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Auf der Flucht

„Zwanzig Beutel Eis?“, fragte die junge Brünette, die an der Tankstelle einen Minijob hatte und Alex irritiert ansah.

„Bei der Menge kommen locker vierzig Kilogramm zusammen. Sind sie sicher, dass sie soviel auf einmal kaufen wollen?", ergänzte die Kassiererin, während vor dem winzigen Kassenhäuschen leise säuselnd ein überlanger Humvee stand und mit zuckenden Lauflichtern geschmückt ihr Interesse geweckt hatte.

„Keine Sorge, auf vierzig Kilogramm mehr oder weniger wird es wohl kaum ankommen. Unser Schlitten kann einiges vertragen und wir auch. Meine Begleiterinnen möchten jemandem die kalte Schulter zeigen, da kann etwas Abkühlung nie schaden“, antwortete Alex, schob einen Fünfzigeuroschein unter der Plexiglasscheibe hindurch und steckte hastig das Wechselgeld ein. Die Eisbeutel verstaute er danach so schnell er konnte im Kofferraum und dachte währenddessen über die Ereignisse der letzten halben Stunde nach.

„Was ist nur in Mara gefahren?“, fragte er sich zum wiederholten Mal. Eigentlich glaubte er, dass sie spätestens während des verspäteten Frühstücks, das sie um die Mittagszeit im Filmstudio zusammen mit Susi eingenommen hatten, mit ihm auf einer Wellenlänge sei. Aber seit sie auf der Flucht vor Susis Freund Pawel waren, hatte sich Mara innerhalb von Sekunden total verändert und auch ihm erneut die kalte Schulter gezeigt. Es fing damit an, dass Mara plötzlich wollte, dass er sie alle anstatt zu ihr nach Hause so schnell wie möglich in die Mommsenstraße zu dieser Schattenglut kutschieren sollte. Kurz danach hatten Mara und Susi ihn an einer Bushaltestelle anhalten lassen, um Marga dort abzusetzen und danach die Trennscheibe geschlossen. Durch die geschlossene Trennscheibe, die das noble Fahrgastabteil vom Führerhaus, in dem er als Fahrer saß, schalldicht abtrennte, hatte er im Rückspiegel noch einen kurzen Streit zwischen Mara und Susi beobachten können. Als er sah, dass Mara dann auch noch mit ihrem Smartphone im Internet surfte, oder sogar wild auf dem Bildschirm zockte, stutzte er, weil das ja gar nicht gehen konnte, wenn Mara wirklich so blind war, wie er geglaubt hatte.

„Auch wenn ich mich bis über beide Ohren in Mara, diese Powerfrau verliebt habe, sieht das im Moment nicht gut für uns aus“, murmelte Alex gedankenverloren zu sich selbst und dachte weiter über ihre neue Situation nach. Vielleicht wäre es besser zur nächsten Polizeistation zu fahren und diesen Albtraum, in den sie hier alle hineingeraten waren, schnellstmöglich mit professioneller Begleitung zu beenden, bevor noch Schlimmeres passierte. Selbst wenn Mara jetzt doch nicht mehr blind war, fühlte er sich, für die beiden Frauen, mit denen er, seit Margas Ausstieg alleine unterwegs war, verantwortlich.

„Wenn ich nur wüsste, was Mara im Schilde führt?“, fragte er sich. Bei dem Gedanken daran, dass er die einarmige Susi vielleicht bald gegen einen gefährlichen Psychopathen verteidigen musste, war ihm schon jetzt ganz mulmig zumute. Selbst wenn sich Mara, ohne fremde Hilfe ihrer Haut wehren könnte, wäre das Problem damit noch nicht gelöst.

„Ich bin nur Schauspieler und Tänzer, aber bestimmt kein Bodyguard“, murmelte er von der Situation total überfordert vor sich hin, während er weiter darüber grübelte, wie er im Notfall beide Frauen in einem realen Kampf vor diesem gewalttätigen Irren, beschützen könnte.

 

Angst um Ronja

„Hast du dich vor lauter Übermut verrannt und dich von vorschnellen Schlussfolgerungen geleitet selbst in die Irre geführt Mara?“, fragte mich meine innere Stimme während ich auf den hinteren Lederpolstern neben Susi in der noblen Stretchlimo saß.

