„Oje, Pia, wenn ich doch nur vorher geahnt hätte, dass dich ein Abendessen dort emotional so aus der Bahn wirft. Im Nachhinein betrachtet wäre ich mit dir doch lieber zu unserem Lieblingsitaliener gegangen“, sagte Chris, Pias Freund, und legte zärtlich einen Arm um den Hals seiner Traumfrau.
„Aber hinterher ist man oft schlauer …“, fügte er noch hinzu und sah sie besorgt an.
Pia starrte indes wie geistesabwesend in die Flammen des Lagerfeuers, das vor ihnen prasselte. Gelegentlich knallte es aus der Glut immer wieder beängstigend laut durch die Nacht. Nach jedem Knall, wovon manche so laut wie Pistolenschüsse über den Campingplatz am Potsdamer See hallten, zuckte Pia zusammen und grübelte über den Funkenregen, der dazu aus dem Feuer stob.
„Du hast doch gar nichts falsch gemacht, Chris. Das war echt ein gelungener Abend. Die Lasagne hat prima geschmeckt und der Rotwein war grandios. Wir haben uns weder bekleckert noch haben wir etwas von dem guten Wein verschüttet“, sagte Pia und kuschelte sich nach Geborgenheit suchend nachdenklich an die Schulter ihres Freundes.
„Ja, der Wein war köstlich. Hast du auch den harzigen Hauch von Lakritz neben den samtig bitteren Aromen des Eichenfasses, in dem er gereift war, herausgeschmeckt?“, fragte Chris. Er hoffte, dass er, einer länger fortwährenden Lethargie seiner Freundin noch entgegenwirken könne, indem er positive Dinge aus dem von Pia Gesagten aufgriff, um das Gespräch auf diese Art wieder in fröhlichere Bahnen zu lenken.
„Ja klar, das war ein Geschmackserlebnis der ganz besonderen Art und nicht nur beim Wein. Das Gleiche gilt ja auch für die Lasagne, die wir dort viel bewusster als bei Enzo, unserem Lieblingsitaliener genießen durften“, gab ihm Pia, jetzt noch nachdenklicher als Chris sich das erhofft hatte, zur Antwort. Zum selben Zeitpunkt stob wieder laut knallend eine weitere Feuersalve aus der Glut des Lagerfeuers.
„Ja, die Lasagne war sehr lecker“, antwortete ihr Chris. „Das sehe ich genauso, aber das lag sicher nicht nur an den Zutaten. Enzo kocht schließlich auch nur mit den besten Sachen. Die frischen Eier, die er verwendet, kommen sogar aus eigener Haltung. Bodenhaltung. Da schmeckt man einfach, dass die Legehenne ihre Eier als glückliches Huhn friedlich wann immer sie das will in die freie Natur legen darf“, versuchte Chris das Gespräch auf diese Art weiter in eine unverfängliche Richtung zu lenken.
„Wie fandest du denn eigentlich den Film, den wir uns vorher angesehen haben?“, fuhr er fort.
„Bali wäre doch auch ein schönes Ziel für unseren nächsten Sommerurlaub, oder, Pia? Die traumhaften Buchten, die wir heute auf der Leinwand sahen, würde ich gerne mal mit dir live erleben. Dann könnten wir an einem dieser Traumstrände zusammen in die Brandung des warmen Meeres springen und es uns mal wieder richtig gut gehen lassen.“
„Solange der russische Präsident, Taras Nowikow, die Menschen in der Ukraine mit Raketen terrorisiert und Kämpfende im Feuerregen verbrennen, brauchst du mir mit solchen Vorschlägen gar nicht zu kommen“, blaffte Pia ihren Freund an. Danach befreite sie sich aus seinen Armen, rutschte auf der Bank, auf der sie saßen, etwas zur Seite und hüllte sich schmollend alleine in ihre Decke.
„Ticket ins Paradies fand ich nur fürchterlich, weil die Welt im Moment alles andere als Friede und Freiheit zu bieten hat. Mir ist das alles viel zu oberflächlich, was hier gerade so abgeht. George Clooney und Julia Roberts zocken doch nur mit einer aufgewärmten Show von der heilen Welt ab, die es im Moment so gar nicht mehr gibt. Aber auch wenn wir in Europa schon wieder Frieden hätten, wollte ich, solange es noch keine Lösung für den Klimawandel gibt, nicht nach Bali."
