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Erleuchtung - Gegenwart -

„Lieb von dir Mara, aber so ist das ja gar nicht für mich“, sagte Susi während Alex im Führerhaus saß und uns mit einer Stretchlimousine in Richtung Schattenglut durch Berlin steuerte.
„Dennoch ist es ein mega schönes Gefühl, von einer so schönen und toughen Frau wie dir tröstend in die Arme genommen zu werden", ergänzte Susi und fuhr fort.

„Aber wegen Pawel brauche ich wirklich keinen Trost. Beifall würde viel besser dafür passen, dass ich ihn das Fürchten vor mir gelehrt habe“, sagte Susi und kuschelte sich wie ein Kätzchen an meinen Hals. Ihre Wärme tat mir gut und ich genoss den schönen Augenblick. Susis weiche Haut hätte mich bestimmt noch länger wohlig erregt, wenn sich mein Körper von dem Schreck, der mich plötzlich durchzuckte, nicht urplötzlich versteift hätte. Das geschah so schnell, dass ich den Reflex, der mich in diesem Moment durchfuhr, nicht mehr hatte beeinflussen können.

„Oh Susi, was ist denn mit dir passiert, hast du denn gar keine Haare?“, stammelte ich total entsetzt und verstand erst Sekunden danach, was ich der tapferen Frau, die ich gerade umarmte, mit dieser unüberlegten Frage angetan haben könnte.
„Nein, aber dafür kann ich seit mehr als acht Jahren wieder Farben sehen, Mara. Dennoch vermisse ich meine rote schwere Lockenmähne noch immer sehr, aber ich … man ließ mir keine andere Wahl“, sagte Susi, ohne dass ich den Hauch einer schmerzlichen Stimmung hätte aus ihrer Sprachmelodie heraushören können.

„Aber was haben deine Haare denn mit deinen Augen zu tun? Selbst dann, wenn dich das gleiche Schicksal wie mich getroffen haben sollte, hätten dir doch auch die höchst dosiertesten Strahlentherapien dein Augenlicht nicht mehr zurückgeben können? Oder hatte dein amputierter Arm nie etwas mit deinen kranken Augen zu tun? In diesem Fall läge ich mit meinen Schlussfolgerungen natürlich total daneben“, sprudelte plötzlich alles Mögliche völlig durcheinander aus mir heraus.

„Ja und nein, aber ich verstehe, dass du es so sehen musst“, sagte Susi und verfiel in einen Vortrag, in dem mir ihre Geschichte im Nachhinein wie der Monolog einer sich neunmalklug darstellenden Irren vorkam.

„So wie du unsere Krankheit in deiner Welt an deinem eigenen Körper erleben musstest, ist deine Sichtweise für mich absolut nachvollziehbar“, antwortete Susi plötzlich sehr überheblich. Ohne eine Pause zu machen, sprach sie sofort in gleichbleibendem Ton ohne Punkt und Komma weiter.

„Deine Schlussfolgerungen sind bis auf wenige Ergänzungen absolut zutreffend. Als ich vorhin beim Drehen im Studio zum ersten Mal deine beiden Glasprothesen gesehen habe, ging es mir in diesem Moment kein bisschen anders, als dir das gerade mit meinem haarlosen Kopf passiert ist. Vielleicht war es sogar gut, dass meine Perücke gerade in dem Moment als du mich so unvoreingenommen gestreichelt hast, ein Eigenleben entwickelt hat und zufällig auf meinem Schädel verrutscht ist. Als ich sah, dass du eine doppelt Enukleierte bist, meinte ich mich in meiner schwersten Zeit mit zwei gläsernen Augen in einem meiner schlimmsten Albträume selbst im Spiegel zu sehen. Das Schlimmste für mich war, dass ich vor Beginn meiner Behandlung für einige Wochen schon so stockblind wie du geworden war“, hörte ich Susis Stimme sagen, bevor sich ihre Tränendrüsen wie Schleusentore öffneten und sie sich plötzlich weinerlich vom Schmerz ihrer Erinnerung an mich klammerte. Susis Stimme war auf einmal nur noch ein dünnes Zittern und Beben und ich spürte, dass ihr eine Menge Tränen, wie Bäche über ihre Wangen rannen. Sie klammerte sich wie Trost suchendes Kind an mich und mir blieb nichts anderes übrig, als auf sie einzugehen und sie mir minutenlang zum Ausweinen an meine Schulter zu drücken. Erst als sich unsere Lippen wiederfanden, traute sie sich mich, wenn auch scheu, erneut zu küssen. Susi war im Gegensatz zu mir dann aber doch wieder schnell entspannt und bemerkte zunächst überhaupt nicht, dass sich bei mir inzwischen ein Stimmungswechsel anbahnte. Die neue Grübelei, die mich ergriffen hatte, kam für mich total überraschend. Urplötzlich war ich in dem Moment, in dem mir bewusst wurde, dass das, was Susi mir gerade erzählte, gar nicht plausibel war, alles andere als weiter voll entspannt.

„Du willst mir also sagen, dass du, so wie du mir meine Blindheit an meinen beiden blinden Glasaugen ansehen kannst, auch selbst mal bisschen blind gewesen sein willst. Auch blind wegen eines beidseitigen Augenkrebses? Genauso blind, wie ich seit der Entfernung meiner beiden Augen blind bin? Vollblind. Genauso soll das bei dir also auch gewesen sein?", fragte ich sie noch etwas nachdenklich zweifelnd, bevor ich sie dann richtig vehement anging.

„Dabei kommt mir nur bisschen komisch vor, dass du im Unterschied zu mir mittlerweile wieder so gut sehen kannst, dass du heute Morgen als Kamerafrau arbeiten konntest?“, fragte ich schnippisch. Dass das, was ich sagte, einen etwas höhnischen Beiklang hatte, war mir in dem Moment so egal, dass ich sofort weitersprach, ohne Susi eine Gelegenheit zur Widerrede zu geben.

„Nur willst du, weil sie dir, im Gegensatz zu mir, deine beiden Augen nicht rechtzeitig dauerhaft herausgenommen haben sollen, auch des gleichen Krebses wegen dazu noch einen Arm verloren haben?“, komplettierte ich für Susi meine sarkastisch formulierten Fangfragen. So misstrauisch und so sauer wie ich mittlerweile geworden war, fand ich es nicht einmal mehr besonders boshaft von mir, Susi mit meinem Fachwissen gleich weiter fies auf die Probe zu stellen.