„Dass euer Freund, Pawel, gefährlicher ist als er vorgab, war mir schon klar, nachdem ich den ersten Satz aus seinem Mund gehört hatte. Aber selbst wenn es dieses russische Kampfstofflabor, von dem du mir gerade erzählt hast, wirklich gegeben haben sollte, kann das alles so nicht wahr sein“, blaffte ich die Frau, mit der ich kurz vorher noch schön gekuschelt hatte, verärgert an. Die Enttäuschung darüber, dass sie mein Vertrauen missbraucht zu haben schien, war für mich allerdings ein viel geringeres Problem als die Frage, ob Alex mir die kurze Romanze mit ihr übel nahm. Da ich keine Erfahrungen als Model hatte, konnte ich nicht einschätzen, ob solche kleinen Techtelmechtel in Schauspielerkreisen wie diesen, in denen ich mich hier bewegte, üblicherweise toleriert wurden. Noch viel weniger konnte ich die Gefahr einschätzen, in die ich mich als blindfolded Model begeben hatte, nachdem der Drehtag, auf den ich mich abenteuerlustig eingelassen hatte, total übel eskaliert war. Die schwarze Augenbinde, die ich am Set tragen musste, war für mich kein wirklich gruseliges Thema, sondern eine willkommene Gelegenheit vor Alex meine tatsächliche Blindheit zu verbergen. Meine Freundin, Ronja, hatte mich zwar davor gewarnt, mich mit Leuten vom Film wie eine Sehende mit verbundenen Augen einzulassen, aber genau das hatte meine Abenteuerlust geweckt. Alex hatte sich schon während unseres Gespräches nach meiner Abholung im Auto, als charmanter und vertrauenswürdiger Mann entpuppt und damit meine Lust auf mehr mit ihm geweckt. Gleich nach dem Einsteigen gab ich mich zunächst ganz bewusst zickig und provokativ, um ihm zunächst mit kalter Schulter etwas auf den Zahn zu fühlen, weil ich auf diese Art herausfinden wollte, ob ich ihm wirklich trauen wollte. Aber nachdem er die Prüfung bestanden hatte, schloss ich ihn von Minute zu Minute mehr in mein Herz. Der nächste, dem ich an diesem Tag meine kalte Schulter gezeigt hatte, war Pawel, der danach in seinem Sportwagen wütend die Flucht ergriffen hatte.

„Ich hatte lange keine Ahnung, dass die Russen uns mit dem Spray, das Pawel für mich besorgt hatte, vergiften wollten, um uns als Versuchskaninchen zu missbrauchen“, verteidigte sich Susi und sprach gleich weiter.

„Frag mich doch einfach nach den Dingen, die dir spanisch vorkommen, anstatt mich hier nur zickig anzumachen. Wir sollten besser zusammenstehen und uns gemeinsam unserer Haut wehren.“

„Hm, damit, dass wir besser zusammenhalten und uns gemeinsam gegen Pawel zur Wehr setzten sollten, hast du wohl recht. Nur werde ich euch nicht trauen, solange ich nicht weiß, wer aus welchem Grund lügt?“, erwiderte ich ihr kühl und wühlte in meinem Rucksack nach meinem Handy.

„Du kannst dir offenbar nicht vorstellen, wozu skrupellose russische Terroristen fähig sind. Aber mich deshalb als Lügnerin abzustempeln ist nicht fair“ zischte Susi, die sich mir jetzt auch mit kalter Schulter zur Wehr setzte.

„Natürlich weiß ich, dass Putins Schergen skrupellos sind und vor keiner Schandtat zurückschrecken, aber das ist nicht das, was deine Story unglaubwürdig gemacht hat“, erwiderte ich Susi voll angefressen.

„Selbst wenn es stimmen würde, dass dich das Russengift mit Augenkrebs infiziert hätte, müsstest du davon so blind wie ich mit meinem bilateralen Retinoblastom geworden sein, oder willst du mir etwa weismachen, dass sie dir mit dem Spray nur eines deiner beiden Augen vergiftet hätten?“

„Ach so, das ist es …“, sagte Susi.

„Das ist ganz schnell erklärt. Sie haben an Gegenmitteln geforscht und ich war eben ihr Versuchskaninchen.“

„Das wird ja immer verrückter“, zischte ich Susi erneut an.

„Erst sagst du, dass sie dir deine Augen vergiftete hätten und dann kommst du damit hinterher, dass diese Teufel die Welt retten wollten? Das glaubst du doch wohl selbst nicht.“

„So habe ich das ja auch nicht gemeint“, hauchte Susi, mit einem verletzt klingenden Unterton, der meine Wut von mir unerwartet auf wundersame Weise besänftigte und schlich sich erneut bei mir an.

„Das Zeug war zunächst nur als eine Art Droge gedacht, die ihre Soldaten mutiger, kampflustiger und blutrünstiger machen sollte. Ähnliches hatten die Nazis mit ihren Soldaten mit den Vorläufern von Crystal Meth und Scopolamin schon gemacht. Die Vergiftungen waren am Anfang nur Nebenwirkungen. Deshalb haben sie zunächst nur nach Therapien geforscht, mit denen sie Soldaten, die zu viel von dem Zeug genommen hatten, wieder kampffähig machen konnten."

