„Mara vertrödle dich nicht, so eine Reise, wie du sie dir vorgenommen hast, muss, wenn man sicher ankommen will, bis ins letzte Detail vorbereitet sein“, sagte Maras Mutter, die sich aus Maras Sicht wie immer über alles zu viele Sorgen machte.
„Ohh Mami, ich habe noch genug Zeit, der Termin bei den Psychologen ist doch erst um elf Uhr und jetzt ist es gerade mal kurz vor halb Neun“, antwortete ich. Sie hörte, dass ich schon bevor sie mich unnötigerweise gedrängelt hatte, auf dem Weg zu ihr war und ließ sich, als ich sie erreicht hatte, liebevoll von mir in den Arm nehmen. Die Uhrzeit wusste ich deshalb gerade so genau, weil ich ihr eigentlich nur ihren sprechenden Reisewecker, den sie mir kommentarlos zwischen die Sachen in meinem Koffer geschmuggelt hatte, zurückbringen wollte. Eigentlich war das zunächst der einzige Grund, weswegen ich mich überhaupt zu ihr in die Küche aufgemacht hatte.
„Oh, da hab ich wohl gerade den richtigen Zeitpunkt erwischt“, sagte ich und tröstete sie. Meine Vorliebe für Abenteuer und dass ich zusammen mit meiner Freundin Mila im Sportverein alles mitnahm, hatte sie schon immer viel Nerven gekostet. Was Abenteuer anging, war ich schon immer tough drauf, vielleicht auch weil ich im falschen Körper zur Welt kam. Ich fühlte mich schon seit ich denken kann immer als Mädchen, aber ich war mutiger als die meisten Jungs in unserer Clique. Vor einigen Wochen hatte mich das Reisefieber gepackt. Die Idee alleine Nele, die Schwester meines Schwimmtrainers Marc, mit dem Zug in Berlin zu besuchen ließ mich nicht mehr los. Seit her, hatte meine Mutter wieder besonders nahe am Wasser gebaut. Meiner ängstlichen Mami Trost zu spenden war kein Problem für mich, nur bremsen durfte sie mich nicht mehr, seit ich mich mit Milas Hilfe endlich aus ihrer Überfürsorglichkeit freigeschwommen hatte. Nur Mlia fehlte mir, nachdem sie nach einem letzten gemeinsamen Grillen mit meiner Mami und mir spurlos abgetaucht war.
„Sei doch nicht immer so ängstlich, Mama“, sagte ich und drückte sie ganz fest.
„Wieso willst du denn meinen Wecker nicht mitnehmen? Ohne geeignete Hilfsmittel machst du es dir doch nur zusätzlich schwer“, sagte sie und ich spürte einmal mehr, wie schwer es ihr fiel, sich von mir zu lösen.
„Weil ich das olle Ding nicht brauche und das alles mit meinem Handy viel einfacher hinbekomme“, gab ich ihr zur Antwort und war schon wieder genervt. Immer wenn sie das Bedürfnis hatte, mir unnötige Ratschläge mit auf meinen Weg geben zu müssen, war ich ganz schnell angefressen und reagierte dann auch oft pampiger als ich das eigentlich wollte.
„Du und dein Handy …“, sagte sie, gab mir einen Kuss und sprach gleich weiter.
„Mir wäre viel wohler, wenn Nele dich wenigstens hier abholen gekommen wäre.“
„Oje Mama! Die Reise von unserer Haustür bis nach Marburg und zurück habe ich doch in den letzten Jahren auch immer gut hinbekommen und dort kam ich auch ohne deinen Wecker gut klar. So gut, dass ich nie zu spät zur Schule kam und sogar ein erstklassiges Abi hinbekommen habe, obwohl ich zwei Klassen übersprungen habe“, gab ich ihr zur Antwort und löste selbstbewusst die Umarmung.
„Berlin ist aber nicht Marburg. Du warst dort noch nie und selbst Sehende, die aus der Provinz kommen, haben oft Probleme sich in dem riesigen Bahnhof zurechtzufinden“, rief sie mir besorgt nach.
