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Morgengrauen - Band 1 aus der Schattenglut-Reihe

 

 

 

Morgengrauen

 

Texte: © Copyright 2022 - 2025:

Lisa Mondschein, alle Rechte vorbehalten.

Fassung 7.1.1 Mai 2025

 

 

 

Ein erotischer Thriller -Transsexuell? Blind? Amputiert? - aufgeben ...? niemals ...!

 

 

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wären rein zufällig.

 

 

 

Vorwort

Dieser erotische Thriller will Lesende dafür gewinnen sich ein eigenes Bild von der taffen Hauptprotagonistin Mara und ihren Cliquen zu machen. Maras Entwicklung wird in den Nebelkapiteln recht authentisch und auch nicht wirklich schlimm, aber dennoch so erzählt, wie sich das Leben für einen im falschen Körper geborenen Menschen sogar ohne normale Augen glücklich und spannend entwickeln kann. Parallel zu den Nebelkapiteln, die zeitlich gesehen chronologisch zu Maras Entwicklung ablaufen, sind in den Berliner Handlungssträngen Zeitsprünge mit der dann schon erwachsenen Mara eingeflochten, die teilweise auch heftig gruselig und abenteuerlich schräg ablaufen. Im weiteren Verlauf schwenkt die Handlung zu der Proagonistin Susi, die mit Antagonisten aus dem Umfeld des russischen Überfalls auf die Ukraine im Mittelpunkt steht.

 

Am 4.12.2022 wurde vom „Stern“ die Kolumne:

Perlen der Kreml-Propaganda

Veröffentlicht:

„Von Invaliden zu Cyborgs“

 

Triggerwarnung:

Von Stümpfen amputierter Personen und von leeren Augenhöhlen blinder Menschen zu lesen, mag für manche Gemüter vielleicht schwer verdaulich sein. Dennoch schlummert für einige Betroffene, die sich gegenwärtig mit ihrem Leben mit Einschränkung bestmöglich arrangiert haben, in den heute noch utopisch wirkenden Visionen dieser Geschichte vielleicht auch die Hoffnung auf ein in vielen Fällen noch glücklicheres Leben.

 

Aktive Augenprothesen, die blinde Menschen wieder sehend machen, sind gegenwärtig zwar noch Fiktion, aber in naher oder fernerer Zukunft sind Kunstaugen, die sehen können, auch aus heutiger Sicht nicht mehr vollumfänglich utopisch.

 

Prothesen, die es Amputierten ermöglichen – zum Beispiel im Sport – bessere Leistungen als Menschen ohne Prothesen zu erbringen, sind schon seit einiger Zeit Stand der Technik und fordern sowohl Ethikräte als auch olympische Komitees und die Rechtsprechung damit, festzulegen, wie solche Leistungen zukünftig gerecht und richtig gesellschaftlich einzuordnen sind.

 

Keine Fiktion, sondern makabere Tatsache ist es, dass die russische Propaganda versucht, Prothesen in der russischen Gesellschaft als Gadgets zu etablieren.

 

Auch wer nur kurz hineingelesen hat und mir ein Feedback zu meinem Erstlingswerk geben möchte, ist herzlich in dieser Gruppe willkommen:

 

"Himmelfahrt - Das Buch" Erstlingswerk in Arbeit von Lisa Mondschein

Sonne, Mond und Sterne

Alena

 

„Oje, Pia, wenn ich doch nur vorher geahnt hätte, dass dich ein Abendessen dort emotional so aus der Bahn wirft. Im Nachhinein betrachtet wäre ich mit dir doch lieber zu unserem Lieblingsitaliener gegangen“, sagte Chris, Pias Freund, und legte zärtlich einen Arm um den Hals seiner Traumfrau.

„Aber hinterher ist man oft schlauer …“, fügte er noch hinzu und sah sie besorgt an.

Pia starrte indes wie geistesabwesend in die Flammen des Lagerfeuers, das vor ihnen prasselte. Gelegentlich knallte es aus der Glut immer wieder beängstigend laut durch die Nacht. Nach jedem Knall, wovon manche so laut wie Pistolenschüsse über den Campingplatz am Potsdamer See hallten, zuckte Pia zusammen und grübelte über den Funkenregen, der dazu aus dem Feuer stob.

„Du hast doch gar nichts falsch gemacht, Chris. Das war echt ein gelungener Abend. Die Lasagne hat prima geschmeckt und der Rotwein war grandios. Wir haben uns weder bekleckert noch haben wir etwas von dem guten Wein verschüttet“, sagte Pia und kuschelte sich nach Geborgenheit suchend an die Schulter ihres Freundes.

„Ja, der Wein war köstlich. Hast du auch den harzigen Hauch von Lakritz neben den samtig bitteren Aromen des Eichenfasses, in dem er gereift war, herausgeschmeckt?“, fragte Chris. Er hoffte, dass er, einer länger fortwährenden Lethargie seiner Freundin noch entgegenwirken könne, indem er positive Dinge aus dem von Pia Gesagten aufgriff, um das Gespräch auf diese Art wieder in fröhlichere Bahnen zu lenken.

„Ja klar, das war ein Geschmackserlebnis der ganz besonderen Art und nicht nur beim Wein. Das Gleiche gilt ja auch für die Lasagne, die wir dort viel bewusster als bei Enzo, unserem Lieblingsitaliener, genießen durften“, gab ihm Pia, jetzt noch nachdenklicher als Chris sich das erhofft hatte, zur Antwort. Zum selben Zeitpunkt stob wieder laut knallend eine weitere Feuersalve aus der Glut des Lagerfeuers.

„Ja, die Lasagne war sehr lecker“, antwortete ihr Chris. „Das sehe ich genauso, aber das lag sicher nicht nur an den Zutaten. Enzo kochte schließlich auch nur mit den besten Sachen. Die frischen Eier, die er verwendet, kommen sogar aus eigener Haltung. Bodenhaltung. Da schmeckt man einfach, dass die Legehenne ihre Eier als glückliches Huhn friedlich, wann immer sie das will, in die freie Natur legen darf“, versuchte Chris, das Gespräch auf diese Art weiter in eine unverfängliche Richtung zu lenken.

„Wie fandest du denn eigentlich den Film, den wir uns vorher angesehen haben?“, fuhr er fort.

„Bali wäre doch auch ein schönes Ziel für unseren nächsten Sommerurlaub, oder, Pia? Die traumhaften Buchten, die wir heute auf der Leinwand sahen, würde ich gerne mal mit dir live erleben. Dann könnten wir an einem dieser Traumstrände zusammen in die Brandung des warmen Meeres springen und es uns mal wieder richtig gut gehen lassen.“

„Solange der russische Präsident Taras Nowikow die Menschen in der Ukraine mit Raketen terrorisiert und Kämpfende im Feuerregen verbrennen, brauchst du mir mit solchen Vorschlägen gar nicht zu kommen“, blaffte Pia ihren Freund an. Danach befreite sie sich aus seinen Armen, rutschte auf der Bank, auf der sie saßen, etwas zur Seite und hüllte sich schmollend alleine in ihre Decke.

„Ticket ins Paradies fand ich nur fürchterlich, weil die Welt im Moment alles andere als Frieden und Freiheit zu bieten hat. Mir ist das alles viel zu oberflächlich, was hier gerade so abgeht. George Clooney und Julia Roberts zocken doch nur mit einer aufgewärmten Show von der heilen Welt ab, die es im Moment so gar nicht mehr gibt. Aber auch wenn wir in Europa schon wieder Frieden hätten, wollte ich, solange es noch keine Lösung für den Klimawandel gibt, nicht nach Bali."

„Aber Pia, musst du immer so kompliziert denken? Seit du an deiner Masterarbeit schreibst, hast du dich sehr verändert. Glaubst du wirklich, dass du alleine die Welt retten kannst?", sagte Chris genervt und warf noch ein paar weitere knorrige Äste in das Feuer.

„Nach dem Kino war noch alles gut. Wir hätten doch gleich zu Enzo gehen sollen. Diese Atmosphäre während des Essens hat dir wirklich nicht gutgetan, aber das hätte ich mir eigentlich schon vorher denken können.“

„Absolut nicht, dieses besondere Restaurant war im Gegensatz zu dem blöden Film, der uns auf der Leinwand eine heile Welt vorgegaukelt hat, eine tolle Idee von dir. Das war wirklich ein besonderes Erlebnis und es fing ja schon sehr ergreifend damit an, wie herzlich uns Alena durch das Labyrinth aus Tischen und Stühlen zu unserem Tisch begleitet hat. Das war keine heile Welt, sondern sehr authentisch und abgesehen von den vorzüglichen Speisen und dem ausdrucksvollen Wein auch kulturell wirklich bereichernd", brummte Pia und wickelte sich noch etwas besser ein.

„Ich gehe dann schon mal ins Zelt“, sagte Chris, der sich den Abend offensichtlich anders vorgestellt hatte, etwas frustriert. Nachdem er sich erhoben hatte, streichelte er Pia noch einmal zärtlich über die Wolldecke, unter der sich ihre Schulter befand, und schlüpfte nachdenklich in das Zelt, das direkt neben dem Lagerfeuer aufgebaut war. Es hätte so ein romantischer Abend werden können, wo man hier doch sogar aus dem Schlafsack heraus sowohl hinauf zu den Sternen als auch hinunter auf das Wasser sehen konnte, in dem sich das Mondlicht silbrig glänzend spiegelte. Während des Einschlafens dachte er noch einmal kurz darüber nach, dass das Unsichtbar, als das einzige Dunkelrestaurant in Berlin, wohl doch zu viel für seine so zart besaitete Pia war. Kurz darauf dämmerte er ein und fiel in einen unruhigen Schlaf.


***

 

„Poff …“, knallte es erneut aus der hellen Glut, in die Pia, die nun alleine vor dem noch heiß glimmenden Lagerfeuer saß, weiter gedankenverloren hineinstarrte. Die glühenden Funken erinnerten sie an die Explosionen, mit denen die Russen gerade versuchten, die Bevölkerung der Krim und des Donbass zu demoralisieren und deren Selbstvertrauen dadurch in Lethargie zu verwandeln. Von ihren Kriegserlebnissen hat uns Alena heute Abend mitten im friedlichen Berlin nur andeutungsweise berichtet, erinnerte sich Pia. Zwischen den leckeren Gängen des feinen Essens im Dunkelrestaurant hat sie sich trotz meiner neugierigen Fragen dazu sehr bedeckt gehalten, sinnierte Pia weiter. Im Nachhinein fragte sie sich, ob sie, als klar war, dass Alena aus der Ukraine nach Deutschland fliehen musste, zu neugierig gewesen war? Ob die Fragen, die sie der Fremden gestellt hatte, vielleicht zu indiskret gewesen sein könnten? In der völligen Dunkelheit, in der sie mit Chris dinierte, gingen ihr die Gräueltaten, die die Russen der Bevölkerung von Marjinka angetan hatten, noch mehr nach. Sie war sich gar nicht bewusst gewesen, dass das bereits 2014 passiert war. Das war lange bevor die westliche Welt ernsthaft für das europäische Problem dort sensibilisiert war oder es war einfach wieder von anderen Dingen oberflächlich aus dem Bewusstsein der nicht betroffenen Bürger verdrängt worden. Gräuel gehen uns im Dunklen noch mehr unter die Haut, dachte Pia, weil uns die Dunkelheit empfänglicher für unsere Ängste macht, als das während der täglichen Nachrichten im Fernsehen der Fall ist. Umso mehr beeindruckte sie die unbeschwerte Gelassenheit der ukrainischen Frau, die sie freundlich und professionell, ohne erkennbare Lethargie, durch den Abend geführt hatte. Besonders bei ihren Antworten auf die Fragen, die den Krieg in ihrem Heimatland betrafen, hatte sie sich mit Bedacht und mit rhetorischem Geschick von Details und Übertreibungen ferngehalten. Pia hatte aber herausbekommen, dass das Heimatstädtchen der Geflohenen Marjinka hieß und im Donbass lag. Marjinka war schon ganz früh aus dem benachbarten Donezk heraus von Separatisten aus russischen Granatwerfern mit Sprengbomben beschossen worden. Alenas Großmutter, eine gebürtige Italienerin, die dort vor dem Krieg eine Trattoria betrieb, in der sich Alena immer gerne etwas Geld für die Finanzierung ihres Germanistikstudiums dazuverdient hatte, sei durch den Beschuss getötet worden und Alena hatte in der Explosion nicht ihr Leben, aber ihr Augenlicht verloren. Pia war total fasziniert von der starken Frau, die die deutsche Sprache nahezu akzentfrei beherrschte und sie umgangssprachlich so flüssig wie sie und Chris sprach.

 

***

 

„Pia?“, sagte Chris leise und strich seiner Freundin, die sich während des Aufwachens in ihrem Schlafsack wand, liebevoll durch ihr Haar.

„Chris, hast Du gut geschlafen?“, antwortete sie und streckte ihre Hand nach ihm aus.

„Geht so. Das mit dem Kino tut mir leid“, sagte Chris nachdenklich und blinzelte durch das Zelt hinaus in die aufgehende Morgensonne, die ihren Gesichtern mit einem Hauch von Wärme schmeichelte …

„Sorry für den holprigen Abend“, sagte Chris und gab Pia damit zu verstehen, dass er sie auch, nachdem er eine Nacht über das gestrige Erlebnis geschlafen hatte, immer noch überhaupt nicht verstand. „Das Essen im Dunkeln war doch sehr bedrückend und Alena hat mir so leid getan, dass ich sogar Albträume hatte.“

„Alena hat dir leid getan? Warum denn das? Mich hat ihre glückliche Haltung total beeindruckt. Mir hast eigentlich nur du leid getan, wo du dich doch so sehr bemüht hattest. Gerade mit dem Kino … und mit dem Zelt hier in der noch unbeschwerten Natur“, erwiderte Pia ihrem Freund und schälte ihre Arme aus dem Schlafsack, um ihn zu umarmen.

„Du hast total recht, mit dem, was du zu meiner Idee mit Bali gesagt hast … und auch mit dem Rest hattest du recht“, sagte Chris nachdenklich.

„Mit welchem Rest? Es war doch nur die Schnapsidee mit Bali, die mich so aufgebracht hat", sagte Pia und nahm Chris kopfschüttelnd in den Arm.

„Wir wären nach dem Kino doch besser zu Enzo gegangen“, sagt Chris und schloss Pia ebenfalls in seine Arme.

„Nein, gar nicht! Deine Idee mit dem Unsichtbar war doch echt gut", antwortete Pia und wollte im ersten Moment gar nicht kapieren, warum er jetzt plötzlich wieder damit anfing, sich wegen des gelungenen Abendessens Selbstvorwürfe zu machen.

„Ich weiß nicht so recht? Irgendwie hatte Alenas Schicksal dich plötzlich voll in ein Loch gerissen", sagte Chris, streckte und reckte sich und kroch etwas hilflos aus dem Zelt hinaus ins Freie.

„Kommst du mit ins Wasser, Pia? Der Morgen ist frisch und klar, das bringt uns auf andere Gedanken. Danach packen wir schnell zusammen und gehen schön frühstücken, okay?", fragte Chris, der schon ein alles heilendes Frühstückslächeln aufgelegt hatte, und spurtschte los in Richtung See, wo er gleich darauf mit einem gewagten Sprung ins Wasser platschte. „Männer!“, murmelte Pia vor sich hin und kroch auch aus ihrem Schlafsack heraus. Kann einer wirklich so begriffsstutzig sein? Ich hab’s ihm doch gesagt, dass Alena für mich der Star des Abends war, aber er scheint es immer noch nicht kapiert zu haben. Unglaublich, wozu Hirne fähig sind und was sich in dem Labyrinth der Synapsen so alles entwickeln kann. Chris, sinnierte sie weiter, ist jetzt absolut nicht so ein Mann, der Frauen als Spaßpüppchen oder als Legehennen sieht. Er ist alles andere als ein Macho. Chris ist einer, der sich um mich bemüht, einer, der nicht aufdringlich wird. Selbst wenn ich ihm zickig erscheine, gibt er nicht auf, aber er versteht einfach nicht, um was es wirklich geht. Er ist auch nicht blöd, auch wenn er sich so dumm wie gestern und heute Morgen anstellt. Ein Pragmatiker ist er, der mir alles rechtmachen will, und wenn er es mal hinbekommen hat, merkt er es noch nicht einmal. Unglaublich, dass er musiziert und sich für Kunst und Literatur interessiert, aber ist das wirklich männlich, dass ihm da was fehlt?

 

***

 

„Pia, mein Schatz, jetzt hast du den ganzen Tag wieder so fleißig gearbeitet, ich war stundenlang allein Radfahren und habe mich danach sogar noch zwei Stunden im Studio mit den Hanteln und den Geräten beschäftigt. Aber irgendwann sollte es auch gut sein“, sagte Chris und zog Pia sanft an ihrer Hand von ihrem Schreibtisch hoch, fort ins Wohnzimmer.

„Kochen wir nach den Nachrichten zusammen, oder gehen wir lieber wieder essen?“, fragte Pia und schloss während des Aufstehens noch schnell den Deckel ihres Notebooks.

„Das war wirklich sehr lecker gestern und wenn ich ehrlich sein soll, hätte ich auch heute schon wieder voll Lust auf Pasta“, antwortete ihr Chris.

„Wie wär’s denn heute mit einem Besuch bei Enzo?“

„Wir könnten aber auch nochmal zu Alena gehen …“, sagte Pia. „Irgendwie fasziniert mich die Frau.“



***

 

„Pia, Chris, ich freue mich, euch zu sehen“, sagte Enzo eine Stunde später und jonglierte seine Stammgäste durch das hell erleuchtete Restaurant hindurch zu einem seiner schönsten Tische.

„So, hier habt ihr einen uneingeschränkten Blick auf den nächtlichen See und es ist schon wieder so schön klar wie gestern. Ihr könnt sogar die sich auf dem dunklen Wasser spiegelnden Sterne wie Schneeflocken glitzern sehen“, sagte Enzo gewinnend lächelnd und reichte seinen beiden Gästen die Karte. Danach zog er sich dezent zwei kleine Schritte zurück und wartete im Hintergrund geduldig auf deren Bestellung.

„Oh, Feuer-Lasagne, ist die neu?“, fragte Pia.

„Ja, aber mehr werde ich euch, bevor ihr diese Kreation probiert habt, noch nicht verraten“, sagte Enzo und empfahl ihnen dazu einen CANNONAU DI SARDEGNA; Jahrgang 1997.

„Enzo, du verstehst es wirklich, deine Gäste auf die feinen Sachen, die hier bei dir in der Küche immer sehr köstlich gezaubert werden, so neugierig zu machen, dass einem schon beim Bestellen das Wasser im Mund zusammenläuft“, sagte Chris und probierte einen ersten Schluck von dem Wein, den Enzo ihm zum Vorkosten in sein großes, langstieliges Glas eingegossen hatte. „Oh, der ist hervorragend“, sagte Chris und nickte wohlwollend. Enzo lächelte erfreut und füllte zuerst Pias bauchiges Glas etwa zwei Finger breit. Gleich danach goss er noch mehr von dem herb duftenden Wein in das Rotweinglas, das vor Chris stand, und füllte es ebenfalls zwei Finger hoch nach. Während er nachschenkte, hallte leise ein Gluckern über den Tisch. Es klang so weich und zart wie die Blume des Weins und die Färbung des Klangs offenbarte das dünnwandige Bleikristall der Gläser, in denen der Wein so rot wie purpurfarbener Samt schimmerte.

„Zum Wohl Pia, auf einen schönen Abend …", prostete Chris seiner Freundin zu und lächelte sie nett an. „Bist du gut weitergekommen mit dem Schreiben an deiner Masterarbeit?"

„Ja, ich habe an dem Kapitel, in dem ich darüber schreibe, dass Menschen gestärkt aus Krisen hervorgehen, einiges ergänzt. Der gestrige Abend hat mich dazu inspiriert, die Wechselwirkung der Sinne noch intensiver zu beleuchten“, sagte Pia und lobte auch den schweren Wein, den Enzo ihnen empfohlen hatte.

„Für mich stehen beim Essen zwar auch der Geschmack, die Düfte und das Kaugefühl im Vordergrund, aber deshalb sehe ich doch lieber, was ich auf dem Teller habe, wo mein Weinglas steht und was für eine hübsche Frau mir gegenüber sitzt“, sagte Chris und blickte seiner Freundin dabei verliebt in ihre wie zwei blaue Sterne leuchtenden Augen.

„Das empfand ich genau umgekehrt. Mir hat die Dunkelheit einen anderen Blick auf kleine Aspekte aufgezeigt, als sei es so, dass wichtige Kleinigkeiten im Licht untergehen oder vom Licht zugeschüttet werden würden. Vielleicht würde „im Licht ertränkt“ sogar noch besser beschreiben, was ich dabei empfand. Das, was ich sagen will, fällt mir nicht leicht in Worte zu fassen“, sagte Pia, deren Finger sich über den Stoff der weißen Tischdecke hinweg nach den Händen von Chris vortasteten. Während sie versuchte, Chris ihre Gefühle zu beschreiben, starrte Pia durch das Fenster hinaus auf das funkelnde Spiegelbild der Sterne, die im schwarzen Wasser wie auf einer Leinwand zu tanzen schienen.

„Ein Gruß aus der Küche für meine Lieben?“, hörten sie Enzo sagen, der sich mit zwei kleinen Tellern näherte, auf denen sich getrocknete Tomaten, Oliven, in Olivenöl gedünstete Auberginen und Zucchini sowie Parmesanraspel befanden, die dort ansprechend dekoriert waren und farbenfroh leuchteten.

„Danke, Enzo“, sagte Chris und nickte Pia aufmunternd zu, ohne ihre Hände loszulassen. Enzo lächelte vielsagend, wobei es wohl eher ein Schmunzeln als ein Lächeln war, mit dem er die harmonische Stimmung, die er sah, wortlos kommentierte. Die beiden Teller stellte er indes rechts und links der zwei Turtelnden in der Nähe der Tischecken auf dem Tischtuch aus gestärktem Leinen ab. Dann zündete er die rosafarbene Kerze, die an der Seite in der Nähe der Tischmitte stand, an und schenkte seinen Gästen eine kleine Menge von dem dunkelroten, fast schwarzen Wein in ihre Kristallgläser nach.

„Als sorgfältig beobachtende Psychologin musst du manche Dinge ja auch anders als ich sehen“, sagte Chris, streichelte noch einmal zärtlich über Pias Handrücken und griff nach seinem Besteck.

„Ja, das ist wohl wahr“, sagte Pia, nahm sich ihre Gabel und ihr Messer und fuhr fort. „Für einen angehenden Wirtschaftsinformatiker ist die Welt, die für dich aus Zahlen, Daten und Fakten besteht, wohl etwas einfacher zu verstehen. Menschen sind zum Glück keine Maschinen und können ihr Glück auch dann, wenn sie anders als andere sind, selbst neu finden. Für mich ist es die schönste Aufgabe, die ich mir nicht besser wünschen könnte, ihnen dabei zu helfen, dass sie sich auf dem Weg dorthin nicht selbst aufgeben. Nur beschädigte Maschinen müssen sich nicht schmerzlich grämen, weil sie nämlich keine Seele haben, die sie das Leiden spüren lehren könnte. Für marode Gesellschaftsformen, angeschlagene Banken, insolvente Unternehmen und kriegsmüde Soldaten, die von psychopathischen Diktatoren in den Tod getrieben werden, gilt das aber nicht. Dort geht es hinter den Zahlen immer um Menschen. Um Menschen, die dann schlichtweg professionelle Hilfe brauchen, wenn sie, weil man sie an die Grenze getrieben hat, ihr Selbstvertrauen verloren haben. Aber es gibt auch starke Menschen, die es allein schaffen, das sind dann solche wie Alena.

„Ich finde solche Schicksale aber trotzdem bedrückend“, sagte Chris, tunkte mit einem Brocken Weißbrot, das eine knackig-kross gebackene Kruste hatte, Reste von Balsamico und Olivenöl aus seinem Teller auf und griff erneut nach den Händen seiner Freundin.

„Und warum konntest du nicht einfach ihr Glück, ihre Harmonie und ihre Ausgeglichenheit auf dich wirken lassen?“, fragte Pia stirnrunzelnd.

„Dein Mitleid hat dich total für das Schöne, das sie von Anfang an ausgestrahlt hat, blockiert. Die Offenheit, mit der sie uns ihre Welt hat erleben lassen, hat mich genauso fasziniert wie ihre Welt selbst. Ich empfand die Dunkelheit in dem Moment befreiend, als ich das Vertrauen in mir spürte, das sie uns vermittelte. Ab diesem Zeitpunkt, und das war nach den ersten fünf Minuten der Fall, fiel die Angst, ein Glas umzuwerfen, total von mir ab. Neugierde und Abenteuerlust beflügelten meine Sinne und ich war total gespannt darauf, wie der erste Bissen einer Lasagne schmeckt, die man sich vor dem Genuss auf seinem Teller wie bei einer Schnitzeljagd erst suchen muss. Das gestern war übrigens die beste Lasagne, die ich je gegessen habe.

„Voilà! Hier ist euer Hauptgang. Zweimal Feuer-Lasagne für die beiden Liebenden“, sagte Enzo und balancierte ein Tablett, auf dem sich zwei ovale Schalen befanden, über denen es bläulich lodernd flimmerte, zu dem Tisch seiner Gäste. „Wow, deine Pasta sieht wirklich atemberaubend lecker aus“, sagte Chris und war wie immer total begeistert darüber, was ihr Freund in Bezug auf Ambiente und kulinarische Inszenierungen drauf hat. Das, was er da heute für ihn und Pia zu ihrem Tisch brachte, sah schon bevor sie den ersten Happen gekostet hatten unbeschreiblich lecker aus. Schon allein der Duft, den die flambierte Pasta um sie herum verbreitete, war, noch bevor sie die Lasagne probiert hatten, echt verlockend.

„Zum Wohl, Pia“, sagte Chris, hob sein Glas und ließ es leicht geneigt über der Tischmitte schweben, bis Pia mit dem Ihrigen die dünne Kristallkugel, begleitet von einem hauchzart über den Tisch wehendem Klingen, berührte. Er sah schon, während sie noch ein Schlückchen von dem feinen Wein nahmen, die Nasenflügel seiner Freundin erwartungsvoll den Duft der Lasagne wittern und freute sich darüber, dass Pia das Essen und den schönen Abend offensichtlich genauso wie er genoss. Fast zeitgleich griffen sie, nachdem sie ihre Gläser wieder abgestellt hatten, zu den Stoffservietten, entfalteten sie voller Vorfreude und breiteten sie über den Jeans ihrer Oberschenkel aus. Das silberne Besteck, das für den Hauptgang eingedeckt war, funkelte einen Moment später im romantischen Kerzenschein und lag schwer in ihren Händen, um sich danach auf die Kruste der vor ihnen dampfenden Köstlichkeiten zu senken. Der Rahm, der über den Nudelplatten bräunlich geröstet zwar eher matt, aber dennoch saftig schimmerte, war etwas fester, als er auf den ersten Blick aussah. Pia lud sich eine mundgerechte Portion auf ihre Gabel und wickelte mit dem Messer feine, noch rechts und links herabhängende Käsefädchen um ihren ersten Happen. Nachdem sie, weil sie sich an dem geschmolzenen Käse nicht gleich ihren Gaumen verbrennen wollte, vorher noch kurz vorsichtig gepustet hatte, schob sie sich die Gabel genüsslich in ihren Mund. Einen Augenblick später entfalteten sich auf ihrer Zunge feinste Aromen von al dente gekochter Pasta, würzigem Rindfleisch, mildem Gorgonzola und dazu noch Basilikum, Rosmarin und der leicht salzige Geschmack grüner Oliven. Enzo stand noch im Hintergrund, als Pia plötzlich stutzte.

„Was ist denn Pia?“, fragte Chris. „Ich hoffe, dass du dir nicht die Zunge verbrannt hast, oder stimmt etwas anderes nicht?“

„Nein, Chris, es ist alles in Ordnung. Merkst du nichts? Fällt dir nichts auf?“, fragte Pia, während sich auf ihrem Gesicht ein breites Lächeln ausbreitete. Pias Augen strahlten plötzlich vor Freude wie blaue Saphire und leuchteten wie helle Sterne auf der Leinwand während eines romantischen Kinofilms.

„Pia, mir schmeckt Enzos neue Kreation auch sehr gut, aber da ist doch noch etwas? Mittlerweile kenne ich dich und deine zartfühlende Seite gut genug, um zu spüren, dass dich gerade etwas sehr bewegt, oder täusche ich mich?“, sagte Chris und sah sie eher besorgt an.

„Die Lasagne schmeckt genauso wie die gestern“, antwortete Pia und drehte ihren Kopf zu Enzo.

„Chris und ich waren gestern im Unsichtbar. Wie kann das denn sein, dass ihr mit dem gleichen Rezept kocht? Ich habe dafür nur eine Erklärung, aber ist das wirklich wahr?“

„Was für eine Erklärung denn, Pia?“, fragte Chris, schob sich die nächste vollgeladene Gabel in seinen Mund, griff danach zu seiner Serviette und dann zu seinem Wein.

„Das Rätsel will ich gerne lösen“, sagte Enzo schelmisch.

„Deshalb sagte ich ja, dass ich euch die Geschichte, die zum Rezept unserer neuen Feuer-Lasagne gehört, erst erzählen wollte, nachdem ihr sie probiert hattet. Dass ihr das Rezept schon aus dem Unsichtbar kennt, konnte ich natürlich nicht ahnen.“

„Ist sie hier? Hat sie das für uns gekocht?“, fragte Pia Enzo jetzt ganz aufgeregt.

„Wer soll denn hier sein? Kann mich mal jemand einweihen?“, sagte Chris etwas genervt, der die Harmonie des schönen Abends, auf den er sich so wie gestern anfänglich auch gefreut hatte, schon wieder kippen sah.

„Ach, Chris, wer wohl? Alena natürlich, wer sonst", sagte Pia, griff nach den Händen von Chris und gab ihm auf diese Art zu verstehen, dass sie sich nur total freute und er heute keine Lethargie zu befürchten hatte.

 

 ***

 

„Liebe Pia, ich kann noch immer kaum glauben, was gerade passiert ist. Und ja, ich bin wirklich nicht darauf gekommen, dass es das gleiche Rezept wie gestern sein muss. Jetzt wo ich es weiß, schmecke ich es natürlich auch“, sagte Chris und aß genüsslich weiter. Enzo war, gleich nachdem seine Gäste ihm berichtet hatten, dass sie Alenas Rezept, das sie von ihrer Großmutter mit nach Deutschland gebracht hatte, schon aus dem Unsichtbar kannten, in die Küche verschwunden. Dort berichtete er Alena, was es im Leben doch für eigenartige Zufälle geben konnte.

„Ach, Chris, es gibt so viele Dinge, die sich nicht mit Zahlen und Statistik erklären lassen, und ich bin heute noch glücklicher als gestern. Du musst nicht an dir zweifeln oder dir gar Selbstvorwürfe darüber machen, dass deine Wahrnehmung etwas getrübter war als meine. Du warst einfach nur blockiert, weil du Angst davor hattest, etwas falsch gemacht zu haben. Selbst der Film, der mich mehr gelangweilt hat, als du dir das vorstellen konntest, war doch auch gut gemeint von dir. Lass uns einfach weiter den schönen Abend und das gute Essen genießen. Es wäre doch schade, wenn wir jetzt nicht zu dem erlesenen Wein greifen und auf das unerwartete Wiedersehen mit Alena anstoßen würden. Er passt wirklich perfekt zu der feinen Lasagne, oder wie denkst du darüber?“, sagte Pia, die Alena mit einem Tablett mit drei Grappa-Gläsern darauf auf den Tisch zukommen sah. Dabei kratzte sie die letzten Reste der Lasagne aus der noch lauwarmen ovalen Schale, in der die Köstlichkeit serviert worden war. Alena war groß und schlank, die weiße Jacke mit den kleinen runden Knöpfen, die wie schwarze Perlen aussahen, saß so perfekt wie die weiße Hose, die sie dazu trug. Die einem Barett gleichende weiße Mütze, die Alena auf ihrem Kopf hatte, ließ sie aussehen wie eine französische Sterneköchin. Mit ihrem Blindenstock in der einen und dem Tablett in ihrer anderen Hand navigierte sie so sicher wie am Vortag durch das Labyrinth von Tischen und Stühlen auf die beiden zu. Der einzige Unterschied zum Vortag war, dass Chris und Pia heute auch sehen konnten, wie souverän und sicher Alena das alles meisterte.

„Wie schön, dass euch meine Lasagne zum zweiten Mal so gut geschmeckt hat“, sagte Alena. Gedämpft durch das Schweißtuch, das sie sich sowohl über ihren Mund als auch über ihre Nase hinweg hochgezogen hatte, klang ihre Stimme heute etwas dumpfer, aber nicht weniger herzlich als am Vortag. Sie trug eine riesengroße schwarze Brille, die auf dem oberen Teil des weißen Tuchs, das ihre Nase überdeckte, aufsaß und nicht nur ihre Augen, sondern ihr ganzes Gesicht vor den Blicken der Gäste verbarg. Die schicke Mütze verhüllte nahezu den ganzen restlichen Kopf der geheimnisvollen Frau, der Enzo dicht auf ihren Fersen folgte.

„Hallo Alena, was für eine Freude, dich so schnell wiederzutreffen“, rief Pia ihr erfreut entgegen. Dann rückte sie spontan den Stuhl neben sich so zurecht, dass Alena die Lehne sicher ertasten konnte, nachdem sie das Tablett mit den Digestifs auf dem Tisch abgestellt hatte.

„Ja, ich freue mich auch, dass ihr den Weg zu Enzo und mir auch hierher gefunden habt“, sagte Alena, setzte sich aber nicht.

„Meine Partnerin wollte euch nur kurz persönlich begrüßen“, sagte Enzo, griff nach einem der Grappa-Gläser und bedeutete Pia und Chris mit einer einladenden Handbewegung, zuzugreifen.

„Du willst wirklich nicht mit uns anstoßen, Alena?“, sagte Pia enttäuscht.

„Ich koche lieber mit scharfen Sachen, als dass ich sie während der Arbeit trinke“, sagte Alena und entschuldigte sich höflich und warmherzig dafür, dass am Herd noch eine Menge Arbeit auf sie warte.

„Ihr seid mir sicher nicht böse und kommt hoffentlich bald wieder“, sagte sie nett und verschwand so schnell, wie sie gekommen war, wieder in die Küche.

„Das stimmt so“, sagte Chris, der nach dem üblichen Smalltalk, wie immer, wenn er mit Pia hier diniert hatte, die Zufriedenheit der beiden mit einem üppigen Trinkgeld bedachte.

„Ach, was ich fast vergessen hätte …“, sagte Enzo, als er sich an der Türe von seinen Gästen verabschiedete.

„Alena und ich planen die Eröffnung einer Art Zweigstelle meines Restaurants in der Innenstadt. Aber es soll nicht mein, sondern Alenas Restaurant werden, das wir dort als Dunkelrestaurant integrieren wollen. Das Restaurant wollen wir mit dem Namen Schattentraum in einen großen Dunkelbereich, die Schattenwelt, integrieren. Ein Bereich, der ganz auf nonvisuelle Wahrnehmungen, taktile und akustische Erlebnisse vielfältiger Art und nicht nur auf kulinarische Freuden beschränkt, einer Vielfalt von Genüssen gerecht werden soll. Neben der Schattenwelt soll es dort dann aber, so wie hier, auch noch zusätzliche lichtdurchflutete Bereiche geben, die das Ganze als inklusives Kulturzentrum zu einer Art Indoor-Resort aufwerten. Der ganze Komplex, das Schattenglut, wird also viel mehr als nur ein Dunkelrestaurant sein und auch viel mehr als nur Essen im Dunkeln zu bieten haben. In der Schattenwelt sind auch Wellness- und Ruhebereiche geplant. Selbst eine Ausstellung zum Thema barrierefreie Kunst soll es im Schattenglut geben. Wenn es so weit ist, laden wir euch gern als unsere Freunde zur Eröffnung ein."


***


„Bist du schon im Bett, Chris?“, fragte Pia, die noch schnell geduscht hatte, bevor sie Chris ins Schlafzimmer folgte. Pia war splitternackt und Chris wollte seinen Augen nicht trauen, als er sie sah.
„Ich hoffe, das erschreckt dich nicht, so zartbesaitet wie du bist“, sagte Pia mit einem verführerischen Unterton in ihrer Stimme und hörte Chris gleich darauf erschreckt aufschreien.
„Aber Pia …“, hörte sie ihren Freund mit zittriger Stimme sagen, während sie auf ihn zuschlich und sich zu ihm ins Bett kuschelte.
„Vielleicht ist das beim Sex ja auch so wie beim Essen“, hörte Chris seine Freundin sagen und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf die schwarze Augenbinde, die sich Pia um ihren Kopf gebunden hatte.
„Wir hätten doch auch das Licht ausmachen können“, stammelte er verdattert, aber Pia ließ ihm keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, und erkundete mit ihren Fingerkuppen total erregt seinen Körper.
„Ich weiß doch, wie sehr du darauf stehst, mich mit deinen Augen auszuziehen“, sagte Pia und knabberte sich an dem Hals ihres Freundes zärtlich von seiner samtweich rasierten Brust, an seinem Hals hinauf bis zu seinen Lippen hoch. Dort fanden sich Ihre Zungen und begannen mit einem zärtlich entspannten Vorspiel, bis Chris so erregt aufstöhnte, dass er alles andere als Pia um sich herum vergaß.

 

***

 

„Das war echt cool gestern, Pia", sagte Chris am nächsten Morgen während des Frühstücks und war froh, dass sie nach ihrem Besuch im Dunkelrestaurant endlich doch noch eine gemeinsame emotionale Ebene für die Einblicke in Alenas besonderes Leben gefunden hatten.

„Ja, das stimmt", erwiderte Pia knapp und ließ über der Brötchenhälfte, die sie vorher mit guter Butter bestrichen hatte, dunklen Honig von einem Kaffeelöffel triefen, mit dem sie nachdenklich ein Muster auf die Fettschicht zauberte. „Dein Körper hat sich mir in der Dunkelheit ganz anders als sonst offenbart, aber ich bin nicht nur um eine Erfahrung reicher geworden."

„Wie meinst du das, Pia?“, fragte Chris, den in diesem Moment das Gefühl beschlich, dass mit Pia schon wieder irgendetwas nicht stimmte.

„Mach die Augen zu und sag mir, was für ein Tierzeichen ich mit dem Honig auf das Brötchen skizziert habe", forderte ihn Pia auf.

„Oh Mist, jetzt habe ich alles verschmiert und die Figur war schon weg, bevor ich sie erkennen konnte", antwortete Chris ihr eine gefühlte Minute später, öffnete wieder seine Augen und gab Pia das ruinierte Kunstwerk zurück.

„Und was sagt uns das?", fragte Pia ihren Freund forschend.

„Puh, das ist jetzt wieder so eine ganz spezielle Pia-Frage …", antwortete er hilflos.

„Das sagt uns, dass es in tief drin in Alenas geheimem Inneren ganz anders aussehen muss, als sie uns das vorgespielt hat", erklärte Pia. „Sie hat für uns nur ein Blid von sich gezeichnet, das so wie sie von uns gesehen werden will nicht wahr sein kann."

„Na und? Sie ist halt blind und arrangiert sich mit uns Sehenden so gut es geht", versuchte Chris Pias Überlegungen herunterzuspielen, weil er nach der tollen Nacht, die sie gerade zusammen verbracht hatten, überhaupt keine Lust darauf hatte, neue Probleme zu generieren, die nicht seine waren.

„Fällt dir denn gar nicht auf, dass da noch mehr nicht stimmt mit ihr?", hakte Pia nach.

„Hm … Na ja, vielleicht, dass sie bei Enzo nicht mehr so gesellig wie im Dunkelcafé war, aber vielleicht verunsichert es sie ja, wenn die Leute sie sehen können und sie nicht in ihrer eigenen sicheren Umgebung unterwegs ist", bemühte sich Chris, etwas verkrampft im Gespräch zu bleiben, das ihn aber schon wieder zu nerven begann, und schob noch eine Frage hinterher. „Was grübelst du denn über sie? Eigentlich, hatte ich gestern Abend noch den Eindruck, dass du sie magst."

„Das stimmt, da hatte ich noch uneingeschränkte Sympathien für sie", bestätigte Pia. „Nur ist es so, dass mich über Nacht so ein Gefühl beschlich, dass sie etwas vor uns verbirgt, das nichts mit ihrer Blindheit zu tun hat. Etwas Großes, vielleicht auch Gefährliches für sie oder andere …"

„Ach Pia, du und deine unergründliche Fantasie", sagte Chris lächelnd und griff über den Tisch hinweg nach Pias Hand.

„Ihre Vermummung hat doch nichts mit Fantasie zu tun, oder ist dir das gar nicht aufgefallen?", sagte Pia und zog pikiert ihre Hand weg.

„Bisher nicht, aber jetzt, wo du so fragst …", bemerkte er auch nachdenklicher geworden. „Irgendwas scheint da schon irgendwie komisch zu sein."

„Hinzu kommt, dass die Geschichte, die sie uns über ihre Erblindung erzählt hat, so auch nicht wahr sein kann, weil die Annexion der Krim schon vor deutlich mehr als zehn Jahren stattgefunden hat", fügte Pia hinzu. „Dafür, dass sie zu diesem Zeitpunkt schon Germanistik studiert haben wollte, klingt ihre Stimme viel zu jung."

„Der arme Enzo", bemerkte Chris. „Er muss aufpassen, dass sie ihn nicht ausnimmt und verarscht. Ob er auch schon etwas gemerkt hat?"

„Keine Ahnung, aber dieses Schattenglut, zu dessen Eröffnung er uns eingeladen hat, sehen wir uns ganz genau an, und bei der Gelegenheit können wir Alena dann auch noch einmal gründlich auf den Zahn fühlen", sagte Pia, nickte entschlossen und griff dabei über den Tisch nach Chris’ Hand, um seine Zärtlichkeitsbekundungen zu erwidern.

Schwarzwasserdusche

Mara und Ronja

 

Von Ronja? …

 

für mich?...

für sich?...

mit mir?…

warum? ...

 

Stress mit Bildern?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wohlig genoss ich die Wärme meiner Freundin Ronja, die mir direkt von ihrem Nacken wie eine Infusion in meinen linken Arm floss. Wir lagen noch beide zusammen im Bett. Ich spürte, dass ihre bügelglatten Haare schwer und lang auf meinen entblößten Brüsten lagen und mich bei jedem Atemzug neu an meinen Brustwarzen kitzelten. Verträumt fand meine Rechte im Halbschlaf ihren Kopf und schob sich vorsichtig unter ihr warmes Ohr. Meine Fingerkuppen reagierten mit ersten Zuckungen auf ihren frechen Undercut und ich träumte dabei von ihren pechschwarzen Haaren, die ich nicht sehen konnte. Ronjas kurze Stoppeln stachen mir wie weiche Borsten in die Innenfläche meiner rechten Hand. Aber für mich fühlte sich meine Süße so zart und empfindlich wie Samt an. Ihr gleichmäßiger Atem ließ mich trotz der Schwärze, die uns beide umgab, wissen, dass sie noch friedlich schlief. Liebevoll begann ich sie zu streicheln, drehte mich über sie und spürte ein elektrisierendes Kitzeln, als meine linke Brustwarze kurz das Laken streifte, das Ronjas nackten Körper noch ein klein wenig verhüllte. Ronja hatte sich im Lauf der Nacht klein zusammengerollt und sich dann im Schlaf friedlich in meine linke Ellenbogenbeuge gekuschelt. Obwohl sie noch tief schlief, weckte ihre Glut in meinem gerade erwachenden Körper schon wieder diese süße Lust auf Sex mit ihr. Meine Lebensgeister waren mobilisiert. Durch das geschlossene Fenster hörte ich die leisen Geräusche der erwachenden Stadt. Berlin war zu dieser Jahreszeit und um diese Uhrzeit noch stockdunkel. Meine innere Uhr schnappte auf, kurz nach acht Uhr am Morgen.

„Habe ich verschlafen?“, fragte ich mich noch vom Halbschlaf verwirrt. Dann schoss mir sofort wieder dieser blöde Disput mit Ronja in den Kopf. Von dem Adrenalinstoß, der sich gerade in mein Blut ergossen hatte, schwollen meine Adern zu kleinen, harten Schlangen an meinem Hals, und ich spürte, wie mein Herz heftig anfing zu hämmern. Von einem Schlag auf den anderen war ich plötzlich hellwach.

„Schläfst Du noch, Kleine?“, hörte ich mich flüsternd in die Dunkelheit fragen. Eigentlich hatte ich nur die Absicht, meine Freundin Ronja zärtlich zu wecken. Aber das Echo meiner eigenen Worte wollte meinen Kopf nicht verlassen und hallte warnend nach. Ein mitschwingender Unterton ließ mich so frösteln, dass ich vor mir selbst erschrak. Bestürzt erinnerte ich mich an Ronjas Vorwürfe. Noch lag sie wie ein Embryo, der dankbar die Geborgenheit seiner schützenden Umgebung genoss, in meinem Arm. Für einen winzigen Moment fühlte sich Ihr Kuscheln sogar wieder so ängstlich wie früher an. Aber einen Augenblick später schnellte sie schon senkrecht in die Höhe.

„Nenn mich nicht immer Deine Kleine, und schon gar nicht dann, wenn Du genau weißt, dass ich stinkig auf Dich bin!“, fauchte sie mich wütend an und sprang nackt aus dem Bett. Begleitet vom Patschen ihrer Fußsohlen stapfte sie auf dem etwas schmierigen Wachs der alten, aber sorgsam von mir gepflegten Holzbohlen davon. Die Stimmung, die jetzt in der Luft lag, stand überhaupt nicht mehr im Einklang mit dem noblen Flair meiner stilvoll in einem alten Herrenhaus befindlichen kleinen Wohnung, deren ruhige Atmosphäre und Abgelegenheit eigentlich sehr schön waren. Ronja und ich hatten diese heimelige Stimmung bisher deutlich besser zu nutzen gewusst. Der stille, einem Park ähnelnde Garten, der das Haus umgab, war wie ein Bollwerk, das uns hier drinnen Sicherheit gab. Er hätte uns auch an diesem Morgen mit seinen hohen Bäumen und den dicht gewachsenen Büschen so wie früher beim Austausch von Zärtlichkeiten nicht nur vor unliebsamen Blicken, sondern auch vor neugierigen Zuhörern zuverlässig abgeschirmt. Aber da stand ja jetzt, zumindest für Ronja, das Problem mit unseren Arbeitsstellen, die wir beide wegen des verfluchten Lockdowns vor kurzer Zeit fast gleichzeitig verloren hatten, im Raum. Ronja wusste zwar, dass ich im Gegensatz zu ihr aus Gründen, über die ich nicht reden wollte, finanziell unabhängig war, aber das wollte ich auch nicht dafür ausnutzen, um mich jetzt einfach so auf die faule Haut zu legen. Den Gedanken, dass dieses blöde Virus uns so unerwartet aus unserer Behaglichkeit gerissen hatte, verdrängte ich jedoch sofort wieder, so gut es ging. Seufzend spannte ich meinen Nacken an und schob mir meine beiden Hände mit in sich verschränkten Fingern unter meinen Hinterkopf. Unsere weiche Bettdecke, unter der wir bisher nach dem Aufwachen immer so schön gekuschelt hatten, lag jetzt kühl und zerknittert auf dem Boden neben dem Bett. Nur die Dunkelheit hüllte meinen splitternackten Körper noch ein. Das Säuseln eines friedlichen Lüftchens, das von draußen leise in meine nachtschwarze Wohnung drang, vermischte sich mit dem Prasseln des Duschwasserstrahls, der durch die geschlossene Badezimmertüre deutlich zu hören war. Mir war, als strich mir ein zarter Hauch über meine Brustwarzen, die sich lüstern zur hohen Decke reckten, zu der auch meine wehmütig geöffneten Augen in die dunkle Leere hinaufstarrten.

„Wenn sie mich wenigstens noch ein ganz klein wenig gestreichelt hätte“, flüsterte ich zu mir selbst und zog meine rechte Hand wieder unter meinem Kopf hervor.

„Wegen ein paar alberner Bilder so einen Aufstand proben, habe ich das wirklich verdient?“, hörte ich meine innere Stimme, die mich mehr voller Selbstmitleid als kritisch fragte. Mein einsames Flüstern verklang ungehört in der Dunkelheit und ich dämmerte noch einmal ganz kurz weg. Aber meine Fingerkuppen schlichen sich, scheu wie Schatten, zu meinen Brustwarzen, die von der zarten Berührung sogleich noch härter wurden. Ein lichtloser Tagtraum ließ mich glauben, dass sie zu Ronjas Händen statt zu meinem eigenen Fleisch und Blut gehörten. Im Traum hörte ich ihre rauchige Stimme zum Glück wieder total nett zu mir sprechen, und ihre Stimme klang so, als ob nichts zwischen uns stünde, was mich total elektrisierte. Durch den Streit, der seit einigen Tagen zunehmend unsere Gemüter aufwühlte, kam jetzt noch zusätzliche Hitze zu dem Feuer hinzu, das in Ronjas osteuropäischem Blut schon vorher lichterloh brannte. Diese glühende Hitze war gleich zu Beginn unserer kurzen, aber leidenschaftlichen Freundschaft so unerwartet in ihr aufgeflammt, dass mir bei dem Gedanken daran sogar noch jetzt vor Freude Tränchen über meine Wangen kullerten. Die Sehnsucht nach Ronjas Nähe ließ mich aber gleich wieder erwachen und ich spürte, wie mir die Haut über meinen festen Brüsten mittlerweile von der Erregung schon fast bis zum Zerreißen spannte. Nachdem Ronjas Feuer auf mich übergesprungen war und meine Gefühle für sie entflammt hatte loderte diese unbeschreibliche Lust nach ihr in mir. Davon war mir inzwischen schon so heiß geworden, dass ich damit begonnen hatte, mich unter meinen eigenen Händen, mit denen ich mich inzwischen selbst liebevoll streichelte, lustvoll zu winden. Nie zuvor hatte ich Ronja so wütend erlebt, aber ich freute mich maßlos darüber, dass sie endlich wieder ihr eigenes Selbstbewusstsein entdeckt hatte und sich von Tag zu Tag immer mehr zutraute. Kehlig gerollte Buchstaben verliehen Ronjas sonst eher leiser Stimme einen unwiderstehlichen erotischen Klang. Das lag an dem etwas härter klingenden Akzent, der den Stimmen vieler Schwarzmeer-Anrainer diese besonders prickelnde Note verlieh. Dazu mischte sich dann noch die weiche Sprachmelodie, die Ronjas rumänische Muttersprache so einzigartig sexy klingen ließ. Schon der bloße Klang ihrer Stimme, die sich beflügelt von den spanischen, italienischen und französischen Akzentnuancen ihrer Muttersprache so wunderbar weich und zart anhörte, erregte mich unglaublich doll, wenn ich nur an sie dachte. Sie trieb mir oft so viel Hitze in mein Herz, dass ich nur davon bereits feuchte Lippen bekam. Nichts schmerzte mich mehr als die verbliebenen Reste der Angst, die meine kleine Freundin als Folge ihrer grausamen Kindheit noch immer mit sich herumschleppen musste. Doch in den letzten Tagen fühlte ich deutlich, dass ich ihr verletztes Inneres, mit meinem heutigen Vorhaben, ohne, dass ich das beabsichtigte, mächtig provoziert hatte. Die Vehemenz mit der sie sich mir entgegenstellte schien aber so heilsam für Ronjas angegriffene Seele zu sein, dass ich mir eigentlich keine Vorwürfe dafür machen sollte, dass ich ihre Emotionen durch eine Verärgerung über mich in Wallung gebracht hatte. Meine bisher leider eher ängstliche Ronja war endlich auf dem Weg, sich wie eine pubertierende Zicke aufzuführen und damit ihre versäumte Entwicklung nachzuholen. Mein Herz pochte wie wild, so ergriffen war ich von der neuen Situation. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass mir mittlerweile unbewusst meine Hand noch tiefer, nämlich genau zwischen meine Schenkel, gerutscht war. Die schlüpfrige Hitze, die sich dort gestaut hatte, fühlte sich auf der Haut meiner Finger aber verdammt gut an. Mit zunehmender Erregung vibrierten meine Lippen so, als bekäme ich im Wechselbad der Gefühle, in dem ich mich nun befand, noch einen von der Lust getriebenen Schüttelfrost dazu. Vor lauter Sehnsucht nach Ronjas Nähe und der Lust auf innige Berührungen mit ihr war ich total verrückt nach dieser Zunge, die so wunderbar erotische Laute hervorbringen und so zärtlich weich lecken konnte. Während ich so an sie dachte, erinnerte ich mich noch einmal an das Patschen ihrer sich von mir entfernenden Schritte. Doch dann kam ich plötzlich ins Stutzen.

„Was war das denn?“, hörte ich mich wieder selbst, als meine innere Stimme mich fragte, ob ich im Hall von Ronjas letzten Schritten, kurz bevor sie das Bad erreicht hatte, nicht etwas Eigenartiges überhört hatte? War da nicht irgendein Geräusch zwischen den üblichen morgendlichen Klängen, das mich schon gleich hätte neugierig werden lassen müssen? Es war von der hohen Decke fast unhörbar zu meinen Ohren reflektiert worden und ich hätte ihm fast keine Bedeutung mehr eingeräumt. Aber jetzt war sie da, die Neugier. Nach der behelfsmäßigen Liebkosung meiner erogenen Zonen war ich jetzt richtig gierig auf neuen Sex mit Ronja und obendrein auch noch neugierig auf ein mögliches Geheimnis, das sie versuchen könnte, vor mir geheim zu halten. Oder wollte Ronja mich nur mit etwas überraschen? Schnell leckte ich mir meine klebrigen Finger sauber. Dabei achtete ich darauf, mich nicht durch allzu lustvolles Schmatzen bei dem, was ich da gerade tat, von meinem quirligen Schatz ertappen zu lassen. Ich hörte zwar immer noch das Prasseln der Dusche durch die geschlossene Badezimmertür, aber ich wusste auch, dass Ronja, genauso wie ich, selbst langsam wachsendes Gras noch überraschend gut an seinen Geräuschen erkennen und deuten konnte. Deshalb war ich mir jetzt auch darüber im Klaren, dass Ronja, als sie vorhin zickig vor sich hin brummelnd in meiner Wohnung unterwegs war, irgendetwas im Schilde führte. Wenn ich nur schon wüsste, was da vor sich ging und was sie vorhaben könnte? Bevor Ronja die Tür zum Bad, kurz nachdem ich das verräterische Geräusch gehört hatte, krachend zuschlagen konnte, vernahm ich als fast unhörbaren, leisen Unterton noch ganz kurz dieses eigenartige Rascheln. Das war das Geräusch, dem ich jetzt auf der Spur war. Zum Glück lag der Ort, an dem ich es gehört hatte, auf dem Weg zur Dusche. Schließlich wollte ich mich nicht lange mit Nachforschungen aufhalten, dafür war ich inzwischen nämlich viel zu scharf auf meine Süße. Dass meine Kleine, die mit ihren fünfundzwanzig Jahren eigentlich fast sieben Jahre älter war als ich, irgendetwas ausgeheckt haben könnte, machte mich jetzt richtig kribbelig. Wenn ich nur wüsste, was es war. Mit noch unbefriedigtem süßem Schauern streckte ich mich, richtete mich auf und eilte Ronja flink in Richtung Bad hinterher. Noch bevor ich die Tür, hinter der noch immer das Wasser der Brause prasselte, erreichte, stieß ich schon auf den Gegenstand, der meine Neugier geweckt hatte.

– Ein Amazon-Päckchen? Auf dem Esstisch? Was da wohl drin ist? – Es war schon geöffnet, weshalb meine Hand im Vorübergehen neugierig in das offene Päckchen hineingleiten konnte. Meine Finger fanden aber nur noch das Packpapier, das sich noch in dem sonst leeren Päckchen befand und darin so verräterisch geraschelt hatte. Jetzt war ich erst recht neugierig, was meine Freundin im Bad im Moment ohne mich so trieb. Schon spürte ich, trotz der Finsternis, die meinen nackten Körper immer umgab, die Türklinke zum Badezimmer in meiner Hand. Nur einen Schritt weiter befand ich mich dann auch in meinem futuristisch anmutenden Bad, das uns beim gemeinsamen Duschen oft wie eine Wellnessoase vorkam, und war endlich wieder bei Ronja. 

 

 ***

 

Mit meinem ersten tiefen Atemzug sog ich genüsslich eine gehörige Menge von dem heißen Dampf gleichzeitig durch Mund und Nase tief in meine Lunge in mir auf. Eine aufregende Mischung von Düften erfüllte meine Nase, aber ich interessierte mich nur für die Geschmacksnuancen in den Dampfaromen, die auf meinem Gaumen jetzt deutlich nach Ronjas Zunge schmeckten. Der Handrücken meiner rechten Hand glitt, während ich mich zu Ronja auf das Prasseln der Dusche vortastete, über die vom Dampf benetzten Wandfliesen und streifte kurz über den Lichtschalter, den ich ohne die Wippe zu betätigen zügig überstrich. Dass Ronja das Licht im Bad nicht eingeschaltet hatte, erinnerte mich an eine eher seltene Gemeinsamkeit, die uns verband, die aber keine von uns beiden in unserer Lebenslust hemmte, sondern die wir einfach, so wie wir waren, akzeptieren mussten. Immer umgeben von Finsternis hatten wir gelernt, unser Leben und uns mit allen uns zur Verfügung stehenden Sinnen innig zu lieben. Unter der großen, ebenerdigen Dusche fanden wir auch zu zweit Platz im Überfluss. Es prasselte heißes Wasser herab und ich genoss es, zu spüren, wie Ronja sich mit geschmeidigen Bewegungen unter dem prickelnden Nass wand. Auf das morgendliche Vergnügen, uns unter dem herabströmenden Regen nach Lust und Laune zärtlich an allen Körperpartien zu küssen, wollten wir, seit wir hier zusammenlebten, nicht mehr verzichten. Dieses Vorspiel für einen gelungenen Start in jeden neuen Tag gönnten wir uns mittlerweile bereits seit einigen Wochen. Alleine der Dampf fühlte sich auf meiner Haut fast so gut wie in einem türkischen Dampfbad an. Noch tausendmal besser war das Gefühl von Ronjas zarten Armen, die sich zärtlich tastend um meinen Hals legten und mich zu ihr unter den heiß herabprasselnden Strahl der Brause zogen. Vorsichtig knuffte ich meine Süße neckisch.