„Aber Pia, musst du immer so kompliziert denken? Seit du an deiner Masterarbeit schreibst, hast du dich sehr verändert. Glaubst du wirklich, dass du alleine die Welt retten kannst?", sagte Chris genervt und warf noch ein paar weitere knorrige Äste in das Feuer.
„Nach dem Kino, war noch alles gut. Wir hätten doch gleich zu Enzo gehen sollen. Diese Atmosphäre während des Essens hat dir wirklich nicht gutgetan, aber das hätte ich mir eigentlich schon vorher denken können.“
„Absolut nicht, dieses besondere Restaurant war im Gegensatz zu dem blöden Film, der uns auf der Leinwand eine heile Welt vorgegaukelt hat, eine tolle Idee von dir. Das war wirklich ein besonderes Erlebnis und es fing ja schon sehr ergreifend damit an, wie herzlich uns Alena durch das Labyrinth aus Tischen und Stühlen zu unserem Tisch begleitet hat. Das war keine heile Welt, sondern sehr authentisch und abgesehen von den vorzüglichen Speisen und dem ausdrucksvollen Wein auch kulturell wirklich bereichernd", brummte Pia und wickelte sich noch etwas besser ein.
„Ich gehe dann schon mal ins Zelt“, sagte Chris, der sich den Abend offensichtlich anders vorgestellt hatte, etwas frustriert. Nachdem er sich erhoben hatte, streichelte er Pia noch einmal zärtlich über die Wolldecke, unter der sich ihre Schulter befand und schlüpfte nachdenklich in das Zelt, das direkt neben dem Lagerfeuer aufgebaut war. Es hätte so ein romantischer Abend werden können, wo man hier doch sogar aus dem Schlafsack heraus, sowohl hinauf zu den Sternen als auch hinunter auf das Wasser sehen konnte, in dem sich das Mondlicht silbrig glänzend spiegelte. Während des Einschlafens, dachte er noch einmal kurz darüber nach, dass das Unsichtbar, als das einzige Dunkelrestaurant in Berlin, wohl doch zu viel für seine so zart besaitete Pia war. Kurz darauf dämmerte er ein und fiel in einen unruhigen Schlaf.
***
„Poff …“, knallte es erneut aus der hellen Glut, in die Pia, die nun alleine vor dem noch heiß glimmenden Lagerfeuer saß, weiter gedankenverloren hineinstarrte. Die glühenden Funken erinnerten sie an die Explosionen mit denen die Russen gerade versuchten, die Bevölkerung der Krim und des Donbass zu demoralisieren und deren Selbstvertrauen dadurch in Lethargie zu verwandeln. Von ihren Kriegserlebnissen hat uns Alena heute Abend mitten im friedlichen Berlin nur andeutungsweise berichtet, erinnerte sich Pia. Zwischen den leckeren Gängen des feinen Essens im Dunkelrestaurant hat sie sich trotz meiner neugierigen Fragen dazu sehr bedeckt gehalten, sinnierte Pia weiter. Im Nachhinein fragte sie sich, ob sie, als klar war, dass Alena aus der Ukraine nach Deutschland fliehen musste ,zu neugierig gewesen war? Ob die Fragen, die sie der Fremden gestellt hatte vielleicht zu indiskret gewesen sein könnten? In der völligen Dunkelheit, in der sie mit Chris dinierte, gingen ihr die Gräueltaten, die Russen der Bevölkerung von Marjinka angetan hatten, noch mehr nach. Sie war sich gar nicht bewusst gewesen, dass das bereits 2014 passiert war. Das war lange bevor die westliche Welt ernsthaft für das europäische Problem dort sensibilisiert war oder es war einfach wieder von anderen Dingen oberflächlich aus dem Bewusstsein der nicht betroffenen Bürger verdrängt worden. Gräuel geht uns im Dunklen noch mehr unter die Haut, dachte Pia, weil uns die Dunkelheit mehr empfänglich für unsere Ängste macht, als das während der täglichen Nachrichten im Fernsehen der Fall ist. Um so mehr beeindruckte sie die unbeschwerte Gelassenheit der ukrainischen Frau, die sie freundlich und professionell, ohne erkennbare Lethargie durch den Abend geführt hatte. Besonders bei ihren Antworten zu den Fragen, die den Krieg in ihrem Heimatland betrafen, hatte sie sich mit Bedacht und mit rhetorischem Geschick von Details und Übertreibungen ferngehalten. Pia hatte aber herausbekommen, dass das Heimatstädtchen der Geflohenen Marjinka hieß und im Donbass lag. Marjinka war schon ganz früh aus dem benachbarten Donezk heraus von Separatisten aus russischen Granatwerfern mit Sprengbomben beschossen worden. Alenas Großmutter, eine gebürtige Italienerin, die dort vor dem Krieg eine Trattoria betrieb, in der sich Alena immer gerne etwas Geld für die Finanzierung ihres Germanistikstudiums dazuverdient hatte, sei durch den Beschuss getötet worden und Alena hatte in der Explosion nicht ihr Leben, aber ihr Augenlicht verloren. Pia war total fasziniert von der starken Frau, die die deutsche Sprache nahezu akzentfrei beherrschte und sie umgangssprachlich so flüssig wie sie und Chris sprach.