„Ich fahre doch über Marburg und danach muss ich nur noch dreimal umsteigen. Wenn ich um 21:54 Uhr am Berliner Hauptbahnhof ankomme, holt mich Nele vielleicht sogar direkt am Bahnsteig ab“, sagte ich, ging in mein Zimmer und klappte meinen Rollkoffer zu.
„Und wenn ich dir eine Fahrkarte für den ICE spendieren würde. Da sitzt du viel bequemer als in den Nahverkehrszügen, die am Wochenende oft hoffnungslos überfüllt sind“, sagte meine Mutter, die mir nachgelaufen war.
„Als ob du schon einmal in den Öffentlichen hättest stehen müssen …“, blaffte ich zurück und zog meinen Koffer an ihr vorbei in die Diele, aber dann hatte ich eine Idee und zeigte mich gleich darauf wieder von meiner besten Seite.
„Du Mami, die siebeneinhalb Stunden Fahrzeit von Marburg nach Berlin kann ich auch noch gut für meine weitere Reisevorbereitung brauchen, das hatte ich eh schon so eingeplant. Wenn ich die einhundertsechzig Euro, von dir aber statt für die ICE-Fahrkarte als Zuschuss zu meinem Taschengeld dazu bekommen könnte, wäre das natürlich riesig und echt lieb von dir. Berlin ist nämlich alles andere als billig“, sagte ich, stellte meinen Koffer noch einmal hin und nahm sie zum Abschied erneut in den Arm.
„Dein Termin bei den Psychologen ist doch erst in über zwei Stunden?“, hörte ich meine Mutter mit Tränen schwerer Stimme sagen und nahm auch ein leises Schluchzen wahr. Ihre Jacke hing an unserer Garderobe, weil bei uns zu Hause alles seinen genauen Platz hatte, immer direkt neben meiner und da kam mir spontan eine coole Idee.
„Das reicht noch für ein gemütliches Frühstück zu zweit“, sagte ich verschmitzt und drückte ihr ihre Jacke in ihre Hände.
„Das ist eine wirklich gute Idee und hilft mir vielleicht auch deine plötzliche Reiselust ein bisschen besser zu verstehen, oder mich wenigstens damit abzufinden, Mara“, sagt sie erfreut, wischte sich mit ihrem Ärmel über ihr verweintes Gesicht und schlüpfte in ihre Jacke.
„Wo willst du denn hin, Mara? Hier geht es doch gar nicht zum Bahnhofscafé, das ist die falsche Richtung“, sagte meine Mutter entsetzt und atmete tief die noch nach Morgennebel schmeckende Herbstluft ein. In ihrer Stimme schwang schon wieder die Sorge mit, dass meine Reise ein schlimmes Ende finden könnte, wenn ich mich sogar schon hier verlaufen würde, wo wir beide alle wichtigen Wege gut kannten.
„Mama! … als ob ich mich hier verlaufen würde“, lachte ich und sagte ihr, dass ich nur noch schnell zum Geldautomaten der Sparkasse wollte, wo ich schon länger mein Schülerkonto hatte. Dort angekommen stellte ich meinen Blindenstock neben meine Füße auf den Boden und klemmt ihn so unter meine Achsel, dass ich beide Hände freihatte. Die Buchse für das Headset hatte ich null Komma nichts gefunden und lies meine Finger gut geübt über die Tasten wirbeln.
„Oje Mara, warum machst du es dir denn nur immer so schwer. Um diese Zeit hätten wir uns doch drinnen einfacher von Herrn Braunstein bedienen lassen können. Der hätte uns auch kleine Scheine gegeben, mit denen man weniger Stress mit dem Wechselgeld hat“, sagte sie und ließ schon wieder ihre Uhr quäken, wodurch ich mich erneut von ihr gedrängelt fühlte.
„Hör doch endlich auf mich dauernd mit deiner Uhr zu nerven, wir haben noch genug Zeit und außerdem geht es am Automaten viel schneller als drinnen, mit dem unnötigen Gelaber und dem ganzen Drumherum sowie den schmierigen Höflichkeitsfloskeln. Kein Wunder, dass du für alles viel länger als ich brauchst, so Technik feindlich, wie du dich organisierst“, antworte ich ihr ungehalten. In Situationen wie diesen hatte ich schon länger keinen Bock mehr darauf, mich von ihr immer noch wie ein kleines Kind behandeln zu lassen und wurde deshalb wieder patzig.