„Deine Geschichte hört sich noch unglaublicher, als ein übler Thriller an“, antwortete ich Susi leise vor mich hin sinnierend und wählte, weil ich mir plötzlich auch um Ronja Sorgen zu machen begann, meine eigene Telefonnummer.

„Tut, …, tut, …, tut …“, hörte ich im Hörer bis der Anrufbeantworter, der in meinen PC integriert war, ansprang und ich mich darüber wunderte, dass Ronja das Telefon nicht abnahm. Zum Glück gab es eine Fernabfragefunktion mit Raumüberwachung, die ich über meine PIN umgehend aktivierte, aber dennoch außer dem Summen des Computers und dem Wäschetrockner, der piepste, weil er geleert werden wollte, kein Geräusch von Ronja hörte. Susi hatte absolut recht damit, dass wir jetzt zusammenhalten mussten und plötzlich war ich sogar froh darüber, dass sie in meiner Nähe war. Nicht nur, weil ich alleine nicht mehr viel weiter kommen konnte, beschloss ich mich wieder umgänglicher zu zeigen, sondern vor allem deshalb, weil mir plötzlich klar geworden war, dass ich Susi mit meinem Misstrauen unrecht getan hatte. In dem Moment, in dem mich die Sorge um Ronja ergriff, verstand ich, was die arme Susi alles durchgemacht haben musste und dass sie sich die vielen schrecklichen Dinge unmöglich selbst so zusammengereimt haben konnte. Susi spürte meine Angst sofort und legte mir tröstend ihren einen Arm um meine Schultern, während ich schon Ronjas Handynummer auf meinem Smartphone wählte.

Kalte Schulter

„Was machst du denn hier?“, staunte Alex, als er nach dem Öffnen der Fahrertür plötzlich Susi auf seinem Platz hinter dem Lenkrad vorfand.

„Planänderung! Mara wird dir, während ich uns zu ihrer Wohnung fahre, alles in Ruhe erklären“, sagte Susi mit einem verschmitzten Grinsen im Gesicht, deutete mit dem Daumen ihrer linken Hand über ihre Schulter nach hinten und wartete bis Alex eingestiegen war.

„Sorry, wegen Susi, Alex …“, sagte ich etwas zu kühl, weil ich mir wegen meines schlechten Gewissens keine Blöße geben wollte und rückte ein bisschen zur Seite, um Alex damit zu bedeuten, dass ich ihn gerne rechts neben mir sitzen hätte.

„Wegen Susi?“, sagte er so, dass ich ein süffisantes Grinsen aus seiner Stimme heraushören konnte, bevor er sich neben mich setzte und mir einen seiner starken Arme um meine Schultern legte. Ich verkniff mir ein Jauchzen, das von dem Kribbeln unter meiner Haut kam und riss mich zusammen, weil wir zuerst noch die Sache mit Pawel zu erledigen hatten, bevor wir zum gemütlichsten Teil des ereignisreichen Tages kommen durften.

„Susi sagte etwas von einem Plan?“, fragte Alex und ich spürte, dass er fast vor Neugier platzte.
„Magst du …?“, fragte ich und nahm die Fingerkuppen meiner rechten Hand vom Screen meines Smartphones. Das Sektglas, das ich für Alex gefüllt hatte, stand genau dort, wo ich hingriff und es ihm danach grinsend entgegenstreckte. Mit meiner linken Hand navigierte ich weiter auf meinem Handy, das noch immer so wie vorher auf meinem rechten Oberschenkel lag und verfolgte zeitgleich über den In-Ear in meinem linken Ohr, was sich am anderen Ende der Verbindung Interessantes ereignete.

„Prost Partner, ist ja nur ein Job …“, sagte ich und reizte ihn mit der Floskel, die sich während unserer morgendlichen Flirts schon zu unserem ganz persönlichen geflügelten Wort entwickelt hatte. Nachdem wir beide an unseren Gläsern genippt hatten, plumpste, weil ich spontan halb aufgestanden war, um Alex leidenschaftlich auf seine vom Sekt benetzten Lippen zu küssen, mein Handy auf den flauschigen Teppich, der den Fußboden der Sänfte bedeckte.

„Bist du mir wegen meines Knutschens mit Susi etwa doch böse?“, fragte ich entsetzt, als ich spürte, dass Alex sich wie ein Stück Holz anfühlte, anstatt meinen leidenschaftlichen Kuss so zu erwidern, wie ich das eigentlich erwartet hatte.

„Quatsch, … nicht wegen Susi …“, stotterte Alex herum und selbst als er mir sagte, dass er mich im Rückspiegel beim Surfen mit meinem Smartphone beobachtet hatte, verstand ich nicht, was er mir damit sagen wollte. Ich fragte mich, warum in aller Welt, er mir deshalb jetzt plötzlich seine kalte Schulter zeigte.