„Zick doch nicht immer gleich, wenn ich mal wieder besonders nett zu Dir sein möchte, schließlich bin ich mit meinen einsachtundsiebzig ja auch wirklich fast zehn Zentimeter größer als Du“, hauchte ich vermittelnd und spielte mit der Bemerkung darauf an, dass wir auch in Bezug auf unsere Reife und unseren Alterunterschied ein etwas besonderes Paar waren. Meine Fingerkuppen berührten zärtlich Ronjas nasse Haut und glitten bis zu der Duschgelflasche, die sie noch mit offenem Deckel in ihrer Hand hielt. Das Duschgel verbreitete in dem heißen Dampf, der unsere nackten Körper umhüllte, einen frischen, aber auch etwas herben Duft nach unreifen Zitronen. Wir streichelten uns und seiften uns zärtlich gegenseitig ein. Mein Atem pfiff nun auch schon recht schnell und mein Herz galoppierte förmlich von dem Feuer, das uns jetzt gemeinsam in einer Feuersbrunst der Lust vereinigte. Eng umarmt rieben wir unsere glitschigen Brüste aneinander und ich spürte jeden Herzschlag von Ronja, die kein bisschen weniger erregt war als ich. Jedes Mal, wenn meine Lippen nach ihrem aufgeheizten Gesicht schnappen wollten, drehte sie im letzten Moment immer noch gerade rechtzeitig ihr Köpfchen weg, aber ich machte es genauso. Das war die Art von Liebesspiel, mit dem wir schon seit der ersten Nacht, die Ronja hier verbracht hatte, in jeden neuen Tag starteten. Nach der ersten Nacht fing es zunächst völlig unspektakulär damit an, dass ich der Kleinen eigentlich nur in der neuen Umgebung etwas beim Duschen helfen wollte, aber das war ja inzwischen schon mehrere Wochen her.

„Hey, was ist denn heute mit Dir los?“, hörte ich Ronjas Stimme kichern. „Seit wann gibt es denn hier vor dem Rasieren schon Zunge?“

„Oh, Du kleiner Frechdachs“, antwortete ich meiner Freundin, überglücklich darüber, dass sie ihr Kriegsbeil jetzt offensichtlich wieder begraben hatte.

„Wenn Du so weitermachst, werde ich Dich eines Tages doch noch mit Haut und Haaren auffressen, und das nur aus purer Lust. Bilde Dir ja nicht ein, dass Dich Dein Grizzly dann noch vor meinen scharfen Zähnchen schützt.“ Dabei wuschelte ich ihr neckisch in der dicken, weichen Wolle, die sie zwischen ihren Beinen trug. Allerdings fragte ich mich trotzdem, ob das eben wirklich Ronjas Ernst war oder ob sie mich mit dem provokativen Gedanken einer Rasur bei ihr nur ein bisschen rollig machen wollte. Wenn ich nur wüsste, was sie vorhat … Wieso will sie jetzt auf einmal auch so blitzblank wie ich sein? Bis vor einer Woche war ihr nämlich ihr Busch da unten noch sehr heilig gewesen. Dann spürte ich, dass Ronja nach meiner linken Hand tastete. Einen Augenblick später hörte ich ein Zischen und fühlte, wie mir aus einer Sprühdose eine übergroße Portion Rasiergel kühl auf die Finger meiner linken Hand gesprüht wurde. Sofort mischte sich der blumige Duft von überreifen Feigen mit dem herben Duft des Duschgels in den Dampf der heißen Dusche. Die Symbiose der Düfte ergriff uns mit einer Mischung von Sauer und Süß. Während Ronja mit ihren kleinen Händen meine beiden Unterarme oberhalb meiner Handgelenke ergriff und etwas fester als nötig umschloss, fächelte mir ein von meiner Freundin erwartungsvoll ausgestoßener Atemzug an meinen beiden vom Duft noch bebenden Nasenflügeln vorbei. Entschlossen führte sie mir dann meine Arme langsam vor unseren Brüsten zusammen und verteilte den üppigen Schaumberg großflächig auf den Innenflächen meiner beiden Hände. Begleitet von einem leichten Stöhnen legte sie dann meine beiden Hände auf ihre Brüste. Ihre erregt aufgestellten Nippelchen bohrten sich durch den Schaum hindurch und kitzelten mich in meinen Handflächen. Sie waren schon ganz hart und ließen mich deutlich spüren, wie erregt meine Kleine war. Ganz langsam schob sie sich meine von der Seife total glitschigen Hände an ihren Brüsten entlang zwischen die Hautfalten, in denen sich ihre Achselhöhlen versteckten, und begann sich dort dann mit meinen Händen einzuseifen. Im Kontrast zu dem heißen Wasser fühlte sich der Rasierschaum, den sie mit kreisenden Bewegungen verteilte, angenehm kühl an. Ich fragte mich, ob sie sich vielleicht doch nur an den kurzen Stoppeln ihrer gekürzten Achselbehaarung störte und vielleicht doch gar nicht am ganzen Körper so kahl rasiert werden wollte, wie das bei mir schon jahrelang der Fall war. Während ich schon wieder darüber gerätselt hatte, was Ronja heute Morgen noch alles vorhaben könnte, überraschte mich meine Freundin erneut. Ich bekam sogar Gänsehaut vor Erregung, als sie damit anfing, sich mit meinen Händen unter ihren Achselhöhlen gründlich die Reste ihrer dortigen Behaarung mit dem kühlenden Rasierschaum bis tief auf ihre nasse Haut einzuseifen. Dann klemmte sie mir aber überraschend, so gut das mit der glitschigen Seife noch ging, meine Hände unter ihren zusammengekniffenen Achselhöhlen ein. So eingequetscht fühlte ich mich plötzlich wie von meiner Freundin gefesselt und gefangen. Ronja presste jetzt, ohne mir meine Hände wieder freizugeben, ihre harten Knospen gegen meine auch schon sehr erregten Vorhöfe. Ihre Unterarme hatte sie inzwischen unter meinen Achseln hindurch nach hinten ausgestreckt und klapperte dort mit ihren Fingern hinter meinem Rücken, hektisch nach irgendetwas suchend, auf einer Ablage herum. Ronja hatte mich völlig unerwartet total entwaffnet. Lustvoll kichernd hatte sie mir, weil sie wusste, dass ich wegen der totalen Dunkelheit, die uns beide umgab, ohne meinen Tastsinn jetzt noch blinder als blind war, einfach meine beiden Hände unter ihre eingeseiften Achselhöhlen fixiert hatte. Deshalb konnte ich außer mit meinen Ohren nun wirklich gar nichts mehr von dem, was sich um uns herum abspielte, wahrnehmen. Außer meiner Fantasie, den Geräuschen und dem letzten Hauch einer leisen Vorahnung hatte mir meine erregte Freundin jegliche Möglichkeit, mich neu zu orientieren, genommen. Zum Glück hatte sie mir weder die Klänge noch meinen Gleichgewichtssinn blockieren können, aber die Sorge vor völliger Hilflosigkeit fing auch so schon an, sich bleiern in mir auszubreiten.

„So, jetzt merkst Du mal, wie schnell das, ohne dass man damit gerechnet hätte, gehen kann. So etwas passiert, wenn eine Person, der man Vertrauen schenken wollte, plötzlich ihre Macht gebraucht. Dann bist du nämlich ganz schnell völlig entmachtet und schwebst in der Gefahr, anderen unterworfen zu werden. Im Gegensatz zu dir weiß ich aus eigener Erfahrung, wie es ist, wenn sich alles in einem nur noch hilflos anfühlt“, sagte Ronja zwar mit einem lustvollen Kichern, aber mir entging doch nicht der nachdrücklich warnende Unterton in ihrer Stimme.

„Willst Du mich jetzt auf so eine fiese Tour mit einer Art Psychoterror hinhalten, anstatt mit mir gleich Sex zu machen?“, fragte ich mit dünner, von aufkommenden Tränen schwerer Stimme und spürte eine dumpfe Angst und tiefe Enttäuschung in mir aufkeimen.

„Hey nein, ganz und gar nicht, so war das doch überhaupt nicht gemeint, Süße. Ich wollte Dir nur mal kurz aufzeigen, wie schnell man den Mut und den Glauben an alles, was einem lieb ist, verlieren kann“, sagte Ronja und knuffte mich frech. Dann kam aber noch ein komischer Nachsatz. „Aber wenn ich ehrlich sein soll, habe ich gerade auch eine unerwartete neue Erfahrung gemacht. Ich wusste nämlich vorher überhaupt nicht, wie sich Macht über einen Menschen anfühlt, weil ich mich, bevor ich dich kannte, selbst immer nur in der Opferrolle gefunden hatte. Beim Sex jemandem, den man mag und der einem vertraut, mal kurz so richtig Angst einzujagen, hat sogar richtig geprickelt“, sagte Ronja, und ihr Streicheln auf meiner Haut fühlte sich dabei megacool an.
Dann biss mich meine Freundin so süß neckisch in meine Nase, dass wir beide zusammen kurz in schallendes Gelächter ausbrachen. Nachdem Ronja mir, erwartungsvoll stöhnend, meine Hände wieder freigegeben hatte und ich endlich wieder meine vor Aufregung und Neugier zitternden Fingerkuppen suchend über die nasse Haut ihre Arme hinab auf ihre Hände zugleiten lassen konnte kam mir wieder das Rätsel mit dem Amazon Päckchen in meinen Sinn. Kurz darauf fand ich einen nagelneuen Ladyshaver in Ronjas Hand und glaubte das Rätsel gelöst zu haben. Das war es also, was sie, auf der Ablage im lichtlosen Schatten verborgen und für ihr heutiges Spielchen mit mir dort bereitgelegt hatte. Einen Augenblick später drang schon ein seifiges Kratzen zu meinen Ohren. Spätestens jetzt bestanden nicht mal mehr geringste Zweifel daran, dass meine Süße es wohl plötzlich doch sehr ernst mit ebenfalls blitzblank rasierter Haut bei sich selbst meinte. Ich fragte mich, ob Ronja auch schon daran dachte, so wie sie das ja von mir kannte, auch ihre intimsten Stellen zukünftig mit einer totalen Rasur für neugierige Blicke schonungslos offenzulegen. Während Ronja sich ihre Achselhöhlen mit der scharfen Klinge sorgfältig so sauber ausschabte, dass kein Härchen mehr übrig blieb, glitten meine Handballen an den schönen seitlichen Rundungen ihrer festen Brüste entlang. Zart wie weiche Daunen zogen meine Däumchen kleine Schaumkreise um ihre Brustwarzen. Der Schaum vermischte sich stetig mit dem herabrieselnden Wasser und ich spürte an meinem Bauchnabel die seifigen Rinnsale, die danach unsere Schamhügel benetzten.

„Hey, Kleine, jetzt ist es aber gut. Wollen wir uns Dein Bärchen nicht lieber für morgen früh aufheben? Ich kann Dich als Vorgeschmack darauf, was Dich dann morgen an Deiner kleinen süßen Perle erwartet, auch heute schon erst mal an der seidigen Haut unter Deinen Achselhöhlen stimulieren. Bis wir beide mit dieser scharfen Nummer hier fertig sind, hast Du heute wohl eh keine Kondition mehr, mein kleiner Schatz.“ Während ich so mit ihr sprach, hielt ich sie fest in meinen Armen. Obwohl ich Ronja jetzt wieder selbst fest in meinen Händen hatte, fühlte sie sich seit der Erfahrung, die ich gerade so unerwartet mit dem ersten Anflug einer lustvollen Dominanz mit ihr erlebt hatte, jetzt ganz anders an als vorher. Ihr bisher eher sanftes und ängstlich wirkendes Wesen hatte sich mit der Erfahrung, die sie gerade mit mir gemacht hatte, offensichtlich verändert. Meine Süße fühlte sich plötzlich richtig stark, selbstbestimmt und unabhängig an. Ungefähr so wie ich mich sonst immer fühlte, wenn ich sie auf unseren gemeinsamen Unternehmungen durch ein für sie neues und unbekanntes Terrain an Orte in meiner Welt führte, die sie in ihrer alten Welt nie kennenlernen durfte. Die Wirkung ließ nicht lange auf sich warten.

„Oh Mara, was wäre aus mir wohl ohne Dich geworden?“, hauchte Ronja.

Es war so schön, wie meine Kleine sich jetzt wieder weich an mich kuschelte und total entspannt ihre Schenkel für mich spreizte. Ganz langsam schob ich ihr zärtlich meinen rechten Oberschenkel zwischen ihre Beine und fing an, sie mit sanftem Druck von unten an ihren glitschigen Schamlippen zu tribben. Ronjas Busch war schon völlig aufgeweicht und durchtränkt von der Seife des noch nicht wieder ganz aus ihren Schamhaaren herausgespülten Rasierschaums. Warm und schlüpfrig schmatzte der Schaum über ihren vor Erregung leicht angeschwollenen Schamlippen. Es klang so, als fehlte wirklich nur noch eine frisch geschärfte Klinge, um meine Freundin auf der noch unrasierten Haut in ihrem Schritt da unten endlich auch gänzlich von ihrem hinderlichen Haarkleid zu befreien.

„Ahhh, Mara, jaaaa, das ist so schön“, stöhnte Ronja schrill auf, während mein Oberschenkel, mit stetig steigendem Druck auf ihre Vagi, von Mal zu Mal heftiger, immer wieder in langen Zügen zwischen ihren Schenkeln hin und her glitt.

„Oh Süße, das fühlt sich ja jetzt schon fast wie ganz blitzblank rasiert an.“ Mit diesen Worten verstärkte ich den Druck auf Ronjas Kitzler noch eine Nuance mehr und fragte sie: „Bist du dir denn auch wirklich schon ganz sicher, dass das bei dir da unten auch so nackt wie bei mir und wie bei dir unter deinen Achseln werden soll?“ Nun tribbte mich Ronja mit ihrem Bein zwischen meinen Schenkeln, und meine blitzblank rasierte Nacktschnecke saugte sich mit jedem Zug immer gieriger an Ronjas Oberschenkel fest.

Schwarzmeerland

Ronja

 

Welche Farbe der Dacia hatte?

Daran kann ich mich heute nicht mehr erinnern.

 

Was folgte, war noch übler als der Junkie, der ihn fuhr.

 

In bösen Träumen und an schlechten Tagen verfolgt mich meine Vergangenheit.

An besseren Tagen lässt meine Erinnerung mich an den alten Spiegel in unserer Küche denken, und an meinen Großvater will ich mich nicht mehr erinnern.



Das Knurren, das mich aus dem Schlaf aufgeschreckt hatte, ließ mich im ersten Moment an nahrungssuchende Bären denken, die in letzter Zeit immer häufiger in entlegenen Dörfern wie unserem auftauchten. Noch vor wenigen Monaten wagten sich nur die hungrigsten Muttertiere bis zu dem Müllberg vor, neben dem das Gehöft meines Großvaters lag, in welchem sich das Zimmer meines Bruders befand. Dort drinnen stand auch mein Bett. Seit mein Bruder sein Glück im Westen suchte, wo er sich als Hilfsarbeiter auf Baustellen durchschlug und uns ab und zu so viel Geld schickte, wie er entbehren konnte, war es mein Zimmer. Neben mir tickte der alte Wecker, den meine Mutter von meiner Großmutter geerbt hatte und der, seit sie auch tot ist, auf meinem Nachttisch seinen Dienst tat. Ohne auf das Ziffernblatt zu sehen, wusste ich, dass es gegen sechs Uhr am Morgen sein musste, weil mir das rötliche Licht der Morgensonne, das durch die vom Schmutz eingetrübten Scheiben meines kleinen Fensters fiel, die Uhrzeit verraten hatte. Das Knurren kam aber nicht aus dem Stall, der sich unter meinem Zimmer befand, sondern von meinem Magen. Bevor mein Großvater unser letztes Schwein geschlachtet und das meiste von dem Fleisch verkauft hatte, wurde ich viele Jahre vom Grunzen der Schweine wach, was allerdings auch schon Monate her war. Aber heute war etwas anders als sonst und ich war auf einen Schlag hellwach. Mein Magen, an dessen Knurren ich mich wegen des Hungers, den wir zu ertragen gelernt hatten, schon langsam gewöhnt hatte, signalisierte mir Nahrung. Köstliche Nahrung, ein üppiges Frühstück, so wie früher. Der Duft von gebratenem Schweinebauch mit Zwiebeln und Ei, begleitet von dem süßlichen Geruch warmer Milch und einer kräftigen Maisnote, der sich unter dem Türspalt durchzog, ließ mein Herz sofort höherschlagen.

„Macht Großvater etwa Mamaliga cu branza?“, murmelte ich noch etwas schlaftrunken vor mich hin und stürmte zu der Waschschüssel, neben der ein Krug mit kaltem Wasser zum Waschen und Zähneputzen stand. Dann sprang ich in meine abgetragenen Sachen und erspähte, bevor ich über die alte Holztreppe zur Küche hinunterstürmte, im Augenwinkel einen alten Dacia in unserem Hof, den ich hier vorher noch nie gesehen hatte. In der Küche angekommen sah ich auf den rohen Bohlen des Küchentisches tatsächlich eine große Schüssel mit Polenta, die mit Käse überbacken in Milch schwamm. Auf den Tellern, die vor zwei Männern standen, waren noch letzte Reste von Ei im Fett des Schweinebauchs erkennbar. Den Mann, der dort neben meinem Großvater saß und am frühen Morgen schon mit ihm Țuică, einen in Rumänien neben Palinka oft schwarz gebrannten und häufig wegen Methanolverunreinigungen giftigen Pflaumenschnaps, trank, hatte ich noch nie gesehen, aber er sah zum Fürchten aus.

„Guten Morgen, Großvater“, sagte ich enttäuscht darüber, dass die beiden mir von den Fleischhappen nichts übriggelassen hatten. Ohne den Fremden eines Blickes zu würdigen, schlurfte ich quer durch die Küche, bis ich zu dem blinden Spiegel kam, der über dem alten Waschbecken schief an der Wand hing. Seine Oberfläche war von zahlreichen Sprüngen durchzogen, die wie Spinnenweben aussahen und sich irgendwo in der Nähe der Mitte in einem blinden Fleck kreuzten, der bröselig und milchig trüb aussah. Selbst bei hellem Sonnenlicht wirkten die fahlen Bilder, die er noch zeigen konnte, farblos und trist. Die langen Haare, die mein rundliches Gesicht umrahmten, sahen darin stumpfer aus, als sie wirklich waren. Über den Winter war meine Ausstrahlung eher grau als bleich geworden. Die Risse im trüben Glas gaukelten mir furchige Narben vor, die mein Antlitz gruselig erscheinen ließen. Von der ungesunden Kost war mein ganzer Körper während der letzten Monate pummelig aufgequollen und ließ mich auf den ersten Blick fraulicher erscheinen, als ich mich fühlte. Je nachdem, auf welches der geborstenen Stücke ich sah, konnte ich auch indirekte Blicke auf die beiden Männer werfen, die sich hinter meinem Rücken weiter betranken. Großvater war fast so hager geworden wie meine Mutter, die, als sie starb, nur noch vierzig Kilogramm wog. Der Blick seiner stumpf starrenden Augen war in den letzten Wochen vermutlich von Unmengen selbst gebrannten Fusels zusehends leerer, und die Fehlstellung seiner Augen verriet, dass er dabei war, infolge der Vergiftungen zu erblinden. Zuerst dachte ich, dass er mich nur vergessen hatte, und griff wie jeden Morgen nach der Bürste, mit der ich täglich meine Haare pflegte. Das einseitige Essen, mit dem wir uns begnügen mussten, hatte sie in letzter Zeit etwas strohig werden lassen. Das Bürsten zauberte dennoch etwas Glanz in meine pechschwarzen Haare, bevor ich sie danach wie an jedem Morgen zu einem Pferdeschwanz zusammenband.

„Ronja …“, brummte er, anstatt meinen Morgengruß zu erwidern, und ich sah in einer der schmutzigen Scherben, dass er, während er mich zu sich rief, ungeschickt und laut polternd an einem Stuhl herumzerrte. Der Platz, den er mir zuwies, befand sich am Kopfende des Tisches. Von dem grauen Holz der schon recht wackelig aussehenden Sitzgelegenheit war im Laufe der Zeit bereits die meiste Farbe abgeblättert, aber die anderen Stühle und der Tisch wirkten genauso trostlos. Die ganze Küche war in keinem besseren Zustand und der Zahn der Zeit hatte überall unübersehbare Spuren bitterer Armut hinterlassen.

„Ja, Großvater, ich komm’ ja gleich“, brabbelte ich die Wand an, während ich meine Haare durch das Haargummi zog, und begab mich danach mit einem Teller und mit einem Löffel bewaffnet zum Tisch. Das olivgrüne Hemd, das ich als Bluse trug, war weit geschnitten und fiel locker über den Bund der Fleckenhose, die früher genauso wie das Hemd auch meinem Bruder gehört hatte.

„Silviu ist deinetwegen hier“, sagte er mit schwerer Zunge und deutete zuerst auf meinen Löffel und dann auf den Topf, in dem abgesoffene Maisfladenstücke in lauwarmer Milch schwammen.

„Meinetwegen?“, fragte ich schüchtern und löffelte mir einen Berg Polenta aus der Milch, die schon von einer dünnen Haut überzogen war, in den tiefen Teller, den ich vor mir auf dem Tisch abgestellt hatte.

„Iss, er hat Arbeit für dich“, sagte Großvater, ohne mir in die Augen zu sehen, und goss von dem sauren dunklen Wein, den wir im Herbst wie jedes Jahr selbst gekeltert hatten, in einen Plastikbecher, bis dieser voll war.

„Arbeit?“, fragte ich misstrauisch, weil hier in unserem Dorf schon seit langer Zeit niemand mehr Arbeit finden konnte, und löffelte zu dem Bissen, den ich mir schon in den Mund geschoben hatte, noch von der klebrigen, viel zu sehr gesüßten Milch hinterher. Dass ich von dem Speck und den Eiern nichts abbekommen hatte, schien weder Großvaters blondem Gast noch ihm selbst ein Wort wert zu sein.

„Gute Arbeit an der frischen Luft“, antwortete mir Silviu. Die pappigen Strähnen, die fettig neben einem abgewetzten Kragen auf seinen Schultern lagen, sahen richtig eklig aus.

„Trink Wein, Ronja, das macht Mut …“, nuschelte mein Großvater, dessen Atem schon wieder kräftig nach Schnaps stank, und schob mir den Becher hin.

„Ja, trink Ronja, das wird dir guttun“, hörte ich den schmierigen Widerling sagen, der zuerst sich und danach Großvater noch einmal aus unserer Plastikflasche ohne Etikett üppig nachschenkte und deren Gläser erneut mit hochprozentigem Fusel füllte.

„Schöne, pralle Möpse hast du, Ronja“, schob er nach. Die eiskalten Blicke seiner blauen Augen, die schamlos meinen Körper musterten, machten mir Angst.

„Was ist das für eine Arbeit, die ich da tun soll?“, fragte ich und bemühte mich, meine Stimme fest und selbstsicher klingen zu lassen.

„Keine schwere Arbeit und gut bezahlt“, sagte er und schob meinem Großvater ein dickes Geldbündel rumänischer Lei über den Tisch.

„Du musst nur ein paar Ausländern etwas bei der Jagd zur Hand gehen. Mehr nicht, und wenn sie einen Bären schießen, darfst du dich mit ihnen an frischem Fleisch sattessen. Aber nur wenn du nett zu ihnen bist, und dann darfst du von dem Fleisch auch noch so viel wie du tragen kannst für deinen Großvater und für dich mit nach Hause nehmen“, sagte der Fremde und nickte mir mit einem verlogen aussehenden Lächeln zweifelhaft aufmunternd zu.

„Trink deinen Becher leer und geh …“, befahl mir mein Großvater barsch, griff nach dem Geld und dann nach seinem Glas.

„Noroc și fericire“, hörte ich Silviu dazu nur sagen, der sein Glas gegen das meines Großvaters klirren ließ, als wollte er damit einen Deal besiegeln. Prost und Glück, so lautet die deutsche Übersetzung des rumänischen Trinkspruchs. Eine andere Wahl, als auf mein Glück zu vertrauen, blieb mir offensichtlich nicht.

„Zieh dir Stiefel an, Ronja. Im Wald ist es hier im April noch recht feucht, aber das weißt du ja“, herrschte mich der Fremde in einem Ton an, der keine Widerrede zuließ, und stand auf. Die schweren Schnürstiefel, die ich schon während des Winters getragen hatte, stammten noch aus der Zeit, als mein Bruder beim Militär war. Sie gehörten inzwischen auch mir. Meine ausgetretenen Sommerschuhe waren mir schon gegen Ende des vergangenen Sommers zu klein geworden und passendere Schuhe hatten wir keine mehr.



***

 

Der Dacia, in dem ich mich auf dem Beifahrersitz angegurtet an die Tür presste, um möglichst viel Abstand von dem nach Pflaumenfusel stinkenden Fahrer zu gewinnen, glich einer fahrenden Müllhalde. Wenn ich an die im Dreck herumliegenden Spritzen denke, deren Nadeln entweder verbogen oder abgeknickt waren, wurde ich sogar umgeben von Sondermüll aus meinem Dorf gebracht. Im schlammigen Schmutz, der die Fußmatten überzog, lagen zertretene Medikamentenverpackungen und zerknautschte Displays, aus denen bis auf wenige schon alle Tabletten und Kapseln herausgerückt waren. Oje, ein Junkie, dachte ich, und das machte mir noch mehr Angst als die Mengen Țuică, die Silviu schon intus hatte.

„Hier, nimm das Chrystal, das wirkt besser als euer gepanschter Wein“, tönte der betrunkene Lenker neben mir. Seine Hände zitterten, als hätte er Parkinson, obwohl sie zum Glück beide auf dem Lenkrad lagen, anstatt mich berühren zu wollen. Einen Moment später löste sich seine rechte Hand und wühlte im Unrat unter seinem Sitz nach einem noch nicht ganz entleerten Folienstreifen, der trotz Schmutz silbrig in der langsam heller scheinenden Sonne glitzerte. Auf einer knöchern wirkenden Handfläche streckte er mir etwas hin, das von der Form ein bisschen an ein Pfefferminzbonbon erinnerte.

„Ich will das alles nicht …“, entgegnete ich und spürte panische Angst.

 

 

***

 

Nach drei Stunden viel zu schneller Fahrt über zum Schluss immer schmäler werdende Straßen las ich auf einem windschiefen Ortsschild, das von Eis, Kälte, Sonne und Hitze fast unlesbar verwittert war, Crângu Nou. Die Hauptstraße war unbefestigt und führte weiter zu einem Waldweg, dessen Verlauf sich in unberührte Natur fortsetzte. Unter mächtigen Bäumen hindurch holperte der Dacia über knorrige Wurzeln hinweg auf einen einsam gelegenen See zu, der trotz der späten Morgensonne immer noch von dichtem Nebel überwabert war. Die Luft roch modrig und klamm. Am Ufer, das zwischen den Stämmen schemenhaft zu erkennen war, tauchte hinter vereinzelten verfallenen Gebäuden eine Jagdhütte aus dem Nebel auf. Die Uferböschung, auf der das schrottige Vehikel zum Stehen kam, sah torfig aus, und ich riss, noch bevor der Motor erstarb, auf Hilfe hoffend, meine Tür auf und versuchte zu fliehen. Aber wohin … Zu der Hütte vielleicht, oder besser in Richtung Wasser? Von Panik getrieben rannte ich, so schnell ich konnte, in den Wald. Zu dem Hundegebell, das in der Nähe der Jagdhütte aufschwoll, hörte ich das rhythmische Platschen meiner Stiefel im Morast, das sich schnell verlor, als ich festeren Boden unter meinen Füßen hatte. Ob das was mich kurz darauf niederstreckte nur ein Stein oder doch eine Kugel aus einem Gewehr der Jäger war, bekam ich nicht mehr mit.


***

 

„Wo bin ich?“, fragte ich mich, als mein Bewusstsein zurückkehrte. Alles stockfinster und Sonne auf nackter Haut? Wo ist der Nebel? Es weht kein Wind und es kann auch nicht Nacht geworden sein …“, das waren die ersten Fragen, die mir durch den Kopf gingen, bevor mein Bewusstsein wieder auf Touren gekommen war. Und meine Arme? Ich kann sie nicht bewegen. Seile um meine Handgelenke – wie kann das sein? Was ist mit mir passiert?

 

***

 

Oh Gott – eine Schlinge um meinen Hals und meine Arme von Seilen waagerecht gestreckt – wurde ich zwischen zwei Bäumen aufgespannt? …, aufgespannt im Wald? Sehe ich aus wie an ein Kreuz geschlagen? Zum lebendigen Kreuz gemacht und meine Beine mit Seilen zu einem ‚X‘ gespreizt? Ich muss splitternackt sein, verrieten die kühle Luft und die wärmende Sonne meiner Haut. Was sind das für Schmerzen in meinem Bauch …? Wurde ich missbraucht? … und mein Kopf, er brummt, aber nicht vom Wein. Ich muss klare Gedanken fassen – noch mehr Seile, die meine Knie nicht lassen. Ein Traum, ein böser Traum, ein Albtraum und meine Zunge, mein Mund – warum kann ich nicht sprechen? Kann doch keinen klaren Gedanken fassen, muss es lassen, kann es nicht fassen … an meinem Hinterkopf, was ist das? … ein Knoten? … oder eine Schleife? … und die Füße noch in Stiefeln … Meine Knöchel fixiert? – Da muss meine Fleckenhose sein. Eine Melodie ist Ironie, … kann nicht brummen, muss summen …

„Nein, kein ‚X‘ …, unten ist nix. Oben ein Kreuz und unten ein ‚O‘ …, meine Füße nicht lose? … Die Fußfessel ist meine Hose. Voll ist mein Mund, hab Stoff im Schlund. Durst im Nebel, es ist ein Knebel. Ich kann nicht schreien … muss weinen und reimen." Ich will auch nicht schreien, aus Angst, weil es dunkel ist. Geräusche von Menschen, die guter Stimmung sind, aus der Ferne und Hundegebell – die Jagdhütte! Ja, es muss die Jagdhütte sein und ich bin nackt und gespreizt zwischen den Bäumen fixiert.

„Der Knoten, der Knebel, die Schleife macht Nebel …, eine Augenbinde, ich darf nicht sehen, was los ist. Mein Kopf gestreckt, die Schlinge? – Im Geäst, unter dem ich hänge, … die Füße am Boden und Vögel auf Bäumen … Sie lassen mich träumen. Sie sitzen auf Ästen und pfeifen … erblicken die Schlinge. Sie flattern und kratzen, scharfe Krallen wie Katzen", verhallte mein Singsang und wich einem Wimmern.

 

***

 

Die Schlinge, die mich dazu zwang, das Warten auf mein Schicksal hocherhobenen Hauptes zu erdulden, raubte mir neben jeder vermeintlichen Chance auf Erlösung auch fast alle Luft zum Atmen. Das gerade noch rechtzeitige Erwachen empfand ich als Mischung aus Glück und Pech. Doch plötzlich weckte mich keine neue Atemnot, sondern ein aufgeregtes Flattern um meinen wattigen Schädel. Nach dem Flügelschlag spürte ich die Krallen einer Krähe auf meiner Schulter, die frech und neugierig an etwas auf meinem Hinterkopf herumzupfte. Voll Schaudern dachte ich an ein altes Märchen. Als ich klein war, las mir mein Vater gelegentlich vor dem Einschlafen gruselige Geschichten vor, die ich am liebsten mochte, wenn sie richtig aufregend und spannend waren. Das war in der Zeit, als wir noch viele Schweine und noch keinen Hunger hatten. Das dicke Märchenbuch war steinalt und bestand aus vergilbten Seiten, von denen viele im Laufe der Zeit schon rissig geworden waren, und sah ziemlich zerfleddert aus. Schwer ruhte es in seinen Händen und mir glühten vor Aufregung oft beide Ohren. Die Geschichte erzählte von einem Galgen, an dem Verurteilte so lange baumelten, bis ihre sterblichen Reste von selbst herabfielen. Die einzigen, die ihnen halfen, sich aus dem schändlichen Bild zu schleichen, das sie für gelegentlich Vorbeiziehende abgaben, waren die Krähen, die unaufhörlich pickten, bis die Sünder geläutert waren. Zuerst pickten sie sich die gebrochenen Augen der Toten, damit sie noch frisch und schmackhaft waren, bevor sie danach erst welk wurden und schlussendlich nutzlos vertrockneten.

 

***

 

Dass mir die Krähe mein Augenlicht zurückgeben wollte, hätte ich nicht zu träumen gewagt. Kaum hatte sie die Schleife aufgenestelt, segelte meine Augenbinde in dem sanften Lüftchen, das noch wehte, so friedlich zu Boden, als wäre meine Welt noch vollends im Gleichgewicht. Endlich wieder hell und ich zwar wirklich splitternackt und mutterseelenallein, aber wenigstens außer Sichtweite der Jagdhütte. Glück im Unglück – nicht wie im Märchen – jetzt musste ich nur noch hier weg. Schnell weg von hier, aber wie …?

 

***

 

Kopfschmerzen, mein Schädel lädiert, aber der Knebel machte mir außer den Fesseln am schlimmsten zu schaffen. Mein Hirn funktionierte jedoch zumindest wieder so gut, dass ich wieder klare Gedanken darüber fassen konnte, wie ich mich aus meiner mir ausweglos erscheinenden Lage befreien könnte. Bevor ich leise herannahende Motorengeräusche hörte, konnte ich nur grübeln und ausharren. Sie näherten sich rasch und ich erkannte zuerst an der Lackierung des Ladas und kurz danach an den blauen Lichtern auf dem Dach, dass, warum auch immer, unerwartete Hilfe nahte. Die Fesseln machten es mir unmöglich, die Polizisten durch Winken auf mich aufmerksam zu machen.

„Hier bin ich … hierher“, würgte ich in meinen durchweichten Knebel, der widerlich nach altem Motorenöl schmeckte, aber vom Kauen schon von Speichel durchweicht und auch schon etwas zerfasert war. Erst als ein Jäger, der beflissen in alle Richtungen außer in meine sah, von der Hütte auf die Polizisten zuging, wollte ich weder winken noch schreien oder in anderer Form auf mich aufmerksam machen. Die drei begrüßten sich kurz darauf, so wie nur alte Freunde es tun. Zum zweiten Mal an diesem Tag sah ich, wie ein Geldbündel den Besitzer wechselte, diesmal von dem Jäger zu zwei offensichtlich korrupten Ordnungshütern.

 

***

 

Die Sonne stand mittlerweile im Zenit, vom Nebel keine Spur mehr, und weil kein Wind ging, wärmte sie mir meine splitternackte Haut so sehr, dass mich nur noch meine Lage und die Erniedrigung fröstelten ließen. Die Wärme mobilisierte meine Lebensgeister zusehends und ich war froh darüber, dass ich von der Sonne gewärmt weder weiter fror, noch wie Espenlaub zittern musste. Der Lada war nur noch als Punkt unter dem Schatten der Bäume zu erkennen, die den Hohlweg wie einen finsteren Tunnel wirken ließen. Einen Augenblick später sah ich zwei weiße Lichtpunkte aus der Schwärze auf mich zukommen, die sich viel schneller als der Polizeiwagen aus der gleichen Richtung annäherten, in der dieser gerade verschwunden war. Zwischen meinen gespreizten Beinen hatte ich inzwischen auch angetrocknetes Blut entdeckt und der Gedanke, woher meine Bauchschmerzen gekommen sein könnten, ließ mich noch mehr frösteln. Aber mein nach unten gerichteter Blick hatte auch etwas anderes entdeckt, das Hoffnung in mir aufkeimen ließ. Wie der alte Spiegel in unserer Küche hatte mich ein Lichtreflex, der mir das grelle Sonnenlicht in meine Augen spiegelte, auf etwas aufmerksam gemacht. Als ich genauer hinsah, erkannte ich die Klinge eines etwa zwei Meter vor mir halb in den Morast getretenen Jagdmessers, das ich mit meinen Füßen jedoch selbst nicht erreichen konnte. Trotz der Hoffnung, dass das Messer mir für meine Befreiung doch noch irgendwie nützlich werden könnte, erfüllte das, was ich noch sah, meine schlimmsten Befürchtungen. Mein zerschnittenes Höschen, das ich unweit des Messers auf dem Waldboden entdeckte, sprach Bände. Das Hemd meines Bruders, das aufgeschlitzt danebenlag und das ich auf meiner Haut trug, bevor sie mir meine einzigen Kleider vom Leib geschnitten hatten, ließ mich die Tatsachen meines Martyriums mehr als deutlich erahnen. Die zwei Lichtpunkte waren mittlerweile zu weißglühenden Sonnen geworden. Sie kündigten die baldige Ankunft eines jetzt dunklen Wagens an, der sich mir, bis auf sein Licht für meine Augen unsichtbar, mit dem Schatten des Hohlwegs verschmolzen, annäherte. Blut zwischen meinen Schenkeln kannte ich schon seit vielen Monaten und auch die damit verbundenen Schmerzen, aber meine verletzte Seele schmerzte noch viel mehr. Sie hatten mich einfach genommen. Ob von vorne oder hinten, daran konnte ich mich nicht erinnern. Da ich von all dem nichts mitbekam, konnte ich das, was mit mir geschah, nur schmerzlich erahnen.

 

***

 

Aus den geöffneten Hecktüren des schwarzen Lieferwagens kletterten unbeholfen weitere fünf Mädchen, die so aussahen, als seien sie ein bisschen älter als ich, aber nicht viel. Fahrer und Beifahrer waren in Richtung Jagdhütte davongeschlendert, nachdem sie den Mädchen behäbig die beiden Türflügel geöffnet hatten, ohne ihnen dabei irgendwelche Beachtung zu schenken. Die zwei Männer, die mich an Slviu erinnerten, bewegten sich schlaksig und wirkten gleichgültig. Sie waren in dem für Jäger typischen Grün gekleidet, interessierten sich aber weder für Getier im Wald noch für mich, sondern starrten stur geradeaus. Ob sie mich überhaupt gesehen hatten? Keine Ahnung, auf jeden Fall war es nicht nur besser so, weil ich splitternackt als wehrloses Opfer zwischen Bäumen aufgespannt in der Sonne hing, sondern weil sie auch nicht so aussahen, dass von ihnen Hilfe zu erwarten gewesen wäre. Die fünf Mädchen, die orientierungslos hinter dem Kastenwagen herumtrippelten, konnten mich nicht sehen, weil sie, so wie ich anfangs auch, alle Augenbinden trugen, und sie waren genauso splitternackt wie ich. Mein Knebel lag inzwischen fast ganz zerbissen und schon recht weich aufgelöst in meiner Mundhöhle und ich konnte sogar meine Zunge darüber schieben, ohne würgen zu müssen. Leise flüsternd hatte ich, kurz nachdem der Motor des Ladas zum Wegfahren gestartet worden war, auch schon eingeschränktes Reden geübt. Nur rufen oder noch schlimmer, schreien, hatte ich mich nicht getraut, weil ich die Aufmerksamkeit der Jäger nicht auf mich ziehen wollte. Jetzt jedoch musste ich die Mädchen irgendwie auf mich aufmerksam machen, um uns in der Gemeinschaft so stark werden zu lassen, dass uns doch noch die Flucht gelingen könnte. Das ging nicht ohne vorsichtiges Rufen. Außerdem hatte sich der Geräuschpegel in der fernen Jagdhütte merklich gesteigert.

„Willkommensgejohle, das kommt mir wie gerufen“, lallte ich vor mich hin, um meine geschundene Zunge auf lauteres Rufen und verständliches Reden vorzubereiten.

„Sauft euch nur besinnungslos, so wie mein Großvater, der mich verkauft hat, ihr Bastarde“, stieß ich in Richtung des feuchtfröhlichen Gelages mit zur Seite gedrehtem Kopf wütend aus und kniff meine Augen zu Schlitzen zusammen, um sicherzustellen, dass von dort keine akute Gefahr lauerte.

„Prima, die sind mit sich selbst beschäftigt“, brabbelte ich weiter. Die Hunde gaben keine Laute mehr von sich. Vielleicht bekamen sie Fressen und waren so abgelenkt, dass sie mich, auch wenn ich lauter reden würde, nicht hören und uns auch sonst nicht wittern konnten.

„Hey! Thhrrchhh …“, rief ich leise in Richtung Ufer und stellte fest, dass ich zwar nicht richtig pfeifen, aber hörbar zischen konnte.

„Ihr da, hierher … Hier bin ich … Ich kann euch helfen und ich kann euch sehen“, probierte ich es etwas lauter und hörte zum Glück immer noch kein Hundegebell, aber ich beobachtete in der Gruppe der Mädchen eine Reaktion.

„Die Größte von allen, um die sich die anderen jetzt in einem kleinen Kreis scharen, hat eine wilde rote Lockenmähne und könnte sogar schon sechzehn sein“, erklärte ich mir im Selbstgespräch und freute mich darüber, dass mir das Sprechen zusehends besser gelang.

„Ihr müsst herkommen, hierher und mich losschneiden. Ich bin gefesselt worden. Gefesselt zwischen Bäumen – mit Kälberstricken. Lauft auf meine Stimme zu. Hier ist außer uns niemand. Das kann sich aber schnell ändern, wenn die Jäger wiederkommen und Jagd machen. Jagd auf uns“, sprudelten die Worte wie ein Wasserfall aus mir heraus, und ich sah, dass sich die fünf an den Händen fassten und sich mit der Rothaarigen an der Spitze vorsichtig zu mir vortasteten.

„Hier vor mir liegt ein Jagdmesser. Wenn ihr bei mir angekommen seid, könnt ihr mich damit losschneiden. Gleich habt ihr es geschafft, es fehlen nur noch die letzten zehn Meter. Tastet aber vorsichtig nach dem Messer, es sieht scharf aus und könnte euch verletzen“, sprach ich in einem fort und spürte zunehmendes Herzklopfen. Einerseits redete ich, um ihnen die Richtung anzuzeigen und die kleine Gruppe zu ermutigen, und andererseits, um ihnen so viel Information wie möglich zu geben. Zu dumm, dass sie Augenbinden trugen, die sie ohne meine Ansagen orientierungslos hätten bleiben lassen. Dass sie alle blind waren, fraß eine Menge Zeit, weil sie auf dem schlüpfrigen Laub und dem von Unebenheiten durchzogenen Waldboden nur langsam vorankamen. Hinzu kamen die zahlreichen Wurzeln, die sie, weil sie nichts sahen, mit jedem neuen Schritt zu Fall bringen konnten.

„Gut … weiter so, ihr schafft das. Wir durften keine Sekunde Zeit verlieren und eure Augenbinden müssen, wie meine, sobald ihr hier angekommen seid, runter“, rief ich ihnen aufmunternd zu. Kurz bevor meine Retterinnen endlich bei mir eingetroffen waren, stutzte ich plötzlich. Im Gegensatz zu meiner Augenbinde trugen sie nämlich welche, die nicht aus alten Stofffetzen improvisiert worden waren. Die Ihrigen waren aus sehr festem, schwarzem Leder hergestellt worden, das jeder von ihnen auf der Stirn mit einer Art Verschraubung um ihre Köpfe gespannt worden war. Die Verschlüsse aus poliertem Metall funkelten silbrig im Sonnenlicht und waren bei allen fünf Mädchen mit kleinen Vorhängeschlössern gesichert, von denen gelegentlich Lichtreflexe aufblitzten. Die verchromten Klötzchen, die ihnen auf ihre Nasenwurzeln herabbaumelten, sahen auf den ersten Blick wie kleine Amulette aus. Amulette, mit denen ihre Peiniger sie in erschreckend makaberer Weise als ihr Eigentum gebrandmarkt haben könnten. Also nicht nur, weil sie total ihres Augenlichtes beraubt worden waren, sondern so, als sähen die Jäger die Mädchen wie ihre Jagdtrophäen. Die ledernen Kopfmanschetten waren schon von Weitem erkennbar, viel massiver als normale Augenbinden beschaffen. Das vermittelte den Eindruck, dass die Jäger ihre Beute auf diese Art von purem Vergnügen getrieben und für die Gefangenen besonders erniedrigend als hilflos gemachte Sklavinnen kennzeichnen wollten.

„Stopp, dreißig Zentimeter vor deinem rechten Fuß befindet sich jetzt das Jagdmesser …“, drückte ich aufgeregt durch die hinderlichen Fasern in meinem Mund in Richtung der Anführerin mit den roten Haaren heraus, die sich einen Augenblick später auf ihre Knie sinken ließ und versuchte, das rettende Messer zu ertasten.

„Etwas weiter nach links, sei vorsichtig …“, half ich ihr. „Eine knappe Handbreit noch, der Griff weist zu mir und die Spitze zeigt direkt auf dich, in deine Richtung.“

„Ich hab’s“, flüsterte das Mädchen, dessen Stimme vor Aufregung, aus Angst oder wegen beidem zitterte.

 

 

***

 

„Danke, jetzt müssen nur noch schnell die schrecklichen Dinger, die euch blind machen, ab“, sagte ich und rieb meine von den Fesseln geschundenen Handgelenke. Um keine Zeit zu verlieren, langte ich gleich, nachdem meine Finger wieder funktioniert hatten, nach dem Messer, das sich noch in der Hand der Rothaarigen befand. Noch bevor ich das Messer zu fassen bekam, blieb mir vor Schreck fast die Spucke weg. Meine Unterarme sahen beide total zerstochen aus und die Einstichstellen waren von kleinen Blutergüssen umgeben. Der Gedanke daran, dass der Junkie mich auch schon abhängig gemacht haben könnte und was alles noch mit mir geschehen sein konnte, ließ mich erstarren. Wie lange befand ich mich überhaupt in seiner Gewalt? Was war in dieser Zeit alles mit mir passiert …? Plötzliches Hundegebell riss mich aus meinen Gedanken. Es klang gefährlich, drang aus der Richtung der Hütte durch den Wald hindurch und näherte sich schnell.

„Wir müssen weg von hier“, schrie meine Befreierin auf. „Die Jäger lassen uns von ihren Hunden jagen.“

„Schnell zum Ufer, vielleicht sind wir im Wasser in Sicherheit“, stieß ich aus, ergriff die Hand, aus der ich das Messer übernommen hatte, und rannte mit den fünf blinden Frauen im Schlepp, die störrigsten Hindernisse meidend, so schnell es uns möglich war, los.

„Nein, bring uns zum Transporter. Wir müssen es schaffen die Türen zu schließen, bevor uns die blutrünstigen Bestien erreichen und uns alle mit ihren scharfen Zähnen bei lebendigem Leib zerfleischen“, rief mir eine der hinter mir Rennenden zu und ich wechselte sofort die Richtung. Kurz bevor wir den rettenden Kasten erreicht hatten, brach mir der Schweiß aus und ich sah noch ein Feuerwerk von Farben, während hinter uns die ersten Schüsse krachten und die Kugeln aus den Jagdgewehren über unsere Köpfe hinweg zischten. Zum Glück hatten wir noch gerade so den schützenden Lageraum erreicht, in den sich die Blinden vor Todesangst ohne zu sehen wohin, über die Ladekante hinweg in freiem Lauf in die gähnende Leere hineinstürzten. Die Rothaarige hatte noch in letzter Sekunde meine Hand erwischt und zerrte mich mit zu den fünf anderen auf die geriffelte Blechpritsche unserer Zufluchtsstätte. Zwischen Pulverdampf und den Feuersalven, sah ich als einzige wie furchterregend die Horde war, die auf uns zustürme. Allen voran war da auch eine Frau, die mit ihrem pechschwarzen Pferdeschwanz wie eine Amazone aussah und ganz anders als die anderen Jäger gekleidet war. Dann wurde mir plötzlich auch schwarz vor meinen Augen und alles wurde still und friedlich um mich herum. Das Krachen, mit dem die Schlösser der Türen hinter uns mit wuchtiger Gewalt einrasteten, hörte ich nicht mehr.

 

Schwarzwassersex

Mara und Ronja

 

Von Ronja? …

 

für mich?...

für sich?...

mit mir?…

warum? ...

 

Danke, ich tu's aber trotzdem!

 

„Fühlt sich doch echt sexy an, was deine kahle Pussy, so schön mit glitschig heißem Schaum geschmiert, alles kann“, hörte ich Ronja zwischen lautem Stöhnen erwartungsvoll japsen. Ihre ungezügelte Lust brachte meine Bauchdecke, die Zug um Zug heftiger zuckte, immer mehr in Aufruhr. In meinem Bauch flatterten immer mehr Schmetterlinge umher, die ich jetzt nicht mehr nur spüren, sondern inzwischen auch immer deutlicher im Dampfaroma, das uns umgab, riechen konnte. Ronja und mir floss unsere Lust jetzt gerade so aus unseren kochenden Spalten. Zu der wässrigen Seife hatte sich eine riesige Menge festeren Rasierschaums hinzugemischt. Das Konglomerat duftete aufregend und die davon aufgequollenen Haare hatten sich so unglaublich sexy mit der heißen Schmiere vermischt, dass sie sich während des Streichelns wie mit süßer Sahne gekrönt anfühlten. Die aufgeweichten, aber noch ungekürzten Schamhaare meiner feurig heißen Freundin waren inzwischen durch und durch von Seife und Schaum durchtränkt. Der dünne, klebrig-weiche Film, der ihren Schamhügel überspannte, fühlte sich wie eine halb aufgelöste Briefmarke an, die wie beim Waxing nur darauf wartete, von ihrem Untergrund abgezogen zu werden. Waxing anstatt genüsslicher Rasur stand aber auch für mich nie im Raum, schließlich wollten wir uns ja damit schon bei mir nicht unser schönes morgendliches Ritual verderben. Ihre erregten Lippen, die lustvoll durch die Seife hindurch hervorquollen, fühlten sich so auch unrasiert schon fast so weich und glatt an wie die, die aus meiner Nacktschnecke erwartungsvoll hervorspitzten. Von Minute zu Minute sickerten immer mehr Körperflüssigkeiten in den aromatisch herben Sud hinein. Warm und glitschig, weich wie dünnes, aber trotzdem noch zähes Gel – ähnlich wie feuchte Schleimhäute – so fühlten sich jetzt unsere beiden vor wilder Erregung zuckenden Leiber an. Ich spürte, wie sich meine Vulva voller Lust erst nach innen zog, um sich danach explosionsartig zu öffnen und dabei lustvoll süß zu krampfen. Ein leidenschaftlicher Blitz durchschlug meinen Körper bis in die Spitzen meiner Zitzen.

„Ahhhh Ronja, aber jetzt …“, ich konnte den Satz nicht mehr beenden, weil mir mein im Ausbruch befindlicher Orgasmus die letzte Luft raubte. Aus meiner Kehle brach ein langer, lauter Schrei der Lust in die Stille hinaus und endete in einem glücklichen Wimmern. Ich musste mich hoch aufbäumen und gierig nach Luft ringen, um nicht an dem Glück, das mich erfüllte, zu ersticken. Ein Schwall Freudentränen schoss mir wie eine Ejakulation aus meinen beiden Augen in die Schwärze hinaus, die unser Liebesspiel noch immer mit den lustvollen, aber lichtlosen Schatten umgab, in denen wir uns beide blind vertrauten. Mit tränennassen Wangen schnappte ich erneut gierig nach Ronjas Lippen. Wir öffneten uns ganz unserer Lust und rieben uns immer heftiger aneinander, während sich endlich auch unsere Zungen im dampfenden, heißen Regen, nach Zuneigung sehnend, liebend wiederfanden. Dann spürte ich die warmen Fliesen auf meiner Haut. Wir waren eng umschlungen zu Boden gesunken. Weiche, warme Wassertröpfchen fielen von oben auf unsere bebenden Körper, als ich hörte, wie Ronja ganz leise etwas sagte.

„Wow, war das schön!“, hörte ich ihr weich rollendes „r“ erklingen. Die Brause rieselte nun ganz leise, weil wir sie in den Urwaldregenmodus gestellt hatten. Zarte Tröpfchen schwebten wie tropischer Nebel auf uns nieder und bis auf Ronjas Stimme war alles so gut wie still.

„Hast du echt gedacht, dass ich dir wegen dieser blöden Bilder wirklich länger als eine Nacht böse sein könnte?“, hörte ich Ronja sagen. Dabei kuschelte sie sich verschmust an meine nasse Haut.

„Ich hoffte es, aber ganz sicher war ich mir dann doch nicht mehr. Ich hatte dich vorher ja noch nie so taff erlebt“, sagte ich mit einem weichen Tonfall und berührte dabei versöhnlich Ronjas Handrücken. Streichelnd beschrieb ich meiner Süßen, wie beeindruckt und überrascht, aber auch wie glücklich ich darüber war, dass mein zartes Schätzchen plötzlich so richtig wild und wehrhaft werden konnte.

„Im ersten Moment ertappte ich mich sogar dabei, dass ich spontan überlegen musste, ob ich nicht lieber erst mal selbst vor dir in Deckung gehen muss“, sagte ich. Dann gab ich Ronja einen schönen langen Kuss und legte meinen Kopf verträumt auf den nassen Bauch meiner Freundin. „Weißt du eigentlich, wie froh ich war, als wir vorhin dann endlich wieder zu unserem morgendlichen Ritual übergegangen waren, statt uns weiter gegenseitig anzuzicken?“, schob ich noch hinterher und knuffte meine Freundin Ronja dazu richtig keck. Wir streichelten uns an unseren Schamlippen, leckten uns zärtlich über unsere Gesichter und knabberten dabei abwechselnd auch immer wieder an unseren Knospen und an unseren Kusslippchen herum.

 

***

 

„Zum Glück haben wir hier heißes Wasser im Überfluss“, kicherte ich. Ronja nahm meine Hand und legte sie zwischen ihre weit geöffneten Schenkel. Geräuschlos schwebten weitere feine warme Tropfen auf uns nieder. Meine Fingerkuppen liebkosten in der morgendlichen Dunkelheit ihren bebenden Körper und dann fand ich dort plötzlich wieder ihren neuen Ladyshaver, den sie sich jetzt über ihrem Bauchnabel für den nächsten Akt bereitgelegt hatte.

„Hey Süße, schon wieder? Ich weiß doch inzwischen schon, was du dir für scharfe Sachen bestellt hast“, kicherte ich und dachte, dass ich das Rätsel um das leere Päckchen auf dem Esszimmertisch schon vollständig gelöst hätte. Ronja hatte sich zurückfallen lassen und lag jetzt auf dem Rücken, auf den von der Fußbodenheizung wohlig geheizten Fliesen vor mir. Wie in einer rabenschwarzen Nacht, in der warmer Regen fällt, lag sie, nackt und schön, einfach da. Das fühlte sich so ähnlich wie vorhin im Bett an, als sie noch so friedlich schlief und ich ihren sexy teilrasierten Kopf in meinen Händen hielt. Inzwischen spürte ich aber jetzt ganz deutlich, dass meine Kleine nun auch keine Skrupel mehr davor hatte, sich ihre Haarpracht auch an den anderen Stellen ihres jungen Körpers bis auf die Haut von mir abnehmen lassen zu wollen. Dafür hatte ich schon deshalb volles Verständnis, weil es mich schließlich selbst auch schon lange total erregte, meine Haare für die lüsternen Blicke anderer Frauen zu opfern. Es geilte mich sogar regelrecht auf, meine Schamlosigkeit so freizügig und offen zur Schau stellen und nach Lust und Laune damit provozieren zu dürfen. Zum Glück musste sich hier bei uns niemand verhüllen. Nein, hier in Berlin musste keine Frau ihre sexuellen Reize vor den Blicken anderer Menschen verbergen, und das war auch gut so. Selbst mit Tattoos und Piercings verzierte Körper waren in Saunen und an FKK-Stränden in allen Varianten gesellschaftsfähig geworden. Berlin war zum Glück nicht Dubai. Darüber hinaus war ich ganz verrückt darauf, das prickelnde Gefühl, erotische Berührungen direkt auf samtig glatt rasierter Haut zu erleben. Genau in diesem Moment kam mir ein unglaublich scharfer neuer Gedanke und ich musste dabei sogar unbewusst etwas gezuckt haben, als mich die Idee wie ein kleiner Stromschlag traf.

