nur so ähnlich wie bei den Singknaben der mittelalterlichen Katholiken und weil ich schon fünfzehn Jahre alt war, passt ja sogar meine Stimme noch ganz gut zu mir. Denk doch nochmal in Ruhe darüber nach, ob du vielleicht nicht einfach die tolle Frau bleiben willst, die du jetzt schon bist", sagte Leon und machte mich schon wieder richtig nachdenklich.

 

***

 

„Sorry, ist bisschen später geworden“, sagte ich zu Nele und den anderen als ich mit Leon zehn Minuten zu spät bei ihm untergehakt im Speisesal ankam und wir auf den Tisch zustürmten, an dem Nele mit Jona saß. Nele und Jona hatten dort bereits seit einer Viertelstunde auf uns beide gewartet und Nele hatte ihre ganze Überzeugungskraft dafür aufwenden müssen, um Jona klarzumachen, dass ich nicht der Typ Frau war, um die sich jemand sorgen musste. Schon gar nicht, wenn ich nur ein bisschen zu spät kam.

„Ohh, was ist das denn, Mara … ohne Stock? … geht was?", fragte Nele verschmitzt, „So kenne ich dich ja gar nicht“, sagte Nele, als sie sah, dass meine künstlichen Augen wie Sterne leuchteten und ich mich ganz ohne Stock führen ließ, wobei ich prompt etwas errötete.

„War halt ein netter Nachmittag unter Freunden“, sagte Leon und lächelte Nele entspannt zu.

„ … sagt der verheiratete Theologe", antwortete Nele spitz, während ich mich versteifte und mich abrupt von Leons Arm befreite.

„Verheiratet …, Leon …?“, platzte es aus mir stocksauer heraus.

„Ja, mit seinem Freund …“, sagte Nele, die sich plötzlich noch mehr darüber wunderte, was das, was sie sah, zu bedeuten haben konnte, während ich mir den Stuhl zurückzog, dessen Lehne vorher schon sanft meinen Oberschenkel berührt hatte.

„Ja und …“, sagte Leon völlig entspannt, „… Freundschaft ist doch kein Ehebruch, oder etwa doch?"

„Hmm …“, sagte ich stirnrunzelnd, „Sex ist eben nicht alles, oder doch?“, und setzte mich nachdenklich neben Nele an den Tisch.

„Was ist denn so plötzlich in euch gefahren?“, fragte Nele. „Hab ich was Falsches gesagt?“

„Nee, falsch war’s wohl nicht“, sagte ich kühl. „Ist wohl eher sowas wie ausgleichende Gerechtigkeit, dass du nicht nur dazu neigst, ausschließlich Dinge über mich etwas unpassend auszuplaudern, Nele.“

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Nebeltraum

Vorgeschichte Nebelreise

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Nebelstimmen

Fortsetzung Nebelstadt

Nebelstadt

Impressum

Texte: ©Lisa Mondschein
Bildmaterialien: ©pixabay
Cover: ©Fizzy Lemon
Tag der Veröffentlichung: 04.06.2023

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle, die den richtigen Weg für ihre freie Selbstbestimmung und ihre Haltung zu Identität und Sexualität noch am ausprobieren sind.

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