„Oder gerade wegen Susi …, aber wegen Pawel …, nicht deinetwegen. Wir sollten besser gleich die Polizei einschalten …“, stotterte er mir weiter total von der Rolle in meine Ohren, anstatt mich auch einfach so schön zu küssen, wie es mich gerade bei ihm überkommen hatte.

„Hier Mara, dein Handy“, sagte Alex. „Auch wenn du jetzt nicht mehr blind bist, sind wir immer noch Susi gegenüber in der Pflicht sie vor dem durchgeknallten Pawel zu beschützen.“

„Das ist es also …“, schnaubte ich und stieß Alex mit aller Wucht von mir weg. Wie konnte ich nur so blöd sein zu glauben meine Blindheit vor Männern verstecken zu müssen, nur um von ihnen als normale Frau akzeptiert zu werden? In dem Moment, als mir klar wurde, dass Alex, nur weil ich mit meinem Smartphone wie eine Sehende surfen konnte, einen falschen Rückschluss gezogen hatte, schien mir sein Verhalten plötzlich sonnenklar zu sein. Die Enttäuschung, die mich ergriff, dass er sein Interesse an mir nur deshalb verloren haben konnte, weil er den Eindruck gewonnen hatte, dass ich doch keine richtige Blinde sei, ließ mich in ein tiefes Loch fallen. Diese bittere Erkenntnis war noch schlimmer als die Peinlichkeit, dass ich so doof war von wildem Sex auf Augenhöhe mit Alex zu träumen, aber, dass er daran dachte vor Pawel zu kneifen schockierte mich noch viel mehr.

Maras Plan

„Wir werden ihn ganz einfach mit seinen eigenen Waffen schlagen“, sagte ich grimmig. Susi hatte den protzigen Luxusschlitten hinter einer alten Scheune auf dem Nachbargrundstück zu meinem Garten versteckt und war zu uns hinten in den Fahrgastraum dazu gestiegen. Dass ich Pavel, der in meine Wohnung eingebrochen war, über den Screenreader meines PCs, auf dem ich mich mit meinem Smartphone eingewählt hatte, als Blinde viel einfacher als das einer Sehenden möglich gewesen wäre, unbemerkt ausspähen konnte, hatte Alex total verblüfft. Dummerweise entwickelte er sich für die anstehende Aktion im Gegensatz zu Susi zusehends zum für uns fast nutzlosen Weichei.
„Mara, bitte, Pawel ist wirklich gefährlich, der wird sich uns bestimmt nicht kampflos ergeben“, jammerte Alex herum, während ich mit Susi und ihm die einzelnen Schritte des Plans wiederholte.

„Alex, Mara hat absolut recht damit, dass das Ganze im Gegensatz zu dir, für mich eine sehr persönliche Angelegenheit ist. Auch wenn du dich nur hier unten in der Nähe der Haustür verstecken und dich für uns als Reserve für Notfälle bereithalten sollst, tust du damit auch etwas sehr Wichtiges für uns“, versicherte ihm Susi mit sanfter Stimme. Während Susi Alex damit ablenkte, dass er sich für uns nur außerhalb der Gefahrenzone noch etwas nützlich machen konnte, durchstöberte ich einen Leinensack aus sich störrisch anfühlendem Tuch, den Susi aus einer Schublade des Interieurs hervorgekramt hatte. Dessen gruseliger Inhalt war mir mit den Handschellen aus schwerem Metall, verschiedenen Knebeln und diversen Peitschen zwar genauso zuwider wie Margas Accessoires aus Pawels perversem Filmstudio. Aber für das, was wir mit Pawel vorhatten, kamen mir die Sachen wie gerufen, obwohl das Eis nach wie vor unser schärfstes Schwert dafür war, um Informationen über seine Hinterleute aus ihm herauszuquetschen.

„So, das wärs …“, sagte ich zufrieden, nachdem ich den letzten Prozess gestartet hatte, der eine ähnliche Funktion wie die Return-Taste auf dem Keyboard hatte, mit dem sich Pawel, der sich in meiner Wohnung noch sicher und unbeobachtet glaubte, an meinen privatesten Geheimnissen ergötzte. Den Trojaner, den er ursprünglich dafür genutzt hatte, um Ronja und mich zu bespitzeln, hatte ich schon so umkonfiguriert, dass er jetzt für Susi und mich, anstatt für Pawel und dessen Terroristen wertvolle Erkenntnisse lieferte. Ohne zu ahnen, was ihm bald blühen würde, las Pawel noch immer in meinem Tagebuch, an dessen Ende ich soeben noch eine besondere Schlinge als finale Falle für ihn eingebaut hatte.