„Ja, fast genauso war es bei mir am Anfang auch gelaufen“, schniefte Susi und wischte sich mit ihrem linken Arm die letzten Tränen so gut es ging aus dem noch verweinten Gesicht, während ich sie jäh von mir wegstieß. Ihre Geschichte erschien mir plötzlich überhaupt nicht mehr glaubhaft und ich wollte herausfinden, warum sie dieses dumme Lügenmärchen, das sie mir gerade versucht hatte aufzutischen, erfunden hatte. Schließlich wusste ich ganz genau, dass die Krebszellen nur über die Sehnerven in den Körper gelangen konnten. Deshalb war es ja gerade nötig zu stark befallene Netzhäute schnell, also früh genug zu entfernen, um solche Metastasen wie bei Susis Arm noch rechtzeitig verhindern zu können. Dass das Heilen der Netzhäute durch Bestrahlen nur solange funktionierte, wie der Krebs seine Aussaat noch nicht fruchtbar in die Glaskörper der Augen gestreut hatte, war mir vor allem aus Gesprächen mit meiner Mutter schon seit Jahren bekannt. Das ging, wenn die Therapie mit zu viel Verspätung begann, leider nicht mehr mit guten Prognosen, weil die Sehnerven dann schon mit bösartigem Zellgut verseucht waren. Dann half nur noch Augen raus. Die letzte Alternative, die es dazu noch gab, war nur die, scheibchenweise Glied für Glied und Organ nach Organ langsam sterben zu müssen. Deshalb war es aus meiner Sicht im Vergleich die deutlich bessere Option blind und dafür gesund weiter mein spannendes Leben zu leben. Aber genau das hätte bei Susi auch so passiert sein müssen. Die Metastasen in ihrem Arm passten egal wie ich das Blatt auch wendete nicht zu ihrem erfolgreich austherapierten Visus, das war und blieb mir ein Rätsel. In dem Stadium, das Susi mir gerade am Beschreiben war, konnte eine finale Heilung nur noch durch das komplette Herausnehmen beider kranker Augen geklappt haben. Dessen war ich mir schon deshalb absolut sicher, weil mich meine Ärzte genau aus diesem Grund so früh total blind machen mussten. Susi konnte mir viel erzählen, aber wann einem Menschen wegen eines bilateralen Retinoblastoms, sein letztes Auge herausgeschnitten werden musste, wusste ich aus eigener Erfahrung, sicher um einiges besser als diese Geschichtenerfinderin. Ich wusste auch ganz sicher, dass eine Verspätung in der Kette vom Erkennen weiß schimmernder Pupillen auf Fotos bis zum Start der Therapie auch heute noch zu unausweichlichen Konsequenzen führte. Erkrankungen wie meine führten aus diesem Grund, als einziger sicherer Weg zur Vermeidung von Schlimmerem, zwangsläufig weltweit für viele Betroffene Jahr für Jahr zum Verlust einer großen Zahl kranker Augen. Ich hatte keine Ahnung, ob Susi überhaupt wusste, dass sogar die toten Stümpfe der abgeschnittenen Sehnerven, die sich nach dem Herausschneiden der Augäpfel noch an den entfernten Augen befanden, immer erst noch histologisch untersucht werden mussten. Nur ein entsprechendes Ergebnis dieser Untersuchungen konnte die Gewissheit schaffen, dass der Krebs nach den Enukleationen auch wirklich für immer wegbleiben würde. Susi hatte den Fehler gemacht, mir weiß machen zu wollen, dass sie von ihrem Krebs zunächst auf beiden Augen fast so blind wie ich gewesen sein wollte. Entweder hatte sie nicht gewusst, dass das nur bei einem bilateralen Problem so passieren kann oder sie hatte keine Ahnung davon, wie schnell sich der Krebs in die Sehnerven erkrankter Augen hineinfrisst. Natürlich wusste ich, dass es auch Retinoblastom Erkrankungen wie bei dem Showmaster Frank Elstner, oder dem Columbo Protagonisten Peter Falk gab, die als kleine Kinder nur an einem einfachen Retinoblastom und nicht an der bilateralen Variante erkrankt waren. Solche Leute hatten im Vergleich zu mir eben einfach ein bisschen mehr Glück als ich. Wegen ihres gesunden Auges konnten sie, im Gegensatz zu dem, was Susi mir gerade vorgelogen hatte, im gesamten Verlauf der Krankheit zu keinem Zeitpunkt ein bisschen blind gewesen sein. Das frühe Enukleieren zur sicheren Prophylaxe vor Metastasen, war für Leute, die nicht bilateral befallen waren, logischerweise genauso wichtig wie bei mir. Allerdings mit dem kleinen Unterschied, dass ihnen nur ein Auge herausgemacht werden musste. Menschen wie mir sind unsere zwei Augäpfel meistens schon sehr früh komplett entfernt worden, weil sich die bilaterale Form oft rasend schnell in beiden Augen breitmachte. Nur ist es in der Regel so, dass beide Augen vom Krebs schon vor der Operation fast blind oder davon sogar schon total unbrauchbar, so vollblind wie die späteren Glas- oder Acrylprothesen geworden waren. Susis wahre Geschichte, hätte deshalb nur ohne ihre herbei gelogene temporäre Blindheit wahr sein können und genau das machte mich so stinksauer.

„Aber wieso kannst du dann jetzt wieder sehen? Das, was du hier erzählst, kann doch gar nicht sein“, sagte ich mürrisch zu Susi. Ihre ganze Geschichte kam mir auf einmal so erstunken und erlogen vor, dass ich mich von ihr nur noch verarscht und total fies hinters Licht geführt fühlte.

„Nein Mara, so war es ja auch gar nicht“, wehrte Susi ab.

„Dann sag mir doch einfach wie es wirklich war, anstatt mir hier utopische Geschichten zu erzählen“, blaffte ich Susi noch heftiger als vorher an.

„Damals musste ich noch davon ausgehen, dass Pawel mir kurz bevor die Berliner Götter in Weiß mich mit ihren prophylaktischen Retinoblastom-Enukleationen so blind wie dich machen wollten, gerade noch mein letztes Auge gerettet hatte, weil es bei mir, so wie es zunächst schien, doch noch nicht zu spät dafür war. Vielleicht verstehst du jetzt besser, warum ich das Ekel, zu dem er mittlerweile geworden ist, mit anderen Augen als du sehe“, schrie Susi ebenfalls voll verärgert über meine aggressive Konversation mit ihr zurück.

„Pah, sag aber jetzt bitte, nicht, dass ich dir glauben soll, dass dieser fette Prolet in Wahrheit ein Experte der Augenmedizin sein soll. Einer, der mehr als Frau Professor Krassmann von der Berliner Charité auf dem Kasten haben soll?“, erwiderte ich total abgenervt. Dabei rückte ich, weil ich ihre Nähe nicht länger ertragen wollte, noch ein weiteres Stück von Susi weg. In diesem Augenblick war ich nämlich felsenfest davon überzeugt, dass sie wirklich nur eine Lügnerin und keine Betroffene wie ich sein konnte. Eine Lügnerin, die mich, wenn ich ihre Worte nicht vorsichtig und kritisch prüfte, eh nur weiter verscheißern würde. Mich anlügen und mich für dumm verkaufen, das kannte ich schon zur Genüge. Susi war schließlich nicht der erste Mensch, der, weil mich viele oft nur als blindes Dummerchen wahrnahmen, versuchte, mit mir ungestraft solche fiesen Spielchen zu treiben. Das hatte ich nun davon, dass ich zugelassen hatte, dass diese Filmgang mir meine schützende Augenbinde abgeschwatzt hatte, die mich davor schützte, als richtige Blinde enttarnt zu werden.

„Mara, du tust mir Unrecht, aber wenn du es so willst, können wir dich an der Schattenglut auch nur aussteigen lassen. Dann trennen sich unsere Wege dort eben wieder. Dann ist es eben so, wie das öfter im Leben ist, wenn die Menschen es nicht schaffen sich zuzuhören und Vertrauen zueinander aufzubauen“, sagte Susi und fragte mich, ob sie mir nicht nochmal nachschenken solle. Mit diesem abrupten Ende konnte ich schon wegen Alex nicht zufrieden sein und nickte deshalb stumm, um mir wenigstens mein Glas noch einmal auffüllen zu lassen. Etwas Bedenkzeit konnte ja nicht schaden und außerdem hatte Susi auch recht damit, dass ich mir ihre Geschichte auch höflich bis zum Ende  anhören könnte, aber Geduld war noch nie eine besondere Stärke von mir.

„Na gut, ich kann mir deine Geschichte ja auch noch wie in der Märchenstunde bis zum Ende geben, deshalb muss ich sie dir ja noch lange nicht glauben“, brummte ich schmollend vor mich hin und nippte erneut an meinem Sektglas.

„Das klingt jetzt irgendwie nach letzter Chance, aber von mir aus“, antwortet mir Susi wieder mit diesem arroganten Unterton, der sich wie ein schräges Grinsen anhörte.