„Pia?“, sagte Chris leise und strich seiner Freundin, die sich während des Aufwachens in ihrem Schlafsack wand, liebevoll durch ihr Haar.
„Chris, hast Du gut geschlafen?“, antwortete sie und streckte ihre Hand nach ihm aus.
„Geht so. Das mit dem Kino tut mir leid“, sagte Chris nachdenklich und blinzelte durch das Zelt hinaus in die aufgehende Morgensonne, die ihren Gesichtern mit einem Hauch von Wärme schmeichelte …
„Sorry, für den holprigen Abend“, sagte Chris und gab Pia damit zu verstehen, dass er sie auch, nachdem er eine Nacht über das gestrige Erlebnis geschlafen hatte, immer noch überhaupt nicht verstand. „Das Essen im Dunkeln war doch sehr bedrückend und Alena hat mir so leid getan, dass ich sogar Albträume hatte.“
„Alena hat dir leid getan? Warum denn das? Mich hat ihre glückliche Haltung total beeindruckt. Mir hast eigentlich nur du leid getan, wo du dich doch so sehr bemüht hattest. Gerade mit dem Kino … und mit dem Zelt hier in der noch unbeschwerten Natur, erwiderte Pia ihrem Freund und schälte ihre Arme aus dem Schlafsack, um ihn zu umarmen.
„Du hast total recht, mit dem, was du zu meiner Idee mit Bali gesagt hast … und auch mit dem Rest hattest du recht“, sagte Chris nachdenklich.
„Mit welchem Rest? Es war doch nur die Schnapsidee mit Bali, die mich so aufgebracht hat", sagte Pia und nahm Chris kopfschüttelnd in den Arm.
„Wir wären nach dem Kino doch besser zu Enzo gegangen“, sagt Chris und schloss Pia ebenfalls in seine Arme.
„Nein gar nicht! Deine Idee mit dem Unsichtbar war doch echt gut", antwortete Pia und wollte im ersten Moment gar nicht kapieren, warum er jetzt plötzlich wieder damit anfing, sich wegen des gelungenen Abendessens Selbstvorwürfe zu machen.
„Ich weiß nicht so recht? Irgendwie hatte Alenas Schicksal dich plötzlich voll in ein Loch gerissen", sagte Chris, streckte und reckte sich und kroch etwas hilflos aus dem Zelt hinaus ins Freie.
„Kommst du mit ins Wasser, Pia? Der Morgen ist frisch und klar, das bringt uns auf andere Gedanken. Danach packen wir schnell zusammen und gehen schön Frühstücken, ok?", fragte Chris, der schon ein alles heilendes Frühstückslächeln aufgelegt hatte und spurtete los in Richtung See, wo er gleich darauf mit einem gewagten Sprung ins Wasser platschte. Männer!?, dachte Pia und kroch auch aus ihrem Schlafsack heraus. Kann man(n) wirklich so begriffsstutzig sein? Ich hab’s ihm doch gesagt, dass Alena für mich der Star des Abends war, aber er scheint es immer noch nicht kapiert zu haben. Unglaublich, wozu Hirne fähig sind und was sich in dem Labyrinth der Synapsen so alles entwickeln kann. Chris, sinnierte sie weiter, ist jetzt absolut nicht so ein Mann, der Frauen als Spaßpüppchen oder als Legehennen sieht. Er ist alles andere als ein Macho. Chris ist einer, der sich um mich bemüht, einer, der nicht aufdringlich wird. Selbst wenn ich ihm zickig erscheine, gibt er nicht auf, aber er versteht einfach nicht, um was es wirklich geht. Er ist auch nicht blöd, auch wenn er sich so dumm wie gestern und heute Morgen anstellt. Ein Pragmatiker ist er, der mir alles recht machen will und wenn er es mal hinbekommen hat, merkt er es noch nicht einmal. Unglaublich, dass er musiziert, sich für Kunst und Literatur interessiert, aber ist das wirklich männlich, dass ihm da was fehlt?