„Wenn die Russen Kälte als Waffe nutzen, dürfen wir das auch“, sagte ich zu Alex, der uns, sobald Susi und ich die Situation in meiner Wohnung unter Kontrolle hatten, das Eis hinauf bringen würde.

„Und was ist, wenn er euch doch zu früh bemerkt?“, warnte Alex ein letztes Mal, während Susi sich die Kabelbinder, die wir aus dem Geräteschuppen des Gärtners geholt hatten, griff und ich nach dem Leinensack mit dem Folterspielzeug tastete. Mit der anderen, noch freien Hand, hob ich meinen mit einer Wachshaut wasserdicht präparierten Outdoor-Schlafsack, der ebenfalls im Gartenhaus bei meinen anderen Trekking-Sachen und meinen Skiern verstaut gewesen war, auf und klemmte ihn mir unter den Arm. Erst während meines Aufstehens antwortete ich Alex auf seine hoffentlich letzte überfürsorgliche Frage.

„In der ganzen Wohnung gibt es keine einzige Glühbirne, weil Ronja und ich so etwas nicht brauchen und wenn er Verdacht geschöpft hätte, wäre er längst geflohen oder hätte zumindest die Rollläden hochgezogen“, sagte ich kühl. Nachdem endlich auch die letzte Frage beantwortet und jedem von uns seine Aufgabe klar war, konnten wir zur Tat schreiten und uns alle flink unsere Schuhe abstreifen. Dann schlüpften wir nacheinander aus der leise geöffneten Tür ins Freie hinaus und huschten nur mit Strümpfen an den Füßen nahezu lautlos zur Haustüre, an der wir Alex wie besprochen alleine zurückließen.

Kaltgestellt

„Klick, klack.. klack. klack … klack ..“, hörte ich Pawel in meinem In-Ear auf meinem Keyboard klackern und durch die noch geschlossene Wohnungstür hindurch drangen zusätzlich erste Originalgeräusche aus meinem Wohnzimmer. Die Geräusche, von Pawel, die sich wie Echos zu meiner digitalen Wahrnehmung hinzumischten, verrieten mir genau, wo er sich aufhielt. Wie abgesprochen bedeutete ich Susi, während ich schon vorsichtig meine Abschlusstür öffnete, mit einem Handzeichen, dass sie sich hinter meinem Rücken verstecken und mir wie ein lautloser Schatten folgen sollte. Die Tür zum Wohnzimmer war, wie ich gleich hörte, weit offen. Der Geruch von Pawels saueren Schweiß beleidigte meine Nase und ich befürchtete, dass er mein laut pochendes Herz doch zu früh hören könnte. Schweißnass krampften sich meine Hände um die Öffnung des Leinenbeutels, in dem sich unter anderem die schweren Handschellen befanden. Erst als ich ihm so nah war, dass ich die Wärmestrahlung von Pawels Körperwärme auf der Haut meines Gesichtes spürte und hob den Schlagsack langsam so weit an, bis der schwere Beutel wie ein Damoklesschwert vor mir aufragte. Pawels Mief, stach mir wie ein Leitstrahl in meine Nase, als ich mit aller Wucht Schwung holte, um ihn einen Sekundenbruchteil später mit dem ersten Schlag von seinem Stuhl zu fegen.

„Knirsch!“ … Verflucht, was war das denn? … fragte ich mich entsetzt, bis mir klar wurde, dass Pawel während des Spannens an meinem PC Erdnüsse gemampft und die Nussschalen auf dem Boden um sich herum verteilt hatte. Das Geräusch schreckte Pawel natürlich auch sofort auf und ließ so schnell wie eine Rakete aus meinem PC-Drehsessel aufgestiegen, aber Susi und ich hatten den Kampf zum Glück noch nicht ganz verloren. Der Leberhaken, der aus meiner ersten Attacke geworden war, lenkte ihn wenigstens in der Schrecksekunde noch schmerzhaft von uns ab.

„Menschen, geben achtzig Prozent ihrer Körperwärme über den Kopf ab“, hatte Marc, Mila und mir im Selbstverteidigungstraining in unserem Sportverein immer wieder eingebläut. An der Wärmestrahlung eurer Gegner könnt ihr euch so auch während des Kampfes immer noch gut orientieren. Das ist wichtig, wenn es mehrere sind, mit denen ihr es gleichzeitig aufnehmen müsst und hilft auch, wenn mal ein Schlag daneben ging.