„Mit Technik feindlich hat das gar nichts zu tun, ich rede halt gern mit anderen Menschen“, sagte sie beleidigt, aber hielt dann wenigstens ihren Mund.
„Seit dem Software-Update, helfen dir die Ansagen nicht nur bei der Anpassung der Stückelung. Der Automat kann jetzt sogar auch ganz einfach den Kontostand ansagen. Hier, hör dir’s doch wenigstens mal mit an“, sagte ich, stöpselte mir den In-Ear aus meinem linken Ohr und fummelte ihn in ihr Rechtes hinein, bevor sie sich dagegen wehren konnte.
„Fremdbestimmung mag ich zwar genauso wenig wie du, meine Kleine, aber von mir aus. Es kann ja nicht schaden, mir das auch einmal mit anzuhören. Hast du überhaupt genug Geld, für dein Berlin Abenteuer gespart?“, fragte sie mich schräg und knuffte mich versöhnlich in meine Seite.
„Klar, aber die einhundertsechzig Euro, die der ICE kosten würde, könnte ich schon noch gut brauchen, obwohl ich auch ohne einen Zuschuss von dir nicht meine ganzen Ersparnisse für den Ausflug opfern wollte. Es sind immerhin schon fast achtzehnhundert Euro, die ich auf diesem Konto gespart habe“, sagte ich mit einem stolzen Grinsen in meiner Stimme, das ihr zu verstehen gab, dass ich ihr Friedensangebot angenommen hatte.
„Sechzehntausend, siebenhundert, dreiundsechzig Euro und vierunddreißig Cent“, plärrte uns der Automat kurz darauf völlig emotionslos in unsere Ohren und uns blieb beiden für einen Augenblick die Luft weg.
„Marvi …, sorry …! Mara, wo kommt denn plötzlich das ganze Geld her?“, stotterte meine Mutter während ich noch sprachlos neben ihr stand und fieberhaft darüber nachdachte, was ich jetzt tun sollte.
„Keine Ahnung, Mama, woher soll ich das wissen? Vielleicht ein Fehler von der Bank …, oder von Papa fiel mir dann zum Glück danach noch als besseres Argument ein. Vielleicht ja für mein gutes Abi, oder fürs Studieren in Berlin“, sagte ich gestresst. Dabei hätte mir am liebsten selbst dafür in den Hintern beißen wollen, dass ich ihr meinen Ohrstöpsel aufgedrängt und dann noch unüberlegt die Idee mit dem Fehler von der Bank herausgesprudelt hatte. Das, was nun unausweichlich kommen würde, konnte wirklich jede Menge Zeit kosten und bedeutete, so wie ich meine Mutter kannte, eine Menge Stress anstatt eines gemütlichen Abschiedsfrühstücks.
„Mara, wir müssen dieser eigenartigen Sache sofort mit Herrn Braunsteins Hilfe auf den Grund gehen!“, fuhr sie mich hysterisch an und suchte hektisch nach dem Griff, der links von uns befindlichen Eingangstür zum Schalterraum. Zum Glück war ich schneller als sie und konnte sie daran hindern, so aufgeregt wie sie war, mit mir im Schlepptau unsere Sparkasse zu erstürmen.
„Mara, warum denn um Gottes willen nicht? Oder willst du etwa fremdes Geld behalten, das dir gar nicht gehört?“, fauchte sie weiter und versuchte sich von mir zu befreien. Schon weil ich wegen ihres Ausrutschers mit meinem früheren Namen Marvin, den ich wie die Hölle hasste, schon wieder richtig stinkig auf sie war, fiel es mir besonders schwer mich zur Ruhe zu zwingen. Mich diszipliniert zusammenzureißen, schaffte ich wohl nur, weil ich auf keinen Fall zulassen wollte, dass sie Aufsehen erregte.
„Aber nein, Mama. Geld, das mir nicht gehört, würde ich nie anrühren. Aber wenn es von Papa ist, freue ich mich natürlich darüber“, sagte ich ganz sanft und bemühte mich darum, dass sich meine Umarmung für sie liebevoll und nicht fesselnd anfühlte, obwohl ich innerlich vor Wut kochte.