„Pia mein Schatz, jetzt hast Du den ganzen Tag wieder so fleißig gearbeitet, ich war stundenlang allein Radfahren und habe mich danach sogar noch zwei Stunden im Studio mit den Hanteln und den Geräten beschäftigt. Aber irgendwann sollte es auch gut sein“, sagte Chris und zog Pia sanft an ihrer Hand von ihrem Schreibtisch hoch, fort ins Wohnzimmer.
„Kochen wir nach den Nachrichten zusammen, oder gehen wir lieber wieder zusammen essen?“, fragte Pia und schloss während des Aufstehens noch schnell den Deckel ihres Notebooks.
„Das war wirklich sehr lecker gestern und wenn ich ehrlich sein soll, hätte ich auch heute schon wieder voll Lust auf Pasta“, antwortete ihr Chris.
„Wie wär’s denn heute mit einem Besuch bei Enzo?“
„Wir könnten aber auch nochmal zu Alena gehen …“, sagte Pia. „Irgendwie fasziniert mich die Frau.
***
“„Pia, Chris, ich freue mich euch zu sehen“, sagte Enzo eine Stunde später und jonglierte seine Stammgäste durch das hell erleuchtete Restaurant hindurch zu einem seiner schönsten Tische.
„So, hier hab ihr einen uneingeschränkten Blick auf den nächtlichen See und es ist schon wieder so schön klar wie gestern. Ihr könnt sogar die sich auf dem dunklen Wasser spiegelnden Sterne wie Schneeflocken glitzern sehen“, sagte Enzo gewinnend lächelnd und reichte seinen beiden Gästen die Karte. Danach zog er sich dezent zwei kleine Schritte zurück und wartete im Hintergrund geduldig auf deren Bestellung.
„Oh, Feuer-Lasagne, ist die neu?“, fragte Pia.
„Ja, aber mehr werde ich euch, bevor ihr diese Kreation probiert habt, noch nicht verraten“, sagte Enzo und empfahl ihnen dazu einen CANNONAU DI SARDEGNA; Jahrgang 1997.
„Enzo, du verstehst es wirklich, deine Gäste auf die feinen Sachen, die hier bei dir in der Küche immer sehr köstlich gezaubert werden, so neugierig zu machen, dass einem schon beim Bestellen das Wasser im Mund zusammenläuft“, sagte Chris und probierte einen ersten Schluck von dem Wein, den Enzo ihm zum Vorkosten in sein großes langstieliges Glas eingegossen hatte. „Oh, der ist hervorragend“, sagte Chris und nickte wohlwollend. Enzo lächelte erfreut und füllte zuerst Pias bauchiges Glas etwa zwei Finger breit. Gleich danach goss er auch noch mehr von dem herb duftenden Wein in das Rotweinglas, das vor Chris stand und während er nachschenkte hallte leise ein Gluckern über den Tisch, weil die Gläser sehr dünnwandig waren.
„Zum Wohl Pia, auf einen schönen Abend …", prostete Chris seiner Freundin zu und lächelte sie nett an. „Bist du gut weiter gekommen, mit dem Schreiben an deiner Masterarbeit?"
„Ja, ich habe an dem Kapitel, in dem ich darüber schreibe, dass Menschen gestärkt aus Krisen hervorgehen, einiges ergänzt. Der gestrige Abend hat mich dazu inspiriert, die Wechselwirkung der Sinne noch intensiver zu beleuchten“, sagte Pia und lobte auch den schweren Wein, den Enzo ihnen empfohlen hatte.
„Für mich stehen beim Essen zwar auch der Geschmack, die Düfte und das Kaugefühl im Vordergrund, aber deshalb sehe ich doch lieber, was ich auf dem Teller habe, wo mein Weinglas steht und was für eine hübsche Frau mir gegenüber sitzt“, sagte Chris und blickte seiner Freundin dabei verliebt in ihre wie zwei blaue Sterne leuchtenden Augen.