„Runter mit euch!“, schrie ich so laut ich konnte. … alle flach auf den Boden … sofort!“, und hoffte, dass Susi verstand, dass sie sich wegducken sollte. Dass Pawel, sich nicht auf dem Boden liegend ergeben, sondern einen Gegenangriff starten würde, war mir sonnenklar. Deshalb sprang ich mit drei großen Sätzen in Richtung Küchentüre und duckte mich so tief hinter den Esstisch, dass ich den Beutel wie einen Hammer beim Hammerwurf über meinem Kopf kreisen und Fahrt aufnehmen lassen konnte. Mit meinem gestreckten linken Fuß klapperte ich mit einem Stuhl, der weit links von mir stand und hoffte, dass Pawel mir dort erneut in die Flugbahn laufen würde. Ich hoffte, dass Susi die Nerven behalten und solange in der Deckung bleiben würde, bis ich Pawel niedergestreckt hatte, weil sie mit einer Hand nicht einmal die Kabelbinder einsetzen konnte und die Handschellen sich dummerweise noch in meinem Beutel befanden.

„Knack!“, tönte es krachend durch die Luft, als mein Hammer Pawel endlich am Kopf traf und ich dachte im ersten Moment, dass ich ihm seinen Kiefer zertrümmert hätte, bis ich hörte, dass ein kleiner Gegenstand an die Wand geflogen und danach zu Bodengefallen war – „Sieh an“, dachte ich gehässig, „das war’s dann wohl mit Pawels Brille.“ Nach Susi brauchte ich nicht zu rufen, denn sie drückte mir schon, bevor ich den röchelnden Fleischkloß vollends auf den Bauch gedreht hatte, den ersten Kabelbinder gegen meinen Handrücken. Als der Troll gerade mit Kabelbindern an Fuß- und Kniegelenken fixiert und mit in Handschellen steckenden Händen auf dem Rücken wie in einem Leichensack in meinem noch offenen Schlafsack lag, erschien Alex mit der ersten Ladung Eis.

Augenhöhe

„Wenn er stirbt, haben wir ein Problem“, sagte Alex, der schon wieder weiche Knie bekam.

„Dann stirbt er eben nicht hier“, antworte ich trocken und schnitt weiter Limmetten in kleine Stücke.

„Mehr als zehn Minuten gebe ich ihm nicht mehr“, sagte Alex und verließ die Küche, um im Bad nach unserem Delinquenten zu sehen, der dort in meinem Schlafsack wie eine Mumie im Eiswasser fest steckte. Ich hörte, dass Susi, so wie ich sie gebeten hatte, ein mit Eiswürfeln gefülltes Puddingförmchen mit Wasser aufgoss und es danachin meiner Tiefkühltruhe versenkte.

„Er hat schon ganz blaue Lippen", sagte Alex, der schon wieder zurück war.

„Er sieht aus, als ob er schon reden will.“

„Passt doch! …", antwortete ich, während ich mit einem Holzstempel Saft aus den Zitrusfrüchten heraus presste und im letzten Glas mit braunen Zucker zu Brei zerstampfte. Es fehlen nur noch Rum und Crusheis, dann bin ich auch so weit. Ich wollte euch eh vorschlagen, dass wir drüben im Bad auf unseren Erfolg anstoßen. Zum Glück hatte ich früh gelernt recht glaubhaft zu überspielen, wenn es mir nicht gut ging und mir war wirklich elend zumute, weil ich fühlte, dass Alex nicht nur Angst hatte, sondern auch noch aus einem anderen Grund litt. Aus dem gleichen Grund wie ich, nur dass er diesmal seine Zähne nicht mehr auseinander bekam, um mit mir über seine Gefühle zu reden.

„Wie oft haben wir schon die Erfahrung gemacht, dass deine kalte Schulter tödlicher, als tödliche Blicke wirken kann?“, sagte meine innere Stimme in diesem vorwurfsvollen Ton, den ich überhaupt nicht an mir leiden konnte zu mir.

„Geht es dir nicht gut, Mara?“, fragte Alex in diesem Moment und streifte wie zufällig meinen Handrücken, als er mir vorsichtig sein Glas aus meiner Hand nahm.

„Ist schon viel besser, jetzt“, antwortete ich ihm weich und versöhnlich. Dann griff ich vorsichtig nach seinem Arm und schob ihn vor mir durch die Tür ins Esszimmer hinaus.

„Kennt ihr das Tropical-Island? Dort ist es fast so schön wie im Urlaub in der Südsee und es liegt fast vor unserer Haustür. Nur eine knappe Stunde mit dem Auto von hier draußen, in Krausnick und es gibt dort sogar Saunen zum Aufwärmen und Wasser zum sanft abkühlen ist auch im Überfluss da“, sagte ich, während ich Susi und Alex rechts und links von mir untergehakt hatte.

„Und was ist mit Pawel?“, fragte Alex, der natürlich nicht ahnen konnte, was ich mit dem Puddingförmchen in der Kühltruhe noch vorhatte.