„Wie sollte denn Papa auf so eine Idee kommen, schließlich haben wir schon jahrelang keinen Mucks mehr von ihm gehört“, antwortete mir meine Mutter mit einem Kloß im Hals und einer weinerlichen Stimme. Jetzt heult sie wieder aus Selbstmitleid, obwohl sie selbst daran schuld ist, dass er sie verlassen hat, dachte ich bei mir und gab mir alle Mühe ihr das jetzt nicht gleich aufs Brot zu schmieren.
„Von deinem Vater? Das kann ich mir nicht vorstellen und wenn die Bank einen Fehler gemacht hat, sollten wir lieber doch gleich mit Herrn Braunstein reden“, sagte sie und ich musste mir etwas Neues einfallen lassen, um Zeit zu gewinnen.
„Aber vorher muss ich noch meine Geldkarte aus dem Automaten nehmen“, antwortete ich ihr und zog sie mit mir von der Tür weg zurück in den „Do it your self“ Bereich, der sich zum Glück noch außerhalb der Schalterhalle befand.
„Aber dann solltest Du unbedingt meinem Rat folgen. Wenn wir jetzt gleich zu Herrn …“, weiter kam sie nicht, weil ich ihr vorsichtig in das Wort ihres halbfertigen Satzes fiel.
„Wieso denn das? Mama. Ich kann doch auch selbst erstmal schauen, woher das Geld überhaupt kommt und außerdem müssen wir eh noch schnell bei meinen Psychologen vorbei. Und für das Café brauchen wir auch noch bisschen Zeit, wenn wir zum Abschied noch gemütlich über dies und das zusammen reden wollen.
„Aber Mara! … und wenn es doch ein Fehler der Bank war und das viele Geld dir wirklich nicht gehört?“, antwortete sie mir verunsichert, weil sie mit Stress noch nie gut umgehen konnte.
„Wenn es ein Fehler der Bank war, werden sie das Geld eh wieder zurückbuchen. Spätestens danach ist dann auch ohne, dass der Braunstein seine wurstigen Finger drin hatte, auch alles wieder so wie es sein soll“, sagte ich grinsend und tippte in Automaten ein, dass ich zweihundert Euro von ihm haben wollte. Kurz darauf gab er mir, so wie ich es wollte, vier Fünfzigeuroscheine aus und piepste, um mich dazu aufzufordern, dass ich meine Karte wieder herausnehmen sollte.
„Mir ist nicht wohl bei der Sache“, pisste meine Mutter mich noch mehr an, aber ließ sich von mir, wenn auch widerwillig, wieder hinaus auf die Straße schieben.
„Weißt du was?“, stellte ich sie vor vollendete Tatsachen und fuhr gleich fort.
„Ich nehme dich jetzt bei den Psychologen einfach mit rein. Danach gehen wir wie geplant ins Café und nach dem Bestellen, schaue ich mit meinem Handy erstmal von wo das Geld überhaupt kam, dann wissen wir wenigstens was wirklich passiert ist.“
„Aber wenn es fremdes Geld ist, gehen wir sofort zurück zu Herrn Braunstein“, murmelte sie und setzte den Weg mit mir grübelnd fort. Die nasskalte Stimmung und das Kondenswasser an den Außengriffen der Türen passten zur Witterung dieses trüben Tages. Es schien immer noch neblig zu sein und auch meine Kleidung fühlte sich klamm an. Meine Stimmung fühlte sich genauso übel wie das ungemütliche Wetter an und meine Reiselust drohte in Richtung Reisefrust zu kippen.
„Hallo Mara, wie immer pünktlich und diesmal in Begleitung?“, sagte eine freundliche Stimme, die nach quirliger junger Dame klang zur Begrüßung.
„Ja, Trixi, jetzt wo alles fertig vorbereitet ist, dachte ich sollte meine Mutter beim letzten Termin auch dabei sein“ und zog wie immer meine Jacke aus. Danach hängte ich sie an die Garderobe neben der Tür. So oft wie ich hier schon war, kannte ich mich gut genug aus, um dafür keine Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen.
„Komm, Mama, gib mir deine Jacke, ich zeige dir auch, wo ich sie hinhänge!“, sagte ich und half ihr.