„Hey Mara, was ist denn plötzlich los mit dir? Alles in Ordnung, oder muss ich mir Sorgen um dich machen?“, hörte ich meine süße Maus fragen. Herzklopfend sagte ich: „Warte kurz, ich habe da gerade eine megakrasse Idee!“, und schon war ich an dem Schränkchen, in dem der elektrische Nasstrockenrasierer lag, mit dem sich meine Süße seit einigen Tagen immer ihre halbe Schädelhälfte fast kahl rasierte. Mit einem dumpfen Brummen sprang der Apparat an und Ronja bekam sogar Gänsehaut, als sie hörte, was ich jetzt mit ihr vorhatte. Zuerst legte ich ihr den Cutter nur auf ihren Schamhügel, um die Vibration auf sie wirken zu lassen. Kurz danach begann ich dann vorsichtig damit, mit den oszillierenden Messern Streifen für Streifen den Schamhügel meiner Süßen immer mehr zu entblößen. Ronja räkelte sich bei jedem erneuten Ansetzen der Maschine. Sie war ganz aufgeregt vor Entzücken und wand sich vor Vergnügen darüber, dass sie von mir jetzt auch gleich total blank rasiert werden würde. Bei jeder neuen Berührung mit dem brummenden Apparat zuckte Ronja vor Erregung mehr zusammen. Sie genoss die Vibration, die mit jedem weiteren Zug immer wieder neu in ihren Venushügel sickerte und ihr so schon von der elektrischen Vorrasur ihr Lustperlchen richtig schön prickelnd stimuliert wurde. Dass sie von mir jetzt auch ihren ganzen Körper genauso restlos blank enthaart bekommen würde, wie sie das schon von mir kannte, bereitete meiner Süßen offensichtliche Freude. Ich hörte an jedem ihrer Atemzüge, wie sie sich darüber freute, dass sie von mir jetzt auch total frech am ganzen Körper rasiert wurde. Vorsichtig und immer wieder die Haut spannend, strich ich, begleitet von dem elektrischen Brummen, mit den scharfen Klingen über ihre Weiblichkeit. Der Elektroshaver hatte inzwischen alles schön freigelegt und ich begann, meine Freundin erneut zärtlich mit viel Rasierschaum überall einzuseifen, wo ich noch Stoppelchen ertasten konnte. Dann griff ich wieder nach dem Ladyshaver aus dem Amazon-Päckchen, der noch immer auf Ronjas Bäuchlein zur Vollendung des Werks bereitlag. Die Zeit, meine Freundin restlos blank zu rasieren, war nun gekommen. Alles war schön vorbereitet und ich fragte sie ein letztes Mal, ob sie sich auch ganz sicher sei, weil sie, wenn sie jetzt zustimmte, gleich auch so komplett enthaart wie ich sein würde. Ronjas zart gehauchte Antwort bereitete mir gleich darauf eine prickelnde Gänsehaut, über der sich bei mir vor lauter Erregung vielleicht sogar noch Härchen aufgerichtet hätten, wenn noch etwas drangelassen worden wäre. Auf meiner blanken Haut wären mir da aber selbst ein paar kurze Borsten für einen kleinen frechen Streifen zu viel gewesen und Ronja gefiel es so ganz glatt offensichtlich auch besser.

„Ja, Mara, bitte rasiere mich jetzt überall schön blank. Genau so, wie das bei dir gemacht ist, will ich es auch haben.“ Das klang zwar irgendwie ergeben, aber absolut nicht ängstlich. Ronjas wulstige Schamlippen fühlten sich mit jedem Zug nasser und glatter an. Meine Kleine stöhnte wieder etwas, als sie spürte, wie sie ihre vom Rasierschaum aufgequollenen Haare von mir wegrasiert bekam, während ihre letzten abrasierten Stoppelchen mit dem Schaum auf die nassen Fliesen patschten und vom Wasser weggespült wurden. Ronja atmete immer schneller, während ich die letzten abrasierten Haare von ihr abwusch und anschließend sicherheitshalber noch einmal eine neue Schicht von dem glitschigen Rasierschaum mit massierenden Bewegungen über ihrer jetzt schon fast ganz nackten Spalte verteilte. Am Kratzen der Klingen hörte ich schon, dass meine Süße jetzt so blitzblank wie ich aussehen musste, und ich konnte auch an keiner anderen Stelle ihres Körpers noch Reste von Stoppeln tasten. Die letzten Reste von Ronjas Rasur gluckern gerade im Abfluss weg, als ich meine innere Stimme bei der heimlichen Frage ertappte, wie die nassen Lippen meiner Freundin, so schön blank rasiert, jetzt wohl bei Licht betrachtet aussehen würden. Während meine Finger immer heftiger in der Feuchte von Ronjas explodierender Lust wirbelten, verlor sich die Antwort auf meine Frage wieder in unseren Schatten. So kahlrasiert wie sie jetzt war, konnte ich sie intensiver als je zuvor spüren. Obwohl ich Ronjas blanke Pussy noch nie zu sehen bekommen hatte, erfüllte mich vor meinem geistigen Auge eine sehr klare Vision ihrer frisch enthaarten Weiblichkeit. Auf einmal hatte ich ein Bild von schokoladenbrauner Haut in meinem Kopf. Ein Braun, das ich mir so vorstellte, wie Schokolade schmeckt, das passte perfekt zu meiner Vorstellung von Ronjas Körper. Dann war da noch ein senkrechter Schatten. Ihr nackter Schlitz, den ich lüstern tasten konnte und aus dem frech und rosig ihre frisch rasierten Schamlippen hervorquollen. Ob sie, so völlig enthaart wie sie jetzt war, es wohl doch irgendwann bereuen und dann daran denken könnte, sich vor verräterischem Licht zwischen ihren Schenkeln vor neugierigen Blicken wegducken zu wollen? Ihre fleischigen Lippen, die schleimnass daraus hervorquollen, fühlten sich wie ein leuchtend blasses Rosa an und sahen bestimmt auch so aus. Das Bild von Ronjas Schamlippen sah in meiner Vision so aus, wie sich die Flügel eines Schmetterlings anfühlten, wenn so einer in der hohlen Hand flatterte. Sie vibrierten und zuckten so zart und feucht, als wären sie wie die Blütenblätter einer Tulpe, die ihren Kelch für die ersehnte Befruchtung in die Sonne reckte und offen für alles auf ein fleißiges Bienchen wartete. Aber jetzt, nachdem ich meiner Freundin ihre Lustgrotte endlich blitzeblank fertig rasiert hatte, wollte ich nicht weiter über unnötige Bilder nachdenken, denn ich konnte mich jetzt nicht mehr länger zurückhalten. Schnell krabbelte ich über sie und grätschte so, dass unsere Zungen zeitgleich unsere Lustperlchen berühren konnten. Züngelnd wie zwei blinde Schlangen, die ihre Beute mit ihren gespaltenen Zungen riechen und schmecken können, leckten wir einander unsere blanken Lippen und saugten schrille Schreie aus unseren zitternden Leibern. Meine Süße packte mich immer fester, während wir einander immer wieder neu in den Himmel der Lust leckten. Nach zwei weiteren schier endlosen, tiefgehenden Orgasmen lagen wir uns glücklich, erneut nach Atem ringend, in den Armen und reduzierten die Temperatur des Duschwassers auf ein angenehm kühles Lauwarm. So streichelten wir uns noch minutenlang, bissen uns zärtlich in unsere Lippen, küssten uns unsere noch immer erregten Knospen, gingen vor uns auf die Knie und berührten uns mit unseren Zungenspitzen immer wieder zärtlich an den Perlchen unserer Lustzentren. Als ich schon dabei war, meine Hand zum Wasserhahn auszustrecken, griff Ronja nach meinem Handgelenk.

 

***

 

„Hey, warte noch kurz, Große. Ich habe da noch was für dich. Aber mach keinen Scheiß damit, das ist kein Spielzeug für kleine Mädchen. Das ist nämlich die XXL-Variante.“ Ich runzelte meine Stirn und fragte mich, was das wohl sein könnte, was Ronja mir gerade so geheimnisvoll angekündigt hatte. Noch etwas aus dem geheimnisvollen Amazon-Päckchen etwa? Etwas für mich? Ein Geschenk von Ronja vielleicht?

„Nanu? Das sind ja ganz neue Töne von dir. Hast du gerade einen Clown gefrühstückt, oder was, Süße? Normalerweise brauche ich ja nicht mal Größe L obenrum", flüsterte ich Ronja etwas schnippisch ins Ohr.

„Ganz bestimmt nicht, ich finde das nämlich immer noch nicht wirklich lustig, was du heute mit den Leuten vom Film vorhast. Es ist gefährlicher, als du dir das vorstellen willst, dessen bin ich mir absolut sicher.“

Weil meine Freundin das Thema, von dem ich dachte, dass es endlich vom Tisch sei, noch einmal aufwärmte, antwortete ich ihr etwas genervt und versuchte erneut, ihre Zweifel zu zerstreuen.

„Ach Ronja, jetzt sei doch nicht so verkrampft, auch Männer können zärtlich sein“, brummte ich mit einem leicht verzweifelt klingenden Unterton, nahm sie in den Arm und redete gleich weiter. „Nur weil du eine üble Kindheit erleben musstest, sind doch nicht alle männlichen Wesen Vergewaltiger oder Verbrecher.“ Aber Ronja ließ nicht locker und hielt voll dagegen.

„Hey Süße, gestern hast du noch gesagt, dass die nur ein paar Fotos von dir machen wollen. Aber was machst du denn, wenn sie dir damit kommen?“ Zuerst dachte ich, das war’s jetzt endlich und wollte schon wieder zum Wasserhahn greifen, als ich spürte, dass Ronja mir einen wabbeligen, schweren Gegenstand zwischen meine Finger steckte. Wir hatten uns noch immer im Arm. Mein Kopf lag schon wieder auf ihrer rechten nassen Schulter. Neugierig erforschten meine Hände die nächste Überraschung, die Ronja an diesem heißen Morgen für mich bereithielt. Ich spürte, dass der Gegenstand länglich und sehr groß war, ein kugeliges Ende hatte und am anderen Ende zwei dicke, längliche Kugeln, die sich anfühlten wie zwei übergroße Pflaumen.

„Ronja, sag, dass das nicht wahr ist …“, stotterte ich und spürte, wie mir das Blut vor Schreck aus dem Kopf wich.

„Doch Mara, das ist die Wahrheit. So ein Männerschwanz ist kein harmloses Spielzeug für Mädchen wie dich, ohne Erfahrung mit so etwas.“

„War das wirklich nötig?“, presste ich heraus, biss meine Zähne zusammen und sprang auf. Dann drehte ich ihr meinen Rücken zu und nahm mir mein Handtuch von der Stange. Obwohl ich genau wusste, dass Ronja, auch wenn ich ihr wie jetzt meinen Hinterkopf zugewandt hatte, sehr genau hören konnte, dass ich weinte, musste ich mich einfach aus einem inneren Reflex heraus von ihr abwenden. In diesem Moment fühlte ich mich nur noch maßlos gekränkt, falsch verstanden, verletzt und beschämt. Meine Stimmung war schlagartig wieder auf den Nullpunkt durchgesackt. Beim Abtrocknen spürte ich ganz deutlich die Gänsehaut, die mich frösteln ließ, und mein sonst recht zuversichtliches Selbstbewusstsein fühlte sich plötzlich so zerbröselt wie ein Scherbenhaufen aus zerbrochenem Glas an. Gerade deshalb wollte ich jetzt aber erst recht keine Schwäche zeigen. Ausgerechnet Ronja, das scheue, gebrochene Reh, das ich so mühsam aufgerichtet habe, haute mir jetzt einfach so eine Bombe rein. Im Gegensatz zu ihrem emotionsgeladenen Ausbruch hatte ich ihr an ihren schlechten Tagen geduldig zugehört. Viele Male hatte ich sie liebevoll im Arm gehalten und fast mütterlich getröstet, nachdem Albträume sie wiederholt geängstigt und sie deshalb ihr anfänglich noch sehr brüchiges Selbstbewusstsein wieder einmal verloren hatte. Wahrlich hatte sie jahrelang keine ehrliche Zuneigung erfahren, als sie sich schon als Vierzehnjährige unter den Kanaldeckeln von Bukarest als Straßenkind durchschlagen musste. Ihre einzige Freude war viele Jahre lang das Schnüffeln von Lösungsmitteldämpfen aus schmutzigen alten Tüten, in denen sich Klebstoffreste befanden. Nur so benebelt konnte sie den Hunger zurückdrängen und vergessen, was die Männer ihr für das bisschen Geld, das sie so dringend brauchte, antaten. Was waren dagegen die paar Bilder, die die Agentur heute für ein Männermagazin mit mir als Modell aufnehmen wollte? Mitten in Berlin, was sollte da schon passieren? Mit Spuren von Tränen auf den Wangen zog ich mich im Wohnzimmer lustlos an. Den Spaß an den neuen Sachen, auf die ich bis vor wenigen Minuten noch so stolz war, hatte mir Ronja mit dem taktlosen Gummipimmel jetzt voll verdorben. Nicht mal die sexy engen Jeans, mit den perfekt dazu passenden Schnürstiefeln, natürlich auch in Schwarz, konnten meine Stimmung wieder retten. Die klotzigen Sohlen mit dem schweren Profil würden schon in wenigen Stunden im Licht der Scheinwerfer an meinen Füßen strahlen. Die auffällig dicken Schnürsenkel, die die gleiche Farbe wie die Sohlen hatten und in strahlendem Ockergelb auf dem schwarzen Leder lagen, würden für die Kameras einen kontrastreichen, sexy-peppigen Eyecatcher abgeben. Dazu hatte ich mir eine schwarze, dünne, sogar etwas durchsichtige Seidenbluse ausgesucht, die für die gegenwärtige Jahreszeit eigentlich noch zu dünn war. Das gewagte Nichts betonte meine ausgewogene und für eine Frau mit langen Beinen schön hochgewachsene Figur bestimmt besser als ein dicker und deshalb blickdichter schwarzer Rolli. Doch selbst das Oberteil, das mit der durchsichtigen Seide bestimmt viel vorteilhafter für meinen heutigen Date war, konnte im Moment nichts daran ändern, dass ich noch immer total frustriert war. Der Saum fiel, obwohl die Bluse eigentlich recht eng geschnitten war, locker über meine reizvollen Hüften. Lustlos stopfte ich mir nur die vorderen Zipfel unter meinem Nabel in den Hosenbund, griff mir den schwarzen Ledergürtel und dekorierte mit ihm locker und leger, aber schon fast etwas zu frech mein Becken. Die silbrig glitzernde Gürtelschnalle aus schwerem Metall, wippte jetzt bei jedem Schritt aufreizend gegen meinen fest in den engen Jeans verpackten, ganz frisch blitzblank rasierten Schamhügel.

 

***

 

Während des Anziehens hatte ich mich aber wenigstens wieder so weit gefangen, dass ich mich, ohne weiterzuheulen, um unser Frühstück kümmern konnte und mit den Kaffeetassen in der Küche klapperte. Kurz darauf hörte ich Ronja kommen, die sich von hinten an mich anschmiegte. Mit meiner freien Hand griff ich traurig hinter mich und tastete nach einem ihrer Handrücken. „Schon gut, ich weiß ja, dass du es nicht böse gemeint hast“, sagte ich mit belegter Stimme und streichelte sie nachdenklich. Die Kaffeemaschine war gerade zur Ruhe gekommen, als die beiden Toastbrotscheiben, begleitet von einem schrillen, metallischen Klacken, aus der Glut heraus sprangen. Zunächst klapperte nur das Besteck und gelegentlich schlürfte eine von uns kaum hörbar etwas Kaffee über ihre Lippen. Schweigend saßen wir uns leise vor uns hin schmatzend gegenüber. Uns endlos erscheinende Minuten vergingen wie in Zeitlupe, während wir frühstückend dasaßen. Die Stimmung war bedrückend und wir fühlten uns beide total leer. Nie zuvor erlebten wir uns als zwei schwermütig schweigsame Mädchen, bis Ronja sich endlich traute, das Trauerspiel zu beenden. Um den Bann zu brechen, der gerade zwischen uns stand, sagte sie leise etwas in die Stille hinein, das wie eine Rechtfertigung klang. Vielleicht, so dachte ich im ersten Moment, sollte es auch der Versuch einer Entschuldigung sein.

„Auch wenn du meine Idee mit dem Silikonschwanz in den falschen Hals bekommen hast, wollte ich dich damit bestimmt weder kränken noch beleidigen. Es fiel mir eben nur nichts Besseres ein, um dich vor dem, was dir da heute passieren kann, möglichst eindrücklich zu warnen. Außerdem hat der Schock ja seine Wirkung auch nicht ganz verfehlt. Nur wegen deiner Sturheit und wegen deines gefährlichen Übermuts musste ich mir ja etwas einfallen lassen, das deine Blockade aufbricht. Eigentlich will ich ja nur, dass du wenigstens noch rechtzeitig begreifst, vor welchen Gefahren ich dich warnen will“, sagte Ronja mit einem besorgten, aber auch trotzig und etwas vorwurfsvoll klingenden Ton in ihrer Stimme.

„Na komm, Ronja, lassen wir es gut sein, wie es ist. Du brauchst auch wirklich keine Angst um mich zu haben. Ich weiß ja selbst am besten, dass ich bisher nur Sex mit Frauen hatte. Also, ich will damit jetzt nicht sagen, dass ich das Gefühl habe, etwas verpasst zu haben, aber spätestens morgen werden wir ja wieder zusammen duschen, oder?“ Beim Sprechen tastete meine Rechte quer über den Frühstückstisch nach Ronjas Hand. Ronja legte ihre Hand auf meinen Handrücken und dann hörte ich das Grinsen in ihrer Stimme, das ich in den letzten Minuten so sehr vermisst hatte. „Wenn das so ist, dann kann ich dir spätestens morgen unter der Dusche dann auch mal unter uns zeigen, wie das ausgehen kann mit so einem dicken Ding. Ich glaube aber, mit meiner Zunge bist du doch besser bedient. Aber vorher musst du heute wirklich gut auf dich aufpassen, Süße.“
Im selben Augenblick hörten wir leise den Kies vor dem Haus unter der Last eines schweren Wagens knirschen.

„Okay, meine Kleine, aber jetzt muss ich wirklich los.“ Mit einem Ruck stand ich auf und nahm Ronja wieder zärtlich in den Arm. „Aber nicht, dass du denkst, dass sich das bevorstehende Abenteuer für mich jetzt wie ein Gang zum Opfertisch anfühlt.“ Dabei strich ich meiner Freundin spielerisch um ihre noch vom Kaffee feuchten Lippen. „Ich bin nämlich wirklich auch total neugierig darauf, wie so ein Casting funktioniert, und Angst spüre ich dabei gar nicht, sondern pure Lust und Neugierde auf die Sachen, die du alle schon kennst. Außerdem können wir das zusätzliche Geld im Moment doch auch wirklich ganz gut brauchen, oder?“ Dass es mir überhaupt nicht um das Geld, sondern mehr um das prickelnde Abenteuer ging, wollte ich Ronja in diesem Moment nicht auf ihre Nase binden.
Dann spürte ich, wie sich Ronja zum Abschied ein letztes Mal in meinen Arm kuschelte, stumm nickte und uns beide doch noch diesen letzten Augenblick zusammen genießen ließ. Über den in ihrer Stimme mitschwingenden Unterton, mit dem sie mich ein letztes Mal leise vor meinem bevorstehenden Abenteuer warnen wollte ärgerte ich mich jetzt nicht mehr und tröstete sie mit vermittelnd gemeinten Worten.

„Ja, da ist was dran, aber gerade jetzt, wo wir beide unsere Jobs in der Telefonzentrale des Hotels verloren haben, sind wir ja sogar noch mehr als früher aufeinander angewiesen", antwortete mir Ronja und begleitete mich zur Wohnungstür. Wie an jedem Morgen blieb ich dort nocheinmal kurz stehen und kramte, wie immer bevor ich aus dem Haus ging, in meiner Handtasche.

„Hier, halt mal. Wenn du schon an mir hängst wie eine Klette, kannst du auch was tun“, knuffte ich meine Freundin und drückte ihr das kleine pinkfarbene Döschen mit meinem Lidschatten, die Wimperntusche und einen brombeerroten Lippenstift sowie meine Puderdose in ihre Hände. Die Puderdose nahm ich ihr dann aber sofort wieder ab und wischte mir geübt mit dem runden Schwämmchen über mein Gesicht. Dabei musste ich selbst, wie so oft, über meine kleine süße Stupsnase grinsen und ließ das Utensil danach mit einem leisen, aber rasselnden Geräusch wieder zurück zu den anderen Sachen in meine geöffnete Handtasche plumpsen. Der Rest war dann gleich genauso schnell durch und die Schminkaktion war, weil ich das alles ohne Spiegel drauf hatte, superschnell mit Erfolg erledigt. Immer wenn Ronja mir dabei half und mir meine Schminksachen, so wie ich sie brauchte, in der richtigen Reihenfolge nacheinander in meine Hand schob, ging es sogar noch schneller.

„Danke, Süße, mach dir keine Sorgen, es wird schon alles gut gehen und du weißt ja, dass wir zwei nicht nur beim Schminken ein gut eingespieltes Team sind. Wir hätten wirklich nicht besser zusammenfinden können.“ Dann hörte ich schwere Schritte auf der Treppe und griff zu einer Art Seidenschal an der Garderobe. Während Ronja mir meine Hand drückte, sagte sie: „Hoffentlich geht das gut mit deiner Augenbinde.“ Mit nervös zitternden Fingern half mir meine Freundin noch dabei, den schwarzen Stoff über meinem Hinterkopf bombenfest zu verknoten. Fast im selben Moment schrillten die zwei Metallglocken der alten Klingel auf, zwischen denen ein schwerer Klöppel solange hin und her raste, wie Besucher, die schon im Treppenhaus standen, den Finger auf den Knopf vor meiner Abschlusstür drückten. Rasselnd nahm ich die Kette aus der Sicherheitsschiene und öffnete die Tür.

 

***

 

Die Stimme des geheimnisvollen Chauffeurs, dem ich gerade blind die Tür geöffnet hatte, klang jünger, als ich das erwartet hatte, und auch recht sympathisch dazu.

„Guten Morgen, mein Name ist Alexander, also mein Vorname …, aber die meisten Leute nennen mich Alex. Und du bist die Mara, oder?“

„Ja, Mara, also auch mein Vorname …“, antwortete ich dem Fremden recht aufmüpfig und wollte ihm damit gleich am Anfang signalisieren, dass ich keine Angst vor ihm hatte.

„Nicht schlecht …“, hörte ich ihn grinsend sagen, bevor er fortfuhr.

„Das Ding hättest du dir aber erst im Studio umbinden müssen.“

„Na nu, warum das denn? Du hast doch hoffentlich keine Berührungsängste, oder ist es dir peinlich, da draußen mit einem blinden Model an deinem Arm dumm angegafft zu werden?“

„Nö, wieso? Steht doch eh so im Drehbuch. Ich habe ja auch nur gemeint, dass du jetzt noch nicht blind sein musst, aber wenn’s dir Spaß macht, hab ich da ja nichts dagegen. Willst du nach links oder nach rechts?“
„Rechts von dir, wäre mir lieber“, sagte ich und tastete nach seinem Ellenbogen, um mich von ihm führen zu lassen.
„Na dann mal los, schöne schwarze Frau!“, antwortete er mir lässig und trabte mit mir mit federnden Schritten los in Richtung Treppe.

 

Schwarzmeerstadt

Ronja

 

„Wo bin ich?“, fragte ich mich noch bevor ich meine Augen öffnen konnte und hatte einen fahlen Geschmack im Mund. Mein Kopf dröhnte und meine Zunge fühlte sich staubtrocken an. Nie zuvor erwachte ich in einem frischen Bett, das sich so weich und warm anfühlte und mir eine Geborgenheit vermittelte, die ich so nicht kannte. Über meinem Körper spürte ich eine flauschige Decke, die nach frischen Blumen duftete, und dann hörte ich eine Stimme. Eine raue, aber dennoch weich klingende Stimme. Die Stimme einer Frau.

„Do not be scared“, hörte ich sie in englischer Sprache sagen. Vorsichtig schlug ich meine Augen auf und sah, dass das Bett, in dem ich lag, in einem modern eingerichteten Raum stand, der hell von Sonnenlicht durchflutet war. Neben mir lag die Frau, die mich zärtlich streichelte und mich fürsorglich besorgt ansah. Ihre Worte klangen fremd in meinen Ohren und ich konnte sie kaum verstehen. Die wenigen Jahre, die ich in der Schule Englisch hatte, halfen ein wenig, aber ich konnte die Sprache so gut wie gar nicht selbst sprechen. Woher die Fremde stammte, konnte ich nicht erahnen, denn sie sah ganz anders aus als die Menschen, die mich in Rumänien bisher umgaben.

„Angst?“, antwortete ich ihr holprig in rumänischer Sprache und deutete mit dem Finger auf sie.

„Am I afraid? … No, not for a long time“, hörte ich sie daraufhin mit einem gutmütigen Lächeln auf ihrem Gesicht sagen und schloss daraus, dass sie es wohl so meinte, dass ich Angst vor ihr haben könnte. Die Fürsorglichkeit, die in den Worten der Frau mitschwang, klang ehrlich und tat mir total gut. Ihre Antwort auf meine Frage meinte ich durch ein Kopfschütteln von ihr bekommen zu haben, und dazu drang auch schon gleich der nächste englische Satz aus ihrem Mund.
„Cold water also drives away fear.“ Während sie sprach, lächelte sie mich immer warmherziger an. Das Englisch, das sie sprach, klang auch ganz anders als die paar einfachen Sätze, an die ich mich noch aus der Schule erinnern konnte. Ihre Schultern wirkten breit und ihre Arme waren durch offensichtlich intensives Training außergewöhnlich muskulös für eine Frau, aber weder ihr fremdländischer Akzent noch ihr Aussehen machten mir Angst. Dann spürte ich, wie ihre eine Hand sich zärtlich unter meinen Kopf schob, und sah, dass sie mir mit der anderen ein Glas mit frischem Wasser zu meinen Lippen führte.

„Kaltes Wasser fließt …? … irgendwo hin?“, antwortete ich ihr verdutzt in meiner Muttersprache, trank dann einige kleine Schlucke aus dem Glas und sah sie fragend an.

„Fear, scared and afraid are the same“, antwortete sie mir, mimte kurz eine ängstliche Grimasse, die fast lustig aussah, und stellte das Glas auf dem Nachtisch ab, um eine Hand freizubekommen. Mit dieser wedelte sie sich mit einer Geste die Angst aus ihrer Mimik, ersetzte sie wieder mit einem Lächeln und deutete auf das Glas. Sofort danach verstand ich, dass sie wohl meinte, dass kaltes Wasser ein gutes Mittel gegen aufkeimende Angst sei.

„I not afraid you“, stakste ich, genoss ihre warmherzige Fürsorglichkeit und nippte noch einige weitere Male aus dem Glas.

„Who are you?“, fragte ich, nachdem ich das Glas fast ganz ausgetrunken und mir mühsam die Worte für meine einfache Frage überlegt hatte.

„Akasha, and you?“, fragte sie und sah mich mit ruhigen Blicken an. Es waren Blicke, wie ich sie vorher noch nie gesehen hatte. Ihr bernsteinfarbenes Leuchten strahlte eine unbeschreibliche Güte aus, aber hinter dem bräunlichen Glanz jeder Iris ihrer beider Augen, die so golden wie winzige Heiligenscheine anmuteten, verbarg sich auch ein Schimmer von Traurigkeit.

„Ronja, …“, stammelte ich schüchtern und richtete mich auf, während Teile meiner Erinnerung erwachten. Ich erinnerte mich an die Flucht vor den Jägern, an die ich offensichtlich weiterverkauft werden sollte, und an die Rettung in letzter Sekunde. Akasha hatte plötzlich ein Handy in der Hand, hielt es mir vor meinen Mund und nickte mir auffordernd zu.

„Bist du die Frau, die bei den Jägern war?“, sprach ich in rumänischer Sprache in das Mikrofon, nachdem mir nebulös dämmerte, dass ich die Frau vor kurzem schon einmal gesehen hatte.

„Ja, ich eilte euch zu Hilfe“, sagte sie ruhig und sah mich dabei weiter so warmherzig an, als ob sie kein Wässerchen trüben könnte, während sie mir ihre Antwort in meiner Landessprache zu lesen gab.

„Warum …? Was ist mit den anderen? Hast du sie auch gerettet?“, fragte ich verstört und blickte durch das Fenster auf das Meer und den weitläufigen Sandstrand hinaus. Der Strand, der sich tief unter dem Balkon erstreckte leutete strahlend weiß und war so sauber wie keiner der wenigen andereren Strände, an die ich mich noch vage aus meiner frühesten Kindheit erinnern konnte. Er schien zu dem Hotel zu gehören in dem wir uns befanden.

„Die Welt kann ich nicht retten, aber vielleicht dich“, war ihre Antwort. Akasha trug einen weißen Bademantel, der sie flauschig einhüllte, und während sie sich aufrichtete, entblößte sich ein Teil ihres Oberkörpers. Im Gegensatz zu mir war sie eine sehr große und gertenschlanke Frau, deren kräftige Schultern mir auffallend gut trainiert zu sein schienen. Nur die Rundungen ihrer Brüste waren viel weniger entwickelt als bei mir. Eigentlich wollte ich sie gar nicht so indiskret anstarren, wie mir das in dem Moment, als mich ein unverhofftes Misstrauen ergriff, passiert war.

„Du kommst nicht aus meinem Land“, blaffte ich spontan und aggressiver, als ich es wirklich wollte, völlig unüberlegt in ihr Handy und richtete mich, so splitternackt wie ich war, ebenfalls auf. „Willst du so wie die Jäger auch Sex mit mir …? Hast du mich deshalb gerettet …?“, fragte ich entzaubert, nachdem ich mich an die Frau an der Spitze der Jägerhorde erinnert hatte, die wie eine Amazone gekleidet war. Der Pferdeschwanz meiner Bettnachbarin hatte den gleichen blauschwarzen Glanz wie die offenen Haare der Kämpferin, die mit den Jägern auf die anderen gefangenen Mädchen und mich zustürmte. Das konnte kein Zufall sein.

„Sex, nur wenn er dir hilft, weil du dich nach Liebe und Zuneigung sehnst, nur für dich und nicht für mich“, antwortete sie mir noch rätselhafter, mit glaubhaft friedlich klingender Stimme.

„Warum bist du jetzt plötzlich so gut zu mir?“, fragte ich noch verwirrter in ihr Handy und spürte plötzlich auch wieder Schmerzen in meinem Bauch.

„Mein Name, Akasha, bedeutet in dem Land, in dem ich geboren wurde, in Indien, sowohl Himmel als auch Weltraum. Er steht für Kraft und Weisheit, aber auch für Freiheit und Inspiration. Schon vor langer Zeit ist er mir zu einem guten Omen geworden. Das ist während meines IT-Studiums in Delhi an der Uni passiert, als ich im Buddhismus den Frieden mit der Welt, in der wir leben, für mich gefunden habe. Dir konnte ich noch helfen und deshalb habe ich dir auch geholfen, aber den anderen Mädchen kann ich nicht mehr helfen“, antwortete sie mir mit Worten, deren Sinn ich trotz der Handyübersetzung kein bisschen verstand. Angst fühlte ich keine, zumindest nicht vor ihr, eher das Gegenteil. Es kam mir tatsächlich so vor, als wolle sie mich beschützen.

„Sind sie tot? Alle tot …? Oje, die Waffen der Jäger …, oder?“, fragte ich, schluchzte und ließ mein Gesicht in meine Hände sinken.

„Arme Ronja“, sagte Akasha, legte zärtlich von hinten ihre Arme um mich, schmiegte sich mit ihrem Oberkörper an meinen Rücken und summte mir eine beruhigende Melodie ins Ohr. Die fremd klingende Weise glich einem Singsang aus Lauten, wie ich sie noch nie gehört hatte und deren Bedeutung ich nicht verstand, aber sie wirkte so tröstlich, dass ich in Akashas Armen erneut wegdusselte.

„Tee und ein Keks? Für mich …?“, fragte ich Akasha, nachdem ich wieder aufgewacht war.

„Ja, iss und trink. Es wird dir guttun“, bedeutete mir Akasha. Draußen war es schon dämmrig geworden und das Abendrot ließ das Meer jetzt rötlich statt blau glitzern. Meine Wohltäterin stellte Kerzen auf und zündete eine Art Räucherstäbchen an, die jedoch viel dicker waren als die Räucherstäbchen, wie ich sie aus der heiligen Messe unseres Popen kannte. In dem großen Zimmer verbreitete sich eine harmonische Stimmung, die dem modernen Design eine noch wohltuendere Atmosphäre verlieh und sogar ein bisschen feierlich wirkte.

 

 

***

 

Es war schon dunkel geworden, als ich im ersten Moment glaubte, in Akashas Umarmung genauso erwacht zu sein, wie ich darin eingeschlafen war. Das konnte jedoch nicht sein, denn der Duft, der mich umgab, war nicht der gleiche wie der, den ich noch aus meinen Träumen in meiner Nase hatte. Zum Glück waren die Schlangen, die sich zu einem Flötenspiel aus Körben emporreckten, und die Feuerschlucker nicht wirklich da, sondern nur der Duft, der das Spektakel umgab, von dem ich geträumt hatte. Außerdem war die große Schlanke nicht mehr in den flauschigen Bademantel gehüllt, den sie noch trug, bevor ich in ihren Armen weggedusselt bin. Auf meiner Decke sah ich im schummrigen Lodern einiger Kerzen einen ähnlichen Catsuit liegen, der genauso wie die eng anliegende mattschwarze Seidenhaut aussah, in der der muskulöse Körper meiner Gastgeberin jetzt steckte. Die Dämpfe der mysteriösen Glimmstangen hingen wie Nebelschwaden im Raum und ich fühlte mich auf seltsame Art frei von allen Ängsten und Sorgen.

„Hier Ronja, trink noch etwas von dem Tee und iss auch noch ein Plätzchen. In fünfzehn Minuten ziehen wir los“, hauchte Akasha mir zärtlich ins Ohr und drückte mir einen kleinen Kuss auf eine meiner Wangen. Nach dem Nickerchen fühlte ich mich wie neu geboren und hatte das Gefühl, als könnte ich in mein tiefstes Inneres blicken und in meiner befreiten Seele wie in einem Buch über mich selbst lesen.

„Der Tee schmeckt gut, nur das Plätzchen schmeckt wie Gras“, plapperte ich los und hatte keinen Zweifel daran, dass Akasha alles, was ich sagte, verstehen konnte. Ihre Gesten ließen mich auch ihre Worte verstehen und ich machte mich daran, mich in die gleiche nachtschwarze Seide, die sie trug, zu hüllen. Minuten später legte sie mir ihren Zeigefinger auf meine Lippen und öffnete die Balkontür, an deren Seite sich eine Feuerleiter befand, auf der wir in unseren schwarzen Overalls unsichtbar mit der Nacht verschmolzen.

 

***

 

Unsichtbar und lautlos bewegten wir uns im Schutz der Dunkelheit auf ein Gebäude mit einer maroden Fassade zu. Ein monumentales Bauwerk, das bessere Zeiten offensichtlich schon lange hinter sich gelassen hatte, aber nichts an Anziehungskraft eingebüßt zu haben schien. Je näher wir kamen, desto deutlicher hörten wir das Gejohle, das aus dem einst prächtigen Gebäude herausdrang, und sahen zunehmend auch erste Lichtschwaden hinter den trüben Fenstern wabern.

„Wow, das alte Casino. Jetzt weiß ich endlich auch wo wir sind, in Constanța“, raunte ich Akasha zu und brannte voller Neugier und Abenteuerlust darauf, zu erfahren, was es mit dieser nächtlichen Tour auf sich haben könnte. Mein Inneres strahlte und ich fühlte mich so stark wie Akasha, die Amazone.

„Psst“, zischte sie mit einem Lächeln, in dem ein Hauch von Strenge mitschwang, und deutete auf ihre und auf meine Hände.

„O.k.“, bedeutete ich ihr mit einem Handzeichen und folgte ihr dicht auf ihren Fersen weiter durch die mondlose Nacht. Lautlos wie zwei Katzen schlichen wir uns bis zu einem der großen Fenster vor. Akasha voran und ich dicht hinter ihr, als sei ich ihr Schatten.

„Schau“, sagte mir ihr Zeigefinger, der schemenhaft schwarz, vor den Lichtschlieren, die durch die blinden Fenster nach außen drangen, erkennbar war. Einige der Gestalten, die sich im Inneren des Gemäuers versammelt hatten, schienen im richtigen Leben echte Gentlemen zu sein. Das erkannte ich an den schwarzen Anzügen, die sie trugen. Teuer schienen sie gewesen zu sein, aus bestem Stoff und maßgeschneidert, aber an den Männern, die sie trugen, hingen sie jetzt wie billige Fetzen. Auf den Tischen standen stillose PET-Flaschen, umgeben von teilweise umgekippten Gläsern, aus denen die feinen Herren offensichtlich Unmengen Schnaps gesoffen hatten. Den traditionellen Pflaumenschnaps, selbst gebrannt aus Plastikflaschen, so wie ich das von meinem Großvater kannte, der mich an einen Dealer verkauft hatte. Einer der Gentlemen, dessen feines Hemd bis zum Bauchnabel offenstand und aus einer mit Essensresten verschmutzten Hose hing, deren Hosenschlitz sperrangelweit offenstand, schniefte weißes Pulver von seinem einseitig entblößten Unterarm. Auch als Akasha mich dann sanft nach hinten wegzog und zu einem anderen Fenster brachte, brannte ich noch vor Neugier und hatte keinen Schimmer, was das alles zu bedeuten haben könnte. Das zweite Fenster, durch dessen Einblick ich mir Aufklärung erhoffte, lag an der Ecke zum Haupteingang. Vor dessen breiter Treppe blubberte der laufende Motor eines Polizeiautos vor sich hin, in dem zwei Polizisten dösten, die einen kaum weniger lädierten Eindruck als die Typen in der ehemals noblen Ruine machten.

„Psst“, bedeutete mir Akasha mit einer weiteren Geste und schob mich vor sich.

 „Ich bin voll okay“, signalisierte ich ihr mit dem hochgestreckten Daumen meiner rechten Hand zurück, während sie meinen Kopf vor die Scheibe des Foyer-Fensters schob. Der Schrei, der aus mir herausbrechen wollte, als ich die mit Handschellen an die Garderoben gefesselten Mädchen mit den schwarzen Augenbinden wiedererkannte, erstarb unter der Hand meiner Begleiterin, die sich von hinten blitzschnell über meinen Mund gelegt hatte. Sie lagen alle apathisch und schwer atmend auf dem schmutzigen Boden und wirkten schon halb tot. Sekunden später waren wir wieder sicher mit der Dunkelheit verschmolzen und unsichtbar. Erstarrt vor Schreck und von neuerlicher Angst gequält, ließ ich mich von Akasha widerstandslos in Richtung Strand in Sicherheit bringen.


***


„Was hat das alles zu bedeuten?“, fragte ich Akasha in den Translator ihres Phones, nachdem wir das sichere Hotelzimmer wieder unbeschadet erreicht hatten.

„Warte kurz …“, las ich auf dem Display des Handys und beobachtete sie dabei, wie sie an dem Gerät mit dem Übersetzungsprogramm ein Headset anschloss. Einen der zwei Stöpsel steckte sie sich in eines ihrer Ohren und den anderen streckte sie mir mit einem auffordernden Nicken entgegen.

„So geht das noch besser“, hörte ich Akasha jetzt mit der Stimme einer anderen Frau sagen, die mit einem auch angenehmen, aber auch etwas melancholischen Klang nicht Englisch, sondern nun Rumänisch mit mir sprach.

„Kannst du mich in deiner Sprache hören?“, fragte ich sie mit matter Stimme, die auch der Stimmung entsprach, die sie körpersprachlich zum Ausdruck brachte. Nach dem, was ich gerade gesehen hatte, konnte ich mich über nichts mehr freuen. Nicht einmal das an Zauberei grenzende Tool warf für mich neue Fragen auf, weil mich die Fragen zu dem, was ich erlebt hatte, nahezu auffraßen. Die Leere, die mich erfüllte, hatte mich unbeschreiblich traurig werden lassen.

„Ja Ronja, das kann ich, und jetzt müssen wir reden“, quäkte es klar und deutlich in meinem Ohr.

„Ich kann nicht …“, presste ich glucksend heraus und ließ mich erschöpft auf die Bettkante sinken.

„Komm mit, Ronja. Ich weiß, was dir schnell helfen wird“, sagte sie sanft, stöpselte uns ab und begann mir vorsichtig den Catsuit abzustreifen. Als ich nackt war, ergriff sie mich vorsichtig an meiner Hand, um mich zum Bad zu bringen. Das aus der Brause kalt herabrieselnde Wasser tat mir gut und spülte die Tränen, die mir noch aus den Augen quollen, einfach mit sich weg.  Die Tür war noch einen Spalt geöffnet, aber dennoch fühlte ich mich von meiner Retterin mit meinem Kummer irgendwie alleine gelassen. Dieser nagte trotz des kalten Schauers an meinem verletzlichen Kern und die Gedanken an die gefangenen Mädchen gärten in mir mit gemischten Gefühlen aus Wut und Angst. Als ich in ein weißes Handtuch eingewickelt zurück ins Zimmer kam, sah ich sie in ihrem Catsuit im Kerzenschein am Fenster stehen und gedankenverloren in die Nacht hinaus starren. Auch die Räucherstäbchen glimmten wieder vor sich hin und das Bett war aufgeschlagen. Zwischen den zwei Kopfkissen sah ich ihr Handy und auf meiner Seite das noch nicht wieder angeschlossene Headset liegen.

„Leg dich hin und ruhe dich aus“, bedeutete sie mir, bevor sie sich auch ins Badezimmer begab.

 

 

***

 

Nackt und an Armen und Beinen zu einem lebendigen Andreaskreuz aufgespannt, sah ich mich hilflos zwischen Bäume gespannt. Das Seeufer zwar nah, aber für mich in unerreichbarer Ferne, taumelten Mädchen auf mich zu, die alle schwarze Augenbinden trugen. Sie kamen nur quälend langsam voran, waren aber im Gegensatz zu mir nicht durch Fesseln in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Nur die Augenbinden konnten sie sich ohne fremde Hilfe nicht abstreifen, da sie in der Mitte ihrer Stirn mit kleinen Vorhängeschlössern gesichert waren. Von den Jägern sah ich keine Spur, aber ich hörte sie in ihrem Suff durch den Wald johlen und grölen. Sobald die Mädchen bei mir einträfen, könnten sie mich mit dem silbrig in der Sonne glitzernden Messer befreien, das etwa zwei Meter vor mir im Morast des Waldbodens lag. Dann hätten wir eine reelle Chance auf eine erfolgreiche Flucht.

 


 

„Are you sleeping?“, hörte ich Akasha fragen, die sich, so wie ich, in ein Handtuch gehüllt hatte und auf der anderen Seite des Bettes zu mir unter die flauschig warme Decke kroch.

„Nu, am avut un vis urât despre că scăpăm de vânători“, antwortete ich geistesabwesend und hörte die Stimme der Übersetzerin aus dem Lautsprecher von Akashas Mobiltelefon: „Nein, ich hatte einen schlimmen Traum von unserer Flucht vor den Jägern.“ Die Ansage war zwar von Rückkopplungen überlagert und hatte total gepiepst, aber Akasha verstand mich offensichtlich trotzdem, steckte aber gleich danach wieder das Headset in das Gerät.

„Das kommt von dem Gift der Jäger“, sagte Akasha, die durch den Ohrhörer klar und deutlich mit der Stimme der Übersetzerin zu mir sprach.

„Die Drogen hat mir der Dealer gegeben. Was die Jäger mit mir gemacht haben, weiß ich nicht“, antwortete ich ihr leise und streckte meine Arme nach ihr aus.

„Ich meine nicht die Drogen, Ronja. Ich meine das Gift, das sie in deiner Seele, in deinem Unterbewusstsein, hinterlassen haben“, hörte ich sie sagen und fühlte an der Kühle ihrer Haut, dass sie auch so kalt, wie ich geduscht hatte.

„Das ist es nicht, es sind die Mädchen, sie haben mich doch befreit …“, schluchzte ich hilflos.

„Ja, das Schicksal der Mädchen, natürlich belastet es deine Seele. Aber auch das, was dir widerfahren ist. Du musst reden. Reden über das, was in dir ist. Es muss raus …“, bemerkte Akasha, ohne mich zu drängen, und streichelte mir zärtlich über meine Wangen. Das Haargummi hatte sie gelöst und sich mit dem Ellenbogen auf ihrem Kissen abgestützt. Ihr Kopf lag in einer ihrer Hände und ihr blauschwarzes Haar floss wie ein Trauerschleier über ihre Schultern und bedeckte ihre flache Brust. Aber in ihren Augen sah ich wieder diesen befreienden Schimmer, dieses bernsteinfarbene Leuchten, das tief in mich blickte und so wohltuend tröstlich war.

„Ich weiß nicht, was mit mir los ist, Akasha. Bis ich die Mädchen im Casino sah, wie sie mit Handschellen an die Garderoben gefesselt dalagen, als ob sie tot seien, fühlte ich mich so stark wie du, und seither ist da nur noch Dunkelheit und Schwäche in mir.“

„Ja, das schmerzt, aber ohne einen Entzug ist ihnen nicht mehr zu helfen. Dir reichen noch Kekse.“

„Kekse?“, fragte ich, weil ich nicht verstand, was Akasha mir damit sagen wollte.

„Ja, Cannabiskekse, die dir helfen, in deine Seele zu sehen und in dir aufzuräumen, bevor es zu spät ist, Ronja."

„Wie …? Du hast mir auch Drogen gegeben?“, fragte ich schaudernd.

„Drogen sind nicht gleich Drogen und Cannabis ist nicht giftig. Eine bewusstseinserweiternde Medizin, die dir hilft, deine verletzte Seele zu heilen. Sieh in dich und lese in deinem Unterbewusstsein, das wird dir schnell helfen, Ronja."

„Woher weißt du das alles und woher wusstest du, wo die Mädchen sind? Was hast du mit dem allem und diesen Bestien überhaupt zu tun?“, brach es aus mir heraus. Mir schien, als ob nur meine Neugier mir half, all das Unverständliche etwas besser zu sortieren, anstatt den Stab über Akasha zu brechen und sie gemeinsam mit den Jägern und den Gentlemen zu verdammen.

„Die Bestien, wie du sie nennst, sind Kokser aus dem internationalen Team, in dem auch ich arbeite. Eigentlich sind sie auch eine Art Opfer. Opfer der Wohlstandsgesellschaft und der Korruption. Die eigentlichen Bestien sind die Verbrecher, die sie melken, sie mit Kokain versorgen und ihnen Mädchen verkaufen, um an ihr Geld zu kommen. In ihrer Euphorie erkennen Koksende die Realität nur noch verzerrt, und wenn die Wirkung nachlässt, brauchen sie neuen Stoff, weil sie die Welt, so wie sie ist, anders nicht mehr ertragen können.

„Akasha? … Was hast du mit all dem zu tun?“

„Unser Team ist hier, um die Grenzsicherung für den Schengenraum auf EU-Standard zu bringen, und mein Job ist es, mich um die IT-Sicherheit zu kümmern. Mit den Gentlemen aus den anderen Ländern pflege ich außerhalb unserer Arbeit so wenig Kontakt wie möglich. Aber ich weiß, was sie tun und wer das zu verantworten hat, was hier im Dunklen passiert.“

„Aber du warst mit den Jägern am See …“

„Ja, und niemand außer dir weiß besser, was ich dort tat“, antwortete mir Akasha mit einem traurigen Lächeln, und ich begann langsam, die Zusammenhänge zu verstehen.

 

 

***

 

 

„Ja, ich weiß, dass du mich gerettet hast, aber warum nur mich?“, fragte ich die Frau mit den blauschwarzen Haaren, während ich mich entspannte und den Körperkontakt mit ihr genoss, der mich immer mehr beruhigte.

„Das, was ich dir gezeigt habe, sollte dir als Erklärung besser so reichen, Süße“, hörte ich Akasha sanft sagen.

„Es scheint mir aber nur die halbe Wahrheit zu sein, oder?“, entgegnete ich ihr und kuschelte mich noch dichter an ihren Körper.

„Das mag sein, dennoch wäre es besser, erstmal in dir selbst weiter aufzuräumen. Dein Unterbewusstsein ist tiefer als du dir das im Moment vorstellen kannst und nach der Traurigkeit, die dich gerade ergriffen hatte, bin ich mir sicher, dass du die ganze Wahrheit in diesem Zustand nicht aushalten könntest.“

„Akasha, nein, ich fühle mich wieder so stark wie du und zusammen könnten wir den Mädchen sicher helfen, sie befreien, befreien wie mich, wir beide, versteh doch bitte …“, flehte ich sie an und umschlang ihren Körper mit übermütiger Begeisterung.

„Nein Liebes, das können wir eben nicht und du würdest daran zerbrechen wie eine kostbare Porzellanvase, die ein Windstoß vom Tisch gefegt hat, ohne dass sie sich dagegen hätte wehren können“, sagte sie mit einem vielsagenden Lachen. Dabei strahlten ihre bernsteinfarbenen Augen wie zwei Sonnen und mir wurde brennend heiß. Die Schmerzen in meinem Bauch waren wie weggeblasen und das Kribbeln unter meinem schwarzen Pelzchen fühlte sich mega schön an. Akashas Körper glitt langsam über meinen Bauch und zwischen meinen geöffneten Schenkeln hindurch, bis ihre Zunge, die sich weich wie Samt anfühlte, meine Schamlippen fand.

„Ahhhhhh …, stieß ich voller Glück einen schrillen Schrei aus, als sie mich an meiner intimsten Stelle berührte und ihre Zunge sanft um mein Perlchen kreisen ließ. Ich sah mich als prall gefüllten rosafarben Luftballon zum Himmel aufsteigen, hinauf zu weißen Wolken die ein Ballett zu unserem Liebesspiel aufführten. Dort wollte ich vor Lust platzen und geflutet von Akashas Energie zu einer Wolke werden, aus der sich ein Gewitter voller Zärtlichkeit auf die Menschen ergießen würde. Als Schneeflocke wollte ich dann zart und weich auf Akashas heißer Haut landen und dort für immer mit ihr verschmelzen.

 

 

***

 

 

„Na, Kleine, aus dem Land der Träume zurück?“, hörte ich, immer noch auf Wolke 7 schwebend, Akashas wohltuende Stimme.

„You are so cute, Akasha“, sprudelte überglücklich ein englischer Satz aus mir heraus, der nur einen Teil dessen ausdrückte, was ich mittlerweile für meine Retterin empfand. Ihre taffe Persönlichkeit lehrte mich von Stunde zu Stunde mehr, wie ich eine harte Schale zum Schutz meines weichen, von den Jägern geschundenen, Kerns um diesen entwickeln konnte. Ein Traum, wie zuckersüß sie sich mir gegenüber verhielt, ohne sich dabei selbst infrage zu stellen. Akasha, taff und sexy, der erste Mensch, der die Schmetterlinge in meinem Bauch zum Flattern brachte …

„Wow, your subconscious is already really good at English”, bemerkte Akasha lobend das Englisch, das aus meinem Unterbewusstsein locker aus mir heraussprudelte, grinste schräg und knuddelte mich total lieb. Einer Intuition folgend warf ich mich ganz spontan auf meine coole Freundin, presste meinen schweißnassen Körper so fest ich konnte an sie und küsste sie mit meiner Zunge tief in ihren Mund.

„Wait, do this not!“, bremste sie mich. Meine Zunge, die kurz zuvor zwischen den Ansätzen ihres nur als Andeutung entwickelten Busens nach unten geglitten war und dort gerade ihren Bauchnabel passieren wollte, hatte ihr eigentliches Ziel noch nicht erreicht. Ohne Vorwarnung fiel ich verstört und bis ins Mark enttäuscht in ein abgrundtiefes Loch. Mit unerwartet wiederholt verletzter Seele fragte ich mich: 'Warum nur will Akasha meine Gefühle für sie nicht erwidern?'. Das hörte ich mich meine innere Stimme voller Unverständnis fragen, während mein Selbstbewusstsein wie ein Kartenhaus einstürzte. Ein Krater voller Dunst, der stechend nach Schwefel stank und mir meinen Atem raubte, tat sich vor mir auf und ich stürzte mit dem Kopf voraus hinein. Unter mir sah ich brodelndes Rot, auf das ich zuraste, während ich in die Tiefe stürzte. Weit unten lechzten teuflische Fratzen nach mir, deren Wangen mit silberglänzenden Dolchen von links nach rechts durchstoßen waren. Die geschliffenen Klingen lachten mich aus weit aufklaffenden Mäulern an, als wollten sie mich verhöhnen. Nur der Singsang, der von dort unten zu meinen Ohren heraufsäuselte, passte nicht in das gruselige Bild. Er erinnerte mich an die beruhigende Weise, die Akasha mir auf eines meiner Trommelfelle gesummt hatte, als es mir so schlecht ging.

 

 

Indien – Koovagam-Festival
In jedem Frühling eines jeden Jahres treffen sich hier tausende indische Hijras, um das traditionelle Fest des ‚Dritten Geschlechts’ zu feiern, und ich befand mich mitten unter ihnen. Welchen Tag der fünfzehntägigen Feierlichkeiten ich erwischt hatte, wusste ich nicht, aber ich erahnte – warum auch immer – wohin ich durch den Vulkankrater, in den ich stürzte, gelangt war. Die Feuerschlucker und Schlangenbeschwörer zählten schon zu meinen Bekannten. Ausgelassen feiernde Hijras, die ohne jegliche Skrupel ihre Röcke hoben und den Blick auf ihre glatte Scham freigaben, sah ich hier zum ersten Mal. Auf den ersten Blick sahen sie aus wie Frauen, aber wer genauer hinsah, konnte im lichten Flaum ihrer Schambehaarung die Kastrationsnarben erkennen, die sie zu dem hatten werden lassen, was sie waren. Nicht Mann und auch nicht Frau.

 

Abgefahren

Mara

 

„Echt tough! So voll gleich mit Augenbinde beim Abholen“, begann Alex noch während des Einsteigens einen Smalltalk mit mir und gab der schweren Tür des hohen Wagens danach einen kleinen Schubs.

„Poff …“ fiel sie einen Moment später mit einem dumpfen Geräusch neben mir, satt in ihr Schloss. Mein Chauffeur hatte eine tiefe männliche Stimme und ich saß perfekt geschminkt neben ihm auf dem Beifahrersitz. Passanten, die vielleicht scheue Blicke ins Innere dieser protzigen Sänfte geworfen haben könnten, hätten mir an meiner schwarzen Kopfbinde sofort angesehen, dass hier gerade eine total blind irgendwo hingebracht wurde.

„Klar, das stand ja so in eurer Anzeige, dass ihr für diesen Auftrag ausschließlich mit blindfolded Models arbeiten wollt. Wenn ich ein Problem damit gehabt hätte, dass ihr nur Blinde sucht, hätte ich mich für dieses Casting doch gar nicht als Model beworben“, antwortete ich meinem Fahrer mit einem frech und keck klingenden Unterton in meiner Stimme. Während ich sprach, gab ich mich total lässig. Denn ich wollte gleich von Anfang an den Eindruck vermitteln, als ob es mir total egal sei, mich ohne Augenlicht in die Höhle der Löwen zu wagen. Genau genommen gab es da, neben meiner Augenbinde, auch noch einige andere Kleinigkeiten, die mich viel mehr als meine verbundenen Augen beschäftigten. Zum einen glaubte ich, davon ausgehen zu dürfen, dass Alex, der zwar sehen konnte, dass ich nichts sehen konnte, trotz seiner Augen unfähig war, Nennenswertes in meinen Gedanken zu lesen. Dessen war ich mir zumindest insoweit sicher, als er mir ohne direkten Augenkontakt wohl nicht wirklich tief in mein Inneres blicken konnte. Zum anderen war ich mir sehr sicher, dass ich ihm in dieser Hinsicht deutlich überlegen war. Im Gegensatz zu vielen anderen, meist oberflächlicheren Leuten hatte ich es nämlich außerordentlich gut drauf, aus dem Klang von Stimmen feine Nuancen herauszuhören. Deshalb bemerkte ich in Gesprächen meistens blitzschnell, was die Menschen, die in meiner Umgebung sprachen, unausgesprochen antrieb und was sie im Schilde führten. Der Klang von Alex’ Stimme war mir gleich sympathisch, was mich aber nicht davon abhielt, ihn dennoch zuerst auf die Probe stellen zu wollen. Schon seine ersten Worte, die in meinen Ohren offen und ehrlich klangen, ließen mich tiefer in sein Herz blicken, als er sich das wohl vorstellen konnte. Aus ganz anderen Gründen war ich aber vielleicht viel aufgeregter als er. Ja, aus einem der Gründe sogar richtig kribbelig. Das wollte ich mir jedoch keinesfalls anmerken lassen. Es war ja auch noch viel zu früh und überhaupt nicht notwendig, ihm jetzt schon weitere Details über mich auf seine Nase zu binden. Das, was er in unseren ersten gemeinsamen Minuten von mir hatte sehen, hören und riechen dürfen, musste fürs Erste reichen. Das, was ich heute mit ihm vorhatte, würde Alex noch früh genug merken – und das auch nur, wenn er bis zum Ende des Tages mein Favorit bleiben würde.  Er und seine Truppe dachten ja bestimmt noch, dass nur sie etwas mit mir anstellen wollten. Davon, dass nicht nur sie mit mir, sondern ich heute auch mit ihnen etwas Gewagtes anstellen wollte, konnten sie zum jetzigen Zeitpunkt unmöglich etwas ahnen. Etwas, das die Ahnungslosen nie erfahren sollten und das so auch bestimmt nicht im Drehbuch stand. Die Frage, ob und wann dieser Auserwählte dabei überhaupt auf meine sorgsam bewahrten Geheimnisse aufmerksam werden würde, stand zwar noch in den Sternen, aber wenn ich daran dachte, bereitete mir der Gedanke jetzt schon ein schlechtes Gewissen. Den wirklichen Grund dafür, warum es mir sogar sehr gelegen kam, mich hier mit einer Augenbinde einschleusen zu können, wollte ich nämlich auf keinen Fall preisgeben. Mit meinen fast neunzehn Jahren war das, was ich vorhatte, ganz legal. Davon, dass Ronja mich so sah, dass ich bisher nur Sex mit Frauen hatte, wusste von den Leuten, die mir für meinen heutigen Auftritt eine Gage zahlen mussten, auch niemand. Von einer Ausnahme abgesehen, von der ich bisher selbst Ronja noch nie etwas erzählte, entsprach das auch der Wahrheit. Dass die Menschen vom Film davon nichts wussten, war auch gut so. Diese Aspekte gehörten zu jenen meiner kleinen Geheimnisse, die, wenn überhaupt, nur meine Freundin Ronja und mich etwas angingen.