Abgebrüht

„Fühlt sich richtig cool an, der Coole“, bemerkte ich sachlich kühl, während meine Fingerkuppen Pawels Gesicht erkundeten. Seine Lippen kamen mir zwar dünn, aber trotzdem irgendwie aufgedunsen, vielleicht sogar ein bisschen wie mit Hyaluronsäure aufgespritzt vor, obwohl sie nur noch ein schmaler zittriger Spalt zu sein schienen.

„Nur, dass wir uns gleich richtig verstehen, du Opfer …, wir wissen schon jetzt mehr über dich, als wir ertragen können. Schon dafür, dass du Susi im Auftrag skrupelloser Russen vergiftet hast, wäre es viel zu human, dich hier einfach nur erfrieren zu lassen“, sagte ich ganz leise, in einem mehr als bedrohlichen Ton. Die Kälte, die von Pawel zu mir aufstieg, war zwar klirrend kalt, als ich nach der Brause griff und das heiße Wasser bis zum Anschlag aufdrehte, wonach einen Moment später heißer Nebel aus der Wanne quoll.
Im selben Moment, in welchem der heiße Strahl sein Gesicht traf, schrie er wie am Spieß und wimmerte um Gnade für einen schnellen Tod.

„In wessen Auftrag hast du das getan?“, zischte ich ihn an, drehte die Brause ab und gab mich auf dem Rand meiner Badewanne von dem Geschehen völlig ungerührt, während ich genüsslich an meinem Caipirinha nippte.

„Er heißt Vsevolod, aber alle nennen ihn Wissi, weil sein Name in die deutsche Sprache übersetzt Wissewald ist“, sprudelte es aus Pawel, trotz seiner vor Kälte zitternden Stimme, gerade so heraus.

„Und warum Ronja und ich? Wehe, du streitest etwas ab, aber auch die halbe Wahrheit ist uns nicht genug“, brummte ich und ließ, um Pawel zu zeigen, dass ich zu allem entschlossen war, noch einen weiteren Schwall dampfendes Wasser aus der Brause mitten in sein Gesicht platschen.

„Von Ronja wusste ich doch am Anfang gar nichts. Erst als ich die Spyware auf deinem Computer installiert hatte und in deinem Tagebuch lesen konnte, fand ich über dich die Verbindung zu ihr“, verteidigte sich Pawel verzweifelt.

„Und warum ich?“, setzte ich nach.

„Wegen deiner Augen, aber dafür kann ich nichts, das war Wissi. Ich bin doch gar nicht so wie die und das mit Susi war ein Unfall, ich wusste doch selbst nicht was los ist, außerdem wurde ich ja selbst vergiftet“, winselte Pawel und fing dann plötzlich auch noch zu flennen an.

„Wegen meiner Augen? Das soll ich dir glauben? Ich kenne überhaupt keinen Wissi …", blaffte ich den Widerling verächtlich an und wollte ihn, so sauer wie ich jetzt war, am liebsten gleich mit der Brause blanchieren. Eigentlich hatte ich vor heute irgendwo nach getaner Arbeit nur zu zweit mit Alex den Nachmittag genießen und stattdessen hatte ich dieses unterkühlte Geschwür, das vor mir in meiner Wanne lag an der Backe. Aber dann fiel mir plötzlich Ronja wieder ein, die, solange dieser Wissi noch irgendwo sein Unwesen treiben konnte, nur meinetwegen genauso wie ich in Gefahr geraten war.

„Was hat Wissi mit meinen Augen zu tun? Überlege dir gut, was du sagst. Du hast Glück, dass ich jetzt erst mal kurz telefonieren gehen muss, aber danach will ich die volle Wahrheit von dir hören“, sagte ich und verließ das Bad, um Ronja mitzuteilen, dass wir sie doch nicht abholen kommen, sondern uns mit ihr und Yasu besser im Tropical-Island treffen würden.

„Jetzt oder nie mehr!“, sagte ich entschlossen, als ich das Bad nach dem Telefonat wieder betrat und zuerst Alex‘ Bedenken hörte. Er bezweifelte, dass Pawel das Eiswasser, das ihn wie die Schiffbrüchigen der Titanic schon viel zu lange umflutete, noch lange lebend aushalten könne.

„Kein Problem …“, sagte ich und bückte mich in die Wanne, in der Pawel leblos lag und nur noch sehr flach atmete. Mit einem lauten „Ratsch“, öffnete ich meinen guten Schlafsack, kurz bevor er fast zu Pawels Leichensack mutiert wäre und tastete in dem Schränkchen, das sich links von mir unter meinem Waschbecken befand, nach meiner Nagelschere. Nachdem ich Pawel wieder von den Kabelbindern befreit hatte, drehte ich ihn auf den Bauch und nahm ihm die Handschellen, deren Schlüssel ich an mein Armkettchen gehängt hatte, ab, bevor ich erneut zur Brause griff.