„Das empfand ich genau umgekehrt. Mir hat die Dunkelheit einen anderen Blick auf kleine Aspekte aufgezeigt, als sei es so, dass wichtige Kleinigkeiten im Licht untergehen, oder vom Licht zugeschüttet werden würden. Vielleicht würde im Licht ertränkt sogar noch besser beschreiben, was ich dabei empfand. Das, was ich sagen will, fällt mir nicht leicht in Worte zu fassen“, sagte Pia, deren Finger sich über den Stoff der weisen Tischdecke hinweg nach den Händen von Chris vortasteten. Während sie versuchte, Chris ihre Gefühle zu beschreiben, starrte Pia durch das Fenster hinaus auf das funkelnde Spiegelbild der Sterne, die im schwarzen Wasser wie auf einer Leinwand zu tanzen schienen.
„Ein Gruß aus der Küche für meine Lieben?“, hörten sie Enzo sagen, der sich mit zwei kleinen Tellern, auf dem sich getrocknete Tomaten, Oliven, in Olivenöl gedünstete Auberginen und Zucchini sowie Parmesanraspel befanden, die dort ansprechend dekoriert waren und farbenfroh leuchteten.
„Danke Enzo“, sagte Chris und nickte Pia aufmunternd zu, ohne ihre Hände loszulassen. Enzo lächelte vielsagend, wobei es wohl eher ein Schmunzeln, als ein Lächeln war, mit dem er die harmonische Stimmung, die er sah, wortlos kommentierte. Die beiden Teller stellte er indes rechts und links der zwei Turtelnden in der Nähe der Tischecken auf dem Tischtuch aus gestärktem Leinen ab. Dann zündete er die rosafarbene Kerze, die an der Seite in der Nähe der Tischmitte stand, an und schenkte seinen Gästen eine kleine Menge von dem dunkelroten, fast schwarzen Wein in ihre Kristallgläser nach.
„Als sorgfältig beobachtende Psychologin musst du manche Dinge ja auch anders als ich sehen, sagte Chris, streichelte noch einmal zärtlich über Pias Handrücken und griff nach seinem Besteck.
„Ja, das ist wohl wahr“, sagte Pia, nahm sich ihre Gabel und ihr Messer und fuhr fort. „Für einen angehenden Wirtschaftsinformatiker, ist die Welt, die für dich aus Zahlen, Daten und Fakten besteht, wohl etwas einfacher zu verstehen. Menschen sind zum Glück keine Maschinen und können ihr Glück auch dann, wenn sie anders als andere sind, selbst neu finden. Für mich ist es die schönste Aufgabe, die ich mir nicht besser wünschen könnte, ihnen dabei zu helfen, dass sie sich auf dem Weg dorthin nicht selbst aufgeben. Nur beschädigte Maschinen müssen sich nicht schmerzlich grämen, weil sie nämlich keine Seele haben, die sie das Leiden spüren lehren könnte. Für marode Gesellschaftsformen, angeschlagene Banken, insolvente Unternehmen und kriegsmüde Soldaten, die von psychopathischen Diktatoren in den Tod getrieben werden, gilt das aber nicht. Dort geht es hinter den Zahlen immer um Menschen. Um Menschen, die dann schlichtweg professionelle Hilfe brauchen, wenn sie, weil man sie an die Grenze getrieben hat, ihr Selbstvertrauen verloren haben. Aber es gibt auch starke Menschen, die es allein schaffen, das sind dann solche wie Alena.
„Ich finde solche Schicksale aber trotzdem bedrückend“, sagte Chris, tunkte mit einem Brocken Weißbrot, das eine knackig kross gebackene Kruste hatte, Reste von Balsamico und Olivenöl aus seinem Teller auf und griff erneut nach den Händen seiner Freundin.
„Und warum konntest du nicht einfach ihr Glück, ihre Harmonie und ihre Ausgeglichenheit auf dich wirken lassen?“, fragte Pia stirnrunzelnd.
„Dein Mitleid, hat dich total für das Schöne, das sie von Anfang an ausgestrahlt hat, blockiert. Die Offenheit, mit der sie uns ihre Welt hat erleben lassen, hat mich genauso fasziniert wie ihre Welt selbst. Ich empfand die Dunkelheit in dem Moment befreiend, als ich das Vertrauen in mir spürte, dass sie uns vermittelte. Ab diesem Zeitpunkt und das war nach den ersten fünf Minuten der Fall, fiel die Angst, ein Glas umzuwerfen, total von mir ab. Neugierde und Abenteuerlust beflügelten meine Sinne und ich war total gespannt darauf, wie der erste Bissen einer Lasagne schmeckt, die man sich vor dem Genuss auf seinem Teller wie bei einer Schnitzeljagd erst suchen muss. Das gestern war übrigens die beste Lasagne, die ich je gegessen habe.