„Pawel ist natürlich kein Augenmediziner und ja, er ist ein ungehobelter Russe, aber als wir noch Kinder waren, war er nicht besser und auch nicht schlechter dran als ich. Wir lebten beide im Reuterkiez in der Nähe der Hermannstraße in Berlin. Mein Vater war schon früh tot und meine Mutter war schon bevor ich in die Schule kam total dem Alkohol verfallen. Pawel wurde nicht nur Zuhause oft verprügelt und suchte schon früh meine Nähe. Die vier Jahre, die ich jünger bin als er, störten uns damals, obwohl der Altersunterschied in diesem Alter oft blöde Fragen aufwarf, kein bisschen, denn wir verstanden uns einfach beide trotzdem voll gut. Andere Freunde als mich hatte er nicht und ich auch keine anderen als ihn. Pawel wurde schon als er zwölf Jahre alt war zum ersten Mal mit dem Zug alleine in seine alte Heimat nach Luhansk geschickt. Dort musste er Ware für die Geschäfte, mit denen sich seine Familie mehr schlecht als recht über Wasser hielt, auf dem Schwarzmarkt übernehmen und als Kurier verschieben. Lange bevor ich krank wurde, hatte er in seiner Heimat bereits mit einigen Russen gedealt. Als es bei mir in der Schule dann immer schlechter lief, hat er mir sogar eine spezielle Medizin aus seiner Heimat besorgt, die mir schnell half wieder besser zu werden. Das Zeug kam aus einem Labor der russischen Armee und wurde dort erprobt, um die Leistungsfähigkeit von Soldaten zu steigern, aber hier konnte Pawel damals damit auch so schon gutes Geld verdienen. Mir hat er es aber immer einfach so gegeben und ich war ihm lange Zeit auch echt dankbar dafür. Später wurde zuerst mein rechtes Auge krank und ich sah von einer Woche zur folgenden immer mehr wie ein Monster aus. Alle fingen an mich zu meiden bis auf Pawel. Danach fingen in der Schule auch die ersten Probleme mit meinem linken Auge an, weil ich dort beim Lesen an der Tafel immer schlechter klar kam. Zu diesem Zeitpunkt erzählte Pawel mir zum ersten Mal von einem geheimnisvollen Sanatorium in seiner Heimat. Eine Art Sanatorium, in dem etwas Spezielles für Leute mit Sehschwächen, entwickelt werden würde. Deshalb wusste er auch von speziellen Therapien, die in diesem Labor unter höchster Geheimhaltung für das russische Militär erprobt wurden und dass sie dort sogar etwas für Erblindende übrig hätten. Kurz danach überstürzten sich dann allerdings die Ereignisse, nachdem ich mir im Schulsport meinen rechten Arm gebrochen hatte. Nach dem Unfall sollte ich nämlich so wie du auch auf der Station von Frau Professor Krassmann behandelt werden“, an dieser Stelle unterbrach Susi ihre Geschichte, hielt inne, griff dann erneut nach der Champagner-Flasche und fragte mich, ob ich auch nachgeschenkt haben wolle.

„Das hört sich aus meiner Perspektive alles immer noch nicht viel glaubwürdiger als vorher an, weil mir für alles was du sagst bisher jegliche Beweise fehlen“, sagte ich noch mit Spuren von Aggression in meiner Stimme, aber streckte Susi trotzdem meine Sektflöte, entgegen. Die ihrige hatte sie während sie mir ihre komische Geschichte erzählt hatte auch schon wieder komplett ausgetrunken und füllte beide Gläser nach, bevor sie den Faden wieder aufgriff und mit der Erzählung ihrer Geschichte noch abenteuerlicher fortfuhr.

„Mit Pawels Hilfe gelang es mir gerade noch im letzten Moment kurz vor der operativen Entfernung meiner beiden Augäpfel durch Frau Professor Krassman, die Flucht aus Berlin zu ergreifen. Statt des Operationstermins bei ihr flohen wir in die von den Russen terrorisierte Region der östlichen Ukraine in die Nähe von Luhansk unweit der von den Russen geraubten Halbinsel Krim. Mit einem von Pawel gefälschten Arztbrief, der wie eine Empfehlung von Frau Krassmann an die Augenklinik von Luhansk aussah, wollte ich noch rechtzeitig dort unterkommen, bevor jede Hilfe für mein Augenlicht so verspätet kam, dass wirklich nicht mal mehr ein Sehrest zu retten gewesen wäre. Pawel fuhr noch in derselben Nacht mit dem Zug mit mir dorthin los“, erzählte Susi weiter.
„Mir schier endlos vorkommende zwei Tage später holten uns dann zwei russische Offiziere mit einer schwarzen Wolga-Limousine in einem lottrigen Hotel ab, in dem wir ein Dach über unseren Köpfen gefunden hatten. Den Wagen konnte ich zu diesem Zeitpunkt aber nur noch als eine Art neblige Gewitterwolke wahrnehmen, in die man sich als Mensch wie in ein Auto hineinsetzen konnte. Schon bei der Ankunft im Sanatorium konnte ich mich abgesehen von den täglich mehr und mehr schlechter gewordenen Resten meines Sehvermögens wegen immer schneller schwindender Lichtwahrnehmungen nur noch so wie du ausschließlich, an Geräuschen und taktilen Merkmalen orientieren. Dort lernte ich recht schnell, mich auch so hilflos wie ich zu dem Zeitpunkt geworden war in meiner neuen Umgebung zu orientieren. Außer mir gab es dort auch viele andere Blinde, von denen einige das Krankenhaus vor ihrer vollständigen Erblindung noch sehr viel besser als ich gesehen hatten. Diese Patienten konnten den Vollblinden noch gut die Umgebung erklären und übten mit allen so lange, bis sie sich auch wieder selbständig bewegen konnten. Schon nach den ersten zwei Tagen wurde, wie die Russen mir sagten, aus Gründen, die sich aus unserer Verspätung ergeben hätten, klar, dass mir auch die Leute aus Luhansk weder meinen rechten Arm noch mein rechtes Auge lassen wollten. Sowohl die Amputation meines Armes als auch die Entfernung meines rechten Auges liefen dann ziemlich russisch ab und wurden am selben Tag sofort erledigt. Dann wurde ich bis Oberkante Unterkiefer mit hochkonzentriertem Jod vollgepumpt und täglich mit irgendwelchem extrem giftigem Zeug bestrahlt. Mein letztes Auge brannte danach Tag und Nacht wie Feuer und ich war in dieser ganzen Zeit, ob du es mir glauben magst, oder auch nicht genauso stockblind wie du. Aber dann sah ich nach wenigen Wochen plötzlich wieder ersten noch tief schwarzen Nebel, der sich danach von Tag zu Tag immer weiter aufhellte. Die Russen behandelten mich viel besser als ich das nach meinen ersten Reiseerfahrungen von ihnen erwartet hätte und gaben mir unerwartet sogar noch etwas Geld oder besser gesagt Sold dafür, dass ich mich dort so von ihnen behandeln ließ. Das lag daran, dass das Ganze eine militärisch motivierte Geheimsache war. Davon, dass ich, für die Russen, nur eine von vielen anderen Probandinnen war, die dort wie Versuchskaninchen für die Entwicklung von Kampfdrogen und Biowaffen behandelt wurden, ahnte ich zu diesem Zeitpunkt kein bisschen. Die wirklichen Zusammenhänge konnte ich zu diesem sehr frühen Zeitpunkt auch unmöglich erkennen“, sagte Susi und mir blieb vor Schreck erstarrt meine Spucke weg.

Vergangenheit - Rückblende -

„Susanne Strassfeld wartet noch mit ihrer Mutter Frau Professor, dann wären wir für heute durch. Soll ich die beiden gleich reinholen?“ fragte Lena Trautmann, eine junge Assistenzärztin der Charité in Berlin ihre Chefin. Frau Professor Krassmann – noch Mitte fünfzig – nahm ihre Brille ab, rieb sich ihre müden Augen und überflog dann gähnend die letzte Akte des heutigen Tages am Bildschirm ihres Computers.

„So spät noch eine neue Patientin?“, aber dann stutzte sie.

„Wie Lena? Ein bilaterales Retinoblastom, das erst im Alter von zwölf Jahren ausgebrochen sein soll, das kommt mir aber sehr ungewöhnlich vor.“

„Ja, Frau Professor, sehr ungewöhnlich. Normalerweise fällt die Erkrankung so einer Patientin bereits viel früher durch weißlich schimmernde Pupillen auf späten Säuglings- oder auf frühen Kleinkindbildern auf. Aber die Mutter hat steif und fest behauptet, dass Susanne erst vor wenigen Wochen begonnen hat, darüber zu klagen, dass sie in der Schule Probleme damit habe, den Tafelanschrieb scharf sehen zu können. Aber auch das wirft Fragen auf, weil ihr rechtes Auge offensichtlich schon total kollabiert ist. Das sieht überhaupt nicht danach aus, als ob die Kleine nicht schon viel früher in einer augenärztlichen Praxis hätte vorgestellt werden müssen“, berichtete die Assistenzärztin, bevor sie an dieser Stelle von ihrer Professorin mit einem Handzeichen unterbrochen wurde.

„Ein Fall für eine Meldung an das Jugendamt?“, fragte die Chefin knapp dazwischen.

„Das wollten wir nicht alleine entscheiden. Da ist auch noch ein Junge dabei, der sich angeblich auch um das Mädchen kümmert.“

„Ein Junge? Hat unsere Patientin Geschwister?“ fragte die Professorin weiter nach.