„Woher wusste Wissi von meinen Augen!“, schnauzte ich Pawel böse an, während ich ihn mit dem fast kochend heißen Wasser vollends weichkochte. Die Eiswürfel knackten frostig, weil sie in der Hitze zerplatzten, während sich Pawel schreiend wie eine Krabbe im Kessel verkrümmte und sich in der Wanne polternd hin und her warf.

„Wissi hat sich bei einer Frau Krassmann mit einem falschen Pass als ein vor den Russen aus der Ukraine Geflohener eingeschlichen und dort deinen Namen in deiner Patientenakte entdeckt. Deine Akte befand sich auf dem Computer der Frau, den er in ihrer Abwesenheit durch schnüffelte“, presste Pawel hervor. Dass er inzwischen bestimmt schon am ganzen Körper krebsrot angelaufen war, mir als ich den Namen Krassmann hörte so egal wie alles andere, ich wollte nur noch weg. Weg von hier. Mit Alex und Susi weg, an einen schönen Ort, an dem ich das, was ich gerade gehört hatte, in Ruhe verdauen konnte.

Freud und Leid

„Ein Zeitschloss aus Eis, unglaublich, auf was für Ideen du kommst, Mara“, sagte Alex, während Susi die Limo aus dem Versteck heraus rangierte und Alex eiskalten Sekt in drei frische Sektflöten sprudeln ließ.

„Ja, aber das Eistörtchen, das wir auf dem Tisch unter die Klinke der Badezimmertür geklemmt haben, wird schnell geschmolzen sein und dann ist Pawel über alle Berge“, bemerkte Susi angefressen, weil sie befürchtete, dass er seiner gerechten Strafe entkommen würde. Vermutlich lenkte sie mit einem Knie, während sie ihren Oberkörper einen Moment zu uns nach hinten drehte und Alex mit ihrer Linken das Sektglas abnahm, das er ihr durch die geöffnete Trennscheibe nach vorne durch reichte.

„Alkohol am Steuer, Abenteuer!“, neckte ich Susi und kuschelte mich zufrieden an Alex‘ Schulter, die sich so heiß anfühlte, dass nicht nur der Sekt in meinem Glas prickelte.

„Wenn Maras Plan aufgeht, wird Pawel, nachdem das letzte Eis geschmolzen ist, in ihrem Tagebuch die Spur finden, die zu uns ins Tropical-Island führt. Ich bin gespannt, ob er noch einmal auf seine Art versuchen wird, den Rest seiner Haut zu retten, den Mara ihm noch unverbrüht auf seinen Knochen gelassen hat“, antwortete Alex Susi und zog Mara noch dichter an sich heran. Auch er war über alles glücklich, dass sie ihm nicht mehr ihre kalte Schulter zeigte, sondern es sichtlich genoss, dass er mit seinen Lippen zärtlich an ihrem Schlüsselbein knabberte.

„Susi, lenkte den Wagen, in melancholisch depressiver Stimmung, war aber auch froh darüber, dass sie Zeit zum Nachdenken hatte. Dass sie während des Fahrens Mara und Alex glücklich umschlungen im Rückspiegel beobachten konnte, ohne etwas dazu sagen zu müssen, störte sie dabei kein bisschen. Eigentlich war sie immer gern so mit Liebespärchen unterwegs, weil sie dann alleine war und den stressigen Pawel nicht an ihrer Backe hatte. Irgendwie tat er ihr auch trotz allem etwas leid. Dass er wegen des Russengifts in jungen Jahren Hodenkrebs bekam, weshalb die Teufel ihm seine Männlichkeit nahmen, hatte das Leben mit ihm für beide nicht leicht gemacht. Schließlich waren sie beide unfreiwillig zu Versuchskaninchen des Bösen geworden, das noch lange nicht besiegt war.

„Armer Pawel, aber daran wird auch deine anstehende Erlösung nichts mehr ändern“, murmelte Susi, während sie den Blinker setzte und auf die riesige Halle zufuhr, in der sich das Resort befand, in dem sie sich mit Ronja und Yasu treffen wollten.

Rückblick und Vorschau aus Ronjas Perspektive

Himmelfahrt - Die Kurzgeschichte

Rückblick und Vorschau aus Maras Perspektive

Schwarzwasserdusche

Himmelfahrt - Das Buch

 Himmelfahrt - Das Buch

Impressum

Texte: ©Lisa Mondschein
Bildmaterialien: ©pixabay
Cover: ©Fizzy Lemon
Tag der Veröffentlichung: 06.01.2023

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
... für alle die frieren müssen weil Macht und Geld ungerecht verteilt sind.

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