„Voilà! Hier ist euer Hauptgang. Zweimal Feuer-Lasagne für die beiden Liebenden“, sagte Enzo und balancierte ein Tablett, auf dem sich zwei ovale Schalen befanden, über denen es bläulich lodernd flimmerte zu dem Tisch seiner Gäste. „Wow, deine Pasta sieht wirklich atemberaubend lecker aus“, sagte Chris und war wie immer total begeistert darüber, was ihr Freund in Bezug auf Ambiente und kulinarische Inszenierungen drauf hat. Das, was er da heute für ihn und Pia zu ihrem Tisch brachte, sah schon bevor sie den ersten Happen gekostet hatten, unbeschreiblich lecker aus. Schon allein der Duft, den die flambierte Pasta um sie herum verbreitete, war noch bevor sie die Lasagne probiert hatten, echt verlockend.
„Zum Wohl Pia“, sagte Chris, hob sein Glas und ließ es leicht geneigt über der Tischmitte schweben, bis Pia mit dem Ihrigen die dünne Kristallkugel, begleitet von einem hauchzart über den Tisch wehendem Klingen berührte. Er sah schon, während sie noch ein Schlückchen von dem feinen Wein nahmen, die Nasenflügel seiner Freundin erwartungsvoll den Duft der Lasagne wittern und freute sich darüber, dass Pia das Essen und den schönen Abend offensichtlich genauso wie er genoss. Fast zeitgleich griffen sie, nachdem sie ihre Gläser wieder abgestellt hatten, zu den Stoffservietten, entfalteten sie voller Vorfreude und breiteten sich diese über den Jeans ihrer Oberschenkel aus. Das silberne Besteck, das für den Hauptgang eingedeckt war, funkelte einen Moment später im romantischen Kerzenschein und lag schwer in ihren Händen, um sich danach auf die Kruste der vor ihnen dampfenden Köstlichkeiten zu senken. Der Rahm, der über den Nudelplatten bräunlich geröstet zwar eher matt, aber dennoch saftig schimmerte, war etwas fester, als er auf den ersten Blick aussah. Pia lud sich eine mundgerechte Portion auf ihre Gabel und wickelte mit dem Messer feine, noch rechts und links herabhängende Käsefädchen um ihren ersten Happen. Nachdem sie, weil sie sich an dem geschmolzenen Käse nicht gleich ihren Gaumen verbrennen wollte, vorher noch kurz vorsichtig gepustet hatte, schob sie sich die Gabel genüsslich in ihren Mund. Einen Augenblick später entfalteten sich auf ihrer Zunge feinste Aromen von al dente gekochter Pasta, würzigem Rindfleisch, mildem Gorgonzola und dazu noch Basilikum, Rosmarin und der leicht salzige Geschmack grüner Oliven. Enzo stand noch im Hintergrund, als Pia plötzlich stutzte.
„Was ist denn Pia?“, fragte Chris. „Ich hoffe, dass du dir nicht die Zunge verbrannt hast, oder stimmt etwas anderes nicht?“
„Nein, Chris, es ist alles in Ordnung. Merkst du nichts? Fällt dir nichts auf?“, fragte Pia, während sich auf ihrem Gesicht ein breites Lächeln ausbreitete. Pias Augen strahlten plötzlich vor Freude wie blaue Saphire und leuchteten wie helle Sterne auf der Leinwand während eines romantischen Kinofilms.
„Pia, mir schmeckt Enzos neue Kreation auch sehr gut, aber da ist doch noch etwas? Mittlerweile kenne ich dich und deine zartfühlende Seite gut genug, um zu spüren, dass dich gerade etwas sehr bewegt, oder täusche ich mich?“, sagte Chris und sah sie eher besorgt an.
„Die Lasagne schmeckt genauso wie die gestern“, antwortete Pia und drehte ihren Kopf zu Enzo.
„Chris und ich waren gestern im Unsichtbar, wie kann das denn sein, dass ihr mit dem gleichen Rezept kocht? Ich habe dafür nur eine Erklärung, aber ist das wirklich wahr?“
„Was für eine Erklärung denn, Pia?“, fragte Chris, schob sich die nächste vollgeladene Gabel in seinen Mund, griff danach zu seiner Serviette und dann zu seinem Wein.
„Das Rätsel will ich gerne lösen“, sagte Enzo schelmisch.