„Frau Dr. Funke, ist schon frei. Möchtest du mit deiner Mutter gleich zu ihr durchgehen?“, fragte die Quirlige erneut freundlich, während sie flink weiter auf einer PC-Tastatur weiter klickerte. Sie wusste, wie selbständig ich war und respektierte, dass ich gerne alles, was ich ohne fremde Hilfe kann, alleine auf die Rolle bekommen wollte. Nicht nur deshalb mochte ich Trixi so sehr, sondern auch weil sie mich mal zur Seite genommen hatte und mir steckte, dass sie vieles, was ich damals noch vor mir hatte, schon hinter sich gebracht hatte. Sie war so wie ich auch im falschen Körper auf die Welt gekommen und lebt schon seit längerer Zeit als vollständig angeglichene Frau ein glückliches Leben.
„Danke, Trixi, dann gehen wir gleich durch. Es ist die dritte Tür auf der linken Seite, Mama“, sagte ich, während ich nach dem Weghängen unserer Jacken erneut nach meinem Langstock griff, den ich während des Ausziehens wie immer in der gleichen Ecke neben der Garderobe abgestellt hatte.
„Geh nur, ich nehme lieber deinen Arm. Das ist mir lieber, wenn ich mich wo nicht auskenne“, sagte meine Mom und ich schüttelte stumm mit dem Kopf, weil sie im Alltag zu bequem war, ständig ihre Mobilität zu verbessern.
„Komm ruhig rein, Mara“, hörte ich Frau Dr. Funke kurz nach dem Anklopfen von innen durch die geschlossene Tür rufen.
„Hallo Frau Doktor, ich bin heute mit meiner Mutter hier“, sagte ich und begrüßte meine Therapeutin sehr herzlich.
„Hallo Frau Müller, schön, dass sie Mara bei unserem letzten Therapiegespräch begleiten. Keine leichte Entscheidung für ihre Tochter, aber aus unserer Sicht erfüllt sie alle Voraussetzungen für die Operation, die Entscheidung liegt jetzt bei ihr. Aber natürlich erst, wenn sie volljährig ist, außer sie stimmen vorher zu. So will es das Gesetz“, sagte meine Ärztin.
„Dass ich mich damit schwertue, ist ihnen ja bekannt“, sagte meine Mutter und ich schob ihr einen Stuhl links von mir, vor Frau Funkes Schreibtisch hin, ohne mich weiter in das Gespräch einzumischen.
„Mara hat zu diesem Thema klare Linien, weshalb wir ihr das Gutachten zu ihrer Geschlechtsangleichung auch so wie es ist attestiert haben, aber ob das vor oder erst nach ihrem achtzehnten Geburtstag stattfindenden soll, muss offen bleiben. Das liegt jetzt in ihrer beider Hand und nicht mehr bei uns", sagte meine Ärztin und wartete auf einen Kommentar meiner Mutter.
„Ich will ihr ja auch keine Steine in den Weg legen“, schluchzte meine Mutter und schwieg.
„Sie bedrückt vermutlich, dass die Operation unumkehrbar ist“, sagte meine Ärztin zu meiner Mutter und ich wollte schon dazwischen gehen und sagen, dass es schließlich mein Körper ist, aber beherrschte mich dann doch. Das lauter werdende Schluchzen nervte mich total, obwohl mir klar war, dass Frau Dr. Funke den wunden Punkt meiner Mutter getroffen hatte und spürte, dass sie stumm nickte. Dann hörte ich, dass die Ärztin nach den Händen meiner Mutter griff.
„Ihre Tochter ist nicht unsere erste Patientin, die auf diese Weise in ihrem richtigen Körper ankommen darf und die letzte Entscheidung obliegt auch, wenn sie das nicht verantworten wollen, noch lange Zeit danach bei ihr, Frau Müller. Alleine bei ihr. Aber auch dann, wenn sie nicht mehr in der Verantwortung sind, wird ihre Tochter ihre Unterstützung noch brauchen", hörte ich meine Ärztin sagen und war ihr für diese Worte so dankbar wie für alles, was sie schon vorher für mich getan hatte.