„Das, was unser Produzent da so alles an schrägen Fantasien in die Welt schreit“, hörte ich meinen Chauffeur sagen, „solltest du besser nicht so wörtlich und schon gar nicht wirklich ernst nehmen.“ Aus dem vertraulich klingenden Unterton in seiner schelmisch säuselnden Stimme konnte ich recht deutlich heraushören, dass er sogar schon ein bisschen von mir angefixt war. Der Motor des Wagens summte noch immer fast unhörbar vor sich hin. Kurz darauf ließ Alex den schweren Schlitten dann endlich laut knirschend anrollen. Das Knirschen, mit dem die Räder des Autos ihre Spur in den Kiesweg gruben, der sich durch einen parkähnlichen Garten wand, empfand ich passend zu meiner Abenteuerlust als richtig prickelnd. Mein pochendes Herzklopfen erinnerte mich an das sichere Haus, von dem wir uns von Sekunde zu Sekunde immer weiter entfernten, und an Ronja, die sich jetzt allein in meiner uns so vertrauten Wohnung befand. Neugierig tastete ich das Polster ab, auf dem ich vorne neben Alex saß. Der Sitz, auf dem ich Platz genommen hatte, war weich und bequem. Er schien außergewöhnlich edel angefertigt worden zu sein. Die Stimme meines Fahrers hörte sich deutlich weiter entfernt an, als ich das von den Fahrern der Taxis kannte, die ich sonst häufiger nutzte, wenn ich zum Shoppen in die Stadt fuhr.

„Die Anzeige, von der du sprichst, war, dich natürlich ausgenommen, bisher der totale Flop gewesen“, plapperte mein Fahrer weiter. „Im Studio werden sicher alle gleich große Augen machen, wenn sie sehen, was uns mit dir für eine heiße Schnitte ins Netz gegangen ist“, hörte ich ihn weiter reden. Spontan beschloss ich, seine flapsige Ausdrucksweise sofort für einen ersten Angriff zu nutzen, mit dem ich gleich damit beginnen wollte, Alex wie geplant etwas kräftiger auf den Zahn zu fühlen.

„Heiße Schnitte? Hast du sie noch alle …? Komplimente gehen wohl ein bisschen anders! Das klingt nicht nur voll nuttig, sondern auch absolut respektlos, so wie du da gerade redest.“ Mit bühnenreif gespielter Entrüstung und frostig leiser Stimme kokettierte ich kurz so, dass ihm schnell klar werden musste, dass er mir nicht noch einmal auf eine so dumme Tour zu kommen brauchte. Einen kurzen Augenblick später warf ich meine Angel dann gleich aufs Neue nach ihm aus.

„Wenn dich anmacht, was du siehst, darfst du es gern gleich noch einmal, aber dann bitte mit Stil und mit etwas mehr Charme probieren. Du hast nämlich Glück, dass ich gerade keinen Bock drauf habe, nachtragend zu sein“, sagte ich schnell wieder zuckersüß zu ihm. Dazu drückte ich ihm mit einem angedeuteten Kussmündchen und mit gespitzten Lippen noch eine arrogante Grimasse hin.

„Läuft doch prima, dass uns der kleine Macho gleich eine Gelegenheit gab, schon mal schön bissig Gas zu geben und ihm seine Grenzen aufzuzeigen“, hörte ich meine innere Stimme erfreut und gespannt zu mir sagen. Zeitgleich mit meiner total cool betonten Antwort hatte ich meine Arme vor meiner schwarzen Seidenbluse angehoben, die nicht nur der Jahreszeit wegen gewagt dünn beschaffen war. Mit nach außen gedrehten Handflächen ließ ich meine Hände vor meinem Körper in der Luft schweben und zuckte zu dieser aufreizend stolz inszenierten Pose lässig mit meinen beiden Schultern. Dabei gab ich mich so, als sei mein heutiger Aufzug für mich das normalste Outfit der Welt. Dann streckte ich mich so weit nach oben, dass meine Hände den Himmel der Limousine berührten. Mit durchgebogenem Rücken räkelte ich mich so, als ob ich noch ein wenig verschlafen gewesen sei, auf meinem Sitz und ächzte dazu leise mit kehlig klingender Stimme. Meine kleinen Brüste stemmten sich fest gegen den Stoff meines Oberteils, das wohl nicht voll durchsichtig war, aber so wie es sich anfühlte, bestimmt schemenhaft weitere Details erahnen ließ. An der Spannung der weichen Seide spürte ich, wie aufreizend fest mein Busen in meiner Bluse verpackt war. Deshalb war ich mir, obwohl ich selbst blind war, trotzdem recht sicher, dass Alex sehen konnte, was sich ihm dort vorne auf den Spitzen meiner Hügelchen schon lüstern entgegenreckte. Langsam und genüsslich legte ich, so als wollte ich über mir blitzende Sternchen zählen, meinen Kopf in den Nacken, während meine Finger weiter die Umgebung erkundeten.

„Schau an, ein Schminkspiegel. Na ja, wer’s braucht …“, dachte ich, als meine Hände flüchtig über das edle Leder der Sonnenblende glitten. Eher unbewusst öffneten sich spontan meine Lippen. Der Spalt, der sich auftat, war nur so schmal, dass ich gerade mal meine Zungenspitze zwischen den Zähnen hindurchstrecken und mir über meine Lippen lecken konnte.

„Klar, Brombeere, was sonst“, erinnerte mich der Geschmack meines Lippenstiftes wieder kurz an ein wohlüberlegtes Detail meines Stylings. Die frische Luft, die ich hörbar tief durch meine frech nach oben gerichtete Nase in meine Lungen sog, war so kühl wie meine Fingerkuppen, die ich mir inzwischen rechts und links neben meinem Nasenbein auf meine verbundenen Augen gelegt hatte. Über mir musste sich ein nicht verblendetes Glasdach befinden, durch welches mir wärmendes Sonnenlicht auf meine noch kühlen Wangen brannte, die aber bestimmt schon so aussahen, als ob sie vor Aufregung rot glühten.

„Sorry, Mara, so war das doch gar nicht gemeint. Ich glaube, ich war gerade nur ein bisschen verwirrt“, stotterte der Süße jetzt wie ein Schuljunge herum, und ich musste mir ein zufriedenes Kichern unterdrücken, weil bis jetzt alles genau so lief, wie ich mir das vorgestellt hatte. Im selben Moment, in dem ich diese eigenartige Anzeige zum ersten Mal gelesen hatte, war mir sofort klar, dass dieses Filmteam auf eine Show wie meine heutige stehen würde. Eine Show, die ihnen nur wenige Menschen, die so sind wie ich bin, bieten konnten. Aus diesem Grund hatte ich mir vorgenommen, die ganze Truppe gleich von der ersten Minute an mit meiner Blindheit richtig krass auf mich neugierig zu machen. Mit immer noch etwas weniger als halb geöffnetem Mund hauchte ich die tief eingeatmete Luft mit einem kräftigen Atemstoß anzüglich nach oben aus und krümmte dabei die ausgestreckten Finger meiner schlanken Hände zu kleinen Krallen. Das Kratzen meiner Nägel auf der straff gespannten Seide mischte sich in das nach einem zarten Stöhnen klingende Aushauchen meines Atems. Zuerst dürfte es danach ausgesehen haben, als ob ich mir nur meine blickdicht verbundenen Augen betasten oder noch zusätzlich mit beiden Händen zuhalten wollte. Aber ich hatte mit Alex, weil ich ihn genau mit dieser krassen Inszenierung auf die Probe stellen wollte, von Anfang an etwas viel Abgefahreneres vor. Dass ich ihn schon sympathisch fand, durfte dabei gerade deshalb, weil es bei dem Test in erster Linie um meine Sicherheit ging, keine Rolle spielen. Ihn mit dem Bild eines durchgeknallten, masochistisch veranlagten Raubkätzchens zu provozieren, das sich selbst die eigenen Krallen in beide Augäpfel schlagen wollte, schien mir genau das Richtige zu sein, um einen möglichen Perversling aus seiner Reserve zu locken. Einerseits wollte ich so früh wie möglich herausfinden, ob und wie mein geheimnisvoller Begleiter auf solche SM-Fantasien ansprang. Ein „Save-Word“ war nun mal absolut keine sichere Option mehr, wenn man vorher nicht gut genug aufgepasst und sich leichtsinnigerweise an Psychopathen ausgeliefert hatte. Jetzt würde sich gleich zeigen, ob Alex nur so wie ich, also auch nur als normaler Schauspieler, engagiert worden war, oder ob sich hinter seiner sympathischen Fassade ein wirklich schlimmer Finger verbarg. Ungeachtet dessen, was sich gleich ergeben würde, mochte ich ihn jedoch schon so sehr, dass ich mir für seine anstehende Prüfung von ganzem Herzen ein entlastendes Ergebnis erhoffte. Gedanklich drückte ich sogar Däumchen dafür, dass er die Prüfung nicht vermasseln würde. Wenn er sich vertrauenswürdig erweisen und sich außerhalb des Drehbuches mit den leidenschaftlichen Qualitäten eines zart fühlenden Liebhabers zu erkennen geben würde, dachte ich mir, dann könnte er tatsächlich im weiteren Verlaufe des Tages mein Favorit bleiben. Andererseits war es noch viel wichtiger für mich, auszuloten, ob ich mich auch dann auf seine tatkräftige Unterstützung verlassen konnte, wenn er so normal wie ich war, andere aber im Gegensatz zu ihm ihre Grenzen nicht einhalten wollten.

„Bist du denn wirklich normal?“, meldete sich meine innere Stimme wieder zu Wort. Dabei huschte mir bei dem Gedanken an das, was meine Freundin Ronja und ich heute Morgen zusammen unter der Dusche getrieben hatten, ein kurzes Lächeln über mein Gesicht. Nein, normal waren wir sicher beide nicht, weder Ronja noch ich. Aber es ging ja im Moment nicht um Ronja und mich, sondern um Alex und mich und um das, was sich im Laufe des Tages sonst noch alles entwickeln könnte. Deshalb musste ich mich jetzt auch wieder ganz darauf konzentrieren, vor dem Ende der Fahrt herauszufinden, ob ich von Alex, für den Fall, dass es doch brenzlig werden sollte, auch aktive Hilfe erwarten konnte.

„Leuten, die eine solche Anzeige geschaltet haben, müsste erst einmal richtig auf den Zahn gefühlt werden, bevor man sich, wenn überhaupt, mit ihnen einlassen darf“, hatte meine Freundin vor einigen Tagen spontan zu mir gesagt.

„Nun gut“, sagte ich zu mir selbst. Alex hatte ich ja zumindest in dieser Hinsicht gerade schon gut in der Mangel. Als ich Ronja, der Frau, mit der ich seit einigen Wochen zusammen war, zum ersten Mal von meinem Vorhaben erzählt hatte, war sie sofort außer sich darüber gewesen, wie leichtsinnig und abenteuerlustig ich mal wieder unterwegs sein wollte. Noch vor einigen Minuten, also zu dem Zeitpunkt, zu dem Alex mich zu Hause abholte, dachte ich, dass Ronja diese Ängste nur deshalb entwickelte, weil sie schon als junge Teenagerin begleitet von lebensfeindlichen Umständen aufgewachsen war. Seit Wochen bemühte ich mich darum, ihr Selbstbewusstsein ordentlich aufzubauen und mit ihr Mobilitätstraining zu machen. Aber im Gegensatz zu mir hatte Ronja bis vor Kurzem einfach viel zu viel Angst vor allem und jedem. Sie war einfach noch nicht weit genug, um meine Abenteuerlust wirklich richtig verstehen zu können, wobei es aber doch gerade diese Abenteuer waren, die mein eigenes Selbstbewusstsein so grenzenlos gut gedeihen ließen. Grenzenlos – dieses eine Wort brachte es viel besser auf den Punkt als der Begriff Inklusion. Inklusion ist auch gut, gut für Spiel und Spaß, aber mussten vorher nicht die Grenzen weg sein? Nein, alle Grenzen konnten gar nie weg sein und genau deshalb mussten sie erforscht werden. Grenzen, mit dem Ziel, sie zu verstehen und sie zu erforschen, sie auszuloten und sie auszuprobieren, das war die einfachste Vorgehensweise, um herauszufinden, wie sie am leichtesten zu überwinden waren. Genau deshalb, eben um die Grenzen der wirklichen Abgründe frühzeitig, also noch rechtzeitig erkennen zu können, wollte ich Alex ja auch schon so früh wie möglich in ein Gespräch über seine geheimsten Neigungen locken. Aus diesem Grund wollte ich jetzt bei Alex auch mit der gleichen Frage nachlegen, die Ronja mir schon vor Tagen beim Streiten über mein Vorhaben zornig ins Gesicht geschrien hatte. Nachdem ihr klar geworden war, dass ich mich nicht von meinem Vorhaben abbringen lassen wollte, hatte sie sich innerhalb weniger Tage total verändert. So richtig deutlich war mir Ronjas Veränderung erst heute Morgen geworden, als wir unter der Dusche einen ganz anderen Sex als sonst zusammen hatten. Wenn ich etwas aufmerksamer, etwas feinfühliger, etwas kritischer gewesen wäre, hätte mir Ronjas Veränderung auch schon einige Tage früher auffallen können, also zu dem Zeitpunkt, als sie damit angefangen hatte, plötzlich sehr selbstbewusst mit mir zu streiten. Erst in diesem Moment verstand ich, dass ich meine Kleine völlig unterschätzt hatte und ich sie einfach hätte mitnehmen sollen. Einfach auch eine Augenbinde um, wie bei mir, und fertig. Dann wäre sie genauso wie ich als Blindfoldie durchgegangen und wir wären zu zweit gewesen in der Höhle der Löwen, aber dafür war es jetzt leider zu spät.

„Wie kann jemand nur auf so eine absurde Idee kommen? Per Annonce nach Menschen zu suchen, die sich blind vor laufenden Kameras für andere zur Schau stellen lassen. Das ist doch voll diskriminierend“, hatte Ronja mich entsetzt angeschrien. Nachdem ich meinem vielleicht ja doch integren Begleiter die gleiche Frage gestellt hatte, spitzte ich jetzt neugierig meine Ohren und war gespannt darauf, wie Alex reagieren würde. Während des gespannten Wartens auf seine Antwort dachte ich daran, dass Ronjas Misstrauen und ihre damit verbundene Abneigung gegen diese Leute wohl schon nicht ganz unbegründet waren. Aber das änderte nichts daran, dass die Anzeige meine Neugier und meine Abenteuerlust geweckt hatte. Anfangs wollte ich einfach nur herausfinden, ob es tatsächlich so etwas wie einen besonderen Reiz für Sehende gab, der durch Blindheit geweckt wurde. Kurz danach stieß ich dann aber während meiner Internetrecherchen auf die erste Beschreibung des Blindfold-Fetischismus und auf dunkelste Neigungen, die ich mir in meinen schlimmsten Albträumen nie hätte träumen lassen. Dort las ich, dass es tatsächlich Paare gäbe, die sich aus der Hoffnung auf besseren Sex vor dem Liebesspiel ihre Augen verbanden. Ich fand sogar spezielle Masken und lichtundurchlässig präparierte Kontaktlinsen, die sich solche Leute im Internet für derartige Liebesspiele kaufen konnten.

Zu meiner Überraschung stieß ich ein wenig später sogar auf eine sehr spezielle Form von Literatur zum Thema Blindheit und Sex. Überraschung deshalb, weil es sich dabei gar nicht um Bücher für Blinde, sondern um solche handelte, die für Sehende geschrieben worden waren. Zuerst dachte ich, dass diese Geschichten nur für Leute erfunden worden waren, die es besonders erotisch fanden, ihren oder auch den Sex anderer blind zu erleben. Erst später ging mir ein Licht auf, dass bei dem Schriftgut auch Tatsachenberichte dabei gewesen sein mussten. So erfuhr ich, dass es neben den Selbermachern und den Voyeuren auch noch eine spezielle SM-Community gäbe, die ich im ersten Moment nur abstoßend, gruselig und dazu auch extrem beängstigend empfand. Zunächst wollte ich gar nicht glauben, dass es diese Geschichten, von denen ich mittlerweile auch selbst schon einige gelesen hatte, für solche Leute auch als Verfilmungen, also auch als spezielle Videos, zu kaufen gab. Selbst die Leute aus solchen speziellen Kreisen, die vorgaben, dass sie es mit Menschen, die ein wirkliches Handicap hatten, doch nur gut meinen würden, waren mir schon extrem suspekt. Aber dann gab es da ja noch die ganz Schlimmen, die darauf standen, sich an der Vollstreckung mittelalterlicher Strafen zu erregen. Die grausamen Praktiken kannte ich zwar schon länger aus verschiedenen mittelalterlichen Romanen, die ich vorher sogar selbst fasziniert gelesen hatte, obwohl darin auch von fürchterlichen Dingen berichtet worden war. Während der Recherchen fielen mir sofort wieder Bücher wie die „Krüppelmacherin“ und die „Henkerin“ ein. Das waren Bücher, in denen teilweise zwar auch sehr schmerzliche Geschehen beschrieben waren, aber sie waren meistens historisch gut recherchiert und authentisch aufbereitet. Die Materialien, die mein Entsetzen geweckt hatten, waren aber ganz und gar nicht so. So unglaublich ich das zunächst auch fand, schien es dennoch Realität zu sein, dass es tatsächlich Filme und Bücher gab, die für Lesende und Videokonsumierende wie Horrorgeschichten mit sexuellem Kontext gemacht worden waren. Offensichtlich gab es allem Anschein nach tatsächlich einen Markt für so etwas, was bedeutete, dass es auch in der Tat Menschen, wohl eher Unmenschen, geben musste, die sich von Gebrechen anderer Menschen sexuell stimuliert fühlten. Schon deshalb hätte ich spätestens zu diesem Zeitpunkt die ständige Schwarzseherei meiner Freundin Ronja ernster nehmen sollen, als ich das getan hatte. Aber meine Neugier war am Ende stärker als meine Befürchtungen. Also beschloss ich, der Sache mit der mysteriösen Annonce einfach selbst in der Rolle einer lasziven blinden Mieze auf den Grund zu gehen. Ich war total gespannt, wie Alex jetzt auf das helle Zirpen reagieren würde, das ertönte, als meine aufgeklebten Fingernägel, die wie blutrote Krallen aussehen mussten, über die filigranen Fasern des seidig glänzenden schwarzen Stoffs über meine Augäpfel kratzten. So wollte ich Alex reizen und ihn damit kitzeln, dass ich wirklich auch so drauf war, wie ich aussah – abenteuerlustig, heiß und für die Show des heutigen Tages tabulos blind.

„Aber Mara, jetzt tu doch bitte nicht so, als ob ich diese blöde Anzeige geschrieben hätte. Du bist eine bildschöne Frau und ich kann wirklich überhaupt nichts dafür, dass du heute vor der Kamera eine nackte Blinde spielen musst. Außerdem sind wir ja auch noch gar nicht so weit. Nimm das blöde Ding doch einfach ab. Dann siehst du selbst, dass ich keinen Grund habe, mich vor deinen Augen zu verstecken“, verteidigte sich Alex so gut es ging, und ich hörte, dass ihm echt etwas daran lag, gut mit mir klarzukommen.

„Hast du gehört? Er will, dass du dir deine Augenbinde für ihn abnimmst", hörte ich wieder meine innere Stimme nun fast hämisch in meinem Hirn säuseln. Weil ich schon bevor ich meine Wohnung am heutigen Morgen verlassen hatte wusste, dass ich mir meine Augenbinde während dieses Ausflugs in die Unterwelt auf keinen Fall abnehmen lassen wollte, hatte ich für diesen Fall schon vorausschauend vorgesorgt. Das schwarze Seidentuch, das ich über meinen fast schulterlangen Haaren eng um meinen Kopf gebunden trug, war an meinem Hinterkopf nämlich extra deshalb extrem fest verknotet worden. Jeder, der mich so sah, verstand sofort, dass ich mein Kopfband, so eng wie dieser Knoten zugezogen war, nicht einfach mal schnell ablegen konnte. Es war also ganz offensichtlich, dass ich mit meinem Begleiter wirklich stockblind unterwegs sein musste.

„Sollte das gerade der nächste Versuch für ein Kompliment von dir gewesen sein? Oder bist du nur irritiert davon, dass du mir nicht in die Augen sehen darfst?“, antwortete ich meinem Chauffeur mit einer weiteren, diesmal wieder richtig zickig betonten Frage.

„Hey, warum bist du denn so bissig unterwegs? Ich hab dir weder etwas getan, noch habe ich vor, dir eines deiner schönen blonden Haare zu krümmen. Ich tu’ dir doch gar nichts. Eigentlich wollte ich nur etwas Nettes sagen, um ein bisschen das Eis zu brechen. Aber wenn du dich hier weiter als Zicke aufführen willst, ist das für mich auch voll okay. Denk bloß nicht, dass ich so einer bin, der meint, mit jeder scharfen Frau große Reden schwingen zu müssen. Für mich ist das nur ein Job wie jeder andere“, gab mir Alex mit beleidigtem Unterton zur Antwort und kotzte sich gleich noch weiter aus.

„Falls dich das, was ich sage, nur nervt, kannst du es mir frei heraus auf den Kopf zusagen. Nur weil wir uns zusammen nackt vor die Kameras stellen, muss ich mich nicht wie ein Depp um dich bemühen. Sag doch einfach, dass du dich gar nicht nett mit mir unterhalten willst. Auf einen solchen Smalltalk kann ich gut verzichten. Einfach Klappe halten und aufs Fahren konzentrieren ist dann grad genug."

„Ich fand’s halt nur ein bisschen komisch, aber egal“, antwortete ich ihm jetzt wirklich locker und nett. Inzwischen glaubte ich ihm auch, was er da sagte, und war mir recht sicher, dass er ein netter Typ ohne irgendwelche bösartigen Absichten war. So beleidigt, wie er sich gerade angehört hatte, tat er mir in diesem Moment sogar selbst richtig leid, weshalb ich beschloss, schnell wiedergutzumachen, dass ich ihm mit meiner kalten Schulter vielleicht doch etwas zu viel zugemutet hatte.

„Zur Zicke werde ich übrigens erst dann, wenn Man(n) mir richtig blöd kommt“, sagte ich mit vermittelndem Tonfall und mit einem weiteren schrägen Grinsen. Während ich sprach, hatte ich Alex mein Gesicht zugewendet und spürte förmlich seine Blicke über meinen Body huschen. Sein Dialekt erinnerte mich in Nuancen an die Stimme meiner Freundin Ronja. Deutsch war also möglicherweise gar nicht seine Muttersprache. So neugierig, wie ich auf alles war, was mit ihm zu tun hatte, warf dieser Aspekt für mich die Frage auf, woher er wohl stammte. Schon wegen seines sonoren Timbres, das, wenn er sprach, in meinem Bauch resonierte, wirkten seine Worte zwar ganz anders als Ronjas Lippenbekundungen auf mich, aber keinesfalls weniger erotisch. Für einen Mann hatte Alex zwar eine tiefe, aber dennoch eher sanft und weich wirkende Stimme, was vielleicht auch ein Grund dafür war, dass er mich an die verletzliche Ronja erinnerte. An die Ronja, die sie früher, also bis vor einigen Tagen, war. Sein vorher heiterer Redefluss hatte mir viel besser gefallen als der frustrierte Passus, zu dem ich ihn mit meinen Provokationen möglicherweise zu Unrecht veranlasst hatte. Dass er auch bocken konnte, fand ich dagegen recht anregend, und schon das weckte weitere Gefühle in mir, die mich noch ein bisschen kribbeliger werden ließen.

„Kommst du aus Polen?“, fragte ich ihn dann ganz spontan, um ihm zu signalisieren, dass ich gern mehr von ihm erfahren würde.

„Ja, meine Eltern kommen von dort, aber ich ging schon in Berlin zur Schule“, erklärte mir Alex ganz offen. Ein verschmitztes Lächeln von mir, das von einem leichten Nicken begleitet war, brach als stumme Antwort ohne Worte das letzte Eis zwischen uns. Der Typ, dachte ich, gefällt mir immer besser. Jetzt, wo er so offen und locker auf meine Fragen reagierte, kam er mir sogar noch netter als vorher vor. Genau genommen hörte er sich sogar fast schon zum Anbeißen süß an. Es war aber nicht mehr nur seine Stimme, die ich schon vom ersten Augenblick an sehr sympathisch empfunden hatte. Inzwischen war ich auf den ganzen Kerl scharf. Nicht nur, weil ich ihn nicht sehen konnte, hätte ich seinen Körper so wie Ronjas Rundungen heute Morgen beim Duschen am liebsten sofort mit Hautkontakt gespürt. Da Alex leider immer noch Autofahren musste, blieb mir trotz aller Sehnsucht nach mehr vorerst dann doch nur seine Stimme. Sie klang mit jedem Wort prickelnder in meinen Ohren und machte mich schon nach wenigen Minuten regelrecht gierig auf das, was vor uns lag. Es war mein erstes Casting und dann auch noch mit einem Mann. Für diesen Gelegenheitsjob, der sich für mich eh mehr nach Abenteuer als nach Job anfühlte, war ich zwar alt genug, aber mir war dabei trotzdem etwas mulmig zumute. Meiner Freundin Ronja hatte ich versucht, das Ganze damit zu erklären, dass wir schon wegen der Pandemie bei der Auswahl von Jobs im Moment nicht allzu wählerisch sein durften. Dennoch hatte mich meine Freundin Ronja trotzdem weiter vor diesem Termin gewarnt, und zwar nicht nur deshalb, weil sie bei dieser Agentur nur Blinde wollten. Ronja war der Meinung, dass ich auch aus dem anderen Grund, nämlich weil ich bisher immer nur etwas mit Frauen und noch keine eigene sexuelle Erfahrung mit normalen Männern hatte, besser meine Finger von diesem Job hätte lassen sollen. Aber nun, wo ich spürte, dass meine Finger schon vor Neugier auf die Berührung eines echten männlichen Körpers vibrierten, war ich trotz aller Bedenken davon überzeugt, dass ich bis jetzt alles richtig gemacht hatte. Ich war regelrecht rasend vor Lust und konnte es fast nicht mehr erwarten, endlich den Körper von Alex, dessen Stimme mir mit jedem Wort, das er mehr sagte, immer besser reinlief, mit all seinen Geheimnissen zu erkunden.

„Machst du diesen Job schon lange?“, fasste ich nach.

„Nee, ganz und gar nicht, eigentlich bin ich Tänzer. Musicals, im Theater des Westens, aber da ist ja alles dicht im Moment“, antworte Alex mir total nett.

„Ich mache das auch zum ersten Mal. In normalen Zeiten arbeite ich als ‚Call-Center-Agent‘. Kannst du mal was rauslassen, wie das jetzt gleich abläuft, wenn wir da sind, in diesem Studio …?“, fragte ich weiter.

„Was heißt schon Studio? Das ist ja nur ein kleines Atelier, die machen gar nicht so große Sachen wie die drüben in Potsdam im Filmpark Babelsberg. Der Produzent ist ein aufgedrehter Arsch, aber die Kamerafrau, also eigentlich seine Lebensgefährtin, und die alte Visagistin, die sind beide voll okay und bremsen den auch ganz gut ein, wenn er wieder mal hohl dreht.“

„Sag mal Alex, hast du eigentlich schon einen Plan vom Drehbu …“, schaffte ich gerade noch neugierig ein paar Worte vom nächsten Satz zu sagen, bevor ich dann plötzlich wie von einem Hammer getroffen durchgeschüttelt wurde und froh war, dass mich mein Sicherheitsgurt auffing.

„Tuuutttttt!!! quietsch …“

„Aaahh! … Scheiße! Pass doch auf!“

„Geht’s noch, Alte …?“

„… Alles gut, Mara? Hast du dir wehgetan …?“, hörte ich Alex besorgt aufschreien, während er sich damit abmühte, den schlingernden Koloss auf der Straße zu halten.

„Nee, geht, war nur der Schreck. Was war denn?“ bemühte ich mich darum, die Panik, die mich wegen des plötzlichen Zwischenfalls ergriffen hatte, verbal so gelassen wie möglich zu kaschieren.

„Die Olle wollte einfach ohne Vorwarnung vor uns über die Straße rüber … und mit 170 Inch, das sind immerhin zehn Meter Gesamtlänge, weichst du halt nicht mehr so einfach jemandem aus. Mit diesem langen Teil ist das ’ne ganz andere Nummer im Vergleich dazu, wie wenn du mit dem Fahrrad durch die Stadt radelst und mal schnell irgendwo einen Haken schlagen musst.“

„Hab schon gehört, dass du mich nicht mit einem Kleinwagen abgeholt hast, aber zehn Met … …?“ … dann brach mein nächster Satz schon wieder unerwartet ab und ich war von einer Sekunde auf die andere total weg.

 

 

Schwarzmeerblitz

Ronja

 

„I feel in love with you, Akasha“, flüsterte ich mit tränenschwerer Stimme und drückte die Frau, die nicht immer eine war, erfüllt von Schwermut. Ob ich wirklich weiter traurig sein wollte, war mir in dem Moment nicht klar. Umso klarer jedoch war mir, dass ich ihr mit Respekt begegnen und sie nicht bedrängen wollte. Erst vor Kurzem hatte sie mich nach fürchterlichen Erlebnissen, gepeinigt von Albträumen aus einer trostlosen Situation, die ich meinem Großvater zu verdanken hatte, befreit. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch keine Ahnung davon, dass ihr Schicksal sie noch viel heftiger erwischt hatte, als das bei mir der Fall war. Die positive Einstellung dieser starken Frau, die trotz allem taff und selbstsicher unterwegs war, beeindruckte mich total. Schon nur an ihrer Seite sein zu dürfen, gab mir neue Zuversicht und bescherte mir nach langer Zeit endlich auch wieder erste süße Träume.

„Did your subconscious tell you about me?“, fragte mich Akasha ganz leise und ruhig danach, ob mir mein Unterbewusstsein schon etwas von ihrem Geheimnis eröffnet hatte, und sah mir dabei mit ihrem einzigartigen Blick tief in meine Seele hinein.

„Ja, ich war in Koovagam“, erwiderte ich ihr. Dort habe ich viele Hijras total ausgelassen bei den rituellen Feiern erlebt. Auch die Bedeutung der Nirvanoperation, also der rituellen Kastration, die in Indien bei Männern gemacht wird, die sich dem dritten Geschlecht zugehörig fühlen, wurde mir klar. Nur, dass Menschen, die dort weder als Mann noch als Frau so leben, wie sie sind, nicht vollständig in die soziale Gemeinschaft integriert leben können, das verstehe ich nicht. Schließlich gehören die Hijras doch zur dortigen Kultur. Während ich sprach, streichelte ich Akasha sanft über die Muskeln ihres durchtrainierten Bauches und endete mit der Frage: „Aber woher weiß ich das alles? Es war doch nur ein Traum und ich war noch nie in meinem Leben in Indien …?“

„Du wolltest wissen, wer ich bin, und ich habe es deinem Unterbewusstsein erzählt, während du nach dem ersten Keks und dem Tee schliefst“, hörte ich sie sanft sagen und schob meine Hand vorsichtig über ihr Becken hinweg etwas tiefer.

„Acum știu că nu ai un vagin ca mine. Mai pot să te mângâi acolo?“, fragte ich Akasha etwas verklemmt, ob ich sie dort trotzdem streicheln dürfe, nachdem ich gerade darüber aufgeklärt wurde, dass sie noch nie so eine Vagina wie ich hatte.“

„Sure, I like to take heartly care of you, but I like not you could be shocked about that“, antwortete sie mir total entspannt und kraulte mich dabei zärtlich in meinem Busch, der von meiner wieder aufflammenden Erregung von Sekunde zu Sekunde immer feuchter wurde. Dabei erklärte sie mir, dass sie sich gerne von ganzem Herzen um mich kümmern wollte, aber vermeiden wollte, dass mich das, was ich bei ihr dort vorfinden würde, schockieren könnte. Eine Schambehaarung hatte Akasha nicht und die Spur, die von ihren Genitalien geblieben war, beschränkte sich auf eine winzig kleine Ausstülpung auf ihrem geglätteten Schamhügel. Ihre Haut war dort bis auf die Stelle, die sich etwas vernarbt anfühlte, butterzart und ohne ein einziges Härchen. Vorbereitet, wie ich war, hatte ich das ja so ähnlich erwartet, nur dass sie keine Stoppeln vom Rasieren hatte, schockierte mich dann doch. War es nicht so, dass die Angleichung erst bei Erwachsenen stattfand, die sich selbstbestimmt für das dritte Geschlecht entschieden hatten? Dass das in Akashas Fall alles vor Eintritt in die Pubertät stattgefunden haben musste, irritierte mich und ließ mich wieder tief traurig werden. Noch darüber sinnierend, wie ich mit ihr über ihr Schicksal sprechen und wie ich ihr mein Mitgefühl dafür zum Ausdruck bringen könnte, was ihr offensichtlich angetan worden war, wurde mir ganz flau. Bevor ich diesen Gedanken fertig denken konnte, fiel mir plötzlich etwas ganz anderes, etwas sehr Merkwürdiges auf. Wie konnte das sein, dass wir uns in drei Sprachen unterhielten, von denen wir beide keine gemeinsam gut beherrschten? Warum konnte jede von uns ohne Dolmetscher und ohne technische Hilfen plötzlich dennoch alles sofort verstehen, was die andere gerade gesagt hatte. Das konnte doch nicht nur von den Keksen kommen? Der Gedanke, der mich daraufhin beschlich, kam mir unglaublich vor. Konnte es wirklich sein, dass Menschen, die sich nahe waren, über die Grenzen ihres Bewusstseins hinweg, in ihnen fremden Sprachen oder sogar ganz ohne gesprochene Worte miteinander kommunizieren konnten?

„Ronja, was bedrückt dich denn? Das, was du machst, ist doch wunderschön“, durchbrachen Akashas zärtlich gehauchte Worte mein Grübeln.

„Ja schon, aber mir scheint, dass du früher, als ich mir das vorstellen wollte, zum dritten Geschlecht gewechselt bist, oder sollte es so sein, dass du dorthin ohne eigene Selbstbestimmung gewechselt wurdest? Dieser eine Gedanke hat mich gerade sehr traurig gemacht und mich melancholisch werden lassen“, ließ ich sie wissen und streichelte ihr dabei nachdenklich und vielleicht auch etwas tröstlich ihren Bauch.

„Bestimmt nicht zu früh für mich, Ronja, ich war da schon elf Jahre alt und wollte nichts inniger, als ganz zu meiner Gemeinschaft dazuzugehören. Indien ist kein Land, in dem es allen Menschen gleich gut geht, und wenn du als Kind alleine auf der Straße leben musst, blickst du täglich dem Tod ins Auge. Vor dem hungrigen Einschlafen ohne eigene Bleibe und ohne ein Dach über dem Kopf fällt es dir immer schwer, abzuwarten, wann er dich endlich mit sich nimmt und dich so von dem Elend und deinen Ängsten erlöst. Je früher du eine Hijra-Community findest, deren Guru dich aufnimmt, desto schneller hast du ein besseres Leben. Aber selbst dieses Glück findet dort nicht jeder Mensch und kleine Straßenkinder noch weniger. Für mich war dieses Glück ein erster Schritt in ein besseres Leben und deshalb hadere ich auch heute noch kein bisschen damit, früh eine Hijra geworden zu sein. Womit ich hadere, das sind die Ungerechtigkeiten und das Böse in der Welt. Jedoch endet das nicht an Indiens Grenzen. Einzelne können das auch nicht im Großen ändern, aber dafür im Kleinen. Dass du bei mir bist, ist für dich vielleicht auch ein erster Schritt in ein selbstbestimmtes und glücklicheres Leben, und das macht mich im Moment wirklich glücklich.

„Das ist ja der helle Wahnsinn, was das Unterbewusstsein alles kann und was darin alles verborgen ist, Akasha“, staunte ich über all das, was mir meine Freundin aus den Erfahrungen erzählte, die sie auf dem Weg zu ihrer Selbstfindung gesammelt hatte. Die Tage, die vergangen waren, seit sie mich unter ihre Fittiche genommen hatte, waren die glücklichsten meines bisherigen Lebens. Oft hatten wir total coolen Sex und ich hatte gelernt, wie schön er für zwei Menschen sein kann, die sich respektieren und mögen. Auch dass Akasha auf mein Streicheln, Küssen und Lecken an den unterschiedlichsten Stellen ihres Körpers, begleitet von Knabbern, Saugen, Pusten und anderen vielfältig variierenden Zärtlichkeiten, so mega abfuhr, turnte mich total an. Nur mit dem Schicksal der Mädchen, die wir noch nicht so wie mich retten konnten und die sich noch immer in den Händen der Jäger, die mich vergewaltigt hatten, befanden, wollte ich mich nicht abfinden. Daran änderten auch Akashas sich wiederholende Erklärungs- und Beruhigungsversuche nichts. Dass sie mich außerstande sah, sie bei einer erfolgversprechenden Befreiung erfolgreich unterstützen zu können, wollte ich weder wahrhaben noch akzeptieren. Außer den Keksen hatte ich mittlerweile auch den einen und den anderen Joint mit ihr zusammen geraucht. Das half mir, viele Fragen über Altlasten zu beantworten, die ich aus meinem noch jungen Leben schon alle unbeantwortet in mir schlummernd mit mir herumschleppte. Aber das, was die Jäger mir angetan hatten, konnte ich, so sehr ich mich auch anstrengte, nicht in mir ausgraben, und Akasha meinte, dass das gut so sei.

„Ronja, glaub mir einfach, dass die Welt so nicht zu retten ist und du mit dir selbst noch genug zu tun hast“, beschwor sie mich, nachdem ich ihr zum x-ten Mal von dem erzählt hatte, was ich von den Geschehnissen im Wald aus meinen langsam wiederkehrenden Erinnerungen herausbekommen hatte.

„Ich weiß, dass der Schlüssel, den wir brauchen, um den Mädchen zu helfen, tief in mir drin liegt, ich komme nur nicht dran“, beschwerte ich mich fast bei ihr.

„Nein, Ronja, das ist nur dein Ego, das über deinem wahren Ich in der Bewusstseinsebene lebt und dir ein Zerrbild von Stärke vorgaukelt, die du gar nicht hast“, erklärte sie mir so einfühlsam und geduldig wie viele Male zuvor.

„Mit Zauberpilzen könnte ich es bestimmt schaffen“, hielt ich ihr fast schon trotzig entgegen.

„Nein, damit würdest du nur Dinge über dich selbst ausgraben können, für die du im Moment noch nicht stark genug bist. Die Psychedelika, die in halluzinogenen Pilzen enthalten sind, verschaffen dir nur weitere Erkenntnisse über das, was unverarbeitet zum Schutz deiner Seele dort gut verpackt in dir schlummert. Diese Wahrheit musst du aber aushalten können, um dir damit nicht zu schaden. Ein Wundermittel, das dich stark macht, gibt es nicht. Resilienz musst du dir geduldig erarbeiten“, erklärte sie mir gütig und schloss mich zärtlich in ihre Arme.

„Wenigstens könnte ich so alles erfahren, was im Wald mit mir geschehen ist. Die Pilze sind ja nicht giftig und sie machen genauso wenig abhängig wie Cannabis. Das hast du mir nämlich selbst genau so erzählt“, bockte ich ungeduldig und versuchte, mich aus ihren Armen zu winden.

„Ja, das stimmt wohl, abhängig machen sie nicht, aber sie können schlummernde Psychosen auslösen. Einen solchen Horrortrip wünsche ich mir bestimmt nicht für dich, meine ungeduldige Kleine.“ Akashas ehrlicher Blick sagte mir mehr als ihre Worte, aber das zu akzeptieren, was sie sagte, fiel mir an dieser Stelle, schon der Mädchen wegen, unglaublich schwer.

„Auch wenn es dir schwerfällt, solltest du akzeptieren, dass Leben manchmal bitter, aber dann auch wieder zuckersüß sein kann“, hörte ich Akasha sagen, die sich in dem Bett, in dem wir kuschelten, kurz zur Seite gereckt hatte. Das Rascheln, das ich dann vernahm, machte mich schon neugierig, bevor ich sehen konnte, was sie aus der Schublade, die sie aus dem Nachttisch herausgezogen hatte, hervorholte.
„Das hier macht glücklich und auch süchtig, ist aber noch unbedenklicher als Cannabis“, säuselte Akasha mit einem erregt klingenden Schwingen in ihrer Stimme.
„Leckereien“, staunte ich und beobachtete, wie sie mit zittrigen Fingern eine kleine Tüte aufdrehte, die sie vorher aus einer durchsichtigen Plastikverpackung herausgefummelt hatte. Durch die transparente Folie sah ich noch viele weitere Schokoladenbrocken, die sich in unterschiedlichen Farben eingewickelt, als eine Art Pralinen, die mir wie ungeschliffene Diamanten vorkamen, in dem knisternden Etwas befanden.

 

 

***

 

 

„Schon alleine der Duft dieser Kugeln macht mich verrückt nach dir, du süße Maus“, sagte Akasha, steckte sich den hellbraunen Leckerbissen zwischen ihre Lippen und hielt ihn dort so mit den Zähnen fest, dass die Hälfte noch herausschaute. Eine solche Riesenpraline sah ich zum ersten Mal in meinem Leben und dass sie eigentlich gar keine richtige Kugel, sondern bei genauem Hinsehen ein schroffer, mit feinen dunkelbraunen Schokoladenstreifen verzierter Klumpen war, ließ sie wie ein handgemachtes Kunstwerk wirken. Einen Moment später ließ ich mich von meiner erregten Freundin willig auf meinen Rücken drehen. In den Duft der frischen Bettwäsche mischte sich von Sekunde zu Sekunde mehr von dem leckeren Schokoladenaroma, das meine Freundin offensichtlich mega erregte. Das Feuer der Lust, das jetzt in ihr loderte, war auf mich übergesprungen und ich verspürte zum ersten Mal Verlangen nach Sex mit einem Menschen in meinem Körper. Da war auf einmal eine Aufregung, ein Kribbeln in mir, das ich so nicht kannte. Die Vergewaltigung, an die ich mich nicht mehr erinnern konnte, ausgenommen, hatte ich mich bis zu dieser Stunde nur selbst an meinen erogenen Stellen gestreichelt. Angst hatte ich keine mehr. Auch weder Scheu vor Akashas Körper noch Mitleid. Die Schokolade hatte uns beide verzaubert und als ich ihre Lippen durch den süßen Film hindurch schmeckte, verstand ich, dass dieses Ritual für Akasha eine ganz besondere Bedeutung hatte. Mir wurde ganz warm um mein Herz, als sie mir auf die süßeste Art, die vorstellbar war, bewies, wie sie das meinte mit der bitteren Süße, die manchmal zum Leben dazugehört und wie sie akzeptierbar werden kann. Erotische Gefühle als Arrangement mit dem Schicksal mit Schokolade zu stimulieren, war schon für sich genommen gigantisch. Diese Gefühle mit mir zu teilen und somit auch mir mit Schokolade meine verletzte Seele zu heilen, das war noch viel mehr als nur gigantisch.

 

 

***

 

 

„Jetzt ist sie weg, die Schokolade, und wir brauchen 'ne Dusche, Süße“, sagte Akasha und zog mich mit sich aus dem Bett in das Badezimmer, das mollig warm vorgeheizt war. Ein netter Ort, wo wir einander zum Abschluss mit heißem Wasser verwöhnen konnten.

„Wie schade, ich glaube, davon kann ich ab heute nie mehr genug bekommen“, antwortete ich ihr, drückte mein Becken fest an ihre Scham und küsste sie mit meiner Zunge lang und tief in ihren Mund.

„Komm schnell abtrocknen jetzt, Ronja. Auf den Klippen von Constanța steht hoch über dem alten Casino ein kleines Restaurant, das auch dem Ruf eines gemütlichen Cafés gerecht wird. Dort gibt es leckeres Gebäck und selbstgemachten Likör, den sie aus in der Sonne vorgetrockneten Trauben herstellen. Dazu noch Espresso mit einer einzigartig schaumigen Crema, der so stark ist, dass er sich beim Rühren so zäh wie dünnflüssiger Honig anfühlt."

„Das hört sich gut an und noch besser wäre es, dir diese Köstlichkeiten alle von deiner Haut zu lecken“, kicherte ich, schlüpfte in meine Sachen und zog meine Schuhe an.



***



„Was für ein atemberaubender Blick über das Meer …“, flüsterte ich und schmiegte mich an Akashas Schulter. Das tiefe Blau weit unter uns war gekrönt von Wellen, deren Blau und Weiß sogar zu den Windbeuteln passten, die mit dunkelblauem Zuckerguss veredelt und mit Sahne gekrönt nicht nur fantastisch aussahen, sondern auch sehr sexy schmeckten. Es war ein erfüllendes Nachspiel, Akasha in der strahlenden Sonne, immer wieder neue Spuren süßer Creme aus ihren Mundwinkeln zu lecken, die dort Biss für Biss einladend leuchteten, und wir beide schwebten dabei wie auf Wolken. Wir saßen in der ersten Reihe, den Himmel mit Wolken wie Schaum über uns, und fühlten uns schwerelos in unserer eigenen Welt, in der wir frei von Sorgen und Ängsten weilten. Mehr als einen Augenblick lang sahen wir nur uns beide. Auf die zwei jungen Männer, die eine Reihe hinter uns auf den gleichen Outdoorgarnituren wie wir im Freien saßen, wurden wir erst aufmerksam, nachdem wir sie tuscheln gehört hatten.

„Entschuldigung, wir wollten nicht stören“, antwortete uns einer von ihnen mit einem verständnisvollen Augenzwinkern. Er hatte gepflegte kastanienfarbene Haare und ein außergewöhnlich fein gezeichnetes Gesicht. Die freundlichen Blicke seines Begleiters, die den Dialog begleiteten, strahlten ebenfalls spontan Sympathie aus.

„Kein Problem, wir wollten sie auch weder stören noch uns danebenbenehmen“, antwortete Akasha ihnen ebenfalls freundlich, schubste mich keck und drehte sich zu den Beiden um. Mit auf der Rückenlehne aufgestützten Ellenbogen hatte sie sich offen und unvoreingenommen den beiden Männern hinter uns zugewandt und ich drehte mich zögerlich in der gleichen Art und Weise zu ihnen um.

„Ihr habt uns überhaupt nicht gestört“, hörte ich den Mann sagen, mit dem Akasha spontan ins Gespräch gekommen war, der hinzufügte, dass es an ihnen wäre, sich bei uns zu entschuldigen und nicht umgekehrt. Sein Freund, der seine pechschwarzen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden trug, kam mir so scheu vor wie ich. Seine strahlend blauen Augen zuckten aufmerksam zwischen uns hin und her, aber er sagte kein Wort. Vor ihnen stand auch ein Teller mit Windbeuteln, die in unterschiedlichen Farben lecker in der Sonne strahlten.

„Möchtet ihr?“, fragte der mit den braunen Augen, die treu und vertrauenerweckend in sich ruhten.

„Ja, gern, ihre Leckereien sehen auch sehr köstlich aus“, sagte Akasha und streckte ihre Hand nach dem Teller aus, den er uns freundlich entgegenstreckte.

„Wenn du Minze magst, würde ich dir zu dem giftgrünen raten. Es ist der letzte von der Sorte, der übriggeblieben ist. Diese Kreation schmeckt besonders erfrischend und so kühl wie der frische Wind“, erwiderte der Kommunikative der Beiden und lächelte freundlich.

„Gern, unsere Gemüter etwas abzukühlen, kann bestimmt nicht schaden“, sagte Akasha und griff neugierig lächelnd zu.

„Und für dich vielleicht das in Türkisblau, es schmeckt nach Eukalyptus. Es verwöhnt dir deine Zunge wie zartschmelzendes Eis und kühlt auch die Gemüter“, hörte ich ihn sagen und sah den Scheuen aufmunternd nicken. Zögerlich griff ich auch zu, obwohl ich nicht so schnell wie Akasha etwas von Fremden annehmen wollte, nur wollte ich nicht unhöflich sein. Akasha biss gleich kräftig zu und ich kaute vorsichtig einen kleinen Bissen, den ich, als ich sah, was mit Akasha passierte, gleich wieder ausspie. Ihre Augen hatten sich urplötzlich geweitet und ihr Gesicht war vom Schmerz verzerrt, während ihre Hände zu ihrem Hals zuckten und sie nach Luft rang. Mit Schaum vor dem Mund, der nach bitteren Mandeln roch, kippte sie wie in Zeitlupe so langsam zur Seite, dass ich sie sogar noch auffangen konnte, nachdem ich meine Schrecksekunde überwunden hatte. Ihr Körper versteifte sich in meinen Armen und ich spürte, dass die Szene vor meinen Augen verschwamm und sich mit Bildern von Fratzen verfing, die ich noch von den Sweet Dreams aus Koovagam in meinem Kopf hatte.

„Schnell einen Arzt …“, hörte ich den Blauäugigen wie durch eine Nebelwand rufen. „Die Frau hat einen epileptischen Anfall und ihre Freundin kollabiert …“. Ich wollte mich dagegen wehren, dass sie mir Akasha aus meinen Armen rissen, aber mein Körper war wie gelähmt und gehorchte nicht mehr meinem Willen. Den Transporter, in dem sie mich wegbrachten, sah ich nicht mehr, aber mein Unterbewusstsein registrierte noch das Klacken der Schlossfallen, das dumpf zwischen dem Scheppern der Hecktüren erklang, die sie hinter mir zuwarfen. Dieses Geräusch hatte ich schon einmal gehört und werde es nie wieder vergessen können.

 

 

***

 

 

Bukarest

 

An das Hungerleiden konnte ich mich nur noch vage erinnern und von Schokolade wurde mir von Tag zu Tag schneller übel. Heute kam er wieder, der Onkel, der mich hier immer wieder besuchte, und dazwischen vergingen von Mal zu Mal mehr unzählige Tage, an denen andere kamen und mich entsprechend ihrer Vorlieben nahmen. Manche von ihnen liebten es, eine von uns auszuführen, aber nur an Orte, die unverfänglich waren für das, womit wir alle gezeichnet waren. Alle Mädchen hier trugen Masken. Masken aus schwerem Leder, die uns um unsere Köpfe geschnallt wurden und die über der Nasenwurzel mit kleinen Vorhängeschlössern gesichert waren. Die Freier durften uns sehen, nur wir mussten ihnen blind dienen und ihnen zu Willen sein.

„Ronja, mein Schatz, wie schön, dich zu sehen …“, sagte der Onkel, und in dem Moment, in dem ich ihn hörte, hatte ich schon den Geruch der Pralinen in der Nase, mit denen er mich immer zu bezirzen versuchte. Er war zwar auch ein Freier, aber doch war er ganz anders als all die anderen. Warum seine Schokolade mir anstatt sweet dreams Albträume bereitete, hatte ich ihm nie verraten.

„Hi", sagte ich schüchtern als Antwort auf seine Begrüßung und streckte ihm meine tastenden Hände mit so ehrlicher Willkommensfreude entgegen, wie die Umstände es zuließen.

„Hi Zuckerpuppe …! Lust auf einen Ausflug?", fragte er viel netter als die meisten der Freier, die kamen, um eine von uns für kurze Zeit mitzunehmen.

„Gern, wohin du mich führen willst“, antwortete ich artig und schob sanft die Schachtel mit den Pralinen zur Seite, um ihn mit zwei Küsschen auf seine Wangen zu begrüßen.

„Na dann komm, heute zeige ich dir etwas ganz Besonderes …“, hörte ich ihn sagen und ließ mich von ihm gern von hier fortbringen. Das Besondere an dem Onkel war, dass er sich den Schlüssel für meine Augenbinde besorgt hatte. Er liebte es, sie mir an den exponiertesten Orten in Bukarest abzunehmen und mir dann Komplimente zu machen. Es bereitete ihm offenbar lustvolles Vergnügen, sich nach dem Abnehmen der Maske von meinen schwarzen Augen verzaubern zu lassen. Die Fahrt in seinem Auto dauerte wie oft etwas länger, aber als er es stoppte, befiel mich nach dem Öffnen der Tür unerwartete Angst, weil dieser Ort ganz anders roch als alle anderen zuvor. Auch das Gurgeln und Glucksen, das aus einer Art Schacht heraus an meine Ohren drang, war alles andere als vertrauensschaffend.

„Ronja, heute möchte ich dir etwas anderes als Schokolade schenken …“, sagte er geheimnisvoll und steckte dabei den Schlüssel in das Schloss der ledernen Geißel, die uns alle unseres Augenlichts beraubte. Es war Vollmond und meine des Lichts entwöhnten Augen sahen in der sternenklaren Nacht so hell, als sei es lichter Tag. In Schwarzweiß und in Blautönen sah ich die unwirtliche Umgebung, in der wir uns befanden, und zitterte am ganzen Leib. Die wolkenlose Nacht war schon beißend kalt und ich war viel zu leicht bekleidet, aber mein Frösteln kam nicht von der Kälte.

„Ronja, du bist frei“, sagte er ganz ruhig und stieß einen schrillen Pfiff aus.

„Frei? … hier? … nicht mehr zurück ins Bordell?", stotterte ich und schlang meine Arme schützend um meine bibbernden Schultern. „Warum?“

„Wegen deiner Augen, sie sind so wunderschön, und du verdienst besseres als das Leben, in dem du hier gelandet bist“, sagte der Onkel und winkte eine schmächtige Person zu uns, die sich aus den Schatten löste. „Das hier ist Lenuta, sie wird dir helfen, unterzutauchen … Und Ronja, gib ihr die Pralinen. Ich weiß nicht, warum du sie immer weniger verträgst, aber sie wird es dir danken."

„Das kommt alles so schnell und ich weiß gar nicht, wie ich das alles schaffen soll, dass sie mich nicht wieder fangen“, stotterte ich, streckte dem Mädchen in den zerlumpten Klamotten die Schachtel mit den Pralinen hin und schenkte ihr ein schüchternes Lächeln.

„Du wirst es schon irgendwie schaffen, Zuckerpuppe“, sagte der Onkel und verschwand, bevor ich mich bei ihm bedanken konnte, in der sternenklaren Nacht.

 

 

***

 

 

„Du riechst gefährlich“, sagte Lenuta, schnappte mich mit festem Griff an meinem Handgelenk und zog mich hinter sich her zu einem betonierten Schacht, dessen Deckel daneben vom Rost zerfressen im dürren Gras lag, das im fahlen Mondlicht trostlos aussah. Aus dem schwarzen Schlund, der sich dort vor uns auftat, gurgelten von tief unten die Geräusche einer Kloake zu uns herauf, die sich unter der Stadt zäh zum Dâmbovița-Kanal vorarbeitete.

„Das ist Ada Kaleh, ich habe es im Frühling als mărțișor geschenkt bekommen“, versuchte ich mich für meinen Duft, in dem Pfingstrose vorherrschte, zu rechtfertigen und schaute voller Angst in die stinkende Öffnung, in die Lenuta vor mir hineinkletterte.

„Wer so riecht, lebt hier unten gefährlich. Auch wenn es sich bei dem Duft nur um ein traditionelles Geschenk zum Frühlingsbeginn handelt, riechst du damit nach Geld. Aber egal …, komm und lass uns schnell verschwinden! Bleib dicht hinter mir und taste mit deinen Füßen nach den eisernen Sprossen, dann bist du fürs Erste in Sicherheit", sagte Lenuta und verschwand in der Tiefe. Nach dem dritten Atemzug hatte ich mich schon grob an den Gestank gewöhnt und zwang mich mit tiefen Atemzügen durchzuatmen, bis wir kurz danach das unterirdische Höhlensystem der Stadtentwässerung erreicht hatten.

„Warte …“, sagte Lenuta und ging auf die Knie, um mit beiden Händen von der mit Regenwasser verdünnten Gülle zu schöpfen, die vor unseren Füßen wie ein unterirdischer Bach vorbeifloss.

„Igitt, nein! … Bitte nicht …", entfuhr mir ein unterdrückter Schrei, aber der kam zu spät.

„Stell dich nicht so an“, zischte Lenuta und wuschelte mir durch meine Haare, von denen das Abwasser auf meine Schultern triefte, und verteilte es auf meiner dünnen Kleidung. Trotz der Nässe fror ich nicht mehr, weil die Luft hier durch die Wärme der Fäulnis viel wärmer als draußen war.

„War das wirklich nötig?“, fragte ich entsetzt, roch an meinen Fingern und rümpfte die Nase.

„Wenn du hierbleiben und dich sicher verstecken willst, geht es nicht anders“, sagte sie knapp und zog mich weiter auf dem Sims entlang, der den übelriechenden Bach wie einen Bürgersteig begrenzte. Die Dunkelheit wurde vom spärlichen Licht vereinzelter Glühbirnen erhellt, von denen die meisten zerbrochen und erloschen waren. Nach kurzer Zeit erreichten wir eine Tür, von der die letzten Reste Farbe abblätterten, die in einen Raum führte, der mit von Schmutz überzogenen, ehemals weißen Wandfliesen getäfelt war. An den Seiten befanden sich auf Hüfthöhe Steintröge, über denen aus vergammelten Ausläufen Rinnsale von halbwegs frischem Wasser tropften.