„Deshalb sagte ich ja, dass ich euch die Geschichte, die zum Rezept unserer neuen Feuer-Lasagne gehört, erst erzählen wollte, nachdem ihr sie probiert hattet. Dass ihr das Rezept schon aus dem Unsichtbar kennt, konnte ich natürlich nicht ahnen.“
„Ist sie hier? Hat sie das für uns gekocht?“, fragte Pia Enzo jetzt ganz aufgeregt.
„Wer soll denn hier sein? Kann mich mal jemand einweihen?“, sagte Chris etwas genervt, der die Harmonie des schönen Abends, auf den er sich so wie gestern anfänglich auch gefreut hatte, schon wieder kippen sah.
„Ach, Chris, wer wohl? Alena natürlich, wer sonst", sagte Pia, griff nach den Händen von Chris und gab ihm auf diese Art zu verstehen, dass sie sich nur total freute und er heute keine Lethargie zu befürchten hatte.
„Liebe Pia, ich kann noch immer kaum glauben, was gerade passiert ist. Und ja, ich bin wirklich nicht darauf gekommen, dass es das gleiche Rezept wie gestern sein muss. Jetzt wo ich es weiß, schmecke ich es natürlich auch“, sagte Chris und aß genüsslich weiter. Enzo war, gleich nachdem seine Gäste ihm berichtet hatten, dass sie Alenas Rezept, das sie von ihrer Großmutter mit nach Deutschland gebracht hatte, schon aus dem Unsichtbar kannten, sofort in die Küche verschwunden. Dort berichtete er Alena, was es im Leben doch für eigenartige Zufälle geben konnte.
„Ach, Chris, es gibt so viele Dinge, die sich nicht mit Zahlen und Statistik erklären lassen und ich bin heute noch glücklicher als gestern. Du musst nicht an dir zweifeln, oder dir gar Selbstvorwürfe darüber machen, dass deine Wahrnehmung etwas getrübter war als meine. Du warst einfach nur blockiert, weil du Angst davor hattest, etwas falsch gemacht zu haben, selbst der Film, der mich mehr gelangweilt hat, als du dir das vorstellen konntest, war doch auch gut gemeint von dir. Lass uns einfach weiter den schönen Abend und das gute Essen genießen. Es wäre doch schade, wenn wir jetzt nicht zu dem erlesenen Wein greifen und auf das unerwartete Wiedersehen mit Alena anstoßen würden. Er passt wirklich perfekt zu der feinen Lasagne, oder wie denkst du darüber?“, sagte Pia, die Alena mit einem Tablett mit drei Grappa-Gläsern darauf auf den Tisch zukommen sah. Dabei kratzte sie die letzten Reste der Lasagne aus der noch lauwarmen ovalen Schale, in der die Köstlichkeit serviert worden war. Alena war groß und schlank, die weiße Jacke mit den kleinen runden Knöpfen, die wie schwarze Perlen aussahen, saß so perfekt wie die weiße Hose, die sie dazu trug. Die einem Barett gleichende weiße Mütze, die Alena auf ihrem Kopf hatte, ließ sie aussehen wie eine französische Sterneköchin. Mit ihrem Blindenstock in der einen und dem Tablett in ihrer anderen Hand navigierte sie so sicher wie am Vortag durch das Labyrinth von Tischen und Stühlen auf die beiden zu. Der einzige Unterschied zum Vortag war, dass Chris und Pia heute auch sehen konnten, wie souverän und sicher Alena das alles meisterte.
„Wie schön, dass euch meine Lasagne zum zweiten Mal so gut geschmeckt hat“, sagte Alena. Gedämpft durch das Schweißtuch, das sie sich sowohl über ihren Mund als auch über ihre Nase hinweg hochgezogen hatte, klang ihre Stimme heute etwas dumpfer, aber nicht weniger herzlich als am Vortag. Sie trug eine riesengroße schwarze Brille, die auf dem oberen Teil des weißen Tuchs, das ihre Nase überdeckte, aufsaß und nicht nur ihre Augen, sondern ihr ganzes Gesicht vor den Blicken der Gäste verbarg. Die schicke Mütze verhüllte nahezu den ganzen restlichen Kopf der geheimnisvollen Frau, der Enzo dicht auf ihre Fersen folgte.
„Hallo Alena, was für eine Freude dich so schnell wiederzutreffen“, rief Pia ihr erfreut entgegen. Dann rückte sie spontan den Stuhl neben sich so zurecht, dass Alena die Lehne sicher ertasten konnte, nachdem sie das Tablett mit den Digestifs auf dem Tisch abgestellt hatte.