„Die Reise, in einen anderen Körper, auf die sich ihre Tochter begeben will, wird auch mit unserem Gutachten nicht einfacher, aber es kann ihr dabei helfen, ihr Ziel glücklicher, als ohne unsere Option zu erreichen“, hörte ich sie sagen. Zum Abschied selbst die Hände der Frau noch einmal zu spüren, die mich verstanden hatte und die meiner Mutter genau das Richtige auf unsere gemeinsame Reise mitgegeben hatte, tat auch mir richtig gut.
„Hast du nicht gehört, was im Überweisungstext steht, Mama, oder soll ich dir den Text noch einmal von meinem Handy vorlesen lassen? Die Überweisung kann gar kein Fehler der Bank gewesen sein, da steht doch alles, was wir herausfinden wollten. Es handelt sich um ein Stipendium, das mir gehört“, sagte ich voller Freude als ich mit meinem Smartphone die Buchungen auf meinem Konto aufgerufen und ihr die Buchung hatte laut vorlesen lassen.
„Ein Stipendium? … Fünfzehntausend Euro? So viel Geld, einfach so?“, hörte ich meine Mutter zweifelnd fragen.
„Klar, Mama, ich habe mich an vielen solchen Ausschreibungen beteiligt, freu dich doch einfach mit mir“, beschwor ich sie und schlug, anstatt weiter in Richtung Bahnhofscafé zu gehen, einer spontanen Idee folgend plötzlich einen Haken. Das Klappern von kleinen schweren Kaffeetassen und das Zischen von heißem Dampf hatte mich an die kleine Bude, die sich im Bahnhof rechts vor uns befand, erinnert. Der Espresso, den sie dort aufbrühten, war nicht nur köstlich, sondern auch schön stark. Ich erinnerte mich daran, dass sich der Löffel beim Umrühren des Zuckers in dem letzten Espresso, den ich hier vor einiger Zeit trank, so anfühlte, als rührte ich in einem labberig dünn gekochten Pudding. Für einen Espresso empfand ich schon das Rührgefühl und den Duft der frisch gerösteten Kaffeebohnen, die hier verwendet wurden, genial. In der Hoffnung, meine Mutter vielleicht mit dem starken Getränk auf andere Gedanken zu bringen, bestellte ich zwei Espressos in Pappbechern. Meine spontane Idee behielt ich aber noch für mich.
„Von einer Stiftung zur Förderung der Inklusion, soviel Geld auf dein Konto? Das kommt mir wirklich komisch vor", sagt meine Mutter immer noch zweifelnd, aber ich merkte, dass ich sie mit meiner Notlüge am richtigen Punkt erwischt hatte und damit hatte ich mein Ziel erreicht. Ohne mir etwas anmerken zu lassen, grübelte ich von meinem schlechten Gewissen geplagt, wie die Stiftung zur Förderung der Inklusion auf mich und auf meine Bankverbindung gekommen sein könnte. In Wahrheit hatte ich noch nie etwas von dieser Institution gehört und um ein Stipendium hatte ich mich auch nirgendwo bemüht.
„Weißt du was? Ich kaufe uns zur Feier des Tages einfach zwei ICE-Tickets nach Berlin und wir frühstücken auf der Reise dorthin zusammen gemütlich im Speisewagen. Wir haben uns doch gerade soviel zu sagen, oder?", sagte ich und nahm sie in den Arm.
„Wie, ich soll mit dir nach Berlin? So eine Reise ohne sorgfältige Vorbereitung ist doch für Leute wie uns unmöglich und ganz ohne Koffer geht das auch nicht", antwortete sie mir total entsetzt.
„Einen Koffer zum Frühstücken, für eine Fahrt mit mir durch den herbstlichen Nebel, wozu das denn? Ich buche dir für deine Rückfahrt einfach ein Ticket mit dem Nightjet. Das ist ein voll cooler Nachtzug mit einem mega guten Service und in den Deluxe Schlafwagenabteilen gibts sogar eine eigene Dusche gleich neben dem Bett. Morgen früh kommst du dann zum Tagesanbruch frisch geduscht und ausgeruht Zuhause an. Und vorher hätten wir endlich mal wieder ungestört Zeit zum Reden“, antwortete ich ihr und riss sie vor Begeisterung über meine neue finanzielle Unabhängigkeit zusammen mit mir in einen Strudel von Gefühlen, denen sie nur schwer widerstehen konnte.