„Nein das nicht. Der Junge ist der Patientin, so wie wir das verstanden haben, wohl eher aus anderen Gründen wohlgesonnen. Er scheint ein Jugendlicher aus ihrer Nachbarschaft zu sein und wirkt ein paar Jahre älter als Susanne“, antwortete die Assistenzärztin ihrer Professorin.

„Gibt es noch weitere Dinge, die ich wissen sollte, bevor wir Susanne hereinholen?“, fragte die Professorin ungeduldig weiter.

„Nun ja, da war ja noch die Frage wegen des späten Ausbruches der Krankheit offen. Diese Angaben der Betroffenen haben wir auch schon an Hand von alten Fotos so gut es ging gegengeprüft. Leider waren nur wenige Fotos von Susanne vorhanden. Die Familie scheint in schwierigen sozialen Verhältnissen zu leben. Es ist wirklich alles sehr merkwürdig und wenn Susanne sich im Sportunterricht in der vergangenen Woche nicht ihren rechten Arm gebrochen hätte, wäre das Problem möglicherweise erst noch später erkannt worden.“, erklärte die gut vorgereitete Assistentin ihrer Chefin.

„Also auch schon ein Verdacht auf Metastasen Lena? … deshalb auch die Dringlichkeit! Ich verstehe …“ sagte die Professorin müde, stützte ihre Ellenbogen auf die Schreibtischplatte auf und stieß einen kräftigen Atemstoß in ihre Handflächen, in die sie einen Augenblick vorher ihren Kopf hatte fallen lassen.

„Lena! … haben wir denn wenigstens schon einen histologischen Befund von Susannes Arm?“ fragte Elke Krassmann mit erschöpft klingender Stimme, in der eine gehörige Portion Machtlosigkeit mitklang weiter.

„Nein Frau Professor, die Mutter verdrängt die Fakten und hat alle weitere Untersuchungen abgelehnt, wir können von Glück sagen, dass die beiden wenigstens zu diesem Termin noch erschienen sind. Vermutlich sind sie auch nur deshalb hier, weil sie sich eine etwas fragwürdige Überweisung in eine russische Spezialklinik von ihnen erhoffen, die hier allerdings so gut wie unbekannt ist, das haben wir auch schon überprüft.“

„In eine russische Spezialklinik? Das wird ja immer mysteriöser. So wie sich das anhört, scheint das ja mehr ein Fall für die Agenten des Geheimdienstes werden zu können als für das Jugendamt“ sagte die müde Professorin. Vermutlich wollte sie ihre Assistenzärztin und sich mit dem makaberen Scherz zu später Stunde noch etwas aufmuntern.

„Na dann holen sie die beiden halt mal rein. Dann werden wir ja gleich sehen, ob wir in dieser verfahrenen Situation noch helfen können“, sagte die Professorin, richtete sich auf und setzte sich die abgenommene Brille wieder auf ihre Nase.

„Ah, der junge Mann, der nicht zur Familie gehört, ist auch gleich mit hereingekommen?“, sagte die Professorin, als sie sah, dass außer ihrer Patientin und deren Mutter auch noch ein dicklicher Junge den Raum mit betreten hatte.

„Das ist Pawel er hilft mir immer, wenn meine Mutter … äh … mal nicht so gut kann …“, antwortete Susanne mit einer frischen, klaren und für ihr Alter schon sehr gefestigt klingenden Stimme. Ihre Mutter sah dagegen erbärmlich, wackelig und grau aus. Im Gegensatz zu Susanne, die flotte enge Jeans und ein ordentliches T-Shirt trug, sah ihre Mutter in ihrem viel zu großen Jogginganzug wie eine Vogelscheuche aus. Darüber hinaus stank die alt, grau und apathisch wirkende Frau Strassfeld auch noch sehr streng nach billigem Korn und abgestandenem Bier. Im Gegensatz zu ihrer Mutter machte Susanne dafür aber einen unerwartet guten ersten Eindruck. Sie war eine aufgeweckte junge Teenagerin, der man ihre sozial angespannten Verhältnisse, aus denen sie unbestreitbar kommen musste, weder ansah noch sonst wie anmerkte. Bis auf ihr rechtes Auge, das schon bei oberflächlichem Hinsehen ziemlich krank aussah und ihrem Gipsverband sah sie wie viele andere in ihrem Alter aus und war offensichtlich ein hübsches, sportliches und lebensfrohes Mädchen.

„Dann wird Pawel bis wir hier fertig sind, besser draußen auf dich warten“, sagte Frau Prof. Krassmann sehr freundlich und gab Lena einen kleinen Wink.

„Wenn Pawel nicht bleiben darf, gehe ich auch gleich wieder“, antwortete Susanne schnell und machte dazu ein so bockiges Gesicht, dass allen Anwesenden schnell klar war, wie ernst sie es damit meinte.

„Ist er dein Freund?“, fragte die Professorin ihre kleine Patientin und bedeutet Lena, mit einem schnellen Blick, der von einem fast unmerklichen Kopfschütteln begleitet war, abzuwarten.

„Zumindest nicht so wie sie vielleicht gerade denken Frau Doktor, aber Pawel ist der Einzige, der sich gut um mich kümmert, wenn ich mal wirklich wo Hilfe brauche.“

„Also gut, dann erzähle mir doch erstmal, was dir mit deinem Arm passiert ist?“ stieg Elke in die Anamnese ein.

„Hm, das war ein ganz komischer Unfall in der Turnstunde. Da ist mir bei einem Schwung am Barren ganz plötzlich einfach so wie aus heiterem Himmel mein Oberarmknochen mit einem dumpf berstenden ‚Knacks‘ weggeknickt. Das tat dann im selben Moment auch schon höllisch weh, aber ich hatte trotzdem noch Glück im Unglück, dass ich mich trotz der Schmerzen gerade noch abfangen und auf meinen Beinen halten konnte. Das wird aber schon wieder werden, mein Arm ist mir ja dann gleich nach dem Zwischenfall sofort vom Unfallarzt ordentlich eingegipst worden und tut mir seither nicht mal mehr wirklich weh. Wir sind eigentlich nur wegen meines linken Auges zu ihnen hier hergekommen …“

„Und was ist mit deinem rechten Auge? Tut dir das nicht auch höllisch weh?“ fragte die Ärztin ihre pubertierende Patientin vorsichtig weiter.

„Es ist wohl eine Art Krebs, für den ich eine Bestrahlung brauche, die man hier nicht gut machen kann“, sagte Susanne und sah die Professorin dabei mit ihrem linken Auge fest und entschlossen an.

„Wir können hier auch Bestrahlungen machen, Susanne, aber vorher möchte ich dich selbst erst noch einmal genau untersuchen, dass du davon nicht noch kränker wirst als du es jetzt schon bist“, sagte Frau Krassmann sehr einfühlsam, um das Vertrauen ihrer Patientin zu gewinnen.

„Was wollen sie denn da noch viel untersuchen, Frau Professor? Ihre Spezialisten haben bei mir ein bilaterales Retinoblastom diagnostiziert und im Internet steht genau, dass die Symptome passen. Aber im Internet steht auch, welche Therapien dagegen empfohlen werden. Deshalb haben sie mich ja auch bestimmt nach meinem gebrochenen Arm gefragt, aber mir geht es wirklich nur um mein linkes Auge, der Rest ist mir im Moment total egal.“

„Susanne, ich weiß wie schwer das für dich im Moment alles ist, aber es geht hier nicht mehr um deine Augen. Sondern jetzt geht es um deine Beine, deine Organe und um alles andere in deinem Körper, was im Moment hoffentlich noch nicht zu sehr von diesem Krebs befallen ist. Was soll das denn für eine Bestrahlung sein, an die du dich wie an einen rettenden Strohhalm klammerst? Wir können hier viel für dich tun, aber das ergibt alles nur einen Sinn, wenn du es selbst auch willst. Solange du dich gegen unseren Behandlungsvorschlag sträubst, können wir dir hier in dem Stadium, in dem du dich leider schon befindest, wirklich nicht mehr viel helfen“, sagte Elke zu ihr und sah sie dabei ernst an. Eine so klare Antwort auf ihre taffe Frage hatte Susanne keineswegs erwartet, aber die deutlichen Worte taten ihr offenbar viel besser als das ganze Gerede um den heißen Brei herum.