„Da kannst du dich waschen, aber Seife ist hier unten tödlich …, auch für Klamotten. Übertreib's nicht mit dem Wasser …", riet mir Lenuta und deutete auf die verrotteten Waschtröge. „Zieh lieber das hier an …“, ergänzte sie und wies auf ein Bündel, das sie offensichtlich schon vorher dort für mich zurechtgelegt hatte.

„Ein Waschraum …? Hier unten?", fragte ich neugierig, während ich mich entkleidete und den schmierigen Film, der meine Haut benetzte, so weit verdünnte, dass ich mich unter den gegebenen Umständen wieder einigermaßen wohlfühlte. „Warum das alles, Lenuta?“

„Unsere Feinde oben kennst du zur Genüge, Ronja. Aber hier unten gilt das Faustrecht. Du musst immer auf der Hut sein und dich, wenn sich Ärger anbahnt, so unsichtbar machen können, dass dich auch niemand riechen kann."

„Und der Raum hier? … So etwas hätte ich hier nie vermutet“, fragte ich nochmal, weil ich verstehen wollte, was hier abging.

„Das war in besseren Zeiten der Waschraum der Kanalratten“, sagte sie grinsend, „… und die sind heute wir." Die Klamotten, die sie mir überlassen hatte, waren bessere Lumpen. Jedoch waren sie mir tausendmal lieber als diejenigen, in denen ich mich jahrelang verkaufen musste.

„Komm Ronja, jetzt zeige ich dir, wo wir schlafen werden. Ein wunderbar trockenes Plätzchen, das im Sommer von starken Ventilatoren gekühlt wird und im Winter mollig warm ist." Die Tür mit dem verblassten roten Blitz, zu der sie mich durch einen Nebenraum geführt hatte, der wie eine Putzkammer aussah, warnte vor elektrischem Strom. Das Brummen der Transformatoren klang schon tödlich, bevor sie die beiden Schlösser, die vorne oben und unten in die Türkante eingelassen waren, mit einem Spezialschlüssel, der so ähnlich wie ein Korkenzieher aussah, geöffnet hatte.

„Ist das nicht lebensgefährlich?“, fragte ich sie ängstlich, als die Tür mit einem Quietschen aufsprang.

„Bisschen vielleicht, aber dafür traut sich hier außer mir auch niemand herein“, raunte sie verschmitzt und sagte: „Mach's wie ich, dann passiert dir auch nichts", und warf sich bäuchlings auf den Boden. Als ich sah, wie sie geübt unter den Hochspannungsdrähten hindurchrobbte, die an verschiedenen Stellen in der Wand verschwanden, stockte mir der Atem. Im Inneren des Raumes sah ich einen kleinen Tisch zwischen den Kühlrippen von großen Transformatoren stehen und zwei Schlafstellen, die richtig gemütlich aussahen.

„Wenn du meinst“, brummte ich. „Viel zu verlieren hab ich ja auch nicht mehr“, und robbte ihr hinterher.

  

***

 

„Hier, nimm! Das entspannt und macht schläfrig …", sagte Lenuta und hielt mir eine oben zusammengeknüllte Tüte hin, aus der sie gerade einen tiefen Atemzug genommen hatte.

„Wie, du schnüffelst?“, fragte ich total geschockt.

„Ja klar, das Zeug kostet nichts. Es steht eimerweise auf Baustellen herum und wirkt fast so gut wie Kippen oder Tabletten gegen den Frust", antwortete mir meine neue Gefährtin mit schwerer Zunge und gönnte sich den nächsten Zug.

„Das ist pures Gift und wird dich krank machen“, entgegnete ich der Frau, die es eigentlich gut mit mir meinte, und dachte dabei an die vielen Dinge, die ich von Akasha über Rauschmittel gelernt hatte.

„Fick dich doch“, brach ein aggressiver Schwall verwaschener Laute aus Lenuta heraus, deren Name in unserer rumänischen Muttersprache eigentlich die Bedeutung ‚sanfte Frau‘ hatte. Erfüllt von Hass auf sich selbst und auf die ganze Welt, war sie im Rausch plötzlich ein anderer Mensch geworden. In diesem Moment wurde mir klar, dass sie nur so gefasst wirkte, solange die Lösungsmittel nicht die Kontrolle über ihr bereits vergiftetes Hirn übernommen hatten. Das Einzige, was ich in dieser gefährlichen Umgebung tun konnte, war, sie, ohne mich in kritische Bereiche zu wagen, zu beruhigen. Aber Lenuta sprang wie besessen auf, um mich immer wütender zu beschimpfen, und hatte offensichtlich total vergessen, auf welchem Pulverfass wir beide in diesem Versteck saßen. Sie fuchtelte mit den Armen durch die Luft und dann geschah das Unvermeidliche. Der erste Funke sprang im Bruchteil einer Sekunde auf ihre ausgestreckte Hand über und umhüllte sie einen Augenblick später, begleitet von einem ohrenbetäubenden Donner, wie eine Sternschnuppe, die am Himmel verglüht. Den Schweif, der sich wie ein Regenbogen von Trafo zu Trafo spannte, schien eine zischende Dampfwolke zu umwabern, die für einen kurzen Moment an die Form eines menschlichen Körpers erinnerte, bevor dieser sich in gleißend helles Licht verwandelte. Die Wucht des Elektroblitzes wirbelte mich wie einen Spielball durch den Raum und danach war alles totenstill. Nicht einmal das Brummen der Transformatoren war noch zu hören und mich umhüllte nur noch dieses gleißend helle Licht, in dem der Körper meiner Begleiterin im Lichtbogen verkohlte. Der Blitz, der mich, weil ich weiter entfernt war, zwar nicht mit Haut und Haaren verbrannte, war so grell, dass er mir in Bruchteilen von Sekunden die Biindehäute meiner Augen zum sieden brachte und die verkohlten Reste meiner Hornhäute dort wo vorher meine Pupillen waren in die Glaskörper meiner ausgebrannten Augenkammern einschmolz. Noch bevor ich mein Bewusstsein verlor, wurde alles um mich herum rabenschwarz. Nur die Hitze, die mich blendete, weil sich das Plasma des verdampften Kupfers auf meine erblindenden Augen legte, drang mir durch alle Poren und ließ mich hilflos zurück.

Aufgefangen

Mara

 

„Mara, was ist denn los?“, hörte ich Alex aufgeregt rufen und spürte, dass er meinen Kopf in seinen Händen hielt.

„Ein Unfall?“, fragte ich noch halb weggetreten, mit etwas verwaschen klingender Stimme.

„Nein, Mara, kein Unfall, ich konnte doch noch rechtzeitig ausweichen. Eigentlich war alles lange vorbei, als du plötzlich mitten im Satz ohne erkennbaren Anlass noch einmal voll weggekippt bist.

„Stimmt, du hattest mir doch gerade irgendetwas über diesen irren Schlitten, in dem wir hier zusammen sitzen, erzählt, oder?“, antwortete ich Alex, während mir wieder dämmerte, wo ich gerade war und was ich hier vorhatte. Vor meinem Absturz hatte er mir gerade ganz stolz gesagt, dass der Wagen, mit dem er mich abgeholt hatte, irre lang sei. Noch immer benommen tastete ich verunsichert nach meiner Augenbinde und fröstelte bei dem Gedanken an den Albtraum, der mich gerade heimgesucht hatte. Meine Augen waren noch blickdicht verbunden und ich spürte gar nicht mehr, wie ich erneut wegsackte.

 

Nebelblicke

Marvin

 

„Schau nur, wie filigran die Details herauskommen“, sagte Matteo zu Emilia, die Industriedesign studierte und mit ihm voller Begeisterung dem 3D-Drucker zuschaute, der eine Figur druckte, die sie für ihre Studienarbeit als Anschauungsobjekt brauchte.

„Ja, es ist echt faszinierend, wie gut das alles funktioniert, und dazu kommt noch, wie unkompliziert das Gerät bedienbar ist“, antwortete sie ihm fast ehrfürchtig. „Du hast mir das richtig gut erklärt und mir auch gleich noch gezeigt, wie ich das selbst machen kann. Das ist voll cool."

„Technik, die begeistert, halt …“, schmunzelte der angehende Maschinenbauingenieur mit den kurzgeschnittenen braunen Haaren, der sich als studierende Hilfskraft im Makerspace ein paar Euro zu seinem BAföG dazuverdiente.

„Voll krass, wie schnell das geht“, bemerkte Emilia staunend, die sich vorher gar nicht vorstellen konnte, wie die von ihr am PC modellierte Figur auf der Druckplatte als reales Objekt entstehen konnte. Wie ein Gewächs wuchs sie aus dem Nichts heraus, Millimeter für Millimeter von unten nach oben. „Ich kann es fast nicht erwarten, bis der Druck fertig ist und ich das erste Ergebnis meiner Arbeit in meinen Händen halten kann.“

„Da bist Du nicht alleine. Es gibt ’ne Menge Leute, die nicht wissen, dass das 3D-Drucken so wie in der Biologie funktioniert, dort wächst ja auch alles so, wie es gebraucht wird. Die Zeiten, wo das, was du haben willst, aus einem Klotz herausgeschnitten oder aus dem Stein geschlagen werden muss, sind vorbei", kommentierte er das, was sie sahen.

„Wenn man vom Teufel spricht …", raunte Emilia, die kurz aufgesehen und durch die Glastür hinaus auf den Vorplatz vor der Mensa geschaut hatte, an dessen Rand sich eine Schwangere dem Makerspace näherte.

„Au Scheiße, ich glaub’, die ist auch noch blind …“, entfuhr Matteo spontan ein unüberlegter Spruch, während er den Weg der Frau verfolgte, die sich dem Randstein entlang, einen langen weißen Stock vor sich her schwingend, zügig dem Makerspace näherte.

„Was meinst du mit ‚auch noch‘, Matteo?“, zischte Emilia, deren Sitz sich plötzlich versteifte.

„Sorry …, ist mir halt so rausgerutscht und das mit dem Teufel kam zu dem von dir“, versuchte er sich zu rechtfertigen und davon abzulenken, dass sein Kopf so rot wie eine Tomate angelaufen war.

„Schon gut, ich glaub’, die will zu uns …“, antwortete Emilia, als sie sah, dass die Frau mit dem runden Bauch schon die Treppe vor der Tür erreicht hatte und mit ihrem Stock nach dem Türausschnitt tastete, knuffte Matteo mit dem Ellenbogen und schenkte ihm ein vermittelndes Lächeln.

„Guten Tag“, hörte Emilia Matteo dann sagen, der zur Tür gesprungen war und diese für die Besucherin geöffnet hatte. „Kann ich ihnen helfen …?“

„Guten Tag, vielleicht …“, antwortete die Frau, die ihre langen blonden Haare zu einem dicken Zopf geflochten trug, der über ihrer rechten Schulter auf einer dunkelblauen Windjacke über ihrer warm verpackten Brust lag. „Wenn das hier der Makerspace ist, hoffe ich schon …“

„Ja, der Makerspace ist hier und ich bin Matteo, aber kommen sie doch erstmal zu uns rein“, und trat einen Schritt zur Seite.

„Christine …, Christine Müller“, sagte die Frau und streckte Matteo zur Begrüßung ihre Hand hin. Matteo ergriff sie nach kurzem Zögern.

„Und ich bin Emilia“, tönte es aus dem Hintergrund des Raums, wo der 3D-Drucker noch mit einem singenden Summen, begleitet von einem melodischen Säuseln, seine Bahnen zog.

„Das freut mich …“, antwortete Frau Müller, klappte ihren Langstock zusammen und kam gleich zur Sache.

„Könnten sie etwas für mich ausdrucken?“, fragte sie und zog während sie sprach einen USB-Stick aus der Tasche ihrer Windjacke, den sie Matteo so wie vorher ihre Hand entgegenstreckte.

„Was haben sie denn da?", fragte Mateo und nahm der Blonden den Datenträger aus der Hand. „Wenn die Datei ein geeignetes Format hat, könnte ich das gleich mal versuchen. Sie dürfen auch gerne dabei bleiben und … äh … warten, bis es fertig ist. Oder sie kommen morgen wieder …, das ginge auch", antwortete Matteo und war heilfroh, dass ihm nicht herausgerutscht war, dass sie ja zusehen und mitmachen könne. Das machte er bei den Studierenden immer so, um sie auf diese Weise für das Selbermachen mit den Druckern zu begeistern.

„Nein, nein, ich bin überhaupt nicht in Eile und wenn sie mir zeigen wollen, wie das alles funktioniert, wäre das prima. Auf das 3D-Drucken bin ich so neugierig wie auf den Ausdruck selbst", antwortete die Schwangere, die sofort herausgehört hatte, dass Matteo einen Haken geschlagen hatte.

„Hi! … Darf ich Christine sagen?", klinkte sich Emilia, die inzwischen herbeigeeilt war, wieder in das Gespräch mit ein und berührte Christine mit ihrem Handrücken an deren Unterarm.

„Klar Emilia, sehr gerne …, darf ich?", sagte Christine erfreut und tastete nach Emilias Ellenbogen.

„Wenn es ok ist, würde ich dich zuerst mal nach hinten führen, dorthin, wo du den Drucker drucken hörst“, antwortete die Studierende und schob mit ihrer freien Hand sanft Matteo aus dem Weg. „Der Drucker, der gerade läuft, druckt eine Figur, die ich für meine Studienarbeit selbst modelliert habe. Die dürfte, so wie das hier aussieht, in ein paar Minuten fertig sein. Darf ich fragen, was du gedruckt haben willst, Christine?" Matteo, der sofort geschnallt hatte, dass Emilia weniger Berührungsängste als er hatte, verdrückte sich dankbar und beschäftigte sich an seinem PC mit der Datei.

„Natürlich … Gestern habe ich beim Frauenarzt eine Datei von einem räumlich aufgenommenen Ultraschall meines Sohnes bekommen. Nachdem der Arzt mir verraten hatte, dass die 3D-Drucker, die es hier im Makerspace an der Uni gibt, davon ein taktiles Abbild herstellen können, habe ich sofort recherchiert, wie ich hierherkomme. Vor lauter Neugier und Ungeduld schlief ich heute Nacht nicht mehr wirklich viel und machte mich gleich nach dem Frühstück mit den Öffentlichen auf den Weg hierher."

„Die Datei ist gar nicht so schlecht“, rief Matteo von seinem Arbeitsplatz dazwischen. „Ein bisschen nachbearbeiten muss ich die zwar noch, aber das dürfte schnell erledigt sein.“

„Prima, dann zeige ich Christine inzwischen mal den Prusa. Der ist zwar nicht mehr der Neuste, aber weil der nicht verkleidet und alles gut zugänglich ist, dürfte das ganz gut passen", rief ihm Emilia zurück und wandte sich wieder an die Frau mit den großen blauen Augen. Als sie sich an dem Tisch, auf dem der Prusa stand, gegenüber saßen, befand sich der Drucker so zwischen den beiden Frauen, dass beide ihn gut mit ihren Händen erreichen konnten und Emilia überlegte sich, wie sie jetzt weiter vorgehen wollte. Sie erinnerte sich daran, mal wo gehört zu haben, dass viele Blinde gar nicht ganz blind waren, aber im ersten Moment fehlten ihr die richtigen Worte, um Christine gut in das weitere Geschehen mit einzubeziehen. Einen Moment später kam ihr die spontane Idee die interessierte Besucherin einfach zu fragen, wie sie jetzt zusammen weitermachen machen wollten und herauszufinden, ob sie mit den auf dem Display des Druckers leuchtenden Symbolen etwas anfangen konnte.

„Darf ich dich, bevor wir anfangen, noch fragen, ob, oder besser gesagt wie viel du noch sehen kannst, Christine?“

„Ich seh gar nichts und konnte das auch noch nie“, sagte die blonde Frau ganz offen und beförderte ihren Zopf mit einer Handbewegung über ihre Schulter nach hinten. „Schon seit ich denken kann bin ich stockblind. Mit zwei Glasaugen ist das halt immer so. Als Alternative zum Sehen komme ich jedoch auch mit Anfassen und gegebenenfalls ein paar Erklärungen zum Thema, selbst mit technischen Sachen, ganz gut klar. Insofern habe ich mich mit meiner Blindheit schon früh in meinem Leben recht alltagstauglich arrangiert", beantwortete Christine Emilias Frage mit einem entspannten Lächeln.

„Verstehe …“, sagte Emilia. „Das, was hier vor uns auf den Tisch steht, ist unser Prusa. Das ist ein 3D-Drucker, der so ein Filament aus Thermoplast von einer Rolle nimmt und daraus dann das Druckobjekt macht", erklärte sie und führte ihre Hände an Christines Finger, um sie so zu der Rolle zu führen, die auf einem Ständer über dem Drucker befestigt war. Christina erkundete die Spule und folgte dem Kunststofffaden bis zu dem Druckkopf. Im Anschluss beobachtete Emilia wie Christine mit ihren Händen zuerst die Tischplatte erkundete und danach selbst noch einmal den Aufbau des 3D-Druckers erforschte, der darauf stand.

„Wo bin ich jetzt und wofür ist das hier denn?“, fragte die Schwangere, die sich zunächst dem Rahmen des Druckers entlang ein Stückchen nach oben vorangetastet hatte und dann einem Gummiriemen und Metallstangen quer bis zu einem kleinen Kästchen gefolgt war.

„Das ist der Druckkopf und unten ist so ein kleiner Knubbel aus Metall, aus dem der teigig erhitzte Kunststoff dann herauskommt und wie mit einem Pinsel auf die Plattform aufgestrichen wird, auf der dann das Druckobjekt schichtweise aufgebaut wird, bis es fertig ist.“

„Ahh! Ok …, dann ist diese Fläche hier die Plattform, auf der die Objekte gedruckt werden, oder?", stellte Christina fasziniert fest.

„Genau“, antwortete ihr jetzt Matteo, der sich mit einer SD-Karte, auf der sich die Druckdatei von Christinas Fötus befand, wieder zu ihnen gesellt hatte.

„Und was muss ich damit machen?“, fragte Christina, nachdem sie den kleinen Chip in ihre Hände bekommen hatte.

„Die Karte steckst du einfach hier in diesen Schacht“, antwortete ihr nun wieder Emilia, nachdem sie ihr mit Christines Zeigefinger die Stelle gezeigt hatte, wo die SD-Karte in den Drucker gesteckt werden musste.

„Und hier ist so ein Knebel, mit dem du die Datei auf der Karte auswählen kannst“, sagte Matteo, der sich jetzt auch traute, Christinas Finger an die nächste Stelle zu lenken.

„Hhm …, den Namen der Datei seht ihr dann wohl auf einem Display, oder?“, stellte Christina fest und sagte: „An der Stelle bin ich ohne Sprachausgabe raus.“

„Beim Prusa schon, aber bei dem Bambu Lab, auf dem Emilias Druck läuft, könntest du das auch über den PC machen“, erklärte Matteo und fuhr fort. „Wir machen das jetzt einfach mal für dich, die Datei heißt: Christina.“

„Ich hätte sie Marvin genannt“, grinste Christina, die das alles mega spannend fand und sich mit einem coolen Humor in das Geschehen einbrachte. Kurz darauf fing der Drucker an zu zucken und die Düse begann sich auf das Druckbett zuzubewegen.

„Die Düse ist jetzt zwar über 200 °C heiß, aber das ist nur die kleine Stelle unten am Druckkopf, an der sich jemand wirklich verbrennen kann. Traust du dich, meinen Händen in den Bauraum der Maschine zu folgen?", fragte Emilia. „Ich pass schon auf, dass der Drucker dich nicht irgendwo einquetscht, wenn du magst.“

„Okay, zeig mal“, sagte Christine und legte ihre Hände so auf Emilias Handflächen, dass ihre Fingerkuppen darüber hinausragten.

„Uji …, das Druckbett ist ja auch heiß!“, stellte sie fest, ohne ihre Hände von Emilias zu nehmen.

„Ja, aber nur 60 °C, das ist wegen der Haftung der ersten Schicht", erklärte Matteo, der die beiden aufmerksam beobachtete und es echt stark fand, wie Christina mit starrem Blick auf nichts mit ihren Händen verfolgte, was der Drucker machte.

„Komm, ich zeige dir mal den Bambu, der ist gerade durch mit dem Druck von mir. Dann kannst du dir, wenn du willst, gleich mal selbst meinen Drachen ansehen. Den, den ich für meine Studienarbeit modelliert habe. Der ist nämlich gerade fertig geworden", sagte Emilia und führte Christina zu dem Nachbartisch.

„Der fühlt sich wie ein Dino an“, bemerkte Christina, während ihre Finger wie die Fühler eines Insekts alle Feinheiten von Emilias Arbeit studierten.

„Kaffee?“, fragte Matteo. „Dein Fötus braucht noch vierzig Minuten, bis er fertig ist.“

„Ja, gern, gute Idee, aber fertig ist der noch lange nicht“, antwortete Christina mit einem verschmitzten Grinsen in ihrem Gesicht und ließ sich in die Kaffeeküche führen, wo es zum Kaffee noch ein paar Muffins gab.

  

***

 

„Das ist ein Puzzle, Marvin“, sagte meine Mutter an meinem zweiten Geburtstag und führte meine Hände über die Steinchen, auf denen ich Bärchen, Hasen und andere Tiere sah.

„Puzzle, Mama …?“, fragte ich und kuschelte mich an sie.

„Ja, du musst die Bausteine finden, die passen“, klinkte sich meine Oma ein und wuschelte mit ihren Fingern, die wie Spinnenweben aussahen, über den Tisch.

„Lass mich …!“, pflaumte ich sie an und griff nach meinem Bärchen.

„Wollen wir mal schauen, Marvin?“, hörte ich dann meinen Papa sagen und entspannte mich.

„Klick!“, … schnappte der Verschluss von Omas Handy, die wieder Geburtstagsfotos machte.

„Schau mal hier, der Braunbär …, der passt zum Wald, Marvin“, sagte mein Vater und schob mir das passende Teil schon richtig ausgerichtet in meine Hand.

„Der ist grau …, Papa.“

„Passt der Stein?“, kam anstatt einer Zurechtweisung eine Gegenfrage von ihm, die unglaublich motivierend zu mir herüberkam.

„Der passt …“, erwiderte ich konzentriert, aber doch unzufrieden.

„Dann ist es doch gut, oder?“, hörte ich meinen Papi lobend sagen.

„Nein, er ist nicht braun …“, Papi.

„Rüdiger, lass ihn doch …“, meckerte meine Oma, „das Kind ist doch schon fast blind.“

„Ich bin nicht blind …“, Oma.

„Hoffentlich schlagen die Bestrahlungen endlich an, bevor es bei dem armen Jungen doch noch wie bei seiner Mutter zum Äußersten kommt“, druckste meine Großmutter herum und fing an zu weinen.

„Heute ist Marvins zweiter Geburtstag …“, kommentierte mein Vater. „Und dein Enkel hat sein Glasauge besser akzeptiert, als wir das alle zu hoffen wagten.“

„Diese Bestrahlungen waren für mich, als ich klein war, eine einzige Tortur …“, sagte meine Mutter erregt.

„Und wenn es genauso ausgeht wie bei dir?“, setzte die Mutter meines Vaters taktlos nach.

„Dann gibst du mir wohl auch noch alleine die Schuld daran … Lass doch einfach mein Kind in Ruhe, Gudrun!“, keifte meine Mutter meine Omi daraufhin richtig böse an.

„Hey! … Marvins Geburtstag …, okay?“, ging mein Vater dazwischen.

„Rüdiger! Der Junge hat doch schon ein Glasauge …“, schluchzte meine Großmutter weiter und ließ nicht locker. „Die Pupille seines letzten Auges ist auch schon so trüb wie Schnee. Hier, sieh dir das Foto doch einfach an. Sein letztes Auge leuchtet auf dem Foto vom Blitz aufgehellt, so weiß wie das Licht einer Taschenlampe. Was das damals schon zu bedeuten hatte, wissen wir doch alle …"

„Ja, aber wir wussten vorher auch schon alle, dass das Retinoblastomgen erblich sein kann, und ich bin trotzdem überglücklich mit meiner Frau. Schon dafür, dass sie Marvin, deinem Enkel, mit mir sein Leben geschenkt hat, solltest du ihr mehr dankbar sein als mir. Ich bin ihr nicht nur dankbar dafür, dass sie Marvin zur Welt gebracht hat, sondern auch dafür, dass wir uns beide so lieb haben, wie wir sind. Das sollte auch dir ein gutes Beispiel sein. Selbst dann, wenn Marvin auch erblinden muss, wüsste ich nicht, warum das das Glück unserer Familie trüben sollte", sagte mein Vater und schloss Mama und mich vor den Augen meiner Großmutter tröstlich in seine Arme.

 

***

 

„Die Aussaat im Auge ihres Sohnes ist trotz der Bestrahlungen leider so weit fortgeschritten, dass nur noch die letzte Option bleibt“, sagte der Arzt und verhoffte betroffen.

„Christine …“, sagte mein Vater und schloss meine Mutter und mich in seine Arme. „Wir wussten vorher, dass es so kommen könnte, aber wir werden es auch so schaffen, oder was meinen meine beiden Lieblinge dazu?“

„Sie wollen unseren Marvin als noch mal enukleieren?“, stellte Christine gefasst fest, schob mich vorsichtig von sich und nickte stumm.

„Es ist die letzte Option, aber was soll ich ihnen noch mehr dazu sagen, sie kennen den Verlauf der Krankheit ja aus eigener Erfahrung, Frau Müller.“

„Ja, ich weiß …“, antwortete meine Mutter und die Art, wie sie es sagte, ließ mich ihren Schmerz fühlen.

„Mein Balu ist auch blind“, sagte ich und kuschelte mich an mein Bärchen.

„Aber wenn er bei dir ist, der Balu, dann hast du keine Angst, oder?“, fragte der Arzt leise.

„Nein, Herr Doktor, er passt immer auf mich auf und ich hab ihn voll lieb.“

„Dein Balu hat ja auch zwei sehr schöne braune Augen, mit denen er zwar nicht sehen kann, aber auf dich aufpassen kann er trotzdem gut, oder?“, sagte meine Mom und nahm mich in den Arm.

„Ja, Mama, so wie du. Und Papa ist ja auch noch da, wenn jemand mal für uns irgendwo was gucken muss."

 

 

***

 

„Rot …, sagtest du ganz konzentriert, bevor du das kleinere Klötzchen der wenigen Plastikbausteine auf den etwas größeren Würfel, der grellgelb leuchtete, gesetzt hattest“, erzählte mir meine Großmutter an meinem dritten Geburtstag, während ich auf ihrem Schoß saß. Den Turm, der aus unterschiedlich großen Würfeln bestand, hatte ich längst zu den Spielsachen gepackt, an denen ich das Interesse mittlerweile verloren hatte. Aber zum Wegwerfen waren mir meine alten Spielsachen zu sehr ans Herz gewachsen. Dass sie von dem vorletzten Kunststoffbecher des sechsteiligen Bauwerks sprach, wusste ich sofort und lächelte sie etwas verlegen so lieb an, wie ich es in diesem Moment tun konnte. Dieser Turm ist eines jener Spielzeuge, die ich irgendwann total hasste und mit manchen erst später wieder Frieden schloss. Das Einrasten eines Würfels auf dem darunterliegenden Baustein ist mittlerweile wieder eine gute Erinnerung. Nur, dass der fünfte Würfel rot war, weckte wieder diesen Frust in mir, an dem auch das freundliche Lächeln für meine Oma nichts mehr ändern konnte.

„Unser Sohn kann sogar schon Farben sehen“, hörte ich in dem Moment meine blinde Mutter, wie ein böses Omen, zu der Mutter meines Vaters sagen. Mein Papa, der schon bevor ich mein erstes Lebensjahr vollendete, für einige Monate im Ausland an einem Projekt arbeitete und deshalb in dieser Zeit länger abwesend war, fehlte mir an meinem ersten Geburtstag sehr.

Eine eigene Erinnerung an meine ersten drei Lebensjahre konnte ich eigentlich genauso wenig wie jedes andere Kind haben, aber die Geschichten, die mir aus dieser Zeit erzählt wurden, gaukelten mir diese manchmal vor.

Großmutter hatte wie an allen meinen Geburtstagen wieder das Album mit meinen Kinderfotos in der Hand und ich wälzte mich etwas unwirsch von ihrem Schoß herunter, um mich auf dem Boden mit meinen neuen Geschenken zu beschäftigen. Die kurzen Jeans, das neue Sweatshirt und die Latzhose, in der ich vielleicht wie ein kleiner Bauarbeiter aussah, interessierten mich eigentlich gar nicht.

„Das Bärchen, das du im vergangenen Jahr bekommen hast, finde ich immer noch sehr süß, aber langsam passt es nicht mehr zu einem so großen Jungen wie dir. Schließlich bist du heute schon drei Jahre alt geworden, Marvin“, hörte ich meine Mutter mit vorwurfsvoller Stimme sagen.

„Auf den Fotos, die ich vor zwei Jahren gemacht habe, leuchten Marvins Augen auch schon etwas blasser als normale Augen“, sagte meine Großmutter. „Das hätte mir damals schon auffallen können, aber du, mein Sohn, warst ja nicht da …“

„Danke, Papa, für die Puppe, sie ist wirklich süß“, jauchzte ich erfreut, nachdem ich das, wonach ich suchte, gefunden hatte.

„Aber geändert hätte das auch nichts. Als Risikopatient war Marvin schließlich seit seiner Geburt in Überwachung", hörte ich meinen Vater mit ruhiger Stimme sagen.

„Bella hat Schlafaugen, Mama“, sagte ich, nahm ihre Hand und legte sie auf das Gesicht meiner neuen Puppe.

„Mag sein, aber Puppen sind nichts für so große Jungs. Sie ist zu süß für dich."

„Nein, ist sie nicht!“, trotzte ich und suchte Zuflucht bei meinem Dad.

„Ja, Bellas Schlafaugen …, das war wie Liebe auf den ersten Blick für unseren Besten …, nicht wahr, Marvin?“, sagte mein Vater, während ich auf seinen Schoß krabbelte.

„Puppen mit echt funktionierenden Schlafaugen waren kurz nach dem Krieg das Modernste, was es gab. Sie waren sündhaft teuer und strahlten mit ihren wasserblauen Augen alle wie Engelchen. So wie Bella", sagte meine Oma.

„Hattest du auch eine, Oma?“, fragte ich neugierig.

„Ich nicht, aber meine beste Freundin Ulla und Ullas Puppe hieß Mona. Das weiß ich noch ganz genau."

„War Mona auch blind?“

„Alle Puppen sind blind, Marvin. Es sind ja nur Puppen …“, stotterte meine Oma ausweichend und blätterte in meinem Kinderalbum weiter, um die Situation zu überspielen.

„So blind wie Mama und ich, weil die ja auch alle solche Glasaugen wie wir haben“, erwiderte ich und streichelte zärtlich meine neue Puppe.

Schattenwelt

Ronja

 

Bis auf das dünne Seidenhemdchen, das ich mir für das letzte Frühstück mit meiner großen Freundin und Retterin Mara noch schnell übergestreift hatte, war ich noch immer splitternackt. Noch hörte ich Mara mit ihren derben Stiefelsohlen im Treppenhaus auf und davonstampfen. Die Tür zwischen mir und meiner Freundin war, entgegen all meiner eindringlichen Warnungen, nun doch zugeschlagen worden. Mit einem kurzen metallischen Klicken, das mich an einschnappende Handschellen skrupelloser Häscher erinnerte, war der Türriegel wieder präzise in sein Schloss gefallen und dort deutlich hörbar, wie das Schloss einer Gefängniszelle, eingeschnappt. Mit Maras Stampfen entfernten sich auch die noch dumpfer klingenden Geräusche ihres Entführers von mir. Als er Mara, der ich kurz vor ihrer Abholung noch beim Verknoten ihrer schwarzen Augenbinde behilflich war, vor der Tür unserer Wohnung in Empfang nahm, hörte ich noch seinen Namen. Er nannte sich Alex. Das Letzte, was ich von den beiden hörte, war das Geräusch von unter den Rädern eines schweren Wagens knirschendem Kies, das sich innerhalb weniger Sekunden vollends verflüchtigt hatte. So allein in Maras Wohnung, nur von trauriger Dunkelheit umgeben, fühlte ich mich in diesem Moment wie lebendig begraben. Mich fröstelte, denn ich fühlte mich von einem auf den anderen Moment total isoliert. Nein, nicht wirklich isoliert … aber ja … doch … schon auch irgendwie isoliert. Alleingelassen und weggesperrt wären noch treffendere Worte für diese beklemmenden Gefühle gewesen. Mit dem Zuschlagen der Tür war mir, als hätten mich zusammen mit meiner Freundin auch Glück, Mut und Zuversicht verlassen. Es fühlte sich an, als ob Mara mich in der Einsamkeit ihrer schicken Wohnung nutzlos, nur zum Nichtstun verurteilt, als leere Hülle meiner selbst zurückgelassen hätte. Nicht einmal diese schwarzen Schatten, wie Mara das immer nannte, wenn mich meine grausame Vergangenheit und meine Erinnerungen an Vergangenes wieder einholten, waren noch da. Aber das waren ja auch nur Maras süße Worte für das, was mich immer umgab und lähmte, wenn mich meine alten Ängste mal wieder tückisch überrumpelt hatten. Das war aber nicht das Gleiche wie das, was ich selbst in solchen Momenten wirklich empfand. Nur waren es jetzt, im Unterschied zu früher, nicht meine Ängste um mich und mein Überleben, sondern meine Ängste um Mara, die mich blockierten. Also doch meine Ängste, nur eben jetzt nicht um mich selbst, sondern um andere. Diese verdammte Lügnerin hatte das eigentlich gar nicht verdient, dass ich mich so sehr um sie sorgte. Warum musste sie auch immer alles schönreden? Von wegen Schatten, da war ja gar nichts, außer diesem dumpfen, erdrückenden Nichts. Sie war weg und ich war hier, echt toll. Soll sie doch zur Hölle fahren mit ihrem Geschwafel von bla … bla … Schatten und Co. Ich war wieder auf mich allein gestellt und sah nichts vor mir, keinen Ausweg aus der Einsamkeit, nicht mal einen Schatten sah ich. Nur die Erinnerungen an ihre zärtlichen Berührungen, die mich in Gedanken auch jetzt noch so tröstend streichelten, waren mir noch von ihr geblieben. Leise Klänge des noch immer erwachenden Berlins mischten sich zu meinen Gedanken an unsere unzähligen leidenschaftlichen Küsse und ich spürte wieder den Hauch des Lebens, der sich ganz langsam erneut in mein Bewusstsein schlich. Mit dem leichten Lüftchen, das durch das geöffnete Fenster wehte, hauchten mir die Großstadtgeräusche neuen Lebensmut ein.

„Hatte Mara mich wirklich belogen oder war sie möglicherweise gerade dabei, mich sogar noch zu betrügen?“, murmelte ich mit gerunzelter Stirn zu mir selbst. Je länger ich nachdachte, desto mehr kam ich zu dem Ergebnis, dass sie mich, zumindest im Zusammenhang mit den Schatten, wohl doch nicht ganz belogen hatte. Es war nur so, dass ich mich selbst um etwas betrogen fühlte, das ich verloren hatte. Aber zum Glück hatte ich inzwischen wenigstens meine Zuversicht wiedergefunden. Aber im Hinblick auf diese Schatten musste ich Mara nämlich doch mehr recht geben, als ich das in meinem ersten Zorn über sie und mein Alleinsein vorhin wollte. Manchmal gab es sie nämlich wirklich, diese Schatten im Nichts. Meine Gedanken schweiften kurz in mein altes Leben zurück, wo mir diese Schatten einige Male im letzten Moment höchster Gefahr sogar noch rettende Sicherheit boten.

„Alexander der Schreckliche, war das nicht auch ein unberechenbarer Russe?“, sinnierte ich weiter mit mir selbst. In diesem Moment, das Grauen hatte jetzt wieder Besitz von mir ergriffen, kam mir ein neuer Gedanke in meinen betrübten Sinn. Gerade in einer Zeit, in der die Welt vor neuen, größenwahnsinnig agierenden Männern aus Russland und vielen weiteren Ländern, erneut vor Angst wie Espenlaub zitterte, war das wahrlich kein gutes Omen für Mara und mich. Dann fiel mir zum Glück wieder ein, dass der Schreckliche, die schutzsuchende arme Menschen von Russland aus über die Grenze in das benachbarte Polen jagte, ja Iwan und nicht Alexander hieß. Vielleicht war das ja wenigstens ein gutes Omen für meine Freundin Mara? Der Rest der Grausamkeiten, der dann noch übrig blieb, war schließlich immer noch schlimm genug. Aber dass Angst kein guter Begleiter war, das lehrte mich schon mein altes Leben, als ich noch als Straßenkind in der Hölle Osteuropas täglich, immer wieder tapfer um mein damals unglückliches bisschen Leben kämpfen musste.

„Tapfer kämpfen, genau das musst du jetzt mal ohne mich tun!“, hörte ich unerwartet, wie durch ein Wunder, Maras Stimme tief aus meinem Herzen zu mir sprechen.

„Kämpfen? Ich? Aber gegen wen oder was denn?“, hörte ich meine innere Stimme, wie sie Maras wundervollem Rat, der aus dem Nichts kam und in meinem Kopf ganz langsam Unverständliches in Nachdenkliches verwandelte, vehement widersprach. Schließlich hatte sich Mara doch aus freiem Willen gegen mich und alle meine Versuche gestellt, sie von dem Risiko, in das sie sich gerade begeben hatte, abzuhalten. Kurz danach fiel der Groschen dann auch bei mir. Wie Schuppen fiel mir die Erkenntnis von meinen Augen, dass ich mich ohne Not mal wieder selbst vor Angst in meinem eigenen Gefängnis eingesperrt hatte. Als Mara ging, hatte ich mir fröstelnd meine eigenen Arme um meine nur spärlich bedeckten Brüste geschlagen und mir selbst die eigentlich zärtlich schmeichelnde Seide meines Nachthemdchens aus Angst zur Zwangsjacke werden lassen.

„Genau, du musst nur deine eigene Angst bekämpfen, damit hast du erstmal genug zu tun“, sagte ich zu mir selbst, nickte dabei entschlossen und atmete endlich wieder frei und tief durch. Aus vielleicht begründeter, aber sicher unsinniger Angst heraus hatte ich mich gerade innerhalb weniger Sekunden aller Erinnerungen an die vielen schönen Zärtlichkeiten, die ich mit Mara erlebt hatte, selbst beraubt. Jetzt wurde mir klar, dass es gerade diese Zärtlichkeiten waren, die uns diese Macht der Gefühle gaben, mit der Mara mir in den letzten Wochen mein erstes eigenes Selbstbewusstsein so einfühlsam entwickelt hatte. Erst mit Maras Hilfe war ich auf diesen, meinen ersten eigenen, wirklich guten, selbstbestimmten neuen Weg gekommen. Auf diesem Weg hatte ich inzwischen sogar schon fast mein wichtigstes Ziel, nämlich endlich einmal ohne Zweifel an mich selbst glauben zu können, erreicht.

 

***

 

Die Umklammerung meiner Arme, die ich mir noch vor Sekunden fröstelnd um meine Brüste geschlungen hatte, löste sich, denn ich war wieder von Angst und Zwang befreit. Meine Hände glitten wie von selbst unter die Seide, die mich jetzt, von dem Lüftchen bewegt, das immer noch durch das offene Fenster aus dem Garten herein fächelte, auf meiner Haut wie Engelshaar umschmeichelte. Die Fingerkuppen meiner Hände glitten über meinen nackten Körper und fanden wieder intimste Stellen, mein Schlitzchen und andere erogene Falten, die sich alle so schön heiß und glatt anfühlten. Alles war zart und weich wie teuerste Seide, weil mich Mara noch kurz bevor sie ging überall schön blitzblank glatt rasiert hatte. Obwohl ich schon wieder diese wohltuende Nässe zwischen meinen Schamlippen herausquellen spürte, wollte ich es mir nach den wunderbar ekstatischen Orgasmen, die ich noch vor weniger als einer Stunde zusammen mit Mara erlebt hatte, jetzt aber nicht selbst besorgen müssen. Auch der Silikonschwanz, den ich Mara zur Abschreckung, so falsch verstanden, unter der Dusche in ihre tastenden Hände gelegt hatte, war jetzt auch aus meiner Sicht wirklich keine gute Idee.

„Wie konntest du Dummerchen denn nur all das, was du schon seit Tagen von langer Hand geplant und so sorgfältig vorbereitet hattest, so schnell vor lauter Angst um Mara wieder vergessen?“, sprach ich diesmal streng und vorwurfsvoll zu mir selbst. Als Mara heute Morgen das verräterische Rascheln gehört hatte, mit dem ich das, was ich heute wirklich vorhatte, vor lauter Übermut und Zorn fast noch selbst verraten hätte, hatte ich gerade noch einmal die Kurve bekommen. Um ein Haar wäre ich mir, vor Angst und aus purer Feigheit heraus, fast selbst untreu geworden. Schnell leckte ich mir erneut meine Finger, die schon wieder nach grenzenloser Lust schmeckten, sauber ab und tappte zurück ins Schlafzimmer. Dort hatte ich auf meiner Seite unter Maras großem Queensize-Bett noch einen weiteren Karton, den auch ein Amazon-Logo zierte, vor Mara verborgen. Schwungvoll zog ich ihn, begleitet von einem staubig klingenden Kratzen, das sich wie ein kurzes Zischen und Fauchen anhörte, unter dem Bett hervor, öffnete ihn und lehnte den Kartondeckel hinten am Bett an. Jetzt hatte ich beide Hände frei und konnte mich weit über die offene Kiste beugen, um die ganzen schönen, frechen Ledersachen, die sich nagelneu in dem Karton befanden, endlich ungestört zu befingern. Bebend vor Erregung glitten meine Hände, wie Federn, die leicht im Wind schwebten, neugierig über meine aufregenden neuen Anziehsachen. Fast andächtig begann ich, den Inhalt der Schachtel Stück für Stück herauszunehmen und dann voller Vorfreude verspielt auf dem großen Bett zu sortieren. Ich wusste, dass alle Kleidungsstücke und auch die High-Heel-Boots, die sich bis eben noch in dem Karton befunden hatten, so schwarz wie die Nacht waren, die mich in Maras Schlafzimmer wie immer umgab. Meine neuen scharfen Sachen fühlten sich angezogen wie eine zweite Haut an. Triefend quetschten sich meine spiegelglatten Schamlippen im Saft meiner Lust, eng vom Leder meiner knallengen Jeans umschlossen, aneinander und kitzelten mich mit jedem Herzschlag pochend an meinem heiß verpackten Lustzäpfchen. Vom stetigen Druck des Leders, das sich hauteng gegen meinen blanken Venushügel drückte und mich dort immer mehr reizte, schrie meine aufgeheizte Klitoris jetzt schrill nach sofortiger neuer Befriedigung. Jetzt konnte ich es auch ohne den zweifelhaften Silikonpimmel nicht mehr lassen, mir mit meinen eigenen Fingern, durch das inzwischen von der Feuchte ganz weich gewordene Leder hindurch, mein splitternacktes Pfläumchen selbst noch einmal kräftig zu rubbeln. In mein lustvolles Stöhnen, das zunehmend immer lauter wurde, mischte sich noch leise ein ledernes Knarzen und Knirschen. Dazu quietschten immer lauter und schneller die aneinanderreibenden Flächen meiner engen Hüllen. Die Lust, die ich dabei empfand, steigerte sich ins Unermessliche, weil das weiche Leder den Kontakt meiner Finger mit meiner Spalte zwar etwas verfremdete, aber die Intensität sogar noch verstärkte. Keuchend und schon fast laut vor Erregung kreischend bäumte ich mich kurz auf und streckte mich nach Atem ringend zur Decke. Hoch aufgerichtet wie eine Kerze rieb ich mir mit beiden Händen weiter, wie wild, das aufgeweichte Leder, das in meinem Schritt mein glitschig kochendes Lustfleisch überspannte. Von einem gellenden Schrei begleitet ließ mir der nächste, mit geballter Energie heranrollende Orgasmus meine Knie schwach werden. Weit gespreizt sackte ich in einem Taumel der Lust in die Grätsche, wo ich mich, mit meinen beiden Händen im Schritt, mit meinem ganzen Körpergewicht auf diesen, auf dem Boden sitzend, wiederfand. Ekstatisch verkrümmt, von heftig kreisenden Bewegungen meines Beckens begleitet, presste ich mir so, mit meinen Händen als Fruchtpresse, den letzten Saft aus meiner zuckenden Pussy. Wie aus einer überreifen, klebrig-saftigen, zuckersüßen Mango massierte ich den neuen, glitschenden Nektar aus mir heraus. Mein Saft, der sich durch die Poren des Leders nach außen durchdrückte, fühlte sich jetzt, so natürlich gefiltert, etwas dünnflüssiger an als das Sekret, das Mara und mich vor einer guten Stunde schon ähnlich benetzte. Meine Finger bewegten sich noch sanft auf dem Leder in meinem Schoß, wo sie in dem dünnflüssigen Schleim kleine Kreise zogen, als mich meine innere Stimme erneut wieder neugierig etwas fragte.

„Ob mein Saft, so durch Leder gefiltert und vielleicht ja auch rauchig oder mit anderer herber Note neu aromatisiert, jetzt wohl anders als vorher schmeckt?“ Total fertig, aber megaentspannt döste ich zeitlos, genüsslich Daumen und Finger lutschend, neben dem Bett dahin, bevor ich wieder genug Luft und Kraft zum Aufstehen gesammelt hatte. Als ich dann aber den ersten Schritt tat, fühlte ich schon wieder ein neues aufregendes Kitzeln in meiner gerade noch so schön abklingenden Lust. Neugierig tat ich vorsichtig den nächsten Schritt und hörte ganz leise das feine Schmatzen, das mir bei jedem weiteren Schritt zwischen meinen Schenkeln entwich und mir an meinen Brüsten vorbeihechelnd bis hoch zu meinen Ohren ein neues Lied über meine gerade so lustvoll erlebte Befriedigung vorsang. Weil sich das enge Leder meiner Jeans mit dem Saft, der mir zwischen meinen nackt rasierten Schamlippen heraus in den engen Spalt zwischen Haut und Leder gequollen war, vollgesogen hatte, fühlte ich mich jetzt trotz meiner Lederhaut wie splitternackt. So eng und feucht mit meiner Kleidung verbunden, war ich vorher noch nicht mal mit meiner bisherigen Lieblingsjeans unterwegs gewesen. Im so total heißen und schön glitschigen, aufgeweichten, noch intensiv nach frischem, wildem Sex riechenden Leder steckend schlich ich durch die einsame Wohnung. Mit jedem weiteren Schritt fand ich mehr Gefallen an dem, was ich mir gerade selbst Gutes getan hatte. Mein Gehen fühlte sich nun zwar sanfter, aber nicht weniger erregend als das wilde, aufregende Fingern an. Bei dem Gedanken daran, dass mich meine neuen Klamotten selbst noch im Ausklang der Lust so schön verwöhnten, musste ich jetzt, sogar richtig dreckig, in mich hinein grinsen. Kurz darauf verbrachte ich eine sehr brave halbe Stunde erneut im Badezimmer, von der eine gute Viertelstunde nur für die Lederpflege mit Föhn und Ledertalg benötigt wurde. Die Körperpflege ging mir dann aber viel schneller als gemeinsam mit Mara unter der Dusche von der Hand, es gab ja diesmal auch keinen Anlass, nochmal zu fingern. Außerdem hatte ich auch noch viel mehr mit dem zum Glück noch jungen Tag vor.  Heute war endlich der perfekte Tag für mich gekommen, um mich zum ersten Mal in Berlin ganz alleine in ein Abenteuer zu stürzen. Dieser Tag, der mit Maras Abenteuer begonnen hatte, war genau der richtige, um auch mein Abenteuertag zu werden. Noch war es früh genug, um auch meine Pläne in die Tat umzusetzen. Natürlich war mir sonnenklar, dass ich mich für das, was ich jetzt vorhatte, aber doch langsam sputen musste. Auf dem Weg vom Schlafzimmer zum PC, der im Wohnzimmer vor dem großen Fenster zum Garten stand, hörte ich jeden meiner Schritte. Wegen der Heels, die ich mir bis unter meine Knie sexy eng zugeschnürt hatte, hörten sich die Echos meiner Schritte wie dopsende Tischtennisbälle an. Die Echos, die von den Holzbohlen und von Wänden, Möbeln, Fenstern und Türen zurück in den Raum reflektiert wurden, tackerten prickelnd in meinen Ohren. Obwohl ich schon wieder saß, zitterten meine Finger, während ich in Google „Projekt Schattenglut“ eintippte und die Entertaste betätigte. Wie aus einem Maschinengewehr prasselten mir, während ich mit den Cursortasten über den Browser flog, aus dem Lautsprecher die einzelnen Menüpunkte, begleitet von hinterlegter Musik, laut entgegen. Die Speaker spien mir alle Informationen, die ich brauchte, blechern, so schrill mitten in mein Gesicht, dass ich mir am liebsten meine Ohren zugehalten hätte. Den Menüpunkt „Schattenbilder“ hatte ich schnell wiedergefunden, weil er sich noch an der gleichen Stelle wie an dem Tag befand, an dem ich diese ungewöhnliche Seite gefunden hatte. Kurz nachdem ich den Button betätigt hatte, ertönte auch schon ein Rufzeichen. Die Verbindung entwickelte sich so rasant, dass ich mich richtig damit beeilen musste, das Headset zu finden, aufzusetzen und das Mikro vor meinen vor Aufregung bebenden Lippen zu positionieren. Obwohl ich durch den Job im Callcenter, der Mara und mir leider wegen Corona abhandengekommen war, einiges an Übung hatte, schaffte ich es gerade noch rechtzeitig in dem Moment, als die erste Stimme aus der Schattenglut sich bei mir meldete. Sie klang ganz und gar nicht blechern, sondern sehr menschlich und warm. Es war eine weiche weibliche Stimme und sie war voller Elan. Eine Stimme, der man gern zuhören und vertrauen wollte.

„Hallo! Herzlich willkommen in der Schattenglut. Mein Name ist Alena, kannst du mich gut hören?“

„Ja, alles prima, ich höre dich gut, ich heiße Ronja.“

„Schön, dass du anrufst, Ronja. Ich sehe, dass du dich für unsere Schattenbilder interessierst. Möchtest du gern mal bei uns vorbeikommen und dir unsere Galerie ansehen, oder kann ich dir irgendwie anders weiterhelfen?“

„Vorbeikommen hört sich schon mal gut an, aber lieber zum Mitmachen, statt zum Bildergucken, wenn das auch geht?“

„Aber gern, wann hast du denn Zeit?“

„Wie wär’s in zwei Stunden?“

„Wir sind von 10:00 Uhr bis 2:00 Uhr durchgehend da. Bist du mobil?“

„Ja, ich dachte, ich komme mit der S-Bahn zum Bahnhof Charlottenburg und von dort scheint es ja dann nicht mehr weit zu euch zu sein, oder?“

„Dann fährst du, aber besser von dort, mit der S6 zum Savignyplatz. Da sind wir dann gleich zwei Straßen weiter fast genau an der Ecke.“

„Okay, kann ich dann bitte noch eine genaue Adresse von dir bekommen?“

„Komm einfach zum Restaurant Marjellchen. Das ist an der Ecke Mommsenstraße mit der Schlüterstraße. Wir holen dich dann gleich ab, nachdem du dort angekommen bist. Ich gebe dir aber auch noch eine Handynummer, dann kannst du von unterwegs auch gern noch einmal anrufen, wenn doch mal wo etwas schiefgeht. Man weiß ja nie, was noch alles passiert. Aber keine Angst, hier bei uns ist nämlich auch immer jemand für dich da, der dir helfen kann, wenn mal etwas unvorhergesehen kräftig in die Hose geht. Volljährig bist du ja, oder?“

„Ja, ich bin fünfundzwanzig.“

„Prima, ich schicke dir dann zum Abholen die Maike. Sie hat lange rote lockige Haare und kommt mit ihrem Rolli, ist also schwer zu übersehen.“

„Mal sehen, aber egal, wir werden uns schon finden.“

„Wirklich alles okay, so für dich? … oder hast du plötzlich Angst vor uns bekommen?“

„Nee, wieso, alles ok. Ich freu mich schon darauf, euch alle kennenzulernen.“

„Prima, dann wünsche ich dir … hey, warte mal kurz, eine Frage noch …“

„Ja …?“

„Bist du blind?“

„Scheiße, ja, aber die Maike hätte ich auch ohne deine beschissene Frage gefunden.“

„Beschissene Fragen gibt es seltener als beschissene Antworten. Was glaubst du wohl, warum ich hier das Telefon mache?“

„Scheiße, du auch?“

„Ja, ich auch, nur ohne Scheiße.“

„Sie freut sich auf meinen Besuch, hat sie gesagt, die Alena?“, murmelte ich mit Gänsehaut auf meinen Armen vor mich hin und dachte über den eigenartigen Verlauf des doch recht abrupt beendeten Gesprächs nach.

Nebelkind

Mara

 

Das kleine Mädchen, das ich sah, lag nur mit einem grünen Flügelhemd bekleidet auf einem blitzblank polierten Tisch aus Edelstahl. Bis auf das rhythmische Heben und Senken ihrer zerbrechlich klein wirkenden Rippen bewegte sich nichts außer mir in dem Raum.

„Wo bin ich nur?“, fragte ich mich selbst und versuchte, meine schwarze Augenbinde zu ertasten. Aber war ich denn wirklich dort, an diesem Ort, der mir irgendwie bekannt vorkam? Wieso konnte ich auf einmal sehen? Alles hier, wo auch immer ich mich befand, war total unwirklich. Das gleißend helle Licht und das strahlende Weiß taten mir nicht nur in meinen Augen, sondern auch in meinem Kopf weh. Offensichtlich war ich mit dem Mädchen bis auf die vielen piepsenden Maschinen ganz allein. Die gespenstige Stille wurde immer wieder nur durch das pumpende Zischen eines Beatmungsschlauches unterbrochen, der mit einer Sauerstoffmaske auf dem Gesicht der Kleinen fixiert war.

„Bin ich überhaupt hier?“, fragte ich mich weiter, als ich weder meinen Kopf noch meine Haare an der Stelle finden konnte, an der ich sie kurz vorher noch tasten konnte. Dort, wo sie unter dem schwarzen Band hervorgequollen waren, das ich noch fest um meinen Kopf geknotet in deutlicher Erinnerung hatte, war jetzt plötzlich nichts mehr. Das Mädchen, das dort wie auf einem Opfertisch lag, war abgesehen von seinem Kopf bildschön. Selbst das Gesicht der Kleinen sah, wenn man über die entstellenden Details, die Betrachtern leider sofort ins Auge stachen, hinwegsehen wollte, noch außerordentlich hübsch aus. Die süße Maus sah auch nicht wirklich krank, sondern eher bemitleidenswert aus, weil ihr Kopf auf den ersten Blick wie kahl rasiert aussah. Erst bei genauerem Hinsehen fiel sorgfältigen Beobachtern auf, dass bei ihr überhaupt keine Haare wuchsen, was man auf den zweiten Blick schon an den fehlenden Augenbrauen erkennen konnte. Vermutlich waren sie der Kleinen genauso wenig wie die Kopfhaare wegrasiert worden. Das war daran erkennbar, dass sie auch kein einziges Wimpernhärchen mehr hatte. Selbst der Verdacht, dass sie durch Zupfen komplett enthaart worden sein könnte, war wenig plausibel, wenn man auf ihre Augenpartie achtete. Die Haut war dort stark gerötet und sah eher wie von einem Laser verbrannt oder von den Nebenwirkungen starker Medikamente entzündet aus. Das alles deutete stark darauf hin, dass dem Mädchen die Haare aufgrund gesundheitlicher Probleme fehlten. Ihr eines Auge war abgesehen von den fehlenden Haaren auch sehr auffällig. Anders als bei anderen Mädchen in ihrem Alter schimmerte ihre Pupille weißlich trüb und sah nicht so pechschwarz wie die eines gesunden Auges aus. Ganz offensichtlich kam noch erschreckender hinzu, dass es bei ihr ein zweites Auge überhaupt nicht mehr gab. Ihrer bereits völlig entleerten, aber gut abgeheilten anderen Augenhöhle sah man deutlich an, dass sich hier schon Leute, die keine medizinischen Laien gewesen sein dürften, um das arme Kind bemüht haben mussten. Dem Mädchen fehlte zwar ein Augapfel, aber es schien trotzdem nicht todkrank zu sein. So reizfrei wie die leere Augenhöhle war, sah sie auch trotz des fehlenden Auges eher gesund als krank und schon gar nicht eklig aus. Nur ihr traurig nach oben starrendes linkes Auge war offensichtlich noch krank. Leblos starrte es in die grellen Lichter, die wie Sonnen auf das Kind hinabstrahlten. Irgendwie wusste ich, egal woher genau, dass solche Augen auch ohne Narkose kein Licht mehr wahrnehmen konnten. Die absurde Situation, in der ich mich hier wiederfand, fühlte sich für mich in diesem Moment total komisch an. Es war eine diffuse Mischung aus Erinnerung, die sich mit wissender Intuition vermengte. Der Film, der hier gerade mit mir in der Rolle einer unbeteiligten Zuschauerin ablief, kam mir wie ein gruseliger Albtraum vor, der mich wie ein Tornado mit sich fortriss. Nach und nach dämmerte mir, dass das, was ich hier sah, nichts Grausames, sondern die nahende Rettung für das kleine blinde Mädchen war. Ihr rechtes Auge war ihr offensichtlich schon früher, zum Glück noch so rechtzeitig, entfernt worden, dass sie bald alle Qualen hinter sich lassen konnte. Selbst die Spannung der silbernen Klammer, die die Lider ihres kranken linken Auges so sehr aufspannten, dass es wie ein viel zu groß geratenes, kugelförmiges Glupschauge aussah, konnte das Mädchen wegen der Narkose unmöglich mit Schmerzen quälen. Aber wo waren die Ärztinnen und die Ärzte nur, die dem Kind helfen sollten? Im selben Moment, in dem ich mir diese Frage stellte, bemerkte ich, dass Alex, genauso körperlos wie ich mich selbst empfand, zu mir und dem Mädchen in den Raum schwebte.