„Ja, ich freue mich auch, dass ihr den Weg zu Enzo und mir auch hier hergefunden habt“, sagte Alena, setzte sich aber nicht.
„Meine Partnerin wollte euch nur kurz persönlich begrüßen“, sagte Enzo, griff nach einem der Grappa Gläser und bedeutete Pia und Chris, mit einer einladenden Handbewegung zuzugreifen.
„Du willst wirklich nicht mit uns anstoßen, Alena?“, sagte Pia enttäuscht.
„Ich koche lieber mit scharfen Sachen, als dass ich sie während der Arbeit trinke“, sagte Alena und entschuldigte sich höflich und warmherzig dafür, dass am Herd noch eine Menge Arbeit auf sie warte.
„Ihr seid mir sicher nicht böse und kommt hoffentlich bald wieder“, sagte sie nett und verschwand so schnell wie sie gekommen war wieder in die Küche.
„Das stimmt so“, sagte Chris, der nach dem üblichen Smalltalk, wie immer, wenn er mit Pia hier diniert hatte, die Zufriedenheit der beiden mit einem üppigen Trinkgeld bedachte.
„Ach, was ich fast vergessen hätte …“, sagte Enzo, als er sich an der Türe von seinen Gästen verabschiedete.
„Alena und ich planen die Eröffnung einer Art Zweigstelle meines Restaurants in der Innenstadt. Aber es soll nicht mein, sondern Alenas Restaurant werden, das wir dort als Dunkelrestaurant integrieren wollen. Das Restaurant wollen wir mit dem Namen Schattentraum in einen großen Dunkelbereich, der Schattenwelt, integrieren. Ein Bereich, der ganz auf nonvisuelle Wahrnehmungen, taktile und akustische Erlebnisse vielfältiger Art und nicht nur auf kulinarischer Freuden beschränkt, einer Vielfalt von Genüssen gerecht werden soll. Neben der Schattenwelt soll es dort dann aber, so wie hier, auch noch zusätzliche lichtdurchflutete Bereiche geben, die das Ganze als inklusives Kulturzentrum zu einer Art Indoor Resorts aufwerten. Der ganze Komplex, das Schattenglut, wird also viel mehr als nur ein Dunkelrestaurant sein und auch viel mehr als nur Essen im Dunklen zu bieten haben. In der Schattenwelt sind auch Wellness und Ruhebereiche geplant. Selbst eine Ausstellung zum Thema barrierefreie Kunst soll es im Schattenglut geben. Wenn es so weit ist, laden wir euch gern, als unsere Freunde zur Eröffnung ein."
***
„Bist du schon im Bett, Chris?“, fragte Pia, die noch schnell geduscht hatte, bevor sie Chris ins Schlafzimmer folgte. Pia war splitternackt und Chris wollte seinen Augen nicht trauen als er sie sah.
„Ich hoffe das erschreckt dich nicht, so zart besaitet wie du bist“, sagte Pia mit einem verführerischen Unterton in ihrer Stimme und hörte Chris gleich darauf erschreckt aufschreien.
„Aber Pia …“, hörte sie ihren Freund mit zittriger Stimme sagen, während sie auf ihn zu schlich und sich zu ihm ins Bett kuschelte.
„Vielleicht ist das beim Sex, ja auch so wie beim Essen“, hörte Chris seine Freundin sagen und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf die schwarze Augenbinde, die sich Pia um ihren Kopf gebunden hatte.
„Wir hätten doch auch das Licht ausmachen können“, stammelte er verdattert, aber Pia ließ ihm keine Zeit weiter darüber nachzudenken und erkundete mit ihren Fingerkuppen total erregt seinen Körper.
„Ich weiß doch, wie sehr du darauf stehst, mich mit deinen Augen auszuziehen“, sagte Pia und knabberte sich an dem Hals ihres Freundes zärtlich von seiner samtweich rasierten Brust, an seinem Hals hinauf bis zu seinen Lippen hoch. Dort fanden sich Ihre Zungen und begannen mit einem zärtlich entspannten Vorspiel bis Chris so erregt aufstöhnte, dass er alles andere als Pia um sich herum vergaß.
Texte: © Lisa Mondschein
Bildmaterialien: © Fizzy Lemon
Cover: © Fizzy Lemon
Tag der Veröffentlichung: 15.11.2022
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für die Betreiber und das Team des Restaurants "Unsichtbar" in Berlin.