„Pawels Cousin arbeitet in einer Forschungsanstalt in Russland, genauer gesagt in Luhansk, das ist eigentlich noch in der Ukraine und dort gibt es ein Forschungsprogramm, das jungen Menschen, die wie ich an Augenkrebs erkrankt sind, viel besser mit neuen alternativen Therapien als den hier etablierten helfen soll. Sie arbeiten dort mit ganz neuen Technologien, die es hier noch nicht gibt. Deshalb will ich so schnell wie möglich mit ihrer oder auch ohne ihre Hilfe dort hin. Ich habe auch keine Zeit mehr für lange zusätzliche Untersuchungen. Seit einer Woche sehe ich nur noch Schwarz-Weiß und es wird von Tag zu Tag alles immer nebliger, wenn sie verstehen, was ich ihnen damit sagen will“ sagte Susanne. Sie sah die Professorin und ihre Assistentin mit ihren tränenden Augen flehentlich um Unterstützung bittend an.

„Und wohin soll ich dich überweisen?“, fragte die Professorin ihre tapfere junge Patientin diesmal etwas strenger und mit einem unwirsch klingenden Unterton in ihrer Stimme. Für Susanne klang sie in diesem Moment eher wie eine ungeduldige Mathematiklehrerin als eine Ärztin.

„Das klingt für mich mehr nach einer Legende als nach einer wissenschaftlich untermauerten seriösen Therapie Susanne“ fuhr die Professorin weiter fort.

„Wenn du möchtest, schaue ich mir dein linkes Auge auch gerne noch einmal selbst an. Aber die Aufnahmen deiner Retina, die meine Kollegin in deiner Akte abgelegt hat, lassen so wie du es schon selbst gesagt hast, eigentlich nur noch eine Therapie zu. Du wirst schon bald scheibchenweise weniger werden, wenn du uns jetzt nicht glaubst. Dieses Martyrium können wir dir hier in der Tat nur noch mit zwei schnellen Enukleationen deiner beiden Augen und einer zügigen Amputation deines rechten Armes ersparen. Begleitend müssten wir zusätzlich alles, was die moderne Medizin an Chemotherapien und Bestrahlungen zu bieten hat, einsetzen. Dein Leben mit guten Prognosen neu auf die Beine zu stellen wird bestimmt nicht einfach werden. Dafür bist du einfach zu spät zu uns gekommen“, seufzte die Ärztin mitfühlend und streckte ihren Arm nach der unverbundenen Hand ihrer tapferen Patientin aus.

„Ich weiß, dass sie hier nicht mehr für mich tun können. Meine erste Anlaufstelle in Luhansk könnte die Corvis-Augenklinik sein, die ist auch hier bekannt. Ich hoffe, dass man mir dort schnell weiterhelfen kann, außerdem wird Pawel mich begleiten, er spricht ja nicht nur die dort üblichen Sprachen, sondern hat auch schon Kontakte zu den Leuten, die mir dort vielleicht doch noch rechtzeitig mehr als sie weiter helfen können. Ich muss es nur schaffen, jetzt noch schnell genug dort hinzukommen“ sagte Susanne.

„Es wäre verantwortungslos, dich auch noch darin zu bestärken, auf Wunder zu hoffen“, sagte die Professorin kopfschüttelnd, aber und auch ein bisschen nachdenklich und sah Susanne resignierend an.

„Keine Überweisung?“, fragte Susanne.

„Nein, wozu auch? Die würde dir dort eh nichts nützen. Dort laufen die Dinge nicht wie hier. Dort wo du von einem Wunder träumst, herrschen Korruption und die Bevölkerung wird von russischen Separatisten terrorisiert. Das ist kein Ort zum gesund werden, dort werden Gesunde krank und nicht umgekehrt“, sagt die Professorin, stand auf und tätschelte ihrer Patientin, begleitet von einer großmütigen Geste, mit distanzierter Freundlichkeit zum Abschied noch einmal deren gesunde Hand.

„Haben wir Ihnen damit wirklich geholfen, Frau Professor?“, fragte Lena, die von dem, was sie gehört und gesehen hatte, noch total geschockt war. Die über alle Maßen medizinisch konsequente Haltung ihrer Chefin, die sie aus früheren ähnlich gelagerten Fällen kannte, hatte sie weniger überrascht. Es war die Härte, mit der ihre Professorin zwei jungen Menschen zwischen den Zeilen in ein Kriegsgebiet entlassen hatte, anstatt es zu unterbinden, die sie noch mehr als alles andere betroffen machte.

„Liebe Lena, wer so viel zu spät und in diesem Umfang wie Susanne metastasiert vorstellig wird, dem ist auch anders nicht mehr besser zu helfen. Außerdem kenne ich den Therapieansatz der Kollegen aus der Corvisklinik für solche Fälle“ sagte Elke und griff mit ihren beiden Händen nach Lena.

„Das Morphium, das sie ihr dort geben werden, wird ihr schneller und ohne lange physische und seelische Schmerzen helfen als die Chemotherapie, die wir ihr hier anbieten konnten“, sagte die Professorin. Dabei strich sie ihrer Assistenzärztin, die sie jetzt mehr verblüfft und als verständnislos anstarrte, kurz wissend deren Handrücken. Kurz darauf verließ Krassmann die Klinik, während Lena noch am Fenster stand und die kühle Abendluft in sich aufsog. In ihre Gedanken versunken starrte sie minutenlang in den schwarzen Himmel, der übersät war mit hellleuchtenden Sternen, die auf sie wie die bösartigen Zellen auf den Netzhäuten ihrer tapferen Patientin wirkten.

„Aber warum?“, fragte sich die Assistenzärztin, wischte sich über ihre geröteten Augen und dachte die Frage zu Ende. „Sie ist doch schon viel zu alt für diese Symptome“ Während Lena weiter grübelte, verschloss sie die letzten Türen, schritt tief in ihre Gedanken versunken über den nächtlichen Parkplatz und stieg in ihren zitronengelben VW-Beetle.

Lichtblick - Rückblende -

 „Ratt ratt … ratt ratt … ratt ratt …“ summte Susanne leise mit dem Takt des Zuges mit, in dem sie auf der Fahrt nach Luhansk mit Pavel saß. Die Fahrgeräusche des Waggons hämmerten sich zusehends in meinen unruhigen Schlaf. In der rabenschwarzen Nacht, die mir unendlich lang vorkam, hämmerte sich in unzähliger Wiederholung das rhythmische Geräusch von den rollenden Rädern des Nachtzuges derb in mein Gehirn. Der Wahn, der mir im Traum Hammerschläge suggerierte, mit denen mir mit derbem Donnern rostige Nägel durch meine zwei Augäpfel hindurch in meinen Schädel getrieben wurden, erschien mir schon fast real. Im Moment meines Erwachens glaubte ich einen kurzen Augenblick lang tatsächlich, dass die Russen das nur täten, um mich auf eine so schreckliche Art bis an das Ende meiner Tage zu blenden. Ich träumte, dass sie das aus purem Hass täten, weil sie allen Frauen in der Ukraine genauso wie dieses brave Land hassten. Die Russen, von denen ich träumte, nahm ich noch gemeiner als meine Krankheit wahr, die dabei war, mir auf widerliche Art mein Augenlicht zu stehlen. Aber das, was ich von den Russen träumte, war noch schlimmer, weil sie das alles absichtlich mit eiskalter Brutalität machten, um das unschuldige Volk zu zermürben und alle Menschen dort mit ihren Gräueltaten zu knechten. Schweißnass und von einem Schüttelfrost, der mich sowohl aus Angst vor dem, was ich noch vor mir hatte, heimsuchte als auch wegen der zugigen Kälte, die überall herrschte, schrak ich irgendwann endlich aus meinem Albtraum auf. Zum Glück spürte ich dann gleich wieder Pawels fürsorgliche Nähe und erinnerte mich daran, dass wir uns zwar schon im sogenannten Feindesland befanden, was aber mehr ein politisches als ein persönliches Problem für mich als Ausländerin sein sollte. Vor knapp dreißig Minuten hatten wir mit dem Zug eine Grenze passiert, die eigentlich gar keine war, zumindest völkerrechtlich betrachtet war sie das auf jeden Fall nicht. Mein Herz raste noch ein paar Sekunden ungebremst vor Angst weiter, obwohl Pawel mich beruhigend in seinem Arm hielt und behutsam streichelte. Dann schlug ich verschlafen meine Augen auf und war froh, dass ich Pawels Gesicht zwar verwaschen, aber dennoch deutlicher als während meines Albtraums so ähnlich wie auf einem alten vergilbten Foto vor mir sehen konnte. Es war also noch nicht zu spät und wir waren schon fast am Ziel unserer gewagten Reise angekommen. Als mir bewusst wurde, dass wir uns schon kurz vor Luhansk, also schon mitten im russischen Separatistengebiet befanden, fiel mir zunächst ein Stein vom Herzen. Denn in diesem Moment verwandelte sich meine Angst um mein in Berlin schon rettungslos verloren geglaubtes Augenlicht von einer Sekunde auf die andere wieder in Hoffnung.