„Die Krankheit heißt Retinoblastom, das ist ein sehr aggressiver, aber im Anfangsstadium noch gutartiger Augentumor, der meistens nur bei Kleinkindern zwischen dem ersten und dem dritten Lebensjahr auftritt, Mara“, hörte ich Alex beruhigend und tröstend sagen, während sich unsere körperlosen Seelen umschmeichelten und uns mit einem schönen Gefühl von Nähe zu einem Ganzen verbanden.

„Du weißt auch, was sie hat?“, fragte ich erstaunt darüber, dass Alex ebenfalls zu deuten wusste, was es mit dem, was wir hier gerade sahen, auf sich hatte. Überglücklich darüber, dass Alex jetzt wieder bei mir war, schmiegte ich mich an seine tröstenden Worte. Dabei stellte ich mir vor, wie ich seine Lippen mit meiner Zunge erkunden würde, wenn wir uns beide noch in unseren sterblichen Hüllen begegnen dürften. Doch diese Vorstellung war bei Weitem kein gleichwertiger Ersatz für die körperliche Nähe, auf die wir von einem Moment auf den anderen verzichten mussten, was mich plötzlich sehr nachdenklich werden ließ. Im ersten Augenblick war ich natürlich froh darüber gewesen, dass ich so unerwartet wieder sehen konnte. Doch kurz darauf wurde mir bewusst, dass mir mein zurückgewonnenes Augenlicht überhaupt nicht dafür nützlich war, um meine körperlichen Sehnsüchte mit Alex zu befriedigen. Genau genommen hatte ich sogar einen ganz schlechten Deal gemacht. Auf die Bilder von dem Mädchen hätte ich gut verzichten können, wenn ich dafür nicht meinen Körper hätte verlieren müssen. Als mir dann noch klar wurde, dass Alex inzwischen, so wie ich, ebenfalls zu einem unsichtbareren Geist geworden war, schlug meine Unzufriedenheit in bitteren Frust um. Alles außer ihn konnte ich wieder sehen. Aber für meine Wahrnehmung blieb das, wonach ich mich am meisten sehnte, dennoch verborgen. Nein, nicht für meine Augen, denn mir schien es so, als sei ich durch den Unfall plötzlich nicht nur blind, sondern jetzt ganz und gar ausgelöscht worden. Nicht mal mehr ausgebrannte Hüllen waren unseren liebenden Seelen geblieben. Die Zeit schien stillzustehen und Alex war hier und doch so unendlich weit fort. Unsichtbar wie er war, genoss ich voller Sehnsucht, dass er irgendwie da und doch nicht da war. Aber ich sehnte mich so sehr wie nie zuvor, um jeden Preis der Welt zurück in unsere fleischlichen Körper. Nach dieser schmerzlichen Erfahrung hätte ich lieber umgehend mein gerade zurückgewonnenes Augenlicht für einen sofortigen Rücktausch für meinen Körper angeboten. Ich wollte diesem Spuk hier, koste es was es wolle, nur ein schnellstmögliches Ende bereiten. Aber dann wurde mir bei meinem nächsten Gedanken wirklich eiskalt.

„Ist das, was ich gerade erlebe, das Leben nach dem Tod? Ist es das, wonach sich manche lebenden Menschen als Trost vor dem Tod so sehr sehnen? Ist das die Hoffnung, dass das Leben nach dem Sterben besser sein könnte als vorher?“, fragte ich mich und wollte mir gerade Gedanken darüber machen, ob richtig tot nicht die bessere Alternative für mich gewesen wäre. Im selben Moment wurde ich jäh aus meinen Gedanken gerissen, als ich sah, dass sich die geschlossene Tür, durch die Alex zu mir hereingeschwebt war, soeben doch wie von Geisterhand öffnete. Was ich sah, erfüllte mich nur so lange mit melancholischer Zufriedenheit, bis ich hörte, wie Alex auf die veränderte Situation reagierte.

„Komm! Mara, mein Schatz, lass uns schnell verschwinden. Das, was hier jetzt gleich passieren wird, willst du nicht sehen.“

„Ich weiß auch, was passieren wird, aber warum sollte ich nicht dabei zusehen wollen, wie sie dem Kind sein Leben retten?“, fragte ich Alex entsetzt. Dabei bedauerte ich schmerzlich, dass ich meinen körperlosen Prinzen dabei nicht zartfühlend umarmen konnte, um ihn, begleitet von Körperwärme, von meiner Sichtweise zu überzeugen. Das, was ich in diesem Moment aus dem Klang seiner Stimme in seinem Herzen lesen konnte, wühlte mich nämlich richtig auf. Zunächst wollte ich sogar gar nicht glauben, wie er die Dinge hier sah, weshalb ich mich stur wie ein störrisches Kind innerlich mit meiner ganzen Kraft gegen die Bedeutung seiner Worte stemmte. Die kleine Gruppe, die auf das in tiefer Narkose weggetretene Mädchen mit langsamen Schritten zuschritt, bestand aus sechs Personen. Es sah aus wie eine kleine Prozession, die von zwei Frauen in langen weißen Gewändern angeführt wurde, denen dicht hinterher noch vier Frauen in grünen Gewändern folgten. Als sie bei der Schlafenden angekommen waren, bildeten sie einen Kreis um den Edelstahltisch, legten silberne chirurgische Instrumente und eine winzig klein wirkende Nierenschale auf kleinen Beistelltischen bereit, die auch aus Edelstahl waren.

„Mara, bitte lass uns gehen, sie werden das arme Kind gleich noch schlimmer verstümmeln. Siehst du denn nicht, dass die Arme schon mit einer leeren Augenhöhle genug vom Leben gestraft war?“

„Aber Alex, was redest du denn da. Ihre Augen waren doch schon vorher durch den Krebs blind. Ein medizinisch lebensrettender Eingriff ist doch etwas ganz anderes als eine Verstümmelung“, schrie ich ihn an und war jetzt fast froh darüber, dass man ohne Körper nicht mehr weinen konnte.

„Mara, mein Schatz, so hatte ich es doch gar nicht gemeint, die Kleine tut mir doch nur so leid. Ein Leben ohne Augen ist doch schlimmer als die Hölle auf Erden. Sieh dir doch an, wie klein sie noch ist, und sag mir ehrlich, was sie so noch vom Leben zu erwarten hat. Spätestens, wenn sie in das Alter kommt, wo jedes Mädchen schöner als alle anderen sein will, wird sie die Götter in Weiß hassen. Spätestens dann wird sie alle, die ihr das hier gleich antun werden, für ihre Tat verdammen“, antwortete mir Alex energisch und zog mich durch eine dicke Wand hindurch von diesem eigenartigen Ort mit sich fort.

„Nein Alex, so ist das nicht, sie war doch vorher auch schon blind. Ich bin mir sicher, dass sie ihr Leben mit all ihren verbliebenen Sinnen nicht weniger genießen wird als du und ich auch“, sagte ich und versuchte, ihn davon abzuhalten, mit mir von diesem Ort zu fliehen. Im selben Moment rasten unsere Seelen aber schon wieder auf einen weiteren, diesmal völlig lichtlosen und absolut undurchdringlich dicht erscheinenden Nebel zu. Nur einen Augenblick später befanden wir uns mitten drin in diesem Nichts, in dem Alex auf mich angewiesen war, weil er sich nicht mehr selbst orientieren konnte. Von einer Sekunde auf die andere zitterte er am ganzen Leib. Mir schien es so, dass er zum ersten Mal in seinem Leben die Erfahrung machte, wie es ist, auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein. Als er spürte, dass ich ihm helfen musste, sich zurechtzufinden, spürte ich seine Angst ganz deutlich. Die Dunkelheit, in der wir uns so unerwartet wiederfanden, ängstigte ihn. So plötzlich und so rätselhaft, wie wir hier aus mir noch völlig unerklärlichen Gründen hergekommen waren, verschwanden wir nun auch wieder. Wir waren allein gekommen, aber verschwanden zusammen und Alex ließ sich dankbar von mir lenken, bis sich das Nichts für ihn wieder aufhellte. Ich spürte ganz deutlich, wie froh er darüber war, als er meiner für ihn lebensfremden Umgebung, die ihn so sehr geängstigt hatte, wieder so schnell entfliehen durfte.

 

Schattenfahrt

Ronja

 

Was für eine gequirlte Scheiße war das denn jetzt wieder, in die ich hier hineingeschlittert war? So voll peinlich auch noch, dass diese Alena auch eine Blinde war, die gleich durchschaute, dass ich ein Problem damit hatte, in der Öffentlichkeit zu meinen erblindeten Augen zu stehen. Aus ihrem Mund klang das, was sie sagte, und wie sie auf mich reagierte, fast wie ein Vorwurf. Gerade jetzt, wo ich mich am Berappeln war, pflaumte sie mich an. Ihre Worte wirkten auf mich in einer Art und Weise , dass es sich plötzlich wie eine Schwäche anfühlte, nicht offen damit umzugehen, und dass ich es sonst gewohnt war, meinen offensichtlichen Makel vor den Blicken sehender Menschen verstecken zu wollen. Aber egal wie, da musste ich jetzt durch. In der Liebe sprechen Hände und Augen meist lauter als der Mund, hat Ricarda Huch einmal sehr treffend als Philosophin gesagt. Das traf auf Mara und mich zumindest, was unsere Hände und unsere Lippen anging, voll zu. Schließlich war bei uns ja auch eine Form von Liebe zum Sex im Spiel. Zumindest so lange, bis der Stress mit Maras zweifelhaftem Abenteuer begann. Bei dem, was ich heute vorhatte, ging es aber gar nicht um Liebe, sondern allenfalls um Sex. Es war alles perfekt, bis auf meine gruseligen Augen. Aber selbst dafür gab es dank Amazon ja eine Lösung. Deshalb eilte ich schnurstracks ins Schlafzimmer und wühlte ungeduldig im Papier der fast leeren Kiste, die noch offen vor dem Bett stand. Da musste irgendwo noch eine winzige Schatulle sein. Hm, was heißt Schatulle? So etwas mit Kontaktlinsen drin halt. Glibberige Alternativen für Leute, die sich mit Brillen hässlich fanden oder so ähnlich. Die Welt war echt irre. Ich liebte meine schwarzen Brillen – je größer, desto besser, nur tiefschwarz mussten sie sein. Sie mussten verbergen, was mich verfolgte, und Normale frühzeitig davor warnen, dass ich nicht sehen konnte. Markant, provokativ und etwas sexy – solche Brillen fand ich gut. Nur so klein wie die winzige, kreisrunde Nickelbrille mit den pechschwarzen Gläsern, die Mara gelegentlich als Accessoire während unserer Spaziergänge im Sonnenschein trug, durften sie bei mir bisher eigentlich nie sein. Aber egal, wie Mara das sah: So wirklich sexy konnte das, im Vergleich zu echten sinnlichen Blicken, doch eigentlich gar nicht sein. Jedenfalls wollte ich es zumindest heute mal so sehen, dass ich auch mal Leuten schöne Augen machen könnte. Genau deshalb musste ich jetzt auch diesen komischen winzigen Behälter mit meinen neuen Augen finden. Kontaktlinsen, die dir den erotischen Blick arabischer Schönheiten schenken, so stand das in der Beschreibung auf dem Amazon-Portal. Kurz darauf hatte ich das winzige Schächtelchen endlich gefunden. Auf der Box tastete ich ein „R“ für rechts und ein „L“ für links, aber das war mir egal, mir ging es ja nur um die Farbe und nicht um die Dioptrien. Meine neuen schönen Augen waren auf meinen Fingerkuppen fast nicht existent. So weich, klein und unscheinbar wie sie sich anfühlten, waren sie bestimmt überteuert. Ich wollte sie heute aber dennoch tragen, so wie viele andere sehende Frauen das auch täglich taten. Das Gefummel war schnell erledigt. Das, was im Internet für die Applikation der Glibberprothesen als problematisches Fremdkörpergefühl beschrieben wurde, war für mich kein Hemmnis, weil mir meine beiden Augen wegen ihrer Vernarbungen dieses Gefühl nicht mehr vermitteln konnten. Deshalb hatte ich die Dinger schneller drin, als ich dachte. Das einzige Accessoire, das jetzt noch fehlte, war die perfekt passende Brille. Schließlich wollte ich ja nicht jedem, der mir über den Weg lief, gleich schöne Augen machen. Die Entscheidung bezüglich der Brille war dennoch einfach. Für den heutigen Anlass kamen nur zwei Stück aus meinem reichhaltigen Sortiment infrage. Da war zum einen die krasse Gletscherbrille, die mit ihren zwei Chromtöpfchen, dem Gummiband und dem weichen Moosgummi, das beide Augen komplett blickdicht umschloss, auch fast als Schweißarbeiterbrille durchgegangen wäre. Nur die schicken blau-golden verspiegelten Designgläser verrieten, dass es sich um eine modische Kreation handeln musste. Die zweite Option war die von Mara, die kleine, schicke Nickelbrille, die ich mich bisher draußen nie zu tragen getraut hatte. Diese hatte nur den Nachteil, dass fremde Leute mir durch den Spalt zwischen der Brille und meinen Schläfen von der Seite auf meine weiß vernarbten Augäpfel genau da hineinschielen konnten, wo mein Gesicht ohne künstliche Linsen offensichtlich beschädigt aussah. Mit einem Lachen griff ich entschlossen nach der süßen, runden Nickelbrille. Mit meinen so makellos hübsch aussehenden Kontaktlinsen, die bestimmt so schön wie Maras Augen strahlten, konnte ich auch bedenkenlos mit der kleinen Brille losziehen. Heute war meine schwarze Brille nur eine kesse Dekoration, unter der ich meine sinnlichen Augen, die ausnahmsweise denen arabischer Schönheiten glichen, vor unliebsamen Gaffern verstecken musste. Ohne noch länger unnötige Gedanken an mögliche Gaffer zu verschwenden, griff ich mir meinen langen, weißen Stock und ging endlich auch los – auf meine Tour.

 

***

 

Kurz darauf saß ich entgegen der Fahrtrichtung in der S6. Gegen die Fahrtrichtung deshalb, weil ich das ständige Nicken beim Bremsen hasste. Auf das Beschleunigen der Züge konnte ich mich wegen des Zischens und des Klackens der Türen, die sich kurz vor dem Anfahren immer noch selbst verriegelten, viel besser an die Geschwindigkeit anpassen als beim Bremsen. Alena kam mir sogar noch taffer vor als meine Mara, die sich heute mit ihrer Augenbinde, so blind wie ich, durch die selbstgewählte Höhle ihrer Löwen alleine in einen Tag tasten musste, der im Gegensatz zu den Leuten, mit denen sie sich umgeben hatte, so schwarz wie die ewige Nacht war, die auch mich überall hin begleitete. Mara, … manchmal kam es mir sogar so vor, dass sie in der Öffentlichkeit fast schon gern als Blinde wahrgenommen werden wollte. Ich hatte sie allerdings im Verdacht, dass sie mir damit beibringen wollte, dass Frauen wie ich auch ohne eigenes Augenlicht ein respektiertes Mitglied der Gesellschaft sein durften. Es war ja lieb von ihr, was sie alles für mich getan hatte, aber ihre Unternehmung heute wäre ohne diese schwarze Augenbinde bestimmt auch irgendwie gut gegangen. Aber wenn es schiefgehen würde, dann wohl am wenigsten deshalb, weil ich ihr vor dem Gehen, auf ihren eigenen Wunsch hin, noch schnell dieses blöde Seidentuch um ihren Kopf geknotet hatte. Sie bestand nun mal selbst darauf, diesem mysteriösen Alex, der sie mit diesem fetten Schlitten abgeholt hatte, als Blinde mit dieser billigen SM-Maskerade die Tür zu öffnen. Zum Glück war es nicht mein Problem, mit welchen Accessoires meine Freundin in einer vielleicht sogar plüschigen Hollywood-Bude mehr oder weniger erfolgreich ihre billige Show als blindes Engelchen für notgeile Männer abziehen wollte. Im Gegensatz zu ihr befand ich mich auf dem Weg in eine ganz andere Art von Hölle. Meine Angst war seit dem Moment, an dem ich damit begonnen hatte, mich als Akteurin in mein eigenes Abenteuer zu stürzen, wie weggeblasen. Selbst der peinliche Patzer mit Alena trug jetzt sogar noch dazu bei, dass ich vor lauter Neugier und Ungeduld von Haltestelle zu Haltestelle noch kribbeliger wurde. Ich war schon total gespannt auf Alenas körperliche Hitze, die mich dort mit großer Sicherheit erwarten würde. Alenas Stimme alleine war schon eine Wucht. Obwohl sie freundlich und verbindlich klang, war sie so fest und kräftig, dass sie nur so vor Energie und Selbstbewusstsein strotzte. Das Rumpeln der Bahn ließ die Sitzbank unter mir inzwischen schon seit zwanzig Minuten vibrieren. Die Schwingungen fühlten sich auf und vor allem unter meiner Lederjeans viel intensiver an, als das bis jetzt für die anderen Fahrgäste von außen erkennbar sein konnte. Aber das Kitzeln, das sich von Minute zu Minute mehr und mehr durch das schwarze Leder meiner engen Jeans hindurch auf meinem enthaarten Schamhügel verteilte, war unbeschreiblich schön. Unaufhörlich zog es immer tiefer in meinen Bauch hinein und schlich sich von dort tief in mir drin lustvoll hoch zu der Stelle, wo mein Bauchnäbelchen von einem Piercing verziert war. Die S-Bahn stimulierte mich jetzt mit ihrem Rattern und Rollen, dem Wanken und Grollen und ihrem Pfeifen und Kreischen noch mehr, als das die Klingen von Maras Elektrorasierer heute Morgen schon einmal unter der Dusche mit mir taten. Außerdem hatte mich Mara ja auch keine zwanzig Minuten am Stück an meinen inzwischen von der Bahnfahrt schon wieder im eigenen Saft weichgekochten Pussylippchen bearbeitet. Und dann kamen da ja noch all die anderen sündigen Gedanken hinzu, die mir während der Fahrt schon wieder durch den Kopf gegangen waren. Eigentlich hatte alles mit diesem Franzosen, diesem Fotografen, Laurent Benaïm, dessen Kunstwerke mittlerweile weltweit berühmt wurden, angefangen. Die ganze Welt sprach über ihn, weil er mit Bildern von Menschen, denen Gliedmaßen fehlten, oder mit Fotos von Alten künstlerisch provozierte. Dabei hatte er aus den runzeligen Hüllen der Gebrechlichen und aus den verstümmelten Körpern der Amputierten mit seiner Kamera nur ganz gewöhnliche Akte in Schwarzweiß geschaffen. Menschen, von denen die normalen Leute früher scheu ihre Blicke abgewendet hätten, standen im Licht seiner sexuellen Inszenierungen plötzlich im Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion. Benaïm wurde in Künstlerkreisen inzwischen sogar schon fast dafür vergöttert, dass er Menschen mit Behinderungen gesellschaftlich etablierte. Der Fotograf war mir, bis auf die Kleinigkeit, dass ich total scharf darauf war, selbst auch einmal so richtig heiße Sachen mit einer Kamera aufnehmen zu dürfen, aber eigentlich recht egal. Was mich reizte, war weniger das Etablieren als das Etablissement, das das Schattenglutteam als Trittbrettfahrer seiner Kunst aus seiner Idee gezaubert hatte. Alena hatte es wohl schon geschafft, sie war schon mitten drin in dieser Welt der Schönen und Reichen. Alena, die Frau mit der aufregenden Stimme, die so taff mit mir telefoniert hatte, war wie ich ein Kind der Nacht. Mein Herz schlug schon wieder schneller, als ich mir vorstellte, sie nicht nur zu hören, sondern sie auch zu riechen, sie zu berühren und sie zu schmecken. Meine Hände waren schon wieder zwischen das weiche Leder meiner Schenkel gerutscht. Sollten die anderen Fahrgäste doch sehen, was sie wollten! Zum Glück war Deutschland noch ein freies Land. Das Leder in meinem Schritt, das ich mir anfangs noch eher unauffällig zwischen meinen zusammengekniffenen Oberschenkeln gestreichelt hatte, war von meiner neuen Feuchte schon wieder schön warm und weich geworden. Meine Lust steigerte sich von Schwelle zu Schwelle, die die S-Bahn neu überrollte, und ließ mich mehr und mehr alle Hemmungen vergessen. Während ich mich immer heftiger an meinem Sitz rieb, überlegte ich mir, dass das, was ich hier gerade mit mir selbst trieb, für die mich immer umgebenden Gaffer auch ganz anders aussehen könnte. Vielleicht dachten sie ja nur, dass die blinde Ledermaus doch selbst schuld ist, wenn sie vor dem S-Bahn-Fahren so viel getrunken hatte, dass sie jetzt wie verrückt pinkeln musste. Inzwischen biss ich mir schon selbst in meine Lippen, um mich von dem Drang, wild loszustöhnen, abzulenken. Blind, aber ohne Scheiße, so hatte Alena mir ganz locker zu verstehen gegeben, dass ich doch mit allem, auch so wie es ist, froh sein kann. Ohne Zweifel war diese Frau bestimmt auch beim Sex ein ungezügelter, leidenschaftlicher Vulkan, ohne jegliche Hemmungen für alles, was Spaß und Freude macht. Mit diesem Gedanken wallten meine leidenschaftlichen Gefühle so heftig auf, dass ich mich zur Seite drehen und mich mit nur noch einer Pobacke auf die Sitzkante drücken musste – so erregt war ich inzwischen. Verkrampft räkelte ich mich mit meiner Wange an dem kalten Fenster des S-Bahnwagens am Kondensat atmender Menschen an kühlendem Nass entlang. Meine beiden Hände klemmten so fest zwischen meinen Beinen, dass es für Außenstehende jetzt doch schon so aussehen musste, dass ich jeden Moment jegliche Beherrschung verlierend nichts mehr halten könnte. Zum Glück bewahrte mich gerade noch rechtzeitig die Ansage aus dem Lautsprecher davor, den S-Bahn-Wagen mit meinen Schreien zu einer Varieté-Bühne zu verwandeln.

„Nächster Halt … Savignyplatz, der Ausstieg befindet sich links!“ Beim Aufstehen musste ich mich mit einer Hand an der Sitzlehne festhalten und mich zunächst qualvoll strecken. Mein erregter Körper brannte wie nach einem Krampf, wie ich ihn schmerzhaft vom Schwimmen im oft zu kalten Wasser des Schwarzen Meeres kannte. Aber wenigstens stand ich schon mal wieder auf meinen eigenen zwei Beinen. Ein netter Mensch, der nach jungem Mann klang, half mir unaufgefordert in die zweite Schlinge meines Rucksacks. Nur weil ich von dem, was vor mir lag, abgelenkt war und den folgenden Ereignissen des Tages aufgeregt entgegenfieberte, brummelte ich, anstatt ihn zickig anzublaffen, ein viel zu nettes Danke. Die Blicke, die mich zeitgleich mit dem lauten Klackern meines sich entfaltenden Blindenstocks trafen, konnte ich nicht sehen. Aber ich hörte an der Atmung und dem Versiegen des flüsternden Gemurmels der Umstehenden, dass die Menge mitleidig jeden meiner Schritte neugierig beobachtete. Als ich die große Tastkugel, die am anderen Ende meines weißen Langstocks befestigt war, meinen Füßen weit voran in die Menge der stehenden Fahrgäste hinein gleiten ließ, stoben sie erschrocken auseinander. Mehr als nötig teilten sie sich nach rechts und links. Der Korridor zwischen ihren stumm wartenden Leibern war so breit, dass sie ihre Berührungsängste vor einer wie mir deutlich offenbarten. Dass das tatsächlich wieder so war, konnte ich auch ohne Augenlicht, wie so oft zuvor, deutlich und schmerzlich mit meinem Taststock durch meine Hände sehen. Von links nach rechts und wieder zurück, vor mir hin und her schwingend, so sah ich die Menschen in meiner Welt. Mein sorgsam für mich umherblickender, langer, weiser Freund ließ mich die peinliche Breite der gähnenden Leere vor mir deutlich sehen.

„Tack …, tack …, tack …, tack, …“, hörte ich aufmerksam in die pechschwarze Nacht, die ich zügig in Richtung Tür durchschritt. Remple dann aber doch noch jemand an …

„Sorry!“ Das „Hey du Arsch, siehst du denn nicht, dass ich blind bin?“, hatte ich mir gerade noch verkniffen.

„Kein Problem, bitte nach Ihnen!“, die Stimme klang nach Weichei – Idiot! Wie eine Flüchtende hetzte ich, so schnell ich konnte, durch all die Normalen hindurch auf die Tür zu, die schon wieder zu zischen begann.

„Halt, ich will auch noch raus!“, alles, nur kein mitleidiger Sabbel jetzt oder dumme Kommentare, dachte ich panisch. Ich wollte nur noch weg. Raus aus diesem stickigen Wagen, wieder hinaus an die frische Luft.

 

***

 

Die Abkühlung tat zwar richtig gut, dennoch hätte ich auch noch etwas mehr Genussvolles mit meiner jetzt wieder abklingenden Erregung anzufangen gewusst. Doch dann hörte ich das Abrollen von Fahrradreifen. Es konnte aber kein Fahrrad sein, weil das leise Klicken der Gangschaltung fehlte. Reflexartig, einer Intuition folgend, drehte ich flink meinen Kopf genau in die Richtung, aus der das Geräusch kam, und schrie mitten in das geschäftige Treiben auf dem Bahnsteig hinein.

„Maike, bist du das?“

„Hi Ronja, ja, das bin ich. Das ist ja wieder typisch, die Alena sieht mit ihrem Stock und ihren Ohren auch oft schneller, als ich mit meinen Glasbausteinen, wo's gut weiter lang geht.“

„Schulter oder Schieben?“, fragte mich Maike und ich kam zu dem Schluss, dass sie genauso locker über den Dingen zu stehen schien wie meine Freundin Mara.

„Schulter ist kuscheliger und vom Schieben werde ich zu fett“, bemerkte Maike und steckte mir damit durch die Blume, dass sie vermutlich nicht die Schlankeste unter den Hübschen war.

„Wollten wir uns nicht vor dem Marjellchen treffen?“, antworte ich, um von dem Thema, das ihr möglicherweise ein bisschen peinlich war, abzulenken.

„Ich war früher dran und ein bisschen mehr Bewegung kann nie schaden. Hier links ist übrigens auch eine Treppe, wenn du willst, … du kannst gern auch oben auf mich warten. Die Aufzüge hier stinken nämlich immer nach … na ja, du weißt, was ich sagen wollte, oder?“ Auf dem Spaziergang erfuhr ich von Maike, dass das „Schattenglut“ tatsächlich von einer Innenarchitektin nach Entwürfen von Laurent Benaïm und mit Bildern von ihm komplett durchgestylt worden war. Aber dann fing sie plötzlich damit an, dass wir Krüppel schließlich zusammenhalten müssten. Im Plauderton erzählte sie mir, dass es leicht verdientes Geld sei, das wir mit der Vermarktung unserer lädierten Körper den Leuten jetzt endlich auch mal selbst aus deren Taschen ziehen könnten. Meine eine Hand lag auf dem Griff des Rollstuhls, der mich lenkte, und mit der anderen verfolgte ich mit meinem Stock unseren Weg. Von dem, was ich da gerade aus Maikes Mund hörte, war ich so geschockt, dass mir spontane Worte fehlten. Offensichtlich spürte auch die Rollstuhlfahrerin, dass sie sich total im Ton vergriffen hatte, oder sie sah mir meine Abneigung gegen ihre Worte in meinem Gesicht an.

„Also den Leuten, die uns lange Zeit ja eh nur verachtend gemieden hatten“, schob sie dann zögerlich nach. Mit dem Schattenglut ginge das jetzt auch ganz einfach und alles sei absolut legal – Sie nannte die Masche verniedlichend: „Einfach ein bisschen abzocken!“ – Ich meinte, aus ihrem Tonfall dazu auch noch ein schiefes Grinsen herausgehört zu haben. Mittlerweile war mir von dem Gehörten innerlich schon speiübel geworden und ich schaffte es gerade noch, mich zu beherrschen. Meine eigene, für mich bisher eher harmlose Wortspielerei, dass Benaïm mit seinen Fotostrecken Beeinträchtigte gesellschaftsfähig etabliert hatte und sich aus seiner Idee hier in Berlin ein Etablissement mit Spaß und Kultur bis hin zum Sex für alle entwickelt haben könnte, war übelste Realität geworden. Übelste Realität, mit der ich so am wenigsten gerechnet hätte. Dass es sich um eine Art Höllenclub, natürlich nur für Erwachsene, handeln musste, war mir vorher schon klar gewesen. Deshalb hatte ich mir ja auch passende Kleidung für diesen Besuch besorgt, die meine Interessen und Absichten für Sehende auf den ersten Blick klar erkennen ließen. Aber ich dachte dabei mehr an so etwas Stilvolles, eher etwas Exklusives, mit einem Galerie- und einem niveauvollen Barbetrieb. Aber das, was Maike da gerade beschrieb, hörte sich für mich jetzt mehr nach einem schmierigen, mafiösen Schwarzgeldschuppen an. Eine konkretere Vorstellung hatte ich natürlich nicht. Deshalb war ich ja auch hier, um mir das Ganze einfach einmal selbst anzuschauen. Schließlich war ich auch neugierig auf diese Swingerclubs, von denen ich im Internet las. Aber auf das, was diese Maike da gerade von sich gab, hatte ich wirklich überhaupt keinen Bock. Dafür hatte ich weder Verständnis noch wollte ich für Dinge wie Abzocke, Menschenhandel und arbeitsscheue Goldkettchenmachos sowie deren Gefolge jeglichen Geschlechts einen Hauch von Toleranz aufbringen. Das ging mir aufgrund meiner eigenen bitteren Erfahrungen mit Unterdrückung, Zwang und Prostitution dann wirklich schnell ein gehöriges Stück zu weit. Auch wenn hier skrupellose Leute aus Laurent Benaïms wunderbarer Idee einen Taschenspielertrick entwickelt hatten, der ausschließlich Menschen mit Beeinträchtigungen bereicherte, war das für mich auch eine zu verachtende Form von Diskriminierung und Kriminalität, mit der ich nichts zu tun haben wollte. Die Normalen zu betrügen war moralisch schließlich dasselbe wie sich an uns Schwachen zu bereichern. Wie hatte sich meine Begleiterin da gerade ausgedrückt? „… ein für uns Krüppel recht profitables Geschäft!“, glaubte ich da gerade, so unkonzentriert und schockiert, wie ich von ihren ersten Ausführungen noch war, von ihr gehört zu haben. Konnte das wirklich der Ernst dieser Frau sein? War sie so verbittert von ihrem Schicksal, oder war sie frei von jeder Moral, wirklich so skrupellos und gierig, wie sich das alles aus ihrem Mund gerade anhörte? Ich entschied mich, obwohl mir das im Moment recht schwerfiel, gegen eine vorgreifliche Vorverurteilung und beschloss, so gut es geht, zunächst noch weiter eine gute Miene zu einem möglicherweise sehr bösen Spiel zu machen.

„Sagt dir denn die Micheli Correia aus Brasilien etwas?“, fragte ich meine Begleiterin, um das Gespräch in eine passendere Richtung zu lenken.

„Nicht wirklich, was ist denn mit der?“

„Die ist eine erfolgreiche Fotografin, eine Frau, eine wie wir. Sie ist blind und sie fotografiert.“

„Warum nicht? Wenn die damit Kohle macht, find’ ich das voll okay.“

„Und was findest du nicht so voll, okay?“, hakte ich scharf nach und fuhr damit fort, ihr die Meinung zu geigen.

„Jede soll das, was sie will, solange machen, wie sie es will. Dann ist doch immer alles voll okay, oder?“

„Arbeiten bei euch im Team eigentlich nur Frauen mit der gleichen Einstellung wie du?“

„Aber nein, was denkst du denn? Diskriminierung geht gar nicht, das wäre total tödlich für unser ganzes Konzept. Nur weil ich die Dinge gern klar beim Namen nenne, sind wir noch lange keine Unmenschen.“

„Nun ja, Krüppel, die abzocken, hört sich trotzdem weder fair noch angemessen an“, fasste ich das, was mich an ihren Äußerungen aufregte, noch einmal zusammen.

„Hey, bist du immer so empfindlich? Schau dich doch erst mal in Ruhe bei uns um.“

„Hört sich so an, als ob wir schon da wären?“, sagte ich kühl, als neben mir Räder auf eine Rampe polterten.

„Ja, warte noch einen Moment in der Lobby, Alena wird dich sicher gleich abholen lassen, wir treffen uns dann bestimmt später noch einmal an der Bar.“

„Schauen wir mal, Maike. Aber trotzdem, danke fürs Abholen“, sagte ich und riss mich zusammen, dass mein Tonfall nicht verriet, wie froh ich darüber war, dass ich sie wieder los war.

„Hey, aber dafür doch bitte nicht“, sagte Maike, und ihre Sprachmelodie verriet mir, dass sie gar nicht verstanden hatte, wie abstoßend ich das fand, was sie mir erzählt hatte.

  

***

 

Ich hörte, dass ich mich in einem großen Raum befand. Einem Raum, der eine Weite und eine Ruhe ausstrahlte, die in krassem Widerspruch zu dem stand, was Maike mir gerade so Schockierendes über das „Schattenglut-Projekt“ erzählt hatte. Irgendwo plätscherte ein Wasserfall. Er toste nicht wild, aber er war da und verbreitete, zumindest akustisch, mehr Harmonie, als ich das erwartet hatte. Das Quietschen von Maikes Rolli hatte sich in der Weite schnell verloren. Aber erst als ich aus der Richtung, in die ich sie entschwinden hörte, das leise Klicken eines Türriegels vernahm, war ich mir recht sicher, dass sie wirklich weg war.

„Was für ein Glück, dass ich die vorerst los bin“, flüsterte ich leise in die gemütliche Stille, mit dem schönen Plätschern im Hintergrund, vor mich hin.

„Hey! Du musst Ronja sein, hab ich recht?“, hörte ich, hell und klar, eine Stimme, rein wie ein Glöckchen klingen, und kurz danach kleine, schnelle, leichte Schritte, die zügig, mit federnd klingenden Laufgeräuschen, auf mich zuhuschten.

„Ja, das stimmt, aber du bist nicht Alena. Weißt du, wo ich sie finden kann?“

„Aber ich bin Alenas Assistentin!“, hörte ich die weiche Stimme, diesmal dicht vor mir, unaufdringlich von unten nach oben zu meinen Ohren hochschallen.

„Klar, weiß ich das. Deshalb soll ich dich ja auch hier abholen und zu ihr bringen.“

„Na gut, aber Alenas Assistentin?“ – Ein Kind, hier? Einen Augenblick später ergriff mich eine winzig kleine, sehr zarte, weiche Hand um ein Handgelenk. Das zarte Wesen nahm meine Rechte und legte sie sich, ohne Worte, mit einer fließenden Bewegung auf seine Schulter. Ich erschrak zwar kurz, aber dann hörte und spürte ich, dass das zierliche Geschöpf einfach geduldig wartend weiter vor mir stand und ruhig weiter atmete.

„Ihre Assistentin? So, so …“, sagte ich misstrauisch und führte den mysteriösen Dialog, wie zu einer Salzsäule erstarrt, kritisch fort. „Ich weiß aber noch gar nicht, ob ich mit dir mitgehen will. Vorher musst du mir zuerst sagen, wie alt du bist und wie du heißt.“

„Ja, richtig, ihre Assistentin. Ich bin sechsundzwanzig Jahre alt und mein Name ist Yasu. In meiner Landessprache bedeutet Yasu ‚Die Friedliche‘ und arabische Christen nennen Jesus auch Yasu. Ich wurde in Japan geboren und bin dann dort aufgewachsen. Später habe ich aber aus persönlichen Gründen mit meinem Heimatland gebrochen. Mittlerweile verstehe ich mich seit einigen Jahren als freie europäische Frau.“ Die Schulter des kleinen Wesens, das sich gerade als Alenas Assistentin vorgestellt hatte, fühlte sich dennoch so weich, zart und zerbrechlich an, wie eigentlich nur die eines zierlichen Kindes sein kann. Obwohl sich alles, was das frauliche Wesen sagte, zwar glaubhaft anhörte, hatte ich immer noch Bedenken. Irgendetwas schien hier komisch zu laufen. Leider hatte ich im Moment nur keine weiteren Anhaltspunkte, um die immer zahlreicher werdenden Rätsel jetzt schon alle lösen zu können. Meine Neugier war aber deutlich größer, als mir meine Zweifel wert waren. Ohne eigene Assistentin an meiner Seite machte es für mich im Moment auch wenig Sinn, Yasu noch zum Vorzeigen ihres Personalausweises aufzufordern. Aber ich war ja auch wegen Alena und nicht wegen ihrer Assistentin hier.

„Also gut, Yasu, danke, das war sehr nett von dir, dass du mir auch, ohne dass ich dich danach fragte, so viel mehr von dir erzählt hast“, sagte ich freundlich, aber fragte dann doch noch einmal weiter kritisch nach. „Wer hat dir denn eigentlich gesagt, wie ich heiße?“

„Das weiß ich von dir selbst, seit du mit Alena telefoniert hast. Ich stand ja daneben, weil ich fast immer bei Alena bin, meistens sogar auch in der Nacht, also selbst dann, wenn sonst alle schlafen“, sagte Yasu. Dann legte sie mir, weich und warm, ihre eine Hand auf den Rücken, meiner Hand, die noch immer auf ihrer Schulter lag. Yasu signalisierte mir damit wortlos, dass sie gekommen war, um mich, ohne dass Ängste in mir aufkeimen müssten, durch die fremde Umgebung zu führen.

„Also gut, von mir aus kann's losgehen. Du darfst mich jetzt führen“, beendete ich mein kritisches Hinterfragen vorläufig. Yasu setzte sich so, als ob sie schwebte, in einer Art und Weise, als wolle sie mit mir tanzen, in Bewegung. Wortlos, aber leise ein Lied in einer fremden Sprache vor sich hin summend, zog sie mit mir los. Ich fühlte mich wieder sicher. Yasu führte mich durch die weite Halle weg in einen anderen Bereich der Schattenglut. Wir erreichten diesen durch eine Art Schleuse, die aus einer Abfolge von mehreren schweren Vorhängen gebildet wurde, und ließen die eindrucksvolle Lobby hinter uns. Die neue Atmosphäre war plötzlich ganz anders. Der Raum, in dem wir uns jetzt befanden, wirkte deutlich kleiner, obwohl er sich immer noch sehr groß anhörte. Im Hintergrund säuselte dezent eine unaufdringliche Melodie aus Lautsprechern, die sich nach der besten Qualität anhörten, die man kaufen konnte. Eine stilvolle Gediegenheit vermischte sich mit einem zarten Duft von frischen Kräutern und fruchtigen Aromen, die auf Obst in Schalen oder Körben schließen ließen, in den sich flüchtige Alkohole, die ebenfalls in der Luft lagen, mischten.

„Fühlst du dich wohl, Ronja?“, hörte ich Yasus Stimme fast zärtlich hauchen und nahm am Echo ihrer Stimme wahr, dass der Raum, in dem wir uns jetzt befanden, mit Stühlen und Tischen, auf denen vermutlich Tischdecken aus Stoff lagen, ausgestattet sein musste.

„Angst habe ich keine, falls du das meinst. Aber ich bin unendlich neugierig darauf, zu erfahren, wo du mich hingeführt hast und was das hier für ein Raum ist. Außerdem hoffe ich, dass wir bald bei Alena eintreffen. Ohne das Telefonat, das sie mit mir geführt hatte, hätte ich mich nämlich gar nicht darauf eingelassen, so tief in die Schattenglut vorzudringen.“

„Hat Maike dich so erschreckt?“

„Kannst du hellsehen, Yasu?“

„Ja, hell und dunkel, schwarz und weiß, alle Farben der Welt, so schillernd wie sie ist, aber ich mag trotzdem kein Licht.“

„Warum weichst du mir mit der Antwort auf meine Frage so aus, Yasu?“

„Sie ist dir doch gar nicht ausgewichen, Ronja!“, Alenas Stimme klang sehr mächtig und flutete den großen Saal mit einer unglaublichen Energie. Es hörte sich fast so an, als spräche sie, gerade als Orakel.

„Ohh Alena, wie schön, dich zu hören“, mit diesen Worten löste ich mich von Yasu und drehte mich in die Richtung, aus der mich Alenas wundervolle Stimme, die in echt noch viel eindrucksvoller als am Telefon klang, gerade angesprochen hatte. Zwischen Alena und mir stand nur noch ein großer, runder Tisch. Dass er da war, hatte ich gehört, das Tischtuch, das ihn bedeckte, war schon am Klang des Echos erahnt, und dass er groß und rund sein musste, war schnell ertastet. Kurz bevor ich losstürmen konnte, um Alena zur Begrüßung zu umarmen, umgriff mich die kleine Yasu zärtlich um meine Taille und hielt mich mit ihrer liebenswerten Art vorsichtig zurück.

„Hey Yasu, was soll das?“

„Setze dich bitte dort, wo du stehst, mit uns an den Tisch, du stehst schon genau vor deinem Stuhl, Ronja“, antwortete schon wieder Alena. In ihrer Stimme lag zwar Freundlichkeit und Zuneigung, aber, dass sie zwischen uns mehr Distanz als ich wahren wollte, machte sie mit diesem einen Satz mehr als unmissverständlich klar. Wie aufgefordert nahm ich Platz. Schließlich war ich hier zu Gast und wusste, was sich gehörte. Rechts von mir wurde ein Stuhl gerückt. Kurz darauf spürte ich zuerst die Wärme von Yasus kleinem Körper und einen Augenblick später auch wieder ihre zarte Hand auf meinem Unterarm, der vor mir auf der Tischdecke lag.

 

Nebeltraum

Mara

 

Alles eiskalt, kein Streicheln mehr von Wolkenfetzen auf der Haut. Der Nebel war mittlerweile unbeschreiblich dicht, kalt und gierig geworden. Seine Farbe veränderte sich noch kurz zu einem warmen Grau, das weder blendete noch hell oder dunkel erschien. Dann verflüssigte er sich zu einem Brei. Klebrig zäh war das farblose Nichts, in dem alles Licht des Lebens, das die armen Seelen hier umgab, ertrank. Diese Welt war weder hell noch dunkel, nicht schwarz oder weiß, und sie sah auch nicht nach irgendetwas aus. Der lichtlose Brei fühlte sich ähnlich dumpf wie taubes Blei an, das Licht fraß und Erinnerungen an farbige Bilder, solange verblassen ließ, bis sich alles Visuelle restlos im Nichts der Unendlichkeit verloren hatte. Von meiner Freundin Ronja, die ihr Augenlicht im Alter von dreizehn Jahren innerhalb von Sekundenbruchteilen in einem Elektroblitz restlos verloren hatte, wusste ich, wie sich ihre Erblindung für sie anfühlte. Sie beschrieb mir, dass sie wie alle Späterblindeten ganz lange und immer wenn sie wach war nur noch die Farbe Schwarz sah. Aber sie erzählte mir auch, dass sie in der ersten Zeit direkt nach ihrer Erblindung in ihren Träumen noch sehen konnte. Eine Fiktion, die sie sich bei ihr erst mit dem Fortschreiten der Zeit mit dem Verblassen aller visuellen Erinnerungen mehr und mehr verlor. Danach erlebte Ronja schon seit ungefähr zehn Jahren jeden ihrer Tage als eine solche tiefschwarze Nacht. Nur in ihren Träumen konnte sie die Welt in vagen Erinnerungen noch ein bisschen wie damals vor ihrer Erblindung durch die Augen einer sehenden Heranwachsenden deuten. Sich an den schillernden Farben der Natur und des Lebens mehr schmerzlich als zufrieden erfreuen zu können, war eine Gabe um die ich sie manchmal sogar ein bisschen beneidete. Außer manchmal, wenn sie von dieser für sie allgegenwärtigen tiefen Schwärze träumte, die sie vermutlich auch ihr ganzes restliches Leben lang weiter so begleiten würde. Aber in ihren Träumen konnte sie auch Dinge, die sie in der Gegenwart erlebt hatte, plötzlich doch wieder gestochen scharf in farbigen Bildern sehen. Das gerade Erlebte wiederholte sich für Ronja, obwohl sie inzwischen genauso blind wie das kleine Mädchen war, nachts noch einmal wie in einem 360°-Kino. Dann fühlte sie sich im Zentrum dieser Kuppel wie in einer Filmrevue, umgeben von bunt bewegten Bildern ihrer Fantasie. Aber wenn wir tagsüber zusammen loszogen, war meine Freundin im Gegensatz zu mir eine unverbesserliche Schwarzseherin, die oft den Mut verlor und aus meiner Sicht schon wegen der geringsten Kleinigkeiten unsicher wurde. Das ständige Schwarzsehen meiner Freundin lag vermutlich daran, dass Ronja, genauso wie dem kleinen Mädchen, dem gerade das letzte Auge entfernt worden war, nach dem Ausbrennen ihrer Pupillen und der Vernarbung ihrer verstümmelten Augäpfel auch kein Sehrest mehr verblieben war. Im Gegensatz zu Ronja konnte aus dem kleinen Mädchen aber nie eine Schwarzseherin werden. Ganz im Gegenteil. Das kleine Mädchen würde schnell lernen, sich in einem nicht nur farblosen, sondern in einem unsichtbaren, weil völlig lichtlosen Nebel, glücklich zu entwickeln. Spätestens, wenn das kleine Mädchen im Verlauf seiner weiteren Entwicklung richtig denken gelernt hatte, würde es sich an nichts als dieses sie lichtlos umgebende indifferente Nichts erinnern. Ein Nichts, das es immer und überall hin begleiten würde, ohne es jemals schwarzsehen zu lassen. Ein Nichts, das es nicht anders kennen würde und in dem es sich viel besser orientieren könnte, als Sehende sich das je vorstellen könnten. Die süße Kleine würde deshalb auch ohne ihre eigenen Augen nie so schwarz wie Ronja sehen. Ihr kleines Gehirn war nämlich, als sie ihr letztes Auge verlor, noch viel zu jung, um noch rechtzeitig den Unterschied zwischen schwarz oder weiß und hell oder dunkel sowie die Vielfalt von Farben erlernen und visuell abspeichern zu können.

„Sie wird aussehen wie ein Monster und ihr ganzes Leben lang nur gehänselt und gemobbt werden“, erwiderte mir Alex. Aber seine Stimme klang irgendwie unwirklich dünn und fern, als verlöre sie sich in diesem Moment in dem sich plötzlich doch schon wieder aufklarenden Nebel.

„Nein, sie wird kein Monster sein. Sie wird hübsche Augenprothesen aus Glas oder Acryl bekommen und damit nicht weniger glücklich leben als jeder sehende Mensch“, schrie ich ihn hysterisch an.

„Vielleicht lebt sie mit ihren künstlichen Augen sogar noch viel glücklicher als du, Alex. Woher willst du denn überhaupt wissen, ob sie das Sehen jemals vermissen würde, wenn sie es doch gar nicht kennt. Du redest wie alle, die nicht aus eigener Erfahrung wissen, wie es sich anfühlt, wenn man dem Tod von der Schippe gesprungen ist!“, fauchte ich weiter und befreite mich nervös zappelnd aus haarigen Armen, die mich sofort freigaben.

„Mara! Um Gottes willen, was ist denn los mit dir?“ Alex’ Stimme war plötzlich wieder so nah, dass ich seinen Atem riechen konnte. Sie klang kraftvoll und männlich, ganz vertraut und tief. Zuckersüß klang sie in meinen Ohren, obwohl sie trotz der Nähe sehr leise war. Ja, sie war mir vertraut, aber dennoch machte sie mir in diesem Moment etwas Angst, weil sie sich so unnatürlich weit entfernt von mir anhörte. Sie klang dünn und schwach, obwohl sie kraftvolles Volumen hatte. Sie war so schemenhaft, dass ich die besorgten Worte, die Alex zu mir sprach, kaum verstehen konnte. Das fühlte sich alles wie ein fürchterlicher Albtraum an. Lichtlose Wolkenfetzen griffen gelegentlich noch immer wie Häscher nach mir. Sie hielten mich noch so lange gefangen, bis mir aus dem Nebel plötzlich eine kräftige Bö mit einem eiskalten Schwall Wasser wie klatschender Regen mitten auf mein Gesicht platschte.

 

Nebelspiele

Marvin

 

 „Marvin! Leg jetzt endlich dein Handy weg, sonst kommst du noch zu spät zur Schule", sagte meine Mutter strenger als notwendig zu mir, weil es ihr überhaupt nicht gefiel, wenn ihr zehnjähriger Sohn mit, aus ihrer Sicht blutrünstigen, Spielen auf dem Smartphone oder mit dem iPad herumzockte.
„Papa hat gesagt, dass ich darf, und außerdem hat er noch gesagt, dass er richtig stolz auf mich ist, dass ich das schon so gut kann“, maulte ich zurück und zockte schmollend weiter.
Immer nörgelt sie an mir herum, dachte ich …, dabei komme ich in der Schule besser als alle anderen klar und kann als Einziger in unserer Klasse auch schon ganz gut Englisch. Und warum? Nur weil ich so begeistert mit "A blind Legend", das es nur mit englischer Sprachausgabe gibt, zocke … Sie könnte mich ja so wie Papa einfach mal dafür loben, dass ich mit meinen zehn Jahren als Viertklässler schon voll gut auf unserem iPad alle möglichen Sachen machen kann.
„Das wäre das erste Mal, dass ich zu spät komme, Mama …, ich hab noch mehr als genug Zeit“, brummte ich ihr hinterher, während ich mich an den Geräuschen orientierte, die mir über die In-Ears in meinen Ohren ein Bild des Geschehens vermittelten. Das Spiel, in dem ich als Ritter Edward Blake meine entführte Frau retten musste, war gerade ungeheuer spannend, weil ich auf dem Weg zu einer Höhle mit meinem Schild, das ich mit Gesten auf dem Screen des Tablets steuern konnte, dauernd irgendwelche fiesen Pfeile meiner Gegner abwehren musste.
„Du würdest besser lesen üben, Marvin“, sagte meine Mutter und ermahnte mich, nicht zu vergessen, dass ich, bevor ich das Haus verlasse, noch mein Frühstücksgeschirr in den Geschirrspüler räumen sollte.
„Ich kann besser als alle anderen in meiner Klasse lesen …“, blaffte ich zurück und zockte weiter.
„Da bin ich auch froh, aber du weißt genau, dass wir uns jeden Tag aufs Neue beweisen müssen, wenn wir den Anschluss nicht verlieren und weiter ernst genommen werden wollen“, nervte sie mich in einem fort.
„Der Blake ist auch blind, Mama! … und Papa sagt mit Recht, dass es die Verpackung macht. Ohne das Zocken hätte sich mein Englisch nie so gut entwickelt", sagte ich in der Hoffnung, sie mit diesem Argument zur Ruhe zu bringen.
„So ein Blödsinn … als ob Computerspiele gute Bücher ersetzen könnten“, entgegnete sie mir und drängte weiter darauf, dass ich mich sofort für die Schule fertig machte.
„Hast du dein Schulbrot eingepackt, Marvin?“, rief mir meine Mutter gerade noch nach, als ich schon meine Jacke anhatte und im Türrahmen stehend nach meinem Blindenstock griff, der dort immer neben dem meiner Mutter in der gleichen Ecke lehnte.
„Ja, hab ich … Die neue Plastikverpackung, diese Brotbox zum Aufklappen, ist viel besser als das Papier, das wir bis vor kurzem nahmen“, sagte ich und fügte hinzu … „Jetzt verschmiert nichts mehr.“
„Die wiederverwendbare Verpackung ist unser Beitrag zum Klimaschutz", rief sie mir nach und ich freute mich auf das Weiterzocken im Schulbus. An der Haltestelle zog ich meine Jeansjacke, die ich über einem T-Shirt trug, aus und stopfte sie in den Rucksack, aus welchem ich vorher den wohlig weichen Samtpullover herausgenommen hatte, der mir viel besser gefiel, und streifte ihn mir über. Die Verpackung, in die mich meine Mutter gesteckt hatte, passte mir schon lange nicht mehr und sie passte auch noch nie zu mir.

 

***

 

„Ich begrüße sie zu ihrer letzten Vorlesung in angewandter Psychologie vor dem Start in die Praxis."
„In ihr Referendariat!", sagte der Professor und legte eine erste rhetorische Kunstpause ein.
Der Blick des in Fachkreisen bekannten Verhaltenstherapeuten streifte mit wachem Flackern in seinen Augen über die Schar der Studierenden des Audimax. Er ließ ihn geduldig und fast theatralisch über die Köpfe schweifen. Bei Axel, unserem Rollifahrer, verharrte er kurz, bevor er fortfuhr.
„Stellen sie sich doch einmal eine vierte Klasse vor, in der nach den Pfingstferien eine neue Schülerin zur Klassengemeinschaft hinzukommen soll und sie die Klassenlehrerin als Bildungsbegleitende unterstützen sollen“, sagte er, räusperte sich und wartete auf erste Äußerungen aus dem Plenum.
„Ja bitte …“, wandte er sich Maya zu, die sich zur ersten Wortmeldung getraut hatte, und nickte aufmunternd.
„Als Sonderpädagogin würde ich ein Assessment außerhalb des Klassenverbandes vorschlagen, um den erforderlichen Förderbedarf zu ermitteln“, Herr Professor.
„Ahh, schon weitere Wortmeldungen …, sehr schön, … bitte direkt dazu!“, bemerkte die Koryphäe, die bei den meisten Studierenden beliebt war, aber von wenigen für den Stil aus der Modeautorenrolle heraus zu dozieren gefürchtet wurde.
„Eigentlich wollte ich ja den Einsatz neuer Medien ansprechen“, sagte die Kommilitonin von Maya, deren Zungenpiercing beim Sprechen immer markant an ihren Schneidezähnen klirrte. Dass der Ring, den die immer schwarz gekleidete Selbstbewusste durch ihre durchstochene Zungenspitze trug, sie zum Lispeln zwang, schien sie kein bisschen zu stören. Weil sie sich so gab, wie es ihr gefiel, war eher das Gegenteil der Fall. Als bekennende Individualistin hatte sie auch keine Hemmungen, damit anders als andere zu reden und nach Wortmeldungen ihren teilweise unorthodoxen Gedanken voller Genuss freien Lauf zu lassen, was sie dann auch prompt tat.
„Computerspiele kommen in dem Alter besonders gut an und können dabei helfen, Berührungsängste abzubauen sowie Barrieren zu überwinden. Direkt zu Mayas Beitrag hätte ich als Alternativvorschlag noch die Variante, ein Assessment, wenn überhaupt, dann aber nur im Klassenverband in Form von gemeinsamen Spielen stattfinden zu lassen. Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Einzelassessments fossile Überbleibsel längst überholter pädagogischer Erkenntnisse sind. Aus dem Kontext gerissene Arbeitsproben spiegeln leider nur momentane Fähigkeiten wider und lassen zu wenig Raum für soziale Aspekte."
„Eine Präferenz für einen gruppendynamischen Handlungsansatz“, kommentierte der Professor und nickte der Studierenden mit der hexenhaften Ausstrahlung wohlwollend zu.
„Nun wollen wir das Szenario noch etwas konkretisierend erweitern, meine Damen und Herren, und danach sind sie alle dran. Gehen Sie doch bitte ab jetzt davon aus, dass die Klasse schon Erfahrung mit in allgemeinbildenden Schulen zeitgemäß umgesetzter Inklusion hat. Dies könnte zum Beispiel deshalb der Fall sein, weil dort in der ersten Klasse bereits ein blinder Mitschüler in die Klassengemeinschaft mit eingeschult wurde."

„Ja! … sie bitte!", sagte er, begleitet von einer einladenden Handbewegung, und nickte lächelnd einer anderen Studierenden zu.
„Vielleicht könnte der Lehrstoff für die erste Stunde nach Pfingsten barrierefrei und motivierend so verpackt werden, dass die ganze Klasse die Chance bekommt, ihre Grüppchen selbst neu zu ordnen“, sagte Mia. „Das würde es der neuen Schülerin möglicherweise einfacher machen, eigeninitiativ Anschluss an ihre neue Klassengemeinschaft zu finden.“
„Na prima, dann bilden sie doch einfach spontan acht Grüppchen und bereiten bis 11:30 Uhr acht Impulsreferate für unser Plenum vor.“
Noch während der Professor sprach, griff er zu seinem Tablet und entwarf mit dem Beamer stichwortartig acht verschiedene Ausgangssituationen auf der Leinwand.

- Die neue Schülerin hat einen Chromosom-21-Defekt.


- Die neue Schülerin ist nach einem Sportunfall seit fünf Monaten Rollstuhlfahrerin.

- Die neue Schülerin ist seit ihrer Geburt gehörlos.

- Die neue Schülerin ist bedingt durch einen Reitunfall seit einem Jahr gehörlos.

- Die neue Schülerin hat Retinitis pigmentosa, ist schon stark sehbehindert und weiß, dass sie bald ganz erblinden wird.


- Die neue Schülerin kommt aus dem Donbas und hat mit acht Jahren bei einem Bombenangriff auf ihre Schule ein Bein verloren.

- Die neue Schülerin hat Diabetes und muss mit Insulin gespritzt werden.


- Die neue Schülerin hat ADHS.