„Mit dem NJ 408, der um 21:51 Uhr, in Berlin im Tiefbahnhof abfährt, kannst du dich im Schlafabteil genauso wohlig wie zu Hause in dein Bett kuscheln und kommst dann am nächsten Morgen um kurz vor halb sieben ausgeschlafen im Freiburger Hauptbahnhof an. Und von dort ist es ja nicht mehr weit bis zu uns nach Hause", sprühte ich euphorisch während ich mir, mit meinem Smartphone, den Internetfahrplan der DB auf meine Ohren gab.
„Ist das nicht sündhaft teuer, so ein Schlafabteil mit einem richtigen Bett?“, fragte meine Mutter etwas perplex.
„Hey, Mama, nein! Das kostet gar nicht so viel wie du denkst und gerade jetzt, wo ich nicht mehr jeden Cent einzeln herumdrehen muss, möchte ich dir einfach ganz spontan etwas Gutes tun. Komm, sei kein Frosch und komm einfach mit“, sagte ich und knuffte sie aufmunternd.
„Freiburg? … und dann auch noch Umsteigen nach Konstanz auf einem Bahnhof, den ich überhaupt nicht kenne?", sagte sie, aber ich spürte schon ein bisschen Reiselust in ihr aufkeimen und ich spürte auch, dass sie mal wieder traurig darüber war, dass sie vieles nicht so spontan wie Sehende machen konnte.
„Aber Mami, das ist doch kein Problem, ich buche dir das mit dem Mobilitätsservice der Bahn. Dann kann gar nichts schiefgehen“, sagte ich, griff zu meinem Handy und wählte die spezielle Nummer, über der Sehbehinderte sich beraten und sich auch Tickets reservieren lassen konnten.
„Hallo …? Ja, ein Ticket für meine Mutter, sie ist blind und ich möchte gerne im Schlafwagen, des NJ 408 eine Fahrt von Berlin nach Konstanz für sie buchen“, sagte ich, nachdem ich die Stimme einer freundlichen Operatorin aus meinem Smartphone gehört hatte.
„Ja, ein Deluxe Abteil, das passt. So eines mit eigener Dusche im Abteil und dann mit dem Mobilitätsservice weiter nach Konstanz", sagte ich.
„Nein, eine Kreditkarte habe ich nicht. Kann ich das Ticket denn nicht mit meiner V-Pay-Card bezahlen?", fragte ich.
Oh, das ist eine gute Idee, dann holen wir das reservierte Ticket nachher im Kundencenter in Berlin zusammen ab und bezahlen es vor Antritt ihrer Fahrt dort vor Ort", erwiderte ich erfreut und legte guter Dinge auf.
„Duftet das hier nicht herrlich, Mama?“, sagte ich als wir im Speisewagen angekommen waren und uns ein netter Bahnangestellter, dem unsere beiden Blindenstöcke gleich aufgefallen waren, an den ersten großen Tisch, gleich neben der Tür zum Servicebereich, führte.
„Machen sie es sich erst mal schön gemütlich und falls sie dann später etwas bestellen wollen oder im Verlauf der Reise sonst wie Hilfe brauchen, sagen sie mir bitte einfach Bescheid. Wenn ich nicht im Wagen unterwegs bin, finden sie mich gleich hier hinter dieser Tür oder vorne an der Theke des Bistros", sagte eine sympathische Stimme, die sich nach einem Jungen, der aus Bayern stammte, anhörte.
„Danke, sehr lieb von ihnen, aber ich würde gerne gleich bestellen. Meine Mutter und ich können schon gut was vertragen", sagte ich recht nett, obwohl es mich schon wieder genervt hatte, dass der Typ es nicht uns selbst überlassen wollte, ob wir jetzt gleich, oder lieber später bestellen wollten.
„Oh, ja gerne, es gibt …", weiter kam er nicht.
„Zweimal das herzhafte Frühstück, und zwar einmal mit Käse und einmal mit Wurst und dann noch zwei Käseomeletts, die mit den Biobrötchen bitte", sagte ich und surfte in der barrierefreien Speisekarte auf meinem Handy weiter zu den Getränken.
„Vor den beiden Cappuccinos, vom Frühstück, hätten wir dann bitte gerne noch ein Rotkäppchen Piccolo mit zwei Sektgläsern, eine Flasche share sprudelnd und einen Rauch Orangensaft. Den O-Saft, dann bitte auch wieder mit zwei Gläsern", sagte ich und lächelte den Typen bisschen keck an.
„Möchten sie zweimal Konfitüre? Es gibt heute Kirsch, Aprikose und Brombeere zur Auswahl, oder soll ich ihnen statt der zweiten Marmelade lieber ein Nutella dazu machen?", fragte unser Kellner so charmant zurückhaltend wie ein englischer Butler zurück.
„Gern alle drei, also von allem, was sie haben etwas, das Nutella natürlich auch dazu und wenn sie haben auch noch ein Töpfchen Honig", antworte ich, schenkte ihm ein Lächeln und genoss es, dass er so schnell kapiert hatte, dass ich lieber selbstbestimmt unterwegs war.
„Danke!“, sagte ich, nahm zuerst die zwei Sektgläser und danach die eisgekühlte Piccoloflasche in Empfang. Die herbe Note der Kohlensäure wehte mir, nachdem ich den Schraubverschluss mit einem feinen Zischen geöffnet hatte, in meine Nase und beflügelte, begleitet von einem sprudelnden Prickeln, erwartungsvoll meine Laune, während ich das kühle Nass in unsere Gläser füllte.
„Hier Mama, aber warte noch einen Moment, wir wollen doch vor dem ersten Schluck noch auf unsere Reiselust anstoßen", sagte ich grinsend und klirrte mit meinem Glas gegen das ihre, das sich noch über dem Tisch befand, weil ich meine Hand zärtlich um ihr Hanggelenk gelegt hatte, bevor ich sie gleich nach dem Anstoßen wieder freigab.
„Auf deine Reiselust", sagte sie lachend und ich spürte, wie glücklich sie jetzt mit unserem Ausflug war, zu dem sie sich ohne mich nicht getraut hätte.
„Und was machen wir, wenn Nele es nicht geschafft hat? Wir sind doch, jetzt, wo wir den ICE genommen haben, viel zu früh da", sagte meine Mutter ängstlich, während sie mir und meinem Rollkoffer mit ihrer Hand an meinem Oberarm bis zur Tür des Speisewagens folgte.
„Nele? Mit ihr treffe ich mich später in dem Studentenwohnheim, in dem sie wohnt, aber vorher begleite ich dich noch zum Kundencenter und wir holen dort zusammen wie geplant dein Rückfahrticket ab. Danach bringe ich dich zu deinem Abteil im Nachtjet. Dort bekommst du dann noch einen Abschiedskuss, bevor du dich ausschlafen und von meiner Reiselust erholen darfst", antwortete ich ihr völlig tiefenentspannt.
„Alleine ohne Nele?“, schrie sie auf und krampfte sich, weil sie plötzlich wieder Angst hatte, viel zu fest an meinen Oberarm. Wir standen schon zwischen anderen Reisenden, die hier auch aussteigen wollten, in einer langen Schlange und warteten auf das Piepsen, der sich gleich öffnenden Türen. Kurz nachdem ich in die Schlange gefragt hatte, ob noch jemand außer uns zum Kundencenter musste, hatte sich auch gleich eine hilfsbereite Frauenstimme gemeldet, die vertrauenswürdig klang. Die Frau, die uns weiterhalf, hieß lustigerweise auch Nele. Sie musste weiter nach Stralsund und hatte während ihres kurzen Aufenthalts in Berlin noch genug Zeit, um mit mir nach dem Abschied von meiner Mutter noch bis zum Taxistand zu gehen.
Texte: ©Lisa Mondschein
Bildmaterialien: ©pixabay
Cover: ©Fizzy Lemon
Tag der Veröffentlichung: 13.02.2023
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Dass Menschen, die sich auf der Suche nach einem selbstbestimmten Lebensinhalt befinden, sich nie aufgeben wollen und für alle, die dabei ohne lästig zu werden, gerne behilflich sind.