„Keine Angst Susi“ hörte ich meinen großen Freund sagen und genoss es, wie zärtlich mein Pawel mir die Reste des kalten Angstschweißes von meiner Stirn tupfte. Wenige Minuten später holperte unser Zug in den Bahnhof der ostukrainischen Stadt ein. Plötzlich graute es mir trotz der Hilfe, die ich mir hier von Pawels Freunden erhoffte, jetzt aber dennoch vor dem Aussteigen. Nein, nicht nur wegen der Hilfe, es war ja viel, viel mehr als Hilfe, was Pawel hier für mich tat, es war Rettung. Rettung in letzter Sekunde, aber nur, wenn ich viel Glück haben sollte. Das, was man über die russischen Separatisten, die über die von Russland vor kurzem gekaperten Schwarzmeer Insel Krim hier wie Terroristen, die im Untergrund agierten, wusste, hörte sich nämlich trotz der Hoffnung weiter unbeschwert sehen zu können, dennoch sehr beängstigend an.

„Vielleicht hätte ich mich doch besser in Berlin operieren lassen sollen?“, flüsterte ich zweifelnd und von neu aufflammender Angst vor den Gefahren, die hier überall auf uns lauerten, unsicher in Pawels rechtes Ohr.

„Aber Susi nein! Die Chirurgin dort hätte dich doch auf der Stelle sofort restlos blind gemacht, hast du das etwa vor lauter Angst um dein Leben denn etwa schon wieder vergessen?“ antwortete ihr Pawel mit besorgter Stimme und wühlte in Susis Bauchtasche herum, wo sich ihr Spray befinden musste. Susis zunehmende Vergesslichkeit, ihre Angstattacken und ihre extremen Gefühlsschwankungen beunruhigten ihn zusehends, obwohl er die Ursache dafür schon lange sehr genau kannte.

„Pffffffssssst … pfffffsssssst …“ strömte das Aerosol, das Pawel mir schon vor einem halben Jahr von seinen russischen Freunden mitgebracht hatte, in meinen Rachen. Am Anfang hatte alle paar Tage ein winziger ganz kurzer Sprühstoß von dem Zeug ausgereicht, um mich von den Konzentrationsstörungen zu befreien, die mir seit Anfang des neuen Schuljahres in der Schule so sehr zu schaffen gemacht hatten. Erst als dann Wochen später noch die nervliche Belastung durch meine neue mysteriöse Augenkrankheit hinzukam, wollte ich die Dosis dann immer schneller, sogar viel mehr als Pawel mir das geraten hatte, erhöhen. Aber Pawel tat trotzdem immer noch so, als ob er selbst auch total davon überzeugt sei, dass er mir, seinem Mädchen, mit dieser Medizin auch wirklich helfen würde.

„Vielleicht wäre ein Leben ohne richtige Augen ja doch das geringere Übel gewesen als mich hier in der Fremde von einer Bombe zerfetzen zu lassen?“, blaffte ich, nach dem ich gerade wieder frisch inhaliert hatte, Pawel angriffslustig und mit neuer Energie vollgetankt trotzig an. Durch die Medizin war ich von einem Augenblick auf den anderen wieder stark geworden und weil es mir nun wieder ganz gut ging, fühlte ich mich auch wieder so furchtlos aggressiv wie ich auftrat. Aber auch, dass diese Stadt hier seit jüngster Zeit nur noch von Angst und Schrecken regiert wurde, machte mich so aufgeputscht wie ich mich jetzt nach der Inhalation meiner Medizin wieder fühlte, genauso wenig wie meine drohende Erblindung aus. Auf Pawel war eben immer Verlass, egal ob es um eine gute Medizin oder ein Abenteuer in der Hölle ging. Während die Bremsen unseres Zuges schon laut kreischten und uns den Halt unseres Zuges im Bahnhof ankündigten, half Pawel mir zuerst damit, mir meinen großen schweren Rucksack aufzusetzen, bevor er sich um sein eigenes Gepäck kümmerte. Kurz darauf schleifte mich Pawel an meinem unverletzten Arm, so schnell er konnte, durch das Gedränge hindurch, das draußen auf dem Bahnsteig herrschte hinter sich her. Jetzt vermittelte er mir dieses unsichere Gefühl, das ich Dank der Medizin gerade wieder losgeworden war, aber plötzlich von sich selbst. Das kam bei im von einem Moment auf den anderen und ich spürte es ganz deutlich daran, dass er sich plötzlich total gehetzt verhielt. Im Gegensatz zu ihm fühlte ich mich jetzt aber nicht nur voll cool, sondern die abenteuerliche Stimmung putschte mich tief in meinem Inneren so auf, dass ich wieder diese besondere trotzig sarkastische Kampflust in mir verspürte. Das Beste an der Wundermedizin, die Pawel in den letzten Monaten immer wieder für mich besorgte, war nämlich, dass sie mich in solchen Situationen so stark machte, dass ich mich unbesiegbar fühlte. Ich fühlte mich auch überhaupt nicht gehetzt, nur Pawel den ich bisher immer nur ausgeglichen und souverän erlebt hatte, schien jetzt selbst auch etwas von dieser Medizin zu brauchen, die mir immer so gut half. Während ich so hinter ihm hersprang, behinderte mich zwar mein eingegipster Arm noch mehr als sonst, wenn ich nur mit normaler Gehgeschwindigkeit unterwegs war, aber auch das nahm ich jetzt nicht mehr so beschwerlich, wie es eigentlich sein sollte wahr. Die skurrilen Eindrücke, die mir mein letztes funktionierendes Auge von der Realität der allgegenwärtigen Aufpasser vermittelte, war alles andere als vertrauenerweckend. Aber wenn sie sich trauen würden meinen Pawel und mich aufzuhalten, würden sie mit mir ihr blaues Wunder erleben. Dessen war ich mir im Moment absolut sicher und fest entschlossen alles, was ich dazu beitragen konnte, zu tun, wenn es uns dabei half uns weiter so wie geplant durchzuschlagen, um unser Ziel zu erreichen.