„Das haben sie zusammen recht ordentlich durchdrungen und auch gut aufbereitet vorgetragen, Kompliment!“, lobte der Professor nach dem Vortrag des letzten Impulsreferates. „Inklusion ist ein Thema, mit dem sich gerade erfahrene Lehrkräfte immer noch sehr schwertun, aber genau das ist für sie, als unser sonderpädagogischer Berufsnachwuchs, auch eine große Chance“, ergänzte er. Ein schneller Blick auf seine klotzige Rolex erinnerte ihn daran, dass sich seine Studierenden wohl schon recht hungrig auf das Essen in der Mensa freuten.
„Gibt es denn noch Fragen?“, wandte er sich zum Abschluss noch einmal an das Plenum.
„ … bitte!"

„Ist es wirklich so, dass Geburtstaube, selbst wenn sie gut sehen und lesen können, den Sinn des Gelesenen oft nicht verstehen können? Selbst dann nicht, wenn wir ihnen den Lernstoff gut aufschreiben?", fragte Lina. Nachdem die fragende Studierende ein behindertes Kind bekommen hatte, war sie nach ihrem ersten Studienabschluss in einem naturwissenschaftlichen Studium erst vor Kurzem in die Fakultät Sonderpädagogik übergewechselt.
„Ja natürlich, deshalb habe ich diesen Aspekt ja in ihre Arbeitsaufträge gepackt. Eine wirklich gute Frage, zum Abschluss, Frau …?", lobte der Professor.

„Weber, Herr Professor, Lina Weber“, sagte die Studierende, während der Lehrstuhlinhaber ihre Mitstudierenden zu weiteren Erklärungen zu dem Thema ihrer Frage motivierte. Die Studierenden unterhielten sich danach noch über die Irreversibilität von Sinnen, die im Gehirn wegen fehlender Reize in der sensiblen Phase immer wieder entwicklungsbedingt abhandenkommen.

„Ah, deshalb auch die Cochlea-Implantate bei Babys“, staunte Lina Weber. Dass die sensible Phase dafür ursächlich ist, dass Geburtstaube in den meisten Fällen nur minimale Lesekompetenz erlangen können und aus dem gleichen Grund Farben für alle von Geburt an Blinde nur als auswendig gelernte Vokabeln existieren, war ihr neu.

„Zum Abschluss wünsche ich ihnen allen ein spannendes und ausgefülltes Berufsleben als Pädagogen, das sie hoffentlich immer mit viel Freude an ihrer Berufung erleben“, begann er dann mit dem Abspann.

„In der Lehre können wir sie, was die Theorie angeht, nur auf die Vielfältigkeit, die das Leben bietet, vorbereiten. Aber auch wenn die Motorik nur eingeschränkt funktioniert, einzelne Sinne fehlen oder verloren gingen, wissen die meisten Betroffenen selbst am besten, wie sie ihnen effektiv helfen können. Scheuen sie sich nicht davor, auch Kinder mit geistigen Beeinträchtigungen in den Klassenverband zu integrieren und die Gesamtheit ihrer Schüler im Umgang miteinander in Toleranz und Respekt zu fördern. Wir Pädagogen sollten uns als Verpackungskünstler verstehen, die die Kunst beherrschen, nicht nur den Lehrstoff zielgruppengerecht zu verpacken. Es kommt eigentlich nur darauf an, alles, was wichtig ist, so zu verpacken, dass Wesentliches für alle Lernenden an Schulen ähnlich gut und intensiv wahrnehmbar ist, Interesse weckt und mit Spannung genussvoll aufgenommen werden will. Lassen sie sich einfach darauf ein und gehen sie respektvoll mit der kulturellen Vielfalt um, die wir in Deutschland als Willkommenskultur sozial und politisch pflegen dürfen. Gehen sie mit diesem Pfund unserer Gesellschaft stets engagiert und verantwortungsvoll um. Wenn sie das so tun, erleben sie jeden Schultag wie einen Urlaubstag in der weiten Welt. Die Inklusion ist eine Art Kulturgut unserer Gesellschaft. In diesem Sinne wünsche ich ihnen allen viel Erfolg bei ihrem ersten Staatsexamen", sagte der Professor und schloss die Vorlesung mit diesem sehr ernst gemeinten letzten Appell an seine Studierenden ab.

  

***

 

„Guten Morgen, ihr Lieben“, sagte Frau Schulze, die Deutschlehrerin, die, wie ich aus dem Raunen der Klasse heraushören konnte, mit einem recht großen, aber schüchtern wirkenden Mädchen an ihrer Hand unser Klassenzimmer betreten hatte. Matze, der schon zwölf Jahre alt und auch schon einmal sitzengeblieben war, prahlte immer gern vorlaut herum, um sich so bei Sonja, seiner Banknachbarin, einzuschmeicheln. Seit er mitbekommen hatte, dass ich als Mädchen, das sich im Körper eines Jungen total falsch verpackt fühlte, etwas anders als die anderen war, ließ er keine Gelegenheit mehr aus, um gegen mich zu stänkern. Aber als Informationsquelle für Dinge, die sich im Raum abspielten, leistete er mir hin und wieder ganz gute Dienste. Dass er mit Sonja, die ein verwöhntes, selbstverliebtes Püppchen war, über die langen schwarzen Haare der Neuen und darüber, dass sie auch schon richtige Möpse hätte, tuschelte, fand ich widerlich. Möpse klang so respektlos wie der ganze Kerl, das passte zu ihm. Aber dass die Neue schöne lange Haare zu haben schien, gefiel mir und ich war froh, es auch mitbekommen zu haben. Auch, dass Frau Schulze heute etwas Besonderes mit uns vorhatte, wusste ich schon, bevor das erste Wort von ihr gefallen war. Das hörte ich daran, wie das Abstellen der vollgepackten großen Einkaufstasche klang, die sie wohl am langen Arm mit ihrer anderen Hand zu uns hereingetragen hatte.

„Das ist Mila, sie wird bis zu den Sommerferien, nach denen ihr alle in neue weiterführende Schulen kommt, zu uns gehören“, sagte Frau Schulze. Zeitgleich forderte sie Mila, der sie ihren Platz auf dem Stuhl hinter dem Lehrerpult zugewiesen hatte, dazu auf, sich zu setzen und sich ihrer neuen Klassengemeinschaft selbst kurz vorzustellen.

„Hallo, … ja, hmm …, also ich bin die Mila. Meine Familie und ich kommen eigentlich aus Albanien, aber ich bin fast ganz hier aufgewachsen", sagte die Neue mit zittriger Stimme, die ihre Unsicherheit für alle sofort erkennen ließ.

„Noch 'ne Blindschleiche, aber wenigstens mal 'ne richtig Hübsche und nicht so’n Zwitter wie der Marvin“, raunte Matze seiner Banknachbarin gerade so halblaut in deren Ohr, dass nur Frau Schulze und vielleicht auch Mila nicht verstehen konnten, was ihm gerade wieder Fieses eingefallen war. Frau Schulze räumte indes ihre Tasche aus und verteilte, ohne sich in das Gespräch einzumischen, eine Menge Dinge, die sie aus ihrer Tasche hervorbrachte, auf dem leeren Pult vor Mila.

„Schön, dass du zu uns kommst, Mila. Ich heiße Mara und wurde schon bevor ich denken lernte vollblind. Aber seit heute bin ich wohl nicht mehr alleine unter den anderen Sehenden hier. Gemeinsamkeiten verbinden vielleicht, oder? Das könnte sogar der Anfang einer neuen Freundschaft werden und … wir könnten, wenn du magst, auch zusammen lernen. Kannst du Braille?", fragte ich sie nach meiner Gesprächseröffnung, die mehr als Ablenkungsmanöver gedacht war, und ignorierte Matze so wie immer, wenn er mal wieder aus der Rolle gefallen war.

„Klar kann ich Braille, aber ich kann auch noch ein bisschen was sehen“, antwortete Mila schon lockerer und zeigte sich froh darüber, dass ihr eine Mitschülerin als goldene Brücke den Ansatz zu einem Dialog ermöglicht hatte.
„Danke, Marvin und Mila, sagte Frau Schulze. „Hier vorne seht ihr eine Menge Sachen, die ich euch heute mitgebracht habe. Aber bevor wir uns darüber unterhalten, warum die hier liegen, solltet ihr sie erstmal benennen, damit Marvin sich auch ein Bild davon machen kann. Mila, schau dir gern auch mit an, was alles vor dir liegt, du darfst dich gleich beteiligen und das Gespräch mit deinen Beobachtungen bereichern", sagte Frau Schulze und motivierte den Rest ihrer Klasse so auf besonders herzliche Art geschickt dazu, sich auch mit einzubringen.
„Eine Schere“, sagte Mila sofort, nachdem sie den ersten Gegenstand, den sie kannte, ganz schnell vor sich auf dem Tisch entdeckt hatte. Danach ging blitzschnell alles wild durcheinander.
Prittstift, Tacker, Pappe, Knete, Bindfaden und vieles mehr, hallten die von der Klasse herausgehauenen Worte durch das Klassenzimmer.
„Hey, hey, ist ja gut, ich glaube, das reicht schon und Marvin kann sich die Sachen hier vorne auch gleich noch selbst genauer mit ansehen. Aber bevor hier jetzt gleich alle durcheinanderlaufen, möchte ich mit euch noch klären, warum ich das alles mitgebracht habe und was ihr denkt, was ihr damit zusammen machen sollt?", sagte die Deutschlehrerin und brachte so wieder etwas Ruhe in die Klasse.
„Bastelstunde“, brummte Matze gelangweilt. „Sind wir jetzt wieder im Kindergarten, oder was?“ Sonja kicherte dazu schrill und affektiert. Weder Frau Schulze noch irgendjemand sonst aus der Klasse reagierten auf die destruktiven Zwischenrufe, und einen Augenblick später schmollte Sonja. Urplötzlich hatte sie den spärlichen Rest ihrer eh seltenen guten Laune verloren.
„Etwas verpacken?“, fragte ein Junge, dem das Lernen nie leicht fiel, vorsichtig.
„Ja, genau“, piepste die mollige Laura, die nach mir die zweite Klassenbeste war und wegen ihrer Rundungen auch häufig von Matze und den anderen angehenden Proleten, die sich gern um ihn und die zickige Sonja scharten, angepöbelt wurde. „Bestimmt sollen wir uns etwas einfallen lassen, um für Mila Willkommensgeschenke zu basteln, und wenn wir damit fertig sind, können wir sie, bevor wir sie ihr schenken, sogar noch schön verpacken.“
„Das ging ja schnell und genau das dürft ihr jetzt gleich zusammen machen, wobei ihr nur Sachen machen dürft, die nützlich sind oder jemandem besondere Freuden bereiten. Dafür habt ihr dann jetzt bis um 9:00 Uhr gar nicht mehr so viel Zeit und vergesst nicht, dass ihr, wie Laura richtig bemerkt hat, auch noch eine schöne Verpackung für euer Geschenk braucht", sagte Frau Schulze mit einem Lächeln und wollte der Meute gerade schon grünes Licht zur Selbstverwirklichung geben.

„Frau Schulze, eine Frage noch …“, meldete sich Matti, der zu den fitteren Jungs gehörte und auch zu mir gelegentlich ganz nett war. Aber auch Matti, konnte mit mir nicht viel anfangen und ich mit ihm auch nicht, weil Mädchen in meinem Alter eher beste Freundinnen haben, anstatt sich mit einem der langweiligen Jungs einzulassen.
Eine beste Freundin, eine zum Pferde stehlen und zocken, dachte ich, das wär’s. Aber meine Spiele könnte hier auch dann, wenn ich keine Außenseiterrolle hätte, gar niemand von denen mit mir spielen. Sie können nämlich alle nicht richtig hinhören und würden als Drake schon im ersten Level meines tollen Spiels im Hagel der gegnerischen Pfeile allesamt hilflos sterben. Aber Mila, die kann es bestimmt …

„Ja, Matti?“, hörte ich Frau Schulze den Jungen, der sich noch mit einer Frage gemeldet hatte, aufrufen.

„Dürfen wir auch etwas zusammen machen, also ein richtig großes Geschenk von mehreren von uns?"

„Klar, Matti, Gruppenarbeiten sind natürlich auch erlaubt. Und jetzt noch kurz Marvin, der sich gerade auch noch einmal gemeldet hat, und danach dürft ihr anfangen“, sagte Frau Schulze.

„Mir ist da gerade etwas sehr Nützliches für Mila eingefallen, das ich ihr sehr gerne schenken würde, aber es ist schon fertig. Die Verpackung, die ich dafür brauche, ist aber etwas aufwändig. Geht das auch?", fragte ich.

„Klar, Marvin, wenn die Verpackung so viel Zeit in Anspruch nimmt, wie du sagst, geht das auch, nur faul herumhängen, das geht gar nicht. Aber jetzt an die Arbeit, eure Zeit läuft", sagte Frau Schulze und zog sich in den hinteren Teil unseres Klassenzimmers zurück. In Windeseile zog ich meinen großen Braillerahmen aus meiner Tasche, spannte einen Bogen Schreibkarton ein und fing, während ich dem Gemurmel aus Mattis’ Ecke entnahm, dass der größte Teil der Klasse dabei war, für Mila ein taktiles "Schiffe versenken" zu basteln, sofort zu schreiben an. Als ich kurz darauf vernahm, dass Matze und Sonja sich der Knete angenommen hatten, schwante mir schon nichts Gutes, aber das war mir egal.

„Kannst du uns auch was für Mila schreiben, Marvin?“, hörte ich Laura, die sich bei mir angeschlichen hatte, kurz darauf in mein Ohr flüstern. „Wir brauchen für unser Spiel ein paar Beschriftungen von dir.“

„Tut mir leid, ich hab keine Zeit, aber frag doch Mila, die kann das so gut wie ich“, bat ich sie um Verständnis für meine Absage.

„Aber es soll doch eine Überraschung werden“, piepste Laura enttäuscht.

„Fragt sie trotzdem und sagt ihr einfach, was ihr von uns für euer Spiel braucht“, gab ich grinsend zurück. „Schiffe versenken ist doch kein Geheimnis.“

„Du weißt es schon?“, sagte Laura total perplex.

„Klar, und wenn ich gehört habe, was ihr vorhabt, ist es Mila bestimmt auch nicht entgangen“, sagte ich und grinste Laura entwaffnend an.

Nur Sekunden später stob Frau Schulze wutschnaubend wie ein geölter Blitz durch das Klassenzimmer, entriss Matze die Knete, ballte sie zusammen und warf sie Sonja mit einem dumpfen Geräusch dicht vor deren Füße auf den Fußboden. Laut schimpfend schleifte sie die beiden aus dem Raum, warf krachend die Zimmertür hinter sich und den beiden Übeltätern ins Schloss und ließ uns mit Mila ohne ein erklärendes Wort allein im Klassenzimmer zurück.

„Was ist denn los?“, fragte Mila, die der plötzliche Tumult zu Tode erschreckt hatte.

„Ach nichts“, sagte Matti. „Aber wir brauchen hier unbedingt Deine Hilfe, Mila. Darf dich Laura holen kommen?“

 

***

 

„Kommt ihr nicht mit raus?", fragte ich, nachdem ich nach dem Läuten der Pausenglocke mit meinem Stock an Mattis’ Tisch angekommen war. Inzwischen war dort der Rest unserer Klasse mit Mila mit der Beschriftung des schachbrettähnlichen Spielfelds beschäftigt und zum Glück waren sie auch noch nicht fertig. Gleich darauf hörte ich das Rücken von Stühlen und das Rascheln von Jacken und bemerkte, dass Mila mit Lauras Arm schon so gut wie ich mit meinem Stock versorgt war. Unauffällig hielt ich mich im Hintergrund und ließ alle bis auf Matti, ohne Aufsehen zu erregen, vorausgehen, aber Matti hielt ich dezent zurück.
„Haben Sonja und Matze etwa das geknetet, was ich vermute? Einen Pimmel?“, fragte ich ihn so leise, dass es außer Matti niemand hören konnte.
„Dir entgeht wirklich nichts …“, gluckste Matti, der sich offensichtlich fremdschämte.
„Weiß es Mila auch schon?“, bohrte ich nach.
„Von mir wird sie es bestimmt nicht erfahren“, brummte er gequält. „Was schreibst du ihr eigentlich?“
„Eine Spielanleitung für 'A blind Legend'“, sagte ich beiläufig und ergänzte: „Wenn sie dich fragt, musst du’s ihr sagen …“
„Spinnst du?“, zischte Matti mich entsetzt an. „Sie ist ein Mädchen. Was hab ich denn mit dem ollen Pimmel mit so dicken Eiern dran zu tun. Ich bin doch nicht wie der Matze, der Depp."
„Dann sag halt Penis, aber diskriminiere sie nicht“, beschwor ich Matti besorgt.
„Sag du’s ihr doch“, stotterte er und ergänzte hilflos: „So irgendwie von Frau zu Frau vielleicht, ich weiß ja auch nicht …, und diskriminieren will ich sie ja auch gar nicht. Ich kann ja einfach sagen, dass ich halt auch nichts gesehen hab.“
„Wenn sie mich fragt, sag ich’s, und wenn sie jemand anderen fragt, muss jeder von uns für sich da selbst irgendwie durch. Nur kneifen geht in diesem Fall überhaupt nicht, weil jeder, der ihr was verschweigt, sie damit, nur weil sie blind ist, voll im Regen stehen lässt. Oder was glaubst du, wie sich das anfühlt, wenn der Kopf klar ist, aber manchmal halt ein bisschen Futter von anderen Augen braucht? Wenn das keine Diskriminierung ist, was ist es dann? Das ist Ausgrenzung und sonst nichts", schalt ich Matti, mehr als ich das wollte.
„Oder Frau Schulze macht was, Mara …“, sagte Matti mit einer Stimme, die sich so anhörte, als ob er während des Sprechens einen Kloß im Hals hätte. Er war sichtlich erleichtert, als wir bei dem Rest unserer Clique angekommen waren und ich Mila am Ärmel zupfte, um ihr mein auditives Abenteuerspiel auf meinem iPhone zu zeigen. Dass er mich, als ich so in Rage und er so unter Druck war, Mara genannt hatte, machte vieles wieder gut. Das kam bei Matti nämlich plötzlich voll ehrlich von ganz tief innen und fühlte sich für mich mega gut nach einer Form von Wertschätzung an, die ich vorher so noch von niemand in meiner Klasse erlebt hatte.

Wenn doch nur meine Mutter auch endlich einsehen würde, dass ich ihr Mädchen bin und noch nie ihr Junge war.

„Hier Mila, im Spiel bist du der Ritter Edward Blake, der genauso wie wir blind ist und zusammen mit seiner sehenden Tochter seine entführte Frau retten will. Du brauchst beide In-Ears, um dich in dem Spiel zu orientieren. Achte genau auf die Stimme deiner Tochter, sie ist meistens irgendwo vor dir, und wenn du gut aufpasst, kannst du dich an ihren Geräuschen prima orientieren. Auf das Zischen der Bogensehnen musst du selbst aufpassen und heranfliegende Pfeile kannst du hier auf dem Bildschirm mit Wischgesten mit deinem Schild abwehren. Bist du so weit?“, fragte ich und startete kurz danach Milas erstes Spiel. Das, was ich ohne In-Ears hörte, reichte mir, weil ich das Spiel schon gut kannte, auch ohne Raumklang gut genug, um Mila bei ihren ersten Versuchen zu unterstützen. Wirklich lange war das aber nicht notwendig, nachdem sie schnell herausgefunden hatte, wie sie mit den Gesten herannahende feindliche Waffen abwehren konnte. Matti durfte auch noch kurz, aber nach dem dritten Anlauf rettete ihm die Pausenklingel gerade noch rechtzeitig sein letztes Leben.

 

***

 

„Ich wusste, dass ich mich auf euch verlassen kann“, lobte uns Frau Schulze mit matter Stimme. Es war schon kurz vor elf Uhr, als sie wieder zurück zu uns in die Klasse kam und uns alle beim Schiffe-versenken-Spielen im Kreis sitzend auf dem Boden vorfand. Wir hatten uns in zwei Mannschaften aufgeteilt und Mila und ich befanden uns mit Unterstützung unserer tapferen Kanoniere als rivalisierende Freibeuterinnen in der finalen Schlacht, wobei unsere Begleitschiffe alle schon versenkt waren und unsere Flaggschiffe auch beide schon mächtig Schlagseite hatten.
„Und was ist mit Marvins Geschenk?", fragte Frau Schulze, die noch neugierig auf die von mir angekündigte Verpackung war.

 

***

 

„Die Seeschlacht war im Nu vergessen, als Mila zum zweiten Mal an diesem Tag Tränchen der Freude aus ihren Augen quollen, während sie Frau Schulze auf hocherhobenen Händen eine filigrane Papierblume entgegenstreckte. Sie schien sich für Mila so zart wie ein dort gelandeter Schmetterling anzufühlen. Vorsichtig teilte Frau Schulze die mit zarten, fast unsichtbaren Punkten übersäten Blütenblätter und sah im Inneren der Blume Marvins In-Ears wie blasse Stempel aus einer geöffneten Tulpenknospe heraus leuchten. Die Verpackung bestand aus mit Wasserfarbe gelb und blau, entsprechend den Farben der Ukraine, eingefärbten Kartonbögen, die alle mit Braille beschriftet waren. Die Verpackung erinnerte an eine aus der Ukraine stammende Babuschka, wobei die weiblichen Figuren dort etymologisch für die Mütterlichkeit stehen und die männlichen Figuren der Symbolik der Kriegstauglichkeit gerecht werden sollen.
„Die In-Ears braucht Mila für das Spiel, das Mara ihr geschenkt hat. Es ist ein auditives Abenteuerspiel, das leider nicht barrierefrei ist. Ohne Hilfe der beiden hätte ich in der Pause um ein Haar innerhalb weniger Sekunden mein letztes Leben verloren", sprudelten die Neuigkeiten aus Matti nur so heraus. „Selbst die Tipps, die Mara Mila für die Bewältigung der einzelnen Spiellevels auf die wie die Levels verschachtelten Blätter der Verpackung geschrieben hat, können nur Mila und Marvi …, ähh, sorry, Mara lesen.
„Nein, Matti, ich hab Mila nur die In-Ears und die Verpackung, bei der ihr mir alle mit den Farben geholfen habt, geschenkt. Das Spiel gibts im Apple-Store für umme", sagte ich und legte den Arm um Milas Schultern.
„Danke Mara, und danke Frau Schulze, endlich hab ich auch eine allerbeste Freundin“, sagte Mila und wischte sich mit dem Handrücken ihre Tränchen weg.
„Warst du wirklich so einsam, Mila?“, fragte Frau Schulze mit einem stirnrunzelnden Unterton in ihrer Stimme.
„Ich durfte ja nicht mal in die Schule. Der Privatunterricht war zwar inhaltlich auch ganz gut, aber außer meinen Brüdern, die mich überall hinführen und begleiten müssen, kam ja bisher nie jemand so nah wie Mara an mich ran. Meine Brüder sind aber so wie ich in unserer Familie eingebunden und dürfen mich nur dorthin führen, wo meine Eltern das erlauben. Zum Glück ist Mara auch ein Mädchen. Einen Umgang mit Jungs würden mir meine Eltern schon wegen unserer Religion nie erlauben. Oh Gott, wenn die das mit Matze und Sonja wüssten …", sagte Mila und schlug sich besorgt die Hände vor ihr Gesicht.
„Keine Sorge Mila, nach den drei Wochen Schulausschluss kommen die beiden auf eine andere Schule und du passt eh viel besser in meine tolle Klasse", sagte Frau Schulze und verabschiedete sich pünktlich zum Läuten der Schulglocke von ihren Schülern.

 

 

Für iPads kostenlos:

 

https://apps.apple.com/de/app/a-blind-legend/id973483154

 

 

 

Morgenschwindel

Mara

 

„Geht’s wieder, Mara?“, hörte ich Alex mit besorgter Stimme fragen und spürte, wie mir peinlich berührt das Blut in meinen Kopf schoss.

„Ja, Alex, mir geht es wirklich wieder gut. Ich glaube, mir war nur kurz schwarz vor meinen Augen geworden. Der Kreislauf … von der Aufregung vielleicht …", sagte ich schnell und tastete nach meiner Augenbinde. Schnell stellte ich fest, dass diese mir während meiner Ohnmacht zwar schon gelockert worden war, aber dass sie zum Glück noch fest genug an Ort und Stelle saß.

„Wie schwarz geworden vor deinen Augen? Das kommt nur davon, weil du die ganze Zeit so stur Blindekuh spielen wolltest“, hörte ich Alex dann noch etwas beunruhigt, aber dennoch so, als ob nichts Besonderes vorgefallen wäre, antworten. Mit einem Lächeln knuffte ich ihn in seine coolen Rippen und war froh darüber, wieder seinen Körper spüren zu können.

„Komm weiter! Wir müssen doch pünktlich am Set ankommen? Oder hast du jetzt etwa Angst davor, dass mein Kreislauf uns das Finale vermasselt?“, stichelte ich ihn. Von dem Schluck Wasser, den Alex mir, um mich wieder aufzuwecken, in mein Gesicht geschüttet hatte, war außer meiner Augenbinde auch meine Seidenbluse klitschnass geworden. Der dünne Stoff hatte sich im Luftstrom, der aus den Frischluftdüsen in das Wageninnere drang, noch enger über meinen kleinen Brüsten zusammengezogen und ließ mich so frösteln, dass sich meine Brustwarzen fest zusammenzogen und steil aufstellten. Während ich darüber grübelte, ob er doch mehr als ich vermutete von mir mitbekommen haben konnte, spürte ich die Blicke meines Fahrers fast wie zärtliche Berührungen auf meiner Haut. Das passte mir gerade wie gerufen in meinen Plan, weil ihn das, was er gerade von mir sah, prima von dem ablenken könnte, das er nicht von mir sehen sollte. Aber sehr lange konnte das Ganze nicht gedauert haben. Das hörte ich an der Geräuschkulisse, die ich aus den letzten Sekunden, bevor ich zum zweiten Mal weggeklappt war, noch gut in Erinnerung hatte. Ob ich davon ausgehen durfte, dass Alex nur meinen Ausfall mitbekam, aber von meinem Albtraum nichts aufgeschnappt hatte, blieb völlig offen.

„Wenn ich jetzt nur noch wüsste, was ich von dem geträumten Disaster unbewusst ausgeplappert haben könnte, wäre alles in Ordnung und weiterhin in trockenen Tüchern“, grübelte ich. Eigentlich schien ja alles gut zu sein, aber wegen meiner kleinen Trickserei fühlte ich mich im Moment in meiner eigenen Haut einfach nicht so recht wohl.

„Da hast du dich ja richtig dumm, möglicherweise sogar ganz ohne Not in einer für dich schon lange vergessen geglaubten uralten Lüge verstrickt?“, hörte ich meine innere Stimme schadenfroh lästern.

„Na und“, knurrte ich trotzig in mich hinein und wurde richtig zornig auf mich selbst, aber meine innere Stimme war noch nicht fertig mit mir.

„Als ob man mit einer Augenbinde vertuschen kann, dass man mit zwei Glasaugen blind ist. Wenn sie uns damit, als wir klein waren, nicht unser Leben gerettet hätten, wäre jetzt auch Essig mit deinem Alex. So unkompliziert, wie wir in den letzten Jahren damit klarkamen, ist es umso dümmer, unsere Blindheit plötzlich wieder vertuschen zu wollen. Dein Alex hat doch längst kapiert, dass wir selbstbewusst und selbständig unterwegs sind. Natürlich wissen wir beide nicht, wie Sehen wirklich geht, aber für das, was du mit Alex vorhast, nehmen Sehende auch lieber ihre Zungen und streicheln sich dabei zärtlich mit den Händen. Manche machen dafür vorher sogar das Licht im Schlafzimmer aus."

„Für die Wahrheit ist es nie zu spät!“, blaffte ich trotzig und entschlossen in mein Inneres zurück. Oder war es für die Wahrheit doch zu spät? Zumindest, wenn ich davon ausging, dass Alex mich als richtige Blinde abblitzen lassen würde, hatte ich bis jetzt eigentlich doch alles richtig gemacht. Für die Wahrheit war es zwar vielleicht schon zu spät, aber für eine scharfe Nacht mit Alex hatte ich meine Chancen noch nicht alle verspielt. Ich musste nur bei meiner Legende bleiben und Alex mit noch verbundenen Augen abschleppen. Nur damit würde ich ja schon hinreichend verhindern, dass mein Schwindel zu früh aufflog, und deshalb war es ja insoweit immer noch ein guter Plan. Nur meine Augenbinde durfte ich mir nicht zu früh abnehmen lassen, das war alles. Aber das hatte ich ja eh nicht vor. Schließlich wollte ich genau das heute so erleben. Sex wie eine echte Sehende mit verbundenen Augen und nicht als die arme Blinde, die auch mal einen Mann ausprobieren will.

 

Nebelmädchen

Marvin

 

Als ich gerade noch dreizehn Jahre alt war, fühlte ich mich nicht mehr wie ein kleines Mädchen, sondern eher wie eine fast erwachsene, abenteuerlustige Teenagerin. Schon seit ich denken kann, bin ich stockblind, aber das störte mich in diesem Lebensabschnitt, in welchem ich mittlerweile angekommen war, viel weniger, als außenstehende Sehende sich das oft vorstellen konnten. Vielleicht war ich sogar gerade deshalb, weil ich, solange ich denken kann, nie einen Hauch eines Lichtscheins oder einen vagen Schimmer davon sehen konnte, viel neugieriger, abenteuerlustiger und ungeduldiger als andere Mädchen in meinem Alter. Viele dieser mich umgebenden Zicken entwickelten sich grundlos in Watte gepackt deutlich langsamer als ich, da die meisten von ihnen viel behüteter aufwuchsen, als das bei mir früher der Fall gewesen war. Schon als ich noch kleiner war, liebte ich abenteuerliche Verstecke wie dieses, in dem ich mich gerade befand und hellwach nach unbekannten und bekannten Geräuschen lauschte. Kurz darauf hörte ich das leise Knirschen der morschen Stufen unserer alten, staubigen Treppe. Fast im selben Moment, nachdem ich dazu ein zartes Schleifen und Streichen vernommen hatte, streckte ich mein Näschen neugierig unter dem muffelig riechenden Federbett hervor, in das ich mich gemütlich gekuschelt hatte. Die glühende Hitze, die mich umschmeichelte, passte zu der kleinen Höhle, in die ich mich wieder einmal heimlich verkrochen und von der Außenwelt abgeschottet hatte. Die Geräusche, auf die ich schon sehnsüchtig wartete, hatte Mila, meine beste Freundin, verursacht, aber ich wusste schon, bevor ich den ersten Ton hörte, der ihr Kommen gerade angekündigt hatte, dass sie es war. Wir, Mila und ich, hatten heute nämlich etwas ganz Besonderes zusammen vor. Deshalb hatte ich eigentlich schon viel früher mit ihr gerechnet. Aber vorher wollten wir wie immer in den letzten Wochen erst noch ein bisschen zusammen kuscheln.

„Mara?“, hörte ich Mila zu dem Knarzen einer klapprigen Tür leise fragend meinen Namen flüstern. Die Tür trennte unseren Dachboden vom Rest der Wohnung und ich verhielt mich so still wie ein Grab. Fremde hätten mein Verhalten vielleicht so gedeutet, dass ich mich vor Mila verstecken wollte. Aber vor Mila verstecken? … Ich? Nein, ganz bestimmt nicht, dafür gab es wahrlich keinen Grund. Es war nur so, dass wir das, was wir hier schon seit Wochen zusammen taten, vor meiner Mutter geheimhalten wollten. Seit mein Vater uns verlassen hatte, war meine Mutter von Tag zu Tag unerträglicher geworden, was mir aber inzwischen, nachdem ich jetzt Mila hatte, schon wieder total egal war. Mila kannte sich auf unserem Dachboden, der bis zur Decke mit alten, aber total interessanten Sachen vollgestapelt war, mittlerweile genauso gut wie ich aus. Aber zur Sicherheit benutzte sie, genauso wie ich, wenn ich alleine unterwegs war, auch einen Langstock. Im Gegensatz zu mir konnte Mila, die nur gesetzlich blind war, sogar selbst auch noch Licht wahrnehmen. Ich hörte, wie die Kugel, die vorne am Blindenstock meiner Freundin befestigt war, flink von Ritze zu Ritze über die Fugen der staubigen Holzbohlen sprang und mir verriet, dass Mila schnell näher kam. Mila hatte natürlich gar keine Antwort erwartet, weil wir dieses Spiel immer so spielten, wenn wir uns hier heimlich trafen. Schon draußen im Spitzboden staute sich an sonnigen Frühsommertagen wie diesem schnell die Hitze, aber in meiner kleinen Kuschelhöhle war es jetzt sogar schon fast so heiß wie in einer Sauna. Unser Versteck befand sich direkt unter den Dachziegeln hinter einer winzigen Tür, die so klein war, dass Erwachsene sich so gut wie nicht hindurchschlängeln konnten. Für Mila und mich war das heiße, winzige Räumchen weit ab vom Schuss wie geschaffen. In unserer Kuschelhöhle gab es weder einen Lichtschalter noch eine Glühbirne, aber das war uns, weil wir beide blinde Mädchen waren, auch total egal. Wobei es da in unserem Fall doch noch ein anderes ungewöhnliches und vielleicht sogar noch weniger gesellschaftsfähiges Detail als unsere Blindheit gab. Ein kleines Detail, das mich noch von anderen Mädchen unterschied, mit dem nur Mila und ich so unbeschwert klarkommen konnten, weil wir bereits eine Hemmschwelle überwunden hatten, die in der Gesellschaft noch immer von vielen Vorurteilen belastet im Raum stand. Heute wollte ich Mila mit dem schicken Schlüpfer und dem frechen winzigen Oberteil, man hätte auch Dessous zu dem Zeug sagen können, das ich meiner Mutter stibitzt hatte, eine besondere Freude machen. Mila war ungefähr zwei Jahre älter als ich und schon fast sechzehn. Sie hatte sogar schon richtig runde Brüste, die sich zwar noch nicht sehr groß anfühlten, aber im Vergleich zu meinem eher knochigen Oberkörper schön rund und viel weiblicher als meine flache Brust waren. Aber heute hatte ich endlich auch mehr zu bieten. Für die beiden Körbchen hatte ich nämlich selbst extra für diesen Zweck zwei perfekt passende Pölsterchen gehäkelt und das wohl sehr durchsichtige Oberteil damit sorgfältig ausgestopft. Durch die noch geschlossene winzige Tür, die den Durchgang zu unserer heißen Höhle vom Spitzboden abtrennte, hörte ich, dass Mila sich draußen gerade auch schon ihre Kleider abstreifte. Das taten wir wegen der aufgestauten Hitze, die in diesem Separee nicht nur unsere Körper in Wallung brachte, immer so. Wir hatten schnell gemerkt, dass es hier drinnen auf den in dem winzigen Kämmerchen verstauten Matratzen zwischen den vielen alten Kissen, den weichen, seidenen und schön glatten Federbetten sowie den kuscheligen Decken viel zu eng zum Ausziehen war. Schnell war für Mila und mich aus dem Draußen zwischen den vielen alten Sachen Entkleiden eine Art total befreiendes Ritual geworden. Wir genossen es richtig, auf diese Art all das, was uns gerade wieder einmal bedrückte, abzustreifen und hinter uns zu lassen, bevor wir danach aus der Welt der Erwachsenen in meine Kuschelhöhle verschwanden. Hier drinnen froren wir zumindest im Sommer auch nackt nie, wenn wir uns zum Streicheln und Liebkosen in den vielen alten Laken zusammen auf den durchgelegenen Matratzen räkelten, um unsere Körper neu zu entdecken. Mit einem leisen Zirpen der schwachen Scharniere schwang dann endlich die Tür auf und ich spürte den Luftzug, der wie ein Seidentuch verspielt über meine vom frischen Schweiß feucht gewordene Haut fächelte. Während Mila wie meistens sachte auf allen Vieren durch das Bettzeug auf mich zukroch, rappelte ich mich auch auf meine Knie hoch. Gespannt darauf, wie Mila auf meine üppig modellierte Weiblichkeit reagieren würde, richtete ich meinen Oberkörper so hoch auf, wie ich konnte. Zum Glück hatte ich nach oben trotz der schrägen Ziegel ausreichend Platz, mich so zu strecken, dass mein neuer Busen auch voll zur Geltung kommen konnte. Wie eine Statue ragte ich auf und öffnete weit meine Arme, um Mila wild und innig zu umarmen. Danach wollte ich sie noch in der Umklammerung gleich nach hinten umwerfen und mich mit ihr so durch die Kissen rollen. Schließlich wusste ich, dass Mila total darauf stand, wenn es zum Auftakt erst kurz richtig wild abging, bevor wir uns an unseren ganzen Körpern mit zärtlichen Küsschen verwöhnten.

„Huuuiiihh … Mara, wie bist du denn heute drauf, das fühlt sich ja irre krass an. Sag bloß, die haben dich trotz deines Alters schon mal in einen Sexshop hineingelassen? Sag jetzt nicht, dass du da beim Shoppen sogar an dem coolen Zeug, das es so wo geben soll, herumfingern durftest?“, quiekte meine Freundin entzückt auf und genoss es sichtlich, von mir zur Begrüßung gleich richtig doll durchgedreht zu werden.

„Ach was, von wegen Sexshop, ich hab das Zeug unten bei uns in der Wohnung irgendwo ganz hinten zwischen den Sachen meiner Mutter gefunden. Ich hatte einfach mal wieder Lust darauf, neugierig in ihrem Schrank herumzustöbern, und da hab ich das dann entdeckt“, antwortete ich meiner Freundin mit einem schelmischen Grinsen, das sie mir natürlich sofort angehört hatte. Kurz darauf knieten wir uns erregt gegenüber, streichelten einander an unseren Schultern, auf unseren Rücken und an unseren Hüften, bis mir wie so oft in solchen Momenten vor Freude winzige Tränchen über meine Wangen kullerten.
Als Kleinkind schon blind gewesen zu sein, war für mich schon früh kein wirkliches Problem mehr, aber das andere Problem, das ich mit meinem Körper hatte, wurde mit jedem Jahr, das ich älter wurde, immer unerträglicher für mich. Erst seit den letzten paar Wochen, also seit ich mit Mila das erste Mal intimen Kontakt hatte, war alles ganz anders und damit viel besser geworden. Immer dann, wenn wir zueinander so zärtlich wie in diesem Moment waren, war ich ihr unendlich dankbar dafür, dass sie mich gerade auch dann, wenn wir miteinander intim zu Gange waren, weiter als ihre beste Freundin behandelte. Wir knutschten uns dann zuerst immer ganz sanft. Also, genauso wie das viele andere große Lesben auch oft zusammen taten, rieben wir mit kreisenden Hüften unsere Höschen aneinander. Mila hatte dann oft, so wie ich heute auch, unten nur noch ein winziges Nichts an. Das, was ich bei ihr während des über den Stoff-Streichelns tasten konnte, fühlte sich wie ein schicker neuer Tanga-String an und Mila war auch schon ganz feucht vor Erregung.

„Ist das etwa Seide?", fragte ich neugierig, während ich den Stoff, der sich stramm über Milas schönem Venushügel spannte, etwas intensiver rubbelte. Kurz darauf fing Mila dann ebenfalls damit an, mich total schön mit ihrer flachen Hand bei mir zwischen meinen Beinen zu streicheln. Also genauso wie ich es gerade auch bei ihr tat und gab mir dadurch das Gefühl, als ob ich da unten genauso wie sie sei. Das war auch der Grund, warum ich so froh darüber war, dass wir uns vor wenigen Wochen gefunden hatten. Milas Zärtlichkeiten machten es für mich endlich etwas erträglicher, in einem Körper leben zu müssen, der nicht zu meiner Geschlechtsidentität passte. Schon Wochen vorher hatte ich damit begonnen, meine Mutter fast schon anzuflehen, dass sie mich dabei unterstützen müsse, dass ich mich so schnell wie möglich richtig angleichen lassen kann. Aber dann hatte ich schmerzlich einsehen müssen, dass das in Deutschland ein langer Weg war, den ich da noch vor mir hatte. Die Regelungen schienen sogar so zu sein, dass ich mir, wenn ich Pech hatte, bevor ich achtzehn Jahre alt geworden war, nicht mal die beiden verhassten Bällchen wegmachen lassen dürfte. Was dazu führen konnte, dass ich zu allem Elend dann auch noch eine männliche Stimme bekommen würde.

„Dein Kleiner bläst sich ja gerade schon wieder wie ein richtiger kleiner Mann auf“, neckte Mila mich plötzlich total frech. Doch dann fing sie an, mir meinen fest verpackten blöden Zipfel so schön durch das freche Höschen zu rubbeln, dass es sich für mich fast genauso anfühlte, als sei ich da unten auch schon so wie sie gebaut. Deshalb konnte ich ihr auch für ihre neckische Bemerkung nicht wirklich böse sein und schmiegte mich, begleitet von leise hörbaren wohligen Lauten, an ihre weichen Rundungen. Milas nasse Lippchen saugten sich indes, wie ein glitschiges Weinbergschneckchen, an mir fest.

„Voll krass, dass deine Mutter auch so ’n Zeug hat“, sagte Mila und nestelte dabei total neugierig an den Rüschen meiner so aufreizend verpackten künstlichen Brüste herum.

„Weißt du, Mila, meine Mutter war früher eigentlich auch immer für fast alles ganz offen. Deshalb hatte ich ja auch lange voll Glück, dass ich nicht so wie du in Watte gepackt wurde. Den Stress macht sie erst, seit sie kapiert hat, dass ich wirklich ein Mädchen bin, was sie aber trotzdem partout nicht wahrhaben will. So stur wie bei diesem Thema war sie früher nie. Aber von wegen stur, die ist ja inzwischen sogar richtig fies drauf. Stell dir doch nur nochmal vor, was hier los war, als ich sie nur nach einer ganz normalen SRS, die ich mir machen lassen wollte, gefragt hatte. Die unterstützt mich ja nicht mal, wenn es nur darum geht, dass ich mir wenigstens noch rechtzeitig meine Nüsschen wegmachen lassen will, bevor ich auch noch meine schöne weibliche Stimme verlieren muss“, sagte ich. Es tat mir einfach total gut, dass ich mit Mila über all die kleinen, mich so bedrückenden Geheimnisse ganz offen reden konnte. Bei ihr konnte ich mir sicher sein, dass dabei nicht wie bei meiner Mutter die Gefahr bestand, falsch verstanden oder noch schlimmer zum Gegenstand des Schultratsches gemacht zu werden.

„Ganz früher, als klar war, dass sie mir ihr Retinoblastom-Gen vererbt hatte, war sie noch ganz anders als heute drauf. Selbst als es bei mir, so wie bei ihr, als sie noch ganz klein war, dann auch so weit war, dass ich bestrahlt und operiert werden musste, war sie noch tough. Sogar als es dann auch bei mir um die Entfernung meiner beiden Augäpfel ging, hatte sie nicht mal einen Hauch von Stress gemacht. Damals war sie die coolste Mutti, die man sich nur wünschen konnte“, erzählte ich meiner Freundin und sprach gleich weiter.

„Aber heute zickt sie wegen meiner beiden Hoden rum, die mich viel mehr belasten, als das meine zwei verkrebsten Augen je getan hatten. Warum sind denn Potatos auf einmal nicht mehr nur Potatos für dich?", hatte ich sie ganz zornig angegiftet, aber selbst da hat sie voll weiter gekniffen“, sagte ich, bevor mich Mila unterbrach.

„Potatos? Wie kommst du denn jetzt auf Kartoffeln?", fragte mich Mila erstaunt.

„Ach so, die Potatos, das ist in Amerika so ein alternativer Begriff für Eyeballs, also so wie hier bei uns das Wort Augäpfel. So hatte mein Dad während unseres Urlaubs in Miami den Amerikanern, nachdem manche gefragt hatten, warum seine Frau und seine Tochter blind sind, immer ganz einfach unsere Enus, also die bei uns medizinisch indizierte Entfernung unserer Augäpfel, unsere Enukleationen, erklärt.

„They had both to have their potatoes completely removed because of eye cancer“, sagte er dann einfach ganz cool und danach war alles klar. Die Amerikaner sind da viel pragmatischer als wir, die wollen halt einfach nur wissen, was Sache ist, und dann ist auch schon gut.

„Aber egal, meine Mutter hat auch, obwohl sie hätte wissen müssen, was ich mit Potatos wirklich gemeint hatte, nichts kapiert. Sie wollte einfach nicht verstehen, dass ein Mädchen, das Hoden hat, es halt einfach nicht mehr abwarten will, bis diese blöden Testosteronkartoffeln endlich weggemacht werden“, sagte ich zu Mila und ergänzte, dass ich meine Mutter nur deshalb so frustriert mit diesem Vergleich angeschrien hatte, weil ich merkte, dass ich bei ihr mal wieder auf Granit biss. In Gesprächen mit meinem Vater verhielt sie sich, was dieses Thema anging, übrigens genauso stur, berichtete ich meiner Freundin jetzt mehr ratlos und enttäuscht als frustriert. Die ständigen Streitereien über ihre Ablehnung einer geschlechtsangleichenden Operation für mich, mit denen sie meinem Vater immer wieder unendlich genervt hatte, nahmen einfach kein Ende mehr. Erst als er uns dann irgendwann, weil es mit ihr wirklich nicht mehr auszuhalten war, verlassen hatte, fingen die Probleme für mich erst richtig an. Ab dem Zeitpunkt, zu dem herauskam, dass ich eigentlich schon seit meiner Geburt ein Mädchen war, kamen meine Mutter und ich miteinander absolut nicht mehr klar.

„Sie hätte doch einfach irgendwann damit aufhören können, dauernd mit mir herumzuzicken. Dass ich aus ihrer Sicht nur wegen meiner blöden Klöten und meines Zipfelchens eben doch ein Junge sein soll, ist einfach unerträglich“, sagte ich zu Mila und kuschelte mich an sie.

„Weißt du, Mila“, fuhr ich noch zärtlicher an meine Freundin gekuschelt fort. „Lange Jahre war mein Vati mit seiner blinden Frau genauso glücklich wie mit mir. Selbst damals, als bei mir wegen dieses fiesen Gens genauso wie bei ihr dann auch ganz schnell meine beiden Augen herausgemacht werden mussten, ließ er uns unsere Beeinträchtigungen nie als Problem oder Hemmnis spüren. Der Stress ging wirklich erst los, als sie anfing, stur zu behaupten, dass eine geschlechtsangleichende Operation nichts anderes als die Verstümmelung eines gesunden Körpers sei. Der Streit gipfelte dann in ihrer Behauptung, dass Kastrieren keine gute Option für ihren blinden Sohn sei. Sie wollte einfach nicht wahrhaben, dass ich zu keinem Zeitpunkt ihr Sohn war, weshalb sie sich bis heute total dagegen verweigert, mich als ihre Tochter zu akzeptieren.“

„Hey, komm her, Mara, irgendwann muss auch deine Mami diese Kröte mal schlucken, dass du schon immer ihre Tochter und noch nie ihr Sohn warst. Und selbst wenn nicht, wirst du trotzdem auch irgendwann so eine schöne Pussy wie ich da hingemacht bekommen. Aber mich stört auch dieses freche Zipfelchen, das du da noch hast, kein bisschen. Ich finde es sogar richtig sexy, wie sich dein kleiner weicher Kerl da gerade in ihrem obszönen Höschen angefühlt hat“, sagte Mila kichernd, bevor sie mir mit ihrer Zunge weiter an meinen Kusslippchen herumleckte und mich nochmal neckisch anknabberte.

„Und jetzt? … Hast du auch Lust auf Sachenstöbern?“, fragte ich meine Freundin Mila, die das erste Mal, als wir hier oben mit den alten Sachen gespielt und gemeinsam auf Zeitreise gegangen waren, noch etwas ängstlich war. Inzwischen hatte Mila schon lange keine Angst mehr davor, unbekannte Dinge, von denen einige richtig rätselhaft waren, mit mir zu erforschen und abenteuerlichen Geheimnissen auf den Grund zu gehen.

„Oh ja, Mara total gern. Vielleicht musst du mir aber auch bei dem einen oder dem anderen, wenn ich nicht mehr weiter weiß, wieder etwas auf die Sprünge helfen. Du kannst dir bestimmt überhaupt nicht vorstellen, wie es mich wurmt, dass ich so viele Sachen, die du alle schon kennst, noch nie anfassen durfte. Die vielen Sehenden bei uns zu Hause denken halt oft, dass ich Tollpatsch mich immer an allem, was eine scharfe Kante hat, gleich lebensgefährlich verletzen könnte. Deshalb darf ich bei uns Zuhause ja auch fast nichts machen und schon gar nicht so wie du hier, Mara", antwortete mir Mila und bebte dabei schon vor lauter Neugier und neuer Abenteuerlust.

„Na dann nichts wie raus in das alte Gerümpel, ich weiß auch schon wohin“, kicherte ich, stieß die Tür auf und schlüpfte als Erste von uns aus unserer Kuschelhöhle hinaus auf den Spitzboden zurück. Kurz darauf hörte ich, dass Mila das zirpende Türchen schloss und wieder in ihre Sachen schlüpfte. Ich selbst huschte fast splitternackt, wie ich bis auf meine Dessous noch war, durch einen kleinen Spalt zwischen zwei großen Kartons hindurch auf die andere Seite des staubigen Speichers. Auf meiner verschwitzten Haut hatte sich ein schmieriger Film aus Staub, Resten von Spinnweben und anderen feinen Schmutzpartikeln gebildet. Die muffige Schmiere hielt mich jedoch nicht davon ab, mich mit Mila noch tiefer in das Labyrinth, das sich hier durch das ganze Gerümpel hindurch entwickelt hatte, weiter vorzuarbeiten. Kurz darauf hatte ich auch schon gefunden, was ich hier entdeckt und meiner Mutter geflissentlich verschwiegen hatte.

„Mila, was ist denn, wo bleibst du denn, du alte Schlafmütze?“, raunte ich mit einem etwas lauter aufgeputschten Flüsterton zurück in die Richtung, aus der ich gekommen war.

„Hey, nur weil ich nächste Woche sechzehn Jahre alt werde, brauchst du mich doch nicht schon als Alte zu einer Grufti zu machen“, beklagte sich Mila mit gespielter Entrüstung. Dann schlüpfte auch sie durch den schmalen Spalt zwischen den Kartons, bis sie ebenfalls bei mir ankam.

„Weißt du, was das ist?“, fragte ich sie geheimnisvoll und führte ihre Hand an die Oberfläche einer Art Kommode.

„Hmmm, fühlt sich ein bisschen wie so ein alter Sekretär an. Ob der wohl Geheimfächer hat?“, rätselte Mila und fand dann tastend aber auch gleich die Fassungen für Glühlampen, die wie ein Portal angeordnet waren.

„Wow, ist das ein Lichttor?“, hauchte sie nach einem nachdenklichen Zögern ganz ehrfürchtig, bis ich anfing, schallend zu lachen.

„Ein Lichttor wie im Fantasyroman? Hey, du hast wirklich einen echt krassen Humor, oder dachtest du, dass sich Sehende wirklich so komisches, nutzloses Zeug zur Dekoration ihrer Wohnungen bauen lassen? Zeug, das nur schön aussieht und sonst kein bisschen nützlich für Leute mit funktionierenden Augen ist", und knuffte meine Freundin dazu in ihre Rippen.

 

Augenschmaus

Mara

 

„Weiter zum Set …? Das kommt, so wie du drauf bist, nicht infrage", sagte Alex und steuerte die Stretchlimo auf den nächsten Parkplatz.

„Du stehst nämlich unter einem gefährlichen Schock, Mara, der eine Weiterfahrt unmöglich macht. Komm, nimm meine Hand, ein Glas kaltes Wasser hilft oft Wunder“, fuhr er fort, nachdem er nach dem Parken die Beifahrertür geöffnet hatte, um mich nach hinten in das luxuriöse Fahrgastabteil der Nobelkarosse zu führen.

„Danke, mir ist schon wieder voll gut“, wiegelte ich etwas nervös ab, bis mir einfiel, dass ich die Situation prima für meine Interessen nutzen konnte. Meinen Widerstand aufzugeben und mir ohne weiterzuzicken beim Umsteigen helfen zu lassen, war eine viel bessere Idee. Schon bevor der erste Hauch des Patschuliöls, das meine Nase gemischt mit dem Duft des Gentleman-Parfüms von Givenchy, nach dem Alex schon die ganze Zeit roch, begrüßte, spürte ich ein heißersehntes Kribbeln in meinem Bauch. Der Duft strömte durch die geöffnete Tür aus der coolen Limo heraus und das Interieur roch nach mit weichem Leder bespannten Polstern, die einluden, darauf herumzutollen.

 

***

 

„Sind das Eiswürfel?“, fragte ich voller Begeisterung, als ich hörte, wo und womit Alex herumhantierte, und schob mich an ihm vorbei. Einen Augenblick später hatte ich dann auch schon den Kühlschrank gefunden, der, das wusste ich, in solchen Luxusschlitten selbstverständlich war, und den Champagner konnte ich sofort am Flaschenhals erkennen.
„Schau mal, was ich gefunden habe“, rief ich verzückt und gab Alex einen Schubs, dass er nach hinten umkippte.
„Der schmeckt frisch entkorkt am besten, wenn er nach einer kurzen Dusche aus einem Bauchnabel geschlürft wird, bevor er zu warm dafür geworden ist“, rief ich total aufgedreht und ließ den Korken nach einem lauten „Plopp" durch die Limo knallen.

 

***

 

„Du musst ein Hohlkreuz machen, sonst muss ich wegen deines Waschbrettbauches verdursten und für dich gibt’s dann statt wildem Sex auch nur eingelegte Rippchen", kicherte ich und fädelte Alex über ihm kniend, meine flache Hand zwischen seinen Beinen hindurch bis unter sein Steißbein, wo ich ihn mit meinem Däumchen über seinem nackten Po frech kitzelte. Im Gegensatz zu ihm war ich noch nicht ganz nackt, sondern hatte noch einen halbdurchsichtigen schwarzen String und einen Sport-BH aus dem gleichen Stoff an. Mein Höschen war aber schon so nass, dass ich es auch gleich ausziehen und Alex eine Kostprobe von meinem Schneckchen auf seine Zunge geben wollte. Aber vorher hatte ich noch etwas ganz anderes mit ihm vor und rollte ihn, nachdem es mit dem Sekt aus seinem Nabel dann doch noch geklappt hatte, blitzschnell auf seinen Bauch. Gleich danach streifte ich mir meine Dessous ab und löste den Knoten an meiner Augenbinde, um sie anschließend meiner männlichen Beute anzulegen.

 

***

 

„Hey, was hast Du denn vor?“, kicherte ich, als Alex mir in mein Näschen biss und es mit seiner Zungenspitze so zärtlich umkreiste, dass ich es fast nicht mehr erwarten konnte, seine Zunge an anderer Stelle gleich nochmal so zu genießen. Wir knieten keuchend voreinander und streichelten einander zärtlich unsere Köpfe, leckten uns über unsere Lippen und zogen uns mit den Zähnen vorsichtig an unseren Ohrläppchen. Alex keuchte außer sich vor Begeisterung und ich hatte ihn auf diese Weise, ohne dass er Verdacht schöpfen konnte, auf seine erste erotische Reise in meine Welt mitgenommen. So erschlossen sich unseren Sinnen nicht nur unsere Gesichter, sondern auch tiefere Regionen unserer Körper und wir konnten von Minute zu Minute immer weniger voneinander ablassen. Was für ein prickelnder Augenschmaus, dachte ich mit einem verzückten Grinsen, als ich zum ersten Mal einen lebendig pochenden Männerschwanz total neugierig mit meinen Fingern umfing und machte meiner inneren Stimme eine lange Nase. Meine kleinen Brüste spannten vor Erregung, während sich darauf zwei Warzen hart streckten, um sich lüstern von Alex umzüngeln zu lassen. Sein pochender Luststab glitt wie Ronjas Strap-on zwischen meinen tropfnassen Schamlippen hin und her und ich keuchte vor Freude wie wild.

 

***

 

„Ist das so schön für dich?“, fragte ich unsicher, während meine Zunge Alex’ Eichel so vorsichtig umkreiste, wie sie das sonst mit Ronjas Lustperlchen tat, und ich mich darüber wunderte, dass sein Sperma nach gezuckertem rohem Ei schmeckte. Der Geschmack dieses Mannes betörte mich wie Moschus.

„Und meinem Stängel ging vor dir noch keine Frau so zärtlich wie einer Zuckerstange an den Kragen“, kicherte Alex. Dabei ließ er von oben immer wieder wie aus einem Brausekopf neue Tropfen kühlen Champagner aus dem Hals der Flasche auf unsere Gesichter rieseln.

„Das Abspülen dieser feinherben Säfte und das Sauberlecken fühlt sich ja fast wie eine zweite Orgasmusrunde an“, kicherte ich wieder dicht vor Alex kniend und räkelte mich genüsslich auf seiner sekt-nass-prickelnden Haut um ihn herum. Von hinten erlöste ich ihn von meiner Augenbinde und band sie mir, noch bevor er mir in die Augen sehen konnte, selbst wieder um.

 

Nebelmutter

Marvin

 

„Ein Lichttor muss ja auch gar nicht immer völlig nutzlos sein. Denke doch zum Beispiel nur mal an die vielen aufwändigen Theaterrequisiten, die sich nicht nur hinter den Kulissen von großen Stadttheatern stapeln. Solche Sachen gibt es sicher auch zahlreich auf privaten Dachböden oder in den Kellern von Sammlern, die auch unnütze Dinge als kleine Kunstwerke schätzen. Zwischen dem Gerümpel von Leuten, die Laienspielgruppen angehören, wird man bestimmt auch schnell fündig, wenn man auf so nutzloses Zeug steht“, antwortete Mila und gab sich dabei etwas empört über mein Gelächter, weil sie sich von mir ausgelacht fühlte.

„Außerdem machen Sehende oft auch noch andere nutzlose Sachen, die nur zum Anschauen gut sind. Manche kann man sogar, selbst wenn man das wollte, nicht mal anfassen. Dazu fallen mir gerade Feuerwerke ein, die wie Donner oder Bombenhagel krachen. Feuerwerke sind ja abgesehen davon, dass Sehende sie sich anschauen können, wirklich total nutzlos.

„Sie sind genauso nutzlos wie Kriege“, brummelte Mila, die zeitgleich zu diesem melancholischen Exkurs über den Sinn des skurrilen Möbelstücks weitergrübelte und sich dann schnell wieder darauf besann, kreativ und zuversichtlich weiterzudenken, anstatt ihre Zuversicht in gedanklichen Schreckensszenarien zu begraben.

„Hey Alte, das ist ein Schminktisch, da hinten sind Lampen außen herum und das Glas da, das ist ein Spiegel, in dem Sehende ihr Spiegelbild mit Schminke aufhübschen können. Wollen wir auch mal machen?“, fragte ich voller Begeisterung und wühlte aus den kleinen Schubladen allerhand Schminkutensilien hervor. Die hatte ich natürlich vorher schon bei sehenden Verkäuferinnen bei Rossmann, dm und im Drogeriemarkt Müller alle neu eingekauft. Das alte Zeug, das ich fand, als ich auf das Schränkchen erstmals aufmerksam wurde, war alles total vertrocknet und unbrauchbar geworden.

„Wie, Mara, ist das echt dein Ernst? Du meinst, wir sollen uns jetzt voll auftakeln, so als ob wir ins Theater oder zum Tanzen gehen wollten?“, fragte mich Mila total verunsichert.

„Klar, warum nicht, der Termin bei Toni ist doch erst um vier Uhr, das sind ja noch über zwei Stunden, das reicht doch noch dicke bis dahin“, antwortete ich Mila, die mal wieder total übervorsichtig drauf war. Nur weil Mila und ich dann nachher zusammen alleine zu Toni loswollten, also ohne die Begleitung meiner Mutter, brauchten wir für einen Trip in die Stadt doch nicht viel mehr Wegezeit einplanen, als tatsächlich erforderlich war.

„Und wenn unterwegs doch etwas schiefgeht?“, antwortete mir Mila mit piepsiger Stimme und fuhr fort. „Du hast ja keine Ahnung, was ich für einen Stress hatte, bis die mich überhaupt alleine mit dir losziehen ließen. Wir dürfen das auf keinen Fall vermasseln, sonst darf ich die nächste Zeit bestimmt wieder nur mit Aufpasser raus.“

„Hab dich doch nicht schon wieder so, Mila“, sagte ich, umschlang meine zweifelnde Freundin tröstend mit meinen Armen und zog sie ganz dicht an mich heran. „Du brauchst dir echt keine Sorgen darüber zu machen, dass etwas schiefgeht. Mobilität hab ich voll drauf, ich kann das wirklich. Schau mal, Süße, ich bin sogar schon, bevor ich zehn war, alleine mit den Öffentlichen zu meinem Onkel aufs Land rausgefahren und bis heute bin ich noch nie verloren gegangen. Ich wüsste echt nicht, was da schiefgehen sollte, und außerdem siehst du ja sogar noch was“, sagte ich und merkte etwas zu spät, dass ich einen Satz zu viel geplappert hatte.

„Mag ja sein, dass ich übervorsichtig bin, aber ein bisschen mehr auf Sicherheit zu setzen ist schließlich nicht verboten. Du denkst immer, dass ich mit meinem bisschen Sehrest noch voll den Joker hätte, was aber gar nicht so ist, weil das ja nur noch ein langer schmaler Tunnel ist. Draußen fühle ich mich selbst mit dem Stock schon nach weniger als den ersten fünfmal um fremde Ecken herum wie in der Fremde ausgesetzt. Selbst dann, wenn ich meine Orientierung noch habe, ist das bei mir schon so. Deshalb bin ich halt lieber immer sehr vorsichtig und glaub bloß nicht, dass ich mit meinem bisschen Restsehvermögen wirklich viel weniger als du blind bin.“

„Ach komm, Mila, so war’s doch gar nicht gemeint. Wie blind man ist, ist doch voll egal, solange man da ankommt, wo man hinwill, oder?", und streichelte meine Süße aufmunternd über ihren Nacken. Dann stieß ich mich sanft ab, gab ihr einen Klaps auf ihren süßen Po und wechselte das Thema.

„Oder hast du etwa vor Toni Angst, weil du vorher noch nie Einblick in die Arbeit einer Okularistin nehmen durftest?“, fragte ich Mila, um sie abzulenken. Gerade war mir noch eine neue Idee in den Kopf geschossen, mit der ich sie dann vielleicht doch noch für das Schminken begeistern könnte.

„Ach Quatsch, wieso sollte ich Angst vor einer Augenmacherin haben, solange ich selbst noch keine neuen Augen von ihr für mich brauche. Ganz im Gegenteil, ich bin sogar voll neugierig, weil ich zu Hause immer von allem, was mich aufregen könnte, ferngehalten werde, daran liegt es sicher nicht. Es ist eher umgekehrt, nämlich einfach so, dass ich keinen Bock drauf habe, zu spät zu kommen – ich könnte ja was verpassen", antwortete Mila und knuffte mich dazu freundschaftlich.

„Na siehst du. Aber wenn meine Glasprothesen nach dem Aufpolieren heute Nachmittag wieder so klar wie ganz neue Augen strahlen, würde doch ein besonders hübsches Gesicht in diesem Moment erst recht gut dazu passen. Vor allem jetzt, wo ich oben auch mal was hab“, und legte mir Milas Hände noch einmal ganz stolz auf meinen neuen, prachtvoll aufgepolsterten Busen.

„Sag bloß, du willst nachher mit mir, so wie du jetzt bist, raus unter die Leute gehen?“, fragte mich Mila fast schon entsetzt.

„Hey Mila, nein, natürlich nicht ganz so, ich ziehe mir da schon noch was Schickes drüber, oder dachtest du, ich will gleich peinlich werden, nachdem ich endlich auch mal einen schönen weiblichen Körper haben darf? Du müsstest mir nur noch einen klitzekleinen Gefallen tun.“

„Ach nee, einen Gefallen …?“, antwortete Mila mir spitz. „Na, wenn der nicht etwas mit diesem Arsenal von Schminkzeug, das du hier schon gehortet hast, zu tun hat, fresse ich den berühmten Besen mitsamt der ollen Reinigungskraft.“

„Na komm schon, sei keine Spielverderberin, außerdem ist das doch eh voll ein Heimspiel für dich, weil du ja mega im Vorteil bist mit deinem Tunnelblick. Ich könnte sogar darauf wetten, dass du mit viel Licht, wenn du dich darauf einlässt, sogar selbst bestimmt noch einiges von unserem Schminkergebnis in deinem Spiegelbild entdecken kannst.“ Dabei schielte ich sie mit meinen beiden Glasaugen so provokativ und motivierend an, dass sie fast nicht mehr nein sagen konnte.

„Ich hab sogar extra für dich noch einen Satz ganz starker Spots für in die Fassungen gekauft“, sagte ich und öffnete die große Tür eines klapprigen, windschiefen Schrankes, in dem ich die Starbeleuchtung für meine Freundin Mila versteckt hatte, und wartete dann gespannt auf ihre Reaktion. Aber mit einer so schlagfertigen Antwort von Mila, die sogar mich einen Moment lang sprachlos machte, hätte ich im Entferntesten nicht gerechnet.

„Okay dann machen wir es aber ganz anders. Auf einen Schminkwettbewerb unter Zeitdruck hab ich nämlich immer noch keinen Bock und auch sonst nicht, weil ich mich da draußen nicht als Lolita oder Barbie hervortun will. Aber wenn du willst, mache ich’s gern bei dir als deine Visagistin für dich. Aber ich sag’s nochmal, auch wenn du’s dir nicht vorstellen kannst, dass ich nämlich auch mit einem winzigen Sehrest nicht viel weniger blind bin, als du es bist. Schon deshalb kann ich dir kein gutes Ergebnis garantieren, und hinzukommt, dass ich weder Ahnung vom Schminken noch Übung damit habe. Also ohne Garantie, was dabei herauskommt. Hast du denn keine Angst davor, dass du danach wie ein Clown aussehen könntest, der sich aus einem Zirkus verlaufen hat und nicht mehr zurück nach Hause fand? “

„Ohh Mila, du bist echt ein Schatz!“, rief ich viel zu laut aus und fiel meiner großen Freundin jauchzend vor Freude um ihren Hals.

„Marvin?“, hörten wir einen Moment später die Stimme meiner Mutter, die schon mit schnellen Schritten die knarzende Bodentreppe hinaufkam, die direkt aus unserer Wohnung hier hoch zu meinem Indoor-Abenteuerspielplatz führte. Mila, die ja im Gegensatz zu mir wenigstens schon wieder ordentlich angezogen war, erschrak sich trotzdem fast zu Tode aus Angst davor, dass jetzt alles auffliegen könnte, was wir beide hier oben seit Wochen zusammen heimlich trieben. Im Gegensatz zu ihr blieb ich voll cool und antwortete lieb meiner Mami.

„Ja Mami, ich bin aber nicht alleine hier. Mila ist mit mir hier oben, wir wollten noch ein bisschen in den alten Sachen stöbern, bevor wir nachher zusammen zu Toni gehen“, rief ich ihr ganz entspannt durch die noch geschlossene Tür entgegen.

„Mila ist mit dir alleine hier oben?“, fragte meine Mutter mich etwas ungläubig und sichtlich überrascht, während sie quietschend die alte Bodentür aufdrückte. Dazu musste sie sich mit dem ganzen Gewicht ihres schlanken Körpers gegen die Bretter der alten morschen Tür stemmen, die sich mit einem schrillen Kratzen des Türblatts über die zerfurchten Holzbohlen nur sehr zäh aufschieben ließ.

„Klar, Mami, wir gehen nämlich jetzt richtig zusammen. Deshalb darfst du nämlich auch nicht immer überall dabei sein. Das verstehst du doch sicher, oder?“ Der Verlockung, dass ihr Junge sich plötzlich doch für Mädchen interessierte, würde sie bestimmt nicht widerstehen können, dachte ich mir. Mila und ich hätten dann wenigstens für ein Weilchen nichts mehr vor ihr zu befürchten, leider wäre das nur so, wenn es mir jetzt gelang, sie mit diesem billigen Trick einzufangen.

„Oh Marvin, du hättest mich aber wenigstens mal informieren können, schließlich bin ich deine Mutter …“, hörte ich ihre Stimme sagen, aber auch Mila spürte, dass sie uns stetig näher kam. Sie war gerade dabei, sich durch den Spalt zwischen den großen Kartons zu uns durch die letzte Barriere hindurch zu quetschen. Milas Hände begannen jetzt vor Angst zu zittern, aber dennoch stellte sie sich geistesgegenwärtig so vor mich, dass die tastenden Hände meiner Mutter zuerst sie hätten berühren müssen, bevor sie mich hätten erreichen können. Schweigsam bestärkend streichelte ich Mila so geräuscharm wie möglich beruhigend ihren Rücken. Noch war ich mir total sicher, dass meine Mutter nicht entdecken würde, dass ihr braver Junge fast nackt in ihren alten Dessous, mit zwei schön ausgestopften Brüsten hinter seinem Mädchen stand und sich auf diese Art trickreich vor ihr versteckte. Mami, bleib besser, wo du bist, sonst wirst du noch genauso schmutzig wie Mila und ich. Wir müssen uns jetzt sowieso schon sehr beeilen und noch schnell duschen, wenn wir nicht zu spät zu Toni kommen wollen. Du weißt ja, wie das ist mit der taktischen Wegzeitreserve. Das machst du doch auch immer so, wenn du pünktlich irgendwo ankommen willst, oder? Dann wartete ich wieder ab und hätte vor Freude brüllen können, als ich hörte, dass der eine Kistenstapel, durch den sich meine Mutter gerade hindurchquetschte, genau in diesem Moment kippte und mit lautem Getöse in sich zusammenfiel.

„Aber nur kurz einseifen und abduschen, jeder für sich und nicht gemeinsam in die Wanne, dafür seid ihr nämlich noch nicht alt genug. Und die Tür bleibt die ganze Zeit auf, ich will nämlich hören können, dass ihr nicht doch noch Dummheiten macht. Ist das klar?“, sprudelte meine Mutter laut schimpfend vor sich hin und klopfte sich, während sie wieder in Richtung der Bodentreppe verschwand, genervt den Staub von ihren Klamotten ab. Leise und so unauffällig wie möglich folgte ich Mila in ihrem Windschatten und schlich mich schnell noch in mein Zimmer. Dort griff ich mir das weite, pinkfarbene T-Shirt, das man schön lang und ganz leger über dem Hosenbund tragen konnte. Dazu stopfte ich noch die alte, abgeschnittene Jeans, die ich schon extra für den heutigen Tag präpariert hatte, in meinen Rucksack, in dem sich außerdem noch einige wichtige Kosmetika befanden. Danach folgte ich, ohne weiteres Aufsehen zu erregen, flugs Mila ins Badezimmer, wo wir darauf achteten, dass sich alles, was wir dort taten, nach ganz bravem Einseifen und Abduschen sowie nach unverfänglichem Abtrocknen und Ankleiden anhörte. Meine Jeans, die ich so kurz abgeschnitten hatte, dass ich sogar den Steg unter dem Hosenschlitz mit wegschneiden musste, konnte meine Mutter zum Glück genauso wenig sehen wie dass meine alte Hose nun zu einem frechen Jeansröckchen geworden war. Selbst Mila fiel zu diesem Zeitpunkt noch nicht auf, wie gewagt ich mich heute zurechtgemacht hatte. Nachdem wir uns artig abgemeldet hatten, klackerten wir nebeneinander wohlriechend und sauber mit unseren beiden Blindenstöcken in der Hand durchs Treppenhaus. Draußen folgten wir dem Bordstein entlang tastend dem Verlauf der Straße bis zur nahegelegenen Bushaltestelle. Kurz darauf saßen wir beide in der gleichen Reihe direkt hinter dem Fahrer gemütlich in Fahrtrichtung auf zwei gepolsterten Stühlchen. Mila quietschte leise auf, nachdem ihre Fingerkuppen erneut das Dessoushöschen, das ich meiner Mami gemopst hatte, unter meinem aufreizenden Röckchen ertastet hatten. Aber jetzt war definitiv ich an der Reihe, meiner zwei Jahre älteren Freundin mal zu zeigen, wie man sich als großes Mädchen selbständig in der Welt der Sehenden durchschlagen kann, ohne auf fremde Hilfe hoffen zu müssen. Mein Papi hatte ganz früh, also so früh, dass ich ihm damals noch gar nicht selbst sagen konnte, dass ich eigentlich seine flotte Tochter und nicht sein Sohn war, damit angefangen, mich modern zu fördern. Selbst später, als er verstanden hatte, dass er nie einen Sohn gehabt hatte, hat er mir Tag für Tag neue Tricks beigebracht. Auf unseren Touren hat er mir immer alles Mögliche, was es um uns herum zu sehen gab, erklärt und mir gezeigt, wie man auch ohne richtige eigene Augen, so vollblind wie ich eben nun mal schon von Anfang an war, trotzdem alle mega tollen Sachen mitmachen konnte.

 

 

Morgenrot

Mara

 

„Hey, du hast ja immer noch dieses schwarze Ding auf, muss das denn wirklich sein? Wir sind hier doch unter uns und noch lange nicht am Set angekommen", sagte Alex, und ich spürte schon wieder sein Verlangen, mir in meine Augen sehen zu wollen.

„Stimmt, du hattest mir doch gerade irgendetwas über diesen irren Schlitten, in dem wir hier zusammen sitzen, erzählt, oder?“, antwortete ich Alex, während mir wieder dämmerte, wo ich gerade war und was ich hier vorhatte. Vor meinem Absturz hatte er mir gerade ganz stolz gesagt, dass der Wagen, mit dem er mich abgeholt hatte, irre lang sei. Ich war von dem coolen Feeling, das ich mit Alex gerade erlebt hatte, noch total benommen und tastete verunsichert nach meiner Augenbinde. Der Gedanke an den Albtraum, der mich heimgesucht hatte, bevor ich mit Alex den ersten Sex mit einem Mann in meinem Leben hatte, ängstigte mich plötzlich fast so sehr wie früher, als ich noch nicht über den Dingen gestanden hatte, die mich ein bisschen anders machten. Gerade rechtzeitig schien es mir noch einmal gelungen zu sein, meine anderen Augen wieder so rechtzeitig unter der blickdichten Augenbinde vor der Neugier meines Begleiters zu verbergen, dass er den wahren Grund für meine Blindheit noch nicht ahnen konnte. Doch sein insistierendes Verhalten stimmte mich mehr und mehr misstrauisch, sodass ich mir meinen Fahrer, obwohl ich ihn von Minute zu Minute netter fand, mit meinen restlichen Sinnen noch gründlicher unter die Lupe nehmen wollte.

„Kein Kleinwagen hattest du gerade noch von dir gegeben, das war ein richtig guter Joke, Süße, wenn man bedenkt, dass du mit deinem knackigen Hintern auf einem dreifarbigen Komfortledersitz in einer Hummer-XXXL-H2-Stretchlimo sitzt. Komm, schieb dir deine Augenbinde wenigstens während der Fahrt auch mir zuliebe noch ein bisschen hoch. Du brauchst sie dir ja auch gar nicht ganz abzunehmen, wenn du dir immer noch einbildest, dass du unseren Auftraggebern jetzt schon verbundene Augen schuldest. Außerdem bist du doch bestimmt auch neugierig darauf, selbst zu sehen, wie toll das hier alles aussieht? Da wäre es doch besser, dich hier noch mit deinen eigenen Augen umzusehen, bevor du für den Rest des Tages eine Blinde spielen musst?“, stichelte er schon wieder. Damit schürte er einerseits meine Zweifel über seine Loyalität mir gegenüber und andererseits erschreckten mich neue Zweifel über mich selbst, damit, dass ich ihm während meiner Ohnmacht doch unbewusst wirres Zeug über meinen neuesten Albtraum erzählt haben könnte. Bei dem Gedanken, dass ich möglicherweise etwas von einem Geheimnis, das ich unbedingt für mich behalten wollte, während meiner Ohnmacht ausgeplaudert haben könnte, wurde mir plötzlich ganz mulmig. Deshalb nervte es mich jetzt noch mehr als vor dem Zwischenfall, dass Alex es schon wieder darauf anlegte, mich nach dem schönen Sex mit ihm doch noch kurz ohne Augenbinde sehen zu dürfen, bevor wir mit den Dreharbeiten anfingen. Oder war es umgekehrt? War dieser Alex, der mir so schnell so sympathisch geworden war, möglicherweise ein kleiner Narziss, der von seinem Spiegelbild so geblendet war, dass er nur noch sich selbst sah? Der Gedanke daran, dass ich als Blinde gleich mit einem Mann, der seine Lust nur aus den begehrenden Blicken seiner Partnerin schöpfen konnte, noch einmal Sex haben sollte, ließ mich frösteln und ich spürte, dass ich plötzlich wieder unsicher wurde.

„Hinter dir befinden sich nämlich noch weitere acht echt sehenswerte Meter mit pink-lila-blau beleuchteter Bar und Spiegeldecken-Sternenhimmel. Die Musik wird unterstützt von einer Lasershow, einer Nebelmaschine und zwei TFT-Monitoren für Musikvideos“, hörte ich ihn weiter darüber reden, was ich ohne die Enthüllung meiner Augen alles verpassen würde.

„Außerdem ist das Ambiente nicht das Einzige, was hier drin noch sehenswert für dich sein könnte. Wenn du also noch ein bisschen Bock auf Schummeln hast, brauchst du dir meinetwegen auch mit unverbundenen Augen bestimmt keine Sorgen machen. Du hast übrigens vorhin den Nagel schon ganz gut auf den Kopf getroffen, als du mich mit dem ‚dir nicht in deine Augen schauen zu dürfen‘ so fies gestichelt hast. Seitdem bin ich nämlich erst recht neugierig darauf geworden, was für heiße Blicke sich unter deinem schwarzen Tuch vor mir verbergen.“

„Und wenn ich dich und das alles gar nicht sehen will?“, fragte ich mit dünner Stimme und mit einem Kloß im Hals verletzlich leise.

„Hey Süße, kein Problem, sag’s doch einfach, wenn du auf verbundene Augen stehst. Wenn’s dir so mehr Spaß macht, soll’s daran nicht scheitern … Soll ich auch nochmal so wie du? … Ich meine mit Augenmaske bei mir? Wenn du einen Blindfold-Fetisch hast und dich das bei deinen Männern turnt, würd ich’s für dich auch gern nochmal so wie eben machen. Auch so vor der Kamera, wenn du magst?“, antwortete Alex so spontan und voller Wärme in seiner Stimme, dass meine Bedenken wie Dampfbläschen verpufften. Wahrscheinlich dachte Alex jetzt von mir, dass ich eine Perverse sei, die sich nur deshalb und gar nicht des Geldes wegen aufgrund dieser für Normale eher komisch wirkenden Anzeige für diese eigentümliche Rolle beworben hatte. Aber egal, dann war das eben jetzt halt so. Das strahlende Lachen, das sich während des Zuhörens auf meinem Gesicht breitgemacht hatte, wollte ich mir in diesem Moment ganz bestimmt nicht verkneifen. Ganz im Gegenteil. Jetzt fühlte ich mich wieder wie im siebten Himmel. Es freute mich total, dass der coole Alex schon hier im Auto so schön scharf auf mich geworden war, dass er sich jetzt sogar seine eigenen Augen für mich vor der Kamera verbinden lassen würde, um mir noch besser zu gefallen. Mein Kopf lag im weichen Leder der bequem gestylten Kopfstütze und die warme Bespannung streichelte mich nach jeder Bodenunebenheit, die den Wagen neu wie eine Säfte wiegte, zart in meinem Nacken. Während ich die weiteren zuckersüßen Worte genoss, die Alex sich einfallen ließ, um sich bei mir einzuschmeicheln, erfreute ich mich an dem noch jungen Morgen in vollen Zügen. Nur gut, dass ich mir von Ronjas Schwarzseherei nicht diesen tollen Tag hatte vermasseln lassen. Mir war zwar zuerst auch etwas komisch zumute, als Alex mich ganz alleine als Blinde zu diesem aufregenden Wagen geführt hatte. Aber zu diesem frühen Zeitpunkt konnte ich ja auch noch nicht ahnen, wie schnell sich der heutige Tag ganz nach meinen Vorstellungen, nein, nicht nur Vorstellungen, es waren ja eigentlich sogar Sehnsüchte, entwickeln würde. Plötzlich riss mich eine weiche Hand, die sich aus dem Nichts zärtlich oberhalb von meinem linken Knie auf meinen Oberschenkel schob, aus meinen Gedanken. Ich spürte, wie mein Puls Fahrt aufnahm und dass mir plötzlich ganz heiß wurde. Aber ich sagte nichts, weil das Nichts, in dem ich jetzt glücklich neben Alex wie auf Wolken schwebte, für mich keine Finsternis war. Ganz im Gegenteil: Alex war neben mir tatsächlich in meiner Welt angekommen und ich sah mit meinem Herzen den Weg in einen Morgen voller Überraschungen ganz deutlich vor uns liegen.

„Bitte Mara nur ganz kurz, okay? Ich werde dich deshalb auch bestimmt nicht bei den Leuten im Studio verpetzen. Nur für mich, du möchtest mich doch bestimmt auch sehen, bevor wir … oder?“, fing er dann aber doch nochmal damit an, sich einen Blick meiner Augen zu erbetteln.

„Nee, lass mal. Ich kann mir das auch so ganz gut vorstellen. Du hast mir ja gerade schon richtig cool beschrieben, was es hier noch alles Interessantes zu sehen geben könnte. Also zu sehen für Leute, die für diesen Tag nicht so blind wie ich eingekauft worden sind“, antwortete ich schnell. Dabei rückte ich mir meinen Sicherheitsgurt wieder zurecht und überprüfte erneut den korrekten Sitz meiner schwarzen Augenbinde.

„Wie du willst, wir sind ja jetzt sowieso gleich da“, hörte ich Alex mit einem etwas enttäuscht klingenden Unterton vor sich hin brummeln. Kurz darauf spürte ich, dass sich der schwere Partypanzer mit uns schaukelnd über einen hohen Bordstein wuchtete, woraufhin Alex dann auch gleich den Motor abstellte. Nachdem er ausgestiegen war und den Hummer umrundet hatte, öffnete er mir wieder meine Tür und bot mir erneut seinen Arm an. Der Innenhof, durch den er mich führte, klang, umgeben von endlos hoch hallenden Mauern, beängstigend trostlos. Die Echos klangen so, wie ich mir die Geräusche eines alten Gefängnishofes vorstellte. Der ferne Industrielärm, das träge Glucksen von Wasser und die modrige Note, die mir dazu in meine feine Nase zog, ließen mich darauf schließen, dass wir uns in einem verkommenen Hafengebiet befinden mussten. Ecken wie diese waren aufgrund der in ganz Berlin völlig überteuerten Mietpreise gerade bei Künstlern, die große Flächen brauchten, um sich richtig entfalten zu können, sehr beliebt. Aber vertrauenerweckend war das alles ganz und gar nicht. Unbewusst war ich näher, als ich das eigentlich wollte, an Alex herangerückt und ertappte mich dabei, dass ich mich ängstlich an seinen Arm geklammert hatte.

„Hast du Angst?“, hörte ich die Stimme, die mir zum Glück schon etwas vertraut war, schmiegte mich noch etwas enger an meinen Begleiter und antwortete zögerlich.

„Nicht wirklich, aber ein bisschen komisch ist mir schon zumute.“

„Nur Mut, Mara, passieren wird dir hier nicht viel, aber deine Angst passt prima zur ersten Szene.“

„Musste das jetzt sein?“, blaffte ich meinen Führer entsetzt an und blieb abrupt stehen.

„Hey, so schlimm?“, fragte Alex, zog mich ganz nah an sich heran, umschlang mich mit seinen vom Tanzen kräftig trainierten Armen und drückte mich mit einer beschützenden Geste an seine Brust. Eigentlich hätte ich ihn ohrfeigen müssen, aber das, was mich da im Arm hatte, fühlte sich gar nicht so dumm an und meine Angst war plötzlich wieder wie weggefegt. Alex hatte meine Angst mit seinen zauberhaften Händen einfach weggehext und sie für mich wieder in Abenteuerlust und Neugier verwandelt. Seine Schulterblätter zeichneten sich unter einem engen Muskelshirt ab, was ich am Saum erkannte, während meine forschenden Fingerkuppen von seinem Nacken weiter zum Ansatz seiner Oberarme schlichen. Dann schob ich ihn zärtlich weg.

„Wir sind doch beide Profis und das hier ist nur unser Job, oder hab ich da gerade etwas falsch verstanden?“, sagte ich schnippisch und knuffte den Süßen dabei frech mit meiner Ellenbogenspitze seitlich in seinen Waschbrettbauch.

„Klar, nur ein Job, ein echt hart verdientes Brot“, griff Alex den Ball charmant auf und führte mich zwei Schritte weiter zu einer Stahltür. Als er das Türblatt zunächst knirschend mit einem kräftigen Ruck aufzog, kreischten verrostete Scharniere, die gut hörbar seit langer Zeit kein Öl mehr gesehen hatten, so schrill auf, dass mir das Geräusch in meinen Ohren weh tat. Mein sonst äußerst gut entwickelter Hörsinn gaukelte mir im ersten Moment einen Schmerzensschrei vor und ließ meine Angst noch einmal kurz aufflackern, bevor ich mich gleich danach zum Glück schnell wieder fing. Das Treppenhaus, durch das sich eine mir endlos erscheinende Treppe immer höher in einem muffig riechenden Gebäude dem Himmel entgegen über die Dächer von Berlin hinaufwand, erschien mir genauso suspekt wie der gruselige Hof. Aber Angst hatte ich, während Alex mich immer weiter die schmalen Stiegen hinaufführte, trotz der auf mich völlig marode wirkenden Umgebung keine mehr bekommen. Es roch nach feuchtem Beton und nach abgestandener Ölfarbe, die sicher schon von den Wänden bröckelte. Kleine Stücke der herabgefallenen Farbe knisterten gelegentlich unter den Sohlen unserer hinaufstampfenden Schritte, während wir sie beim Zertreten zu noch kleineren Stückchen pulverisierten. Vermutlich befanden wir uns in einer Art Lagerhaus, in dem sich keiner für das Putzen zuständig fühlte. Alex schien mir zwar mittlerweile eigentlich ganz vertrauenswürdig, aber die Umgebung hier erinnerte mich plötzlich sehr an Ronjas mahnende Worte, die mir mehrfach von dem Fotoshooting abgeraten hatte. Vom Eingang hatte ich erst drei und dann noch vierzehnmal jeweils sechs weitere Stufen zwischen den Treppenabsätzen gezählt. Also mussten wir uns im sechsten Obergeschoss oberhalb des Erdgeschosses befinden, als Alex mich vom Treppenabsatz durch eine Tür in einen hallenartigen Raum führte, der von der brennenden Hitze unzähliger Scheinwerfer gleißend mit Licht geflutet zu sein schien. Aus dem Stimmengewirr hörte ich außer den Geräuschen von Alex und mir noch drei weitere Stimmen heraus, eine ältere Frauenstimme und die von zwei jüngeren Menschen, die, so wie es sich anhörte, ein Paar sein, oder mal ein Paar gewesen sein könnten.

„Hey, wo bleibt ihr denn? Hast du wieder getrödelt, Alex? Da bekommst du 'ne Karre mit einem Sechs-Liter-V8-Motor mit 330 PS von mir unter deinen lahmen Arsch und wirst trotzdem nicht fertig. Unglaublich, dass schon fast der halbe Tag rum ist, bis du unser Model endlich herbeigeschafft hast“, hörte ich eine gestresst klingende Stimme auf mich zu rennen. Einen Augenblick später grapschte mich eine feiste, fleischige Männerhand an meinem Handgelenk und zog mich mit sich fort. Noch bevor ich mich beschweren konnte, redete der ungehobelte Grobian, während er mich durch die Halle zerrte, weiter auf mich ein.

„Na wenigstens hast du dich schon blind gemacht. Marga gibt dir gleich die schwarzen Dessous für die erste Einstellung und danach hilft sie dir auf das Schafott mit der Guillotine. Aber keine Angst, das sind alles nur Theaterrequisiten. Die sind gestern sogar alle noch ganz frisch vom TÜV abgenommen worden, dass dir auch wirklich nichts passieren kann."  Das ekelerregende Lachen, das aus dem Mund des Typen folgte, der es nicht mal für nötig befunden hatte, sich mir anständig mit seinem Namen vorzustellen, klang grässlich und ließ mich noch einmal erschaudern.

„Hör besser auf, uns in die Produktion hineinzupfuschen, wenn du das Drehbuch nicht drauf hast“, hörte ich einen Moment später aus einer etwas entfernt klingenden Raumecke eine junge weibliche Stimme. Die Frau, die den Fetten nachdrücklich zurechtwies, hatte ihn feindselig angezischt und mit einem drohenden Unterton eine deutliche Warnung in seine Richtung ausgestoßen.

„Für die erste Einstellung darf sie die Augenbinde doch noch gar nicht tragen, weil sie die erst kurz vor der Vollstreckung von Alex vor den laufenden Kameras angelegt bekommen soll. Das Zubinden ihrer Augen darf doch erst unmittelbar vor Ihrer Enthauptung passieren, nachdem die beiden schon oben auf dem Schafott angekommen sind“, sagte sie danach dann aber ganz freundlich und aufmunternd in meine Richtung. Mir blieb fast mein Herz stehen, als ich mit anhören musste, auf was ich mich hier eingelassen hatte, und ich spürte obendrein auch schon wieder Hände, die erneut nach mir griffen.

„Na dann komm mal mit, du blindes Blondchen“, hörte ich die etwas kratzige Stimme einer älteren Dame sagen, die mich gleichzeitig mit einer kalten, trockenen Hand an meinem rechten Handgelenk ergriff. Die Haut ihrer Finger fühlte sich zwar spröde und runzelig, aber bei weitem nicht so unangenehm wie die von dem schmierigen Namenlosen an. Nach wenigen Schritten erreichten wir eine Tür, die die Runzlige gleich wieder hinter uns ins Schloss fallen ließ.

„Ich bin Marga, die Requisiteurin und heute auch deine Visagistin“, sagte die Alte mit ruhiger, aber trotz ihres Alters hellwach klingender Stimme ebenfalls sehr freundlich zu mir. Ihre Rechte griff nach meiner und sie strich mir dabei mit ihrer Linken zur Begrüßung über die Innenseite meines rechten Unterarms. Marga schien mir eher über siebzig als Mitte sechzig zu sein, aber sie kam trotz ihres fortgeschrittenen Alters total tough und vital rüber. Ihre Hände offenbarten mir ihr Leben, das von schwerer harter Arbeit geprägt gewesen sein musste, und ihre Stimme signalisierte mir, dass sie ihr Herz an der richtigen Stelle trug. Alles an Marga, sowohl ihre Stimme als auch ihr Körper, wirkte oberflächlich beurteilt total kratzbürstig, aber ich nahm sie vom ersten Moment an eher warmherzig und vertrauenswürdig wahr.

„Was war das da eben gerade mit Dessous auf dem Schafott?“, fragte ich sie, ohne dass ihr meine Stimme etwas von meiner wieder leise aufkeimenden Angst verriet.

„Ach Mädchen, mach dir darüber keine Sorgen. Das ist einfach nur eine billige Show für Männer, die es nicht wert sind, dass man über sie nachdenkt. Ein schmuddeliges Video für schmierige Typen, die nicht wissen, wo sie sonst mit ihrem Geld hin sollen“, sagte meine Visagistin zu mir und fuhr damit fort, mir zu erklären, was die Leute hier heute mit mir vorhatten.

„Es sind ja auch nur die Namen der Requisiten, die dir noch Angst machen können. So gesehen war das sogar richtig clever von dir, dass du hier gleich blind erschienen bist. Auf diese Art ist die erste Einstellung sicher etwas einfacher für dich, weil die Sachen noch viel gruseliger aussehen, als sie sich anhören. Aber da du sie eben noch gar nicht sehen konntest, wird es bestimmt nicht ganz so schlimm für dich werden. Der kurze Moment, der dir noch bevorsteht, wird schneller vorbei sein, als du dir das vorstellen kannst, da sorgt dann schon dein Adrenalin dafür", versuchte die Frau, die Marga hieß, mich zu beruhigen.

„Aber auch wenn ich all die Grausamkeiten nicht selbst sehen kann, möchte ich aus dieser Nummer doch nicht kopflos herauskommen“, gab ich der Alten trocken zur Antwort und verschränkte meine Arme trotzig vor meiner Brust.

„Aber Kindchen, das Fallbeil ist aus Pappe und das Richtschwert, das Alex hoch über deinen lang gestreckten Hals erheben wird, ist aus weichem Silikon. Es ist hohl und wiegt gerade mal knapp dreihundert Gramm. Damit könnte man nicht einmal einem kleinen grauen Feldmäuschen gefährlich werden. Hier sind die Sachen für die erste Einstellung. Wir sollten uns etwas sputen, weil wir wirklich spät dran sind heute. In dieser Hinsicht hatte unser Chef sogar recht, auch wenn er abgesehen davon, dass er hier den Laden am Laufen hält, ein ungehobelter Idiot ist", klärte mich Marga weiter auf. Die Dessous fühlten sich gar nicht so schlecht an, wie ich das zunächst befürchtet hatte. Sie waren zwar überhaupt nicht mein Stil, aber der Stoff war weich und die filigranen Spitzenmuster schienen aus feinster Seide gesponnen worden zu sein. Das schmale Höschen war sicher mehr durchsichtig als verhüllend und das Oberteil schien mir auch nicht für einen Besuch im Freibad geeignet zu sein. Marga hatte wohl echt etwas drauf. Sie hatte mich ja nur mit ihren fachkundigen Blicken taxiert und die Sachen passten mir auf Anhieb alle wie angegossen. Gleiches galt für die anderen Accessoires, denn auch die langen Strümpfe und die Handschuhe, die mir bis zur Mitte meiner Oberarme hochreichten, passten auf Anhieb einwandfrei.

„Schick siehst du aus, Mäuschen“, hörte ich Marga lobend sagen und spürte dabei ihre Hand am Knoten meiner Augenbinde.

„Nein Marga, lass mir die bitte an.“

„Hast du nicht zugehört, was im Drehbuch steht, oder hast du etwa echte Angst vor dem Spielzeug da draußen?“

„Nein, nicht deswegen. Die wollten eine Blinde haben, und deshalb sollen sie jetzt gefälligst auch mit dem zufrieden sein, was sie bestellt haben“, gab ich ihr zickiger, als ich das eigentlich wollte, zur Antwort.

„Oje, Mädchen, bist du immer so drauf?“

„Stört’s denn wen, wenn Frau konsequent ist?“, hielt ich Marga streitlustig und bockig entgegen.

„Nein, nein …, schon gut. Du hast mich gerade auf eine viel bessere Idee gebracht“, sagte Marga und trottete schlurfend zu einem Regal. Das Zeug, in dem ich sie nun hinter meinem Rücken herumkramen hörte, klang ganz und gar nicht mehr nach feiner Wäsche aus Seide. Am Anfang hörte ich nur Leder knirschen, aber dann mischte sich das leise Klingeln von Schnallen, das derb ratschende Geräusch von Reißverschlüssen und zum Schluss auch noch das gelegentliche Klirren von schweren Ketten zu der Geräuschkulisse hinzu. Konnte ich mich so in Marga getäuscht haben? Was war denn plötzlich mit meiner sonst so treffsicheren Menschenkenntnis passiert? Wenn Marga wider Erwarten eine Sadistin war, könnte das hier alles doch noch sehr übel für mich ausgehen. Dann konnte es noch übler für mich enden, als Ronja mir das Ganze eh schon fürsorglich warnend viel schlimmer ausgemalt hatte, als mir das lieb war. Wie dumm von mir, dass ich sie nicht auch einfach mit hierher genommen hatte, dann wären wir jetzt wenigstens zu zweit.

„Nicht erschrecken, Kindchen, wenn du lieber blind bleiben möchtest, kann ich dir ja auch gleich hier schon eine lederne Kopfhaube für die Hinrichtung, die dir da draußen gleich bevorsteht, anziehen.“ „Dieses Accessoire wird sich bei der scheußlichen Zielgruppe, die der Chef für die neue Kollektion im Auge hat, sicher noch besser als die schwarze Augenbinde auf den Umsatz auswirken", sagte Marga.

„Hey, warte mal! Gib erst mal her, ich will mir das wenigstens noch anschauen, bevor ich zustimme“, antwortete ich flott und sreckte schell meine Hände aus um die Details dieser ominösen Lederhaube zu ertasten, die Marga mir nicht sorgfältig genug beschrieben hatte. Meine Finger flogen wie Fühler über das skurrile Kleidungsstück. Es war eine Lederhaube, die mich im ersten Moment an ein taktiles Modell erinnerte, das meiner Freundin Ronja vor kurzem während eines Besuches in einem Berliner Museum angeboten worden war. Gute Museen hatten solche Dinge in Deutschland öfters als Ergänzung zu den dort ausgestellten Bildern irgendwo für blinde Museumsbesucher in der Hinterhand. Ronja war von den unterschiedlichsten taktilen Modellen, die ihr unsere Begleiterin zur Verdeutlichung der Exponate während unseres Rundgangs immer wieder in ihre Hände schob, total begeistert. Eine auf diese Art gelebte und von der Bevölkerung wertgeschätzte Barrierefreiheit hatte sie in ihrem Heimatland Rumänien weder in einem Museum noch sonst wo so kennengelernt. Ronja und ich hatten uns gerade für den legendären Avus-Ring interessiert, als die Museumsangestellte Ronja erklärte, dass Rennfahrer früher während der Rennen oft solche Lederhauben getragen hatten, bevor diese dann später durch Schutzhelme mit Visieren ersetzt wurden. Im Gegensatz zu der Lederkappe, die Marga mir gleich überstülpen wollte, überdeckte das taktile Modell im Museum nur den Kopf, aber nicht das Gesicht der Piloten. Die Rennfahrer trugen zusätzlich Schutzbrillen, um ihre Augen vor dem Wind und bei schneller Fahrt auch vor Insekten zu schützen. Darüber hinaus gab es allenfalls noch einen Schal als Mundschutz, während die Nase jedoch immer frei blieb. Das Leder hatte außerdem noch die Aufgabe, neben dem Kopf auch die Ohren der Fahrer vor dem Fahrtwind und der Kälte zu schützen. Das Modell, das ich gerade abtastete, glich aber mit den vielen Schnallen und Riemen eher einer Gasmaske als einer der ledernen Rennfahrerhauben, die oft sogar noch mit einem mit flauschigem Lammfell gepolsterten Kinngurt ausgestattet waren. Die Haube, die ich gerade inspizierte, war zwar auch weich, aber eine zusätzliche Polsterung gab es genauso wenig wie Glasscheiben für die Augen. Stattdessen waren die Sehschlitze mit zwei zugezogenen Reißverschlüssen versehen worden, die sich gruselig kalt anfühlten, weil sie aus scharfkantigem Metall waren und schon deshalb bestimmt auch nicht freundlich aussahen. Selbst mein Vergleich mit einer Gasmaske war immer noch zu wohlwollend, denn das Ding hatte auch keine Öffnung für den Mund und statt eines Luftfilters nur zwei winzige, stecknadelkopfgroße Löcher für das Atmen durch die Nase. Aber ich war ja eh blind. Deshalb dachte Marga wohl, dass es mich auch nicht stören sollte, dass man bei der Haube, die ich gerade tastend weiter inspizierte, keine Löcher für meine beiden Augen ausgeschnitten hatte. So gesehen hatte ich auch keinen guten Grund zu meckern, weil mein Blindsein als Gegenleistung für meine Tagesgage in meinem Vertrag stand. Nur die zwei kleinen Löcher für meinen Atem, die konnte ich vielleicht gerade so noch mit guten Argumenten reklamieren.

„Aber wenn ich mit dem Ding über meinem Kopf nicht mehr genug Luft oder von der engen Lederhaut sogar Platzangst bekomme, schnallst du es mir sofort auf und befreist mich wieder davon, Marga. Ich hoffe mal, dass ich mich auf dein Wort verlassen kann“, sagte ich, hob meinen Kopf und machte tapfer mit knirschenden Zähnen einen langen Hals.

„Aber Mara, was denkst du denn für schlimme Sachen? Schon Alex und ich würden doch niemals zulassen, dass dir hier auch nur ein Haar gekrümmt werden könnte, und Susi würde bei so etwas auch nie mitmachen, das musst du mir einfach glauben.“

„Wenn Susi die ist, die das fette Ekel an der Backe hat“, brummte ich säuerlich, „bin ich mir nicht sicher, ob ich ihr wirklich trauen will.“ Danach biss ich meine Zähne noch fester zusammen und forderte Marga dazu auf, mir das üble Lederfutteral über meinen Kopf zu stülpen. Einen Augenblick später spürte ich, wie sie mir die klirrenden Schnallen, die unter der ledernen Glocke herumbaumelten, um meinen Hals legte, um mir dort alles ordnungsgemäß zu fixieren.

„Drückt es dich irgendwo, Kleines?“, fragte Marga und streichelte mich dabei ganz lieb und fürsorglich. Behutsam glitten ihre rauen Finger von meiner Schulter an meinem Hals entlang bis zu der höchsten nackten Stelle meiner Haut hoch, über der jetzt ein Lederkopf auf meinem Rumpf saß. Ihre andere Hand lag indes beruingend auf meiner Schulter.

„Nee, Marga jetzt ist auch sonst gar nichts mehr wirklich schlimm.“ „Ich bekomme sogar viel besser Luft, als ich mir das vorher vorstellen konnte“, aber dann erschrak ich plötzlich doch vor mir selbst, obwohl ich mich ja gar nicht sehen konnte. Nie hätte ich mir vorher träumen lassen, dass mich meine eigene entstellte Stimme so ängstigen könnte. Margas Gefühl für richtige Größen verblüffte mich erneut, als ich spürte, wie perfekt und hauteng die Kopfhaube sich nach dem Zuschnallen des letzten Halsriemens wie eine zweite Haut um meinen Schädel geschmiegt hatte. Selbst die Atmung durch meine Nase klappte von Atemzug zu Atemzug immer besser. Trotzdem hatte ich ein sehr mulmiges Gefühl, als ich spürte, dass Marga, ohne mich zu drängen, erneut nach meiner Hand griff.

„Jetzt willst du mich so wie ich bin hinaus zum Schafott führen, wo Susi mit ihrer Kamera im Licht der Scheinwerfer schon ungeduldig auf die noch fehlende Delinquentin wartet, oder?“, fragte ich mehr unlustig angefressen als wirklich ängstlich.

„Ja schon, aber keine Angst, Susi wird, so wie du jetzt aussiehst, wohl auch nichts mehr dagegen haben, dass du dich zur ersten Einstellung nur als Blinde vor die Kameras traust. Nachdem sie dich mit diesem bizarren Lederkopf erst einmal gesehen hat, wird sie bestimmt auch nicht mehr weiter auf die Einhaltung des Drehbuches bestehen wollen. Das hat sie eh nur gemacht, um ihren Freund zu Beginn der Dreharbeiten gleich mal wieder in seine Schranken zu weisen“, versuchte mich Marga noch einmal zu ermuntern und zog mich vorsichtig an meiner Hand. Damit bedeutete sie mir, dass ich jetzt keinen Grund mehr hatte, die Dreharbeiten zu verzögern. Am Set, wo alle schon auf mein Erscheinen warteten, wurde ich schließlich so schnell wie möglich gebraucht, als Delinquentin .

„Alex?“, fragte ich dünn, als mir bewusst wurde, dass ich mich wegen der Lederhaube jetzt auch nicht mehr mit meinem Gehör orientieren konnte. Meine Stimme hörte sich wegen des Leders dumpf und traurig an. Mir wurde total kalt, aber ich stand konzentriert da und nahm eine stolze Körperhaltung ein. In meinem Kopf jagten sich tausend Gedanken, aber das musste jetzt alles warten. Denn nun wollte ich zuerst meine widerliche Rolle so perfekt ausfüllen und so brillant spielen, wie ich nur konnte. Doch dann spürte ich wieder diesen Schwindel, der mich heute schon mehrmals völlig unerwartet in die dunkelsten Stunden meiner Vergangenheit zurückkatapultiert hatte. Als mir Sekunden später meine Knie einknickten und Alex entsetzt auf mich zuspurte, war ich schon so weit weg, dass ich nicht einmal mehr mitbekam, dass er mich schon wieder auffangen musste.

 

Nebeltour

Marvin

 

Die erste Lektion, die ich meiner großen Freundin, die man wegen ihrer angeborenen Glaukom-Erkrankung immer isoliert und verhätschelt hatte, erklärte, war die Sache mit dem Selbstbewusstsein, das für blinde Mädchen noch viel wichtiger ist als der geschärfte Hörsinn. Aber anstatt mir mal einfach zuzuhören, fing Mila plötzlich damit an, mir irgendetwas von Farben und vom Schminken zu erzählen, was im Moment doch völlig daneben war, weil es jetzt vor allem darum ging, die Orientierung zu behalten. Schon auf dem Weg zur Bushaltestelle war ich völlig von den Socken, als mir klar wurde, dass meine total verwöhnte Wattemaus nicht mal während eines lockeren Smalltalks zu Fuß zeitgleich im Hintergrund verlässlich Schritte mitzählen konnte. Noch weniger schien sie dazu in der Lage zu sein, sich auf den Plan, den man im Kopf haben musste, zu konzentrieren, um während des Plauderns verlässlich Haltestellen mitzuzählen zu können. Einfach so weiterzuplaudern und sich nur auf andere zu verlassen, das ging gar nicht. Das hatte mir mein Papi zuerst beigebracht und erst danach durfte ich ausprobieren, wie man mithilfe von Sehenden weiterkommen konnte, wenn wirklich mal alles total schiefgegangen war.

„Hey Mila, halt mal die Luft an, was ist denn mit dem Plan, den wir uns zum Ankommen bei Toni vorhin noch zusammen einprägen wollten?“, fiel ich ihr unsanft ins Wort. In diesem Moment war ich zwar innerlich immer noch total außer mir über das, was man Mila mit ihrer behütenden Erziehung angetan hatte, obwohl mir dabei ein weiteres Mal klar wurde, was ich meinem Papi alles zu verdanken hatte. In Momenten wie diesem quollen selbst mir gelegentlich, obwohl ich auf beiden Seiten nur noch Fakes aus buntem Glas in meinen entleerten Augenhöhlen trug, salzig schmeckende Tränen unter meinen Prothesen hervor. Kleine Tränchen, die ich manchmal vor Rührung oder auch aus purem Zorn weinte, die mir dann als dünne Bächlein über meine Wangen rannen. Aber mittlerweile verstand ich von Monat zu Monat immer besser, dass mein Papi in Wirklichkeit nicht mich, sondern nur meine Mutter verlassen hatte. Leider verstand ich zu spät, dass er es einfach nicht mehr aushalten konnte, wie angepasst sie mich mit ihren antiquierten Vorstellungen von Erziehung prägen wollte. Meine Mutter, die früher selbst völlig autark, tough und absolut mobil war, legte seit mein Papi weg war mir gegenüber plötzlich ein mir völlig fremdes, total zermürbendes und völlig überzogenes fürsorgliches Verhalten an den Tag. Aber in diesem Moment hier im Bus mit Mila verstand ich, was sie vorhatte. Ich verstand, dass sie mich, so wie sie es mit Mila gemacht hatten, an die Kette legen wollte. Ich verstand, dass sie, obwohl sie selbst alles konnte, dennoch bereit war, meine Blindheit dafür auszunutzen, um mich von Leuten, die mein Geschlecht so akzeptierten, wie es war, fernzuhalten. Eine Erkenntnis oder eine Erklärung dafür, warum meine Mutter mich mit ihren blinden Augen immer nur als ihren braven Jungen sehen wollte, fiel mir trotz aller Bemühungen nie schlüssig ein. Aber die Erkenntnis darüber, dass sie es war, die meinen Vater nicht nur mit dem Genörgel über meine neuen pinkfarbenen Jeans oder den neuen Kuschelpullover von uns entfremdet hatte, traf mich dagegen in diesem Moment wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Jedes Mal, wenn er mit mir zum Shoppen in die Stadt ging und mir dort beibrachte, wie man sich ohne etwas sehen zu können alleine bewegen und sich selbst schöne Sachen aussuchen konnte, zickte sie herum. Sie machte ihm sogar die Hölle für die Sachen, die ich mir selbst ausgesucht hatte, heiß. Als ob er Schuld daran gehabt hätte, dass es so schicke Sachen waren, wie sie allen Mädchen in meinem Alter gefielen.

„Was ist denn Mara?“, hörte ich Mila mich besorgt fragen. Sie war offensichtlich total irritiert davon, dass ausgerechnet ich, ihre taffe kleine Freundin, so unerwartet angefangen hatte zu heulen.

„Ich sage Dir gleich, was ist“, schluchzte ich ein letztes Mal und wischte mir mit meinem Unterarm meine Tränen weg.
„Mein Vater hat mir ganz früh erklärt, dass das Schlimmste, was man einem blinden Kind antun kann, überzogene Fürsorglichkeit ist. Und genau das, mein Schatz, ist Dein größtes Problem", sagte ich zu Mila und fing an, mich mit den Utensilien, die ich noch unbemerkt in meinen Rucksack stecken konnte, während des Gespräches mit ihr wenigstens noch notdürftig selbst zu schminken.

„Ich hab aber doch gar kein Problem“, sagte Mila überrascht und fügte sofort danach in aufkeimender Panik genervt noch etwas hinzu. „Außer dass ich mich von Dir zu einem Abenteuer habe verleiten lassen, das mir plötzlich voll Angst macht, war für mich nämlich im Gegensatz zu Dir bisher alles voll in Ordnung. Warum sagst Du mir denn nicht einfach ganz ehrlich, dass Du Dich mit mir ein bisschen übernommen hast, anstatt hier so plötzlich in Tränen auszubrechen?“

„Oh Gott, wir hätten hier aussteigen müssen“, schrie ich auf, aber schon als ich das Zischen der Türen gehört hatte, war klar, dass das unmöglich noch reichen konnte, den Bus hier noch wie geplant verlassen zu können.

„Und jetzt?“, fragte Mila mich ängstlich.

„Kein Problem, dann gehen wir eben einen kleinen Umweg. Wir haben ja eh mehr Zeitreserve als nötig für solche kleinen Pannen eingeplant“, gab ich souverän zurück und beendete noch rechtzeitig vor der nächsten Haltestelle meine schnelle Schminkaktion. Kurz nach dem Ausstieg fing Mila damit an, dass wir besser umkehren sollten. Sie befürchtete, dass wir uns jetzt, wo ich wegen des verpatzten Halts selbst nicht mal mehr genau unseren Weg kennen könne, bestimmt verlaufen würden.

„Verlaufen werde ich mich sicher nicht, Süße“, sagte ich und wischte mir mit meinem linken Unterarm mit einer fahrigen Bewegung den Schweiß aus meinem Gesicht, während ich spontan in schallendes Gelächter ausbrach.

„Nach Freudentränchen hörte sich das eben aber gerade überhaupt nicht an, Mara“, antwortete mir Mila mit einem noch immer ängstlichen Unterton in ihrer Stimme, aber ich spürte, dass sie mir wenigstens abnahm, dass wir uns nicht so wie sie zuerst befürchtet hatte total verlaufen würden.

„Weißt Du, Mila, mir ist da eben gerade etwas anderes klar geworden. Etwas, das Dich verletzen könnte, das aber auch, wenn ich es Dir sagen würde, nicht böse gemeint wäre“, antworte ich ihr vorsichtig und klappte ohne weitere Vorwarnung meinen Stock zusammen. Diesen verstaute ich danach sorgfältig in meinem Rucksack und griff mit meiner rechten Hand den linken Arm meiner Freundin über deren Ellenbogen, um ihr damit klarzumachen, dass sie jetzt unsere Führung von mir übertragen bekommen hatte.

„Oh Mara, was soll das denn jetzt, du weißt doch, dass ich das alleine nicht kann“, stöhnte Mila auf.

„Du bist doch gar nicht alleine!“, kicherte ich und blieb einfach weiter stehen.

„Und was soll das jetzt werden?“, nölte Mila mich zusehends genervter von der Seite an.

„Willst Du jetzt plötzlich doch nicht mehr wissen, warum mir gerade ein paar Tränchen flossen?“, wechselte ich mit einem schrägen Grinsen in meiner Stimme zurück zum alten Thema.

„Erst wenn Du Deinen Stock wieder rausholst“, sagte Mila spitz, woraufhin ich mich mitten auf dem Gehweg im Schneidersitz vor ihre Füße auf den Asphalt sinken ließ.

„Mara!“, rief Mila verzweifelt. „Was sollen denn die Leute von uns denken …? Steh sofort wieder auf, das ist alles andere als spaßig, was Du hier inszenierst.“

„Die meisten werden wie immer ‚nichts wie weg' denken und so tun, als ob sie uns nicht sehen“, antwortete ich entspannt nach oben und zog Mila zärtlich zu mir nach unten.

„Warum machst Du das?“, fragte Mila mich scheu, aber ich freute mich, als ich hörte, dass sie dabei war, sich neben mich zu setzen und ihren Stock, ohne ihn zusammenzuklappen, neben uns auf den Asphalt gelegt hatte.

„Weil ich Dir zeigen will, wie einfach und gut man weiterkommt, wenn man sich mal wirklich in einer Stadt verlaufen hat“, sagte ich und streichelte Mila dabei beruhigend ihre Hand.

„Hast Du Dich jetzt verlaufen oder nicht?“, hörte ich Mila resignierend fragen.

„Nein, hab ich nicht, aber Du auch nicht, nur weißt Du das noch nicht“, antwortete ich wieder mit einem hörbaren Grinsen.

„Und warum hast Du geheult?“, fragte Mila halblaut.

„Weil mir gerade klar geworden ist, dass meine Mutter wohl irgendwann auf den Trichter kam, dass ich so werden soll, wie Du bist“, antwortete ich Mila hörbar nachdenklich.

„Also doch ein Mädchen? Wie kommst Du denn jetzt plötzlich auf sowas?“, hörte ich Mila sagen. Ich bekam natürlich sofort mit, dass sie dabei versuchte, mich kritisch anzusehen. Ich spürte immer sofort, wenn sie mal wieder ihren Kopf so verdrehte, wie sie es immer tat, wenn sie versuchte, mit dem winzigen Tunnelblick ihres letzten sehenden Auges irgendwo noch ein Bild zu erhaschen.

„Quatsch …, so doch nicht, natürlich nicht als Mädchen, aber so abhängig und unselbständig wie Du. Deshalb ist nämlich auch mein Vati weg. Der hat es einfach nicht mehr ausgehalten, weil sie sich immer mehr wie eine Glucke aufgeblasen hat, wenn er mich in meiner selbständigen Entwicklung gefördert hat.
Das erinnert mich gerade an meine letzte Klassenarbeit in Geschichte, in der ich eine Eins für meine Ausführungen zum Sklavenhandel dafür bekommen habe, dass ich anschaulich beschrieben habe, wie sie den armen Sklaven ihr Selbstbewusstsein geraubt haben. Es gab da nämlich besonders kräftige Sklaven