„Pawel! … nein, was machst du denn?", schrie ich laut auf, schaffte es aber trotz blitzschneller Reaktion nicht mehr einen Haken, um den vor mir Stürzenden zu schlagen und stolperte selbst so schwer über Pawels Beine, dass ich ebenfalls ungebremst zu Boden ging. Zum Glück waren unsere Rucksäcke, die wir während des Stürzens beide verloren hatten, heil geblieben, sodass unsere darin verpackten Sachen nicht einzeln auf dem Bahnsteig herumlagen. Dummerweise war mir aber meine Bauchtasche aufgeplatzt. Alle meine wichtigen Kleinigkeiten wie Lippenstift, Tempos, meine Geldbörse sowie zwei Tampons, die ich zur Sicherheit immer mit dabei hatte, lagen um uns herum auf den schmierigen, übel riechenden Bodenplatten herum, an denen alles festzukleben schien. Das Licht war so schlecht, dass ich mit meinem halb kaputten Auge die Position der Kleinigkeiten nur noch schemenhaft erahnen konnte, aber das allerwichtigste war es jetzt ganz schnell die Sprühflasche mit der Medizin zu finden. Die Menschen, durch die wir uns vor Sekunden noch hindurch drängeln mussten, waren auseinander gestoben. Aus der Ferne hörte ich schon die Stiefel von Soldaten auf uns zu trampeln. Die Soldaten hatte ich vorher noch in einer Ecke der Bahnhofshalle gelangweilt rauchend, erhellt von einem Lichtschein, der dort in der Ecke durch ein zerbrochenes Fenster hereinschien, stehen sehen. Zum Glück konnte ich im selben Moment in dem dunklen schmierigen Grau, das mich umgab, einen Schatten der Sprühflasche erhaschen. So schnell wie möglich und so gut wie ich das mit meinen vom Sturz verschürften Fingern noch konnte, tastete ich nach der Medizin, die ich jetzt dringend für Pawel brauchte, bevor die herannahenden Soldaten uns erreichen würden. Als ich das längliche Döschen schon fast erwischt hatte, rollte es dann aber doch noch einmal klackernd über die Fugen der ekligen Bodenplatten noch weiter von mir weg. Das lag daran, weil ich es, bevor ich es richtig greifen konnte, nur mit meinem Handrücken berührt und dummerweise damit sogar noch weiter von mir weggeschubst hatte. Aber jetzt konnte ich wenigstens genau hören, welcher von den Schatten das wichtige Döschen war und wo es sich gerade befand. Weil ich wusste, dass ich es nur solange hören konnte, wie es noch in Bewegung war und weil ich mich auch wegen der auf uns zu rennenden Soldaten sputen musste, hechte ich mit einem gewagten Sprung auf das Geräusch zu. Einen Moment später bekam ich die Medizin dann endlich doch noch sicher zu fassen und hoffte, dass es noch nicht zu spät war.
„Susi, wo bist du?“ hörte ich Pawel hinter mir mit zitternder Stimme wimmern und stürmte mit der Medizin in der Hand auf ihn zu.

„Pffffffssssst … pfffffsssssst …… pfffffffffssssssssssst …“ strömte das Aerosol diesmal zum ersten Mal auch in Pawels Lungen. Aus der in mir aufkommenden Angst heraus, dass sich die Wirkung nicht rechtzeitig entfalten könnte, hatte ich den Sprühstoß viel höher als üblich dosiert, obwohl Pawel mich vom ersten Tag an sehr eindringlich vor solchen panikbedingten Überdosierungen gewarnt hatte. Als ich Sekundenbruchteile später sah, dass Pawel schon bevor ich die Sprühflasche von seinen Lippen genommen hatte, seine souveränen und tapferen Lebensgeister schon wieder so verlässlich spürte, dass er sich tatkräftig und ohne fremde Hilfe wieder selbständig aufgerappelt hatte, bevor uns die so unheilvoll klingenden Soldaten erreichten konnten, wäre ich am liebsten spontan in Freudentränen ausgebrochen. Außerdem war ich auch auf mich selbst ein bisschen stolz darauf, dass ich in dieser brenzligen Situation in letzter Sekunde mit der Medizin für Pawel ganz offensichtlich die einzig richtige Entscheidung getroffen hatte.

Verdunklung - Rückblende -

„Wo warst du denn die ganze Zeit …? Warum schon wieder eine Verspätung? Ich halte das alles nicht mehr aus?“, sagte Susi, die Pawel schon an seinem Schritt auf den knarrenden Holzbohlen erkannt hatte, bevor er das muffig riechende Zimmer betrat.
„Susi, ich weiß doch auch, dass wir uns keine weitere Verspätung mehr leisten können, aber hier ist Krieg und ich tue, was ich kann“, sagte Pawel, der verdreckt vom Straßenstaub, mit einigen kleinen Blessuren in das schmuddelige Zimmer trat und die Zimmertüre gleich hinter sich abschloss.
„Ich hatte so viel Angst wie nie zuvor, so ganz alleine in diesem schrecklichen Land“, schluchzte Susi und schälte sich unter einer von Motten zerfressenen Wolldecke hervor.
„Ich habe uns etwas zum Essen mitgebracht“, antwortete Pawel ihr, nahm sie tröstend in den Arm und sprach weiter, „ … und gute Nachrichten habe ich auch dabei."
„Ich habe keinen Hunger. Welche guten Nachrichten? Ich glaube nicht mehr daran, für mich kommt eh jede Hilfe zu spät“, jammerte Susi und zog die Decke bei.
„Morgen früh werden wir abgeholt. Freust du dich denn nicht, dass es endlich weitergeht?“, sagte Pawel und raschelte mit Packpapier, unter dem der Duft von knusprig gebratenem Hühnchen hervorquoll und sich im Raum verteilte.
„Machst du Wein auf?“, fragte Susi, die leise Metall auf Glas kratzen hörte und an Pawels Bewegungen erahnte, was er tat.
Ja, ein Aju-Dag von 2007, ein ganz besonderer Rotwein, der als der Lieblingswein der Zarin galt und der dir mit einem Alkoholgehalt von sechzehn Prozent schnell dein Herz erwärmen wird. Er soll nach einem Hauch von Kakao und frischem Obst schmecken und hat zarte Töne von Rose' und Muskat in seinem Bukett haben.
„Bist du von allen guten Geistern verlassen? Wir sitzen hier im letzten Loch, ich werde von Tag zu Tag immer mehr blind und du machst auf heile Welt?“, fauchte Susi und schleuderte die Decke in den Raum und sprach gleich zornig weiter. „Wo hast du überhaupt die Sprüche und so einen Wein her, so habe ich dich noch nie reden gehört?“
„Susi, ich hab dir doch gesagt, dass ich hier Leute von ganz oben kenne. Du darfst nicht so schnell aufgeben. In diesem Land nimmt man sich für gute Freunde eben Zeit, trinkt und trinkt … und dann kommt man zum Geschäft“, sagte Pawel und goss den Wein in die zwei Zahnputzgläser, von denen eines schon einen Sprung hatte.
„Und wo ist das alles her?“, fragte Susi noch immer misstrauisch, merkte aber, dass sich der Hunger jetzt doch wieder bei ihr bemerkbar machte.
„Hier iss erst“, sagte Pawel und führte Susis Hände zu dem Tisch, auf dem das aufgerissene Packpapier lag, aus dem die knusprigen Hähnchenstücke ihren Duft immer intensiver in das Zimmer strömen ließen. Während Susi erst zögerlich aß und dann kurz darauf ausgehungert zuschlug, erzählte er ihr von seinem Tag und dass er die Köstlichkeiten aus einer ukrainischen Gaststätte hatte, in der jetzt russische Offiziere hausten.

 


***



„ваши бумаги!“, hörte Susi eine Stimme im Befehlston in das Auto schreien, in dem sie mit Pawel seit Stunden auf einer Rückbank saß, Die Polster klebten eklig. Speckig vom Dreck stanken sie nach altem Schweiß. Pawel sagte etwas in der gleichen Sprache und nahm kurz darauf irgendwelche Sachen entgegen, wonach das Auto auf einer holprigen Straße mit quietschenden Federn weiterrollte.
„Wir sind gleich da, Susi, keine Angst, jetzt wird alles ganz schnell ohne weitere Verspätungen weitergehen“, sagte Pawel.



***



„Komm Susi, wir sind da und dürfen gleich zur Direktorin des Sanatoriums durchgehen, Frau Dr. Konowalow, das heißt in unserer Sprache, dass sie aus einer Familie abstammt, die sich vor langer Zeit als gute Tierärzte verdient gemacht hat, erwartet uns schon“, sagte Pawel gut gelaunt und half Susi aus dem Wagen.

Vergiftung - Rückblende -

„Ah Pawel und Susi, besser spät als nie …“, hörte Susi eine weibliche Stimme sagen.
„Guten Tag Uljana“, antworte Pawel und eilte mit Susi auf die Frau zu. Kurz bevor sie die Chefin der Einrichtung erreicht hatten, befreite sich Pawel von Susi, die er untergehakt in den Raum geleitet hatte und begrüßte seine Bekannte zu Susis Überraschung mit einer herzlichen Umarmung.
„Das ist Susi“, sagte er dann und schob sie nach vorne auf die fremde Frau zu.
„Guten Tag, Frau Doktor“, sagte Susi etwas perplex und war sich unsicher, wie sie sich in der eigenartig vertraulichen Stimmung, die sie so nicht erwartet hatte, verhalten sollte.
„Den Doktor darfst du gerne weglassen, Susi. Wir sind eine geheime Einrichtung der russischen Armee, weshalb hier bei der Anrede die militärischen Dienstgrade akademischen Gepflogenheiten vorgezogen werden“, sagte Uljana und Susi hörte einen freundlichen Unterton aus ihrer Stimme heraus. Dann spürte sie eine gepflegte Hand, die sich etwas kühl anfühlte, an ihrem Unterarm entlang gleiten, die danach ihre linke Hand ergriff und sie mit beiden Händen umschloss, um auch sie herzlich willkommen zu heißen.
„Hier drüben habe ich russischen Tee und etwas Gebäck zur Begrüßung vorbereiten lassen. Nach der langen Reise werdet ihr eine kleine Stärkung sicher gut vertragen können“, sagte Uljana freundlich und Pawel half Susi einen Platz zu finden.
„Pawel, du möchtest uns sicher allen Tee einschenken“, hörte Susi die Chefin sagen, hoffte, dass sie schnell zum Thema kommen würde, weil die Verspätung sie schon fast an den Rand der Verzweiflung gebracht hatte.
„Pawel, du hilfst Susi sicher gerne mit den Sachen auf dem Tisch und versorgst sie gut, während ich mich mit ihr über die Aufnahmebedingungen in unserer Rehabilitationsklinik unterhalte. Ich drucke nur noch kurz die nötigen Formulare aus, bevor wir uns über Susis neue Perspektiven unterhalten“, sagte Uljana, stand auf und drückte auf ihrem Computer ein paar Tasten, worauf kurze Zeit später ein Drucker fast so laut wie ein Maschinengewehr losbrüllte.

 

 

***

 

„Augenkrebs? Retinoblastom? … Das haben sie im Westen bei dir diagnostiziert? … dann läuft ja alles nach Plan“, sagte die Chefin zu der entsetzten Susi, die ihr gerade von dem Termin bei Frau Dr. Krassmann berichtet hatte.
„Nach Plan? Was soll, das denn", schrie Susi, weil sie plötzlich gar nichts mehr verstand, verwirrt auf. „Was denn für ein Plan? Ich dachte, sie haben hier eine Therapie, um mir wenigstens noch rechtzeitig mein bessers Auge retten zu können, bevor ich total erblinde. Ich hatte solche Angst wegen unserer Verspätung. Soll das etwa heißen, dass die ganzen Strapazen, die Pawel und ich auf uns genommen, umsonst waren und sie mir mein Augenlicht auch nicht mehr retten können. Ich will doch nicht für immer blind bleiben müssen", jammerte Susi.
„Na und? Besser blind als tot“, sagte Uljana so trocken, dass Susi ihr Gebäckstückchen fast vor Schreck aus ihrer Hand fiel.
„Wie können sie so etwas Schlimmes nur so sagen?“, schluchzte Susi, die fast an dem Kloß in ihrem Hals erstickte.
„Weil ich weiß, wovon ich rede“, sagte Uljana. „Mir ging es genauso, aber ich habe deshalb nie aufgegeben.
„Wie sie sind auch blind?“, fragte Susi und rang um ihre Fassung.
„Ja, es war ein Unfall während meines Examens, nur dass ich damals noch keine Therapie gegen die Vergiftung zur Verfügung hatte. Insofern hast du trotz deiner Verspätung vielleicht doch noch mehr Glück als ich. Aber vorher musst du hier unterschreiben.“ erklärte ihr die Direktorin ohne jegliche Gefühlsregung.
„Eine Vergiftung? Etwas unterschreiben?“, fragte Susi in panischer Angst davor, für immer blind bleiben zu müssen, während Uljana ihr drei Bogen Papier unter ihre linke Hand schob, die schweißnass auf dem Tisch lag. Susi fühlte viele Pünktchen und bekam einen weiteren Schreck, nachdem ihr klar geworden war, dass das Dokument in Punktschrift ausgedruckt worden war.
„Nichts Schlimmes, Susi. Du wirst nur für die Zeit deines Aufenthalts hier wissenschaftliche Mitarbeiterin der russischen Armee sein. Sobald du mit erfolgreich austherapierten Augen wieder ordentlich sehen kannst, ist der Vertrag erfüllt und du kannst gehen, wohin du willst. Ist das nicht ein faires Angebot?“, fragte Uljana und drückte Susi einen Stift zum Unterschreiben in ihre Hand.
„Pawel begann ihr den Text flüssig vorzulesen und spürte, dass, kurz bevor er zum Ende kam, Susis linke Hand zuerst über seinen Arm und danach über den Bogen steifes Papier strich, dessen Text er gerade vorlas.
„Wie Pawel, du kannst das lesen?“, stutzte Susi und fragte sich noch mehr, was hier tatsächlich los war.
„Nein, kann er natürlich nicht, aber wir arbeiten hier mit speziellen Druckern, die Punkt- und Schwarzschrift zeilengleich übereinander drucken können, das erleichtert den wenigen sehenden Kolleginnen, die uns hier unterstützen, die tägliche Arbeit mit blinden Armeeangehörigen sehr", erklärte Uljana.
„Und wenn es doch ein bilaterales Retinoblastom ist, das mich blind gemacht hat? Dann würde ihre Therapie vielleicht gar nicht anschlagen und ich müsste elend an Metastasen zugrunde gehen, oder?“, fragte Susi, die jetzt sehr misstrauisch geworden war.
„Kein Grund zur Sorge, Susi, das Euphotox-Spray, das Pawel dir gab, ist nicht so gefährlich, wie es scheint. Du musst nur unterschreiben, dann hast du jetzt noch gute Chancen auf eine vollständige Genesung.
„Entschuldige Uljana, in den letzten drei Wochen gab ich ihr auch etwas von dem Termitox, weil das Euphotox nicht mehr wirkte, sagte Pawel kleinlaut dazwischen.
„Termitox? Wo hattest du das denn her?“ fauchte Uljana ihn gefährlich an.
„Von Wissi, aber er hat mir dazu gesagt, dass sie nicht viel davon nehmen darf“, nuschelte Pawel.
„Damit habt ihr Idioten uns nicht nur die Versuchsreihe zur Therapieentwicklung, die wir so dringend für unsere Spezialtruppen gebraucht hätten, verdorben, sondern wenn ihr Pech habt auch Susis Leben auf dem Gewissen“, schrie Uljana vor Zorn und ging zum Telefon.



***



„Was ist denn Anna?“, fragte Uljana, die ungeduldig an ihrem Schreibtisch saß, weil sie viel früher mit diesem Anruf gerechnet hatte und lauschte gespannt, was die Chirurgin ihr zu berichten hatte.
„Susis Vergiftung gibt uns mehr Fragen auf, als wir das im Vorfeld dachten und außerdem ist da noch ein neues Phänomen, das wir vorher noch nie beobachten konnten. Ihre linke Körperhälfte ist unerklärlicherweise viel weniger vergiftet als ihre rechte und wir haben keine Ahnung warum“, berichtete Anna ihrer Chefin.
„Und wie gehen wir damit um, Anna?“
„Wie immer, sie kommt zu den anderen ins Trainingsprogramm, während ich die entnommenen Proben untersuche, bis wir Klarheit haben“, antwortete die Chirurgin.
„Proben? Nicht nur ein Auge?“, fragte Uljana stirnrunzelnd.
„Natürlich auch ein Auge, aber ihren rechten Arm habe ich auch gleich im Labor behalten“, sagte Anna und wartete auf ein Lob.
„Du weißt, wie sehr die Zeit drängt und dass unsere Truppe, die neue Medizin zur Steigerung ihrer Tapferkeit von Tag zu Tag mehr braucht. Sei bloß nicht zögerlich“, sagte die Chefin in ihre Sprechmuschel.
„Keine Sorge Uljana. Falls nötig werde ich ihren Körper bis auf ihren letzten Knochen im Dienste der Wissenschaft und für den Sieg Russlands ausbeuten und so schnell wie möglich herausfinden, wie wir unsere Kampfdrogen zügig mit wirksamen Gegenmitteln ausliefern können", sagte die Chirurgin und wartete kurz, bis die Direktorin das Gespräch beendet hatte.

 

 

Vorgeschichte

Himmelfahrt - Die Kurzgeschichte

Fortsetzung

 Himmelfahrt - Das Buch

Impressum

Texte: ©Lisa Mondschein
Bildmaterialien: ©pixabay
Cover: ©Fizzy Lemon
Tag der Veröffentlichung: 16.01.2023

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle die unter barbarischen Russen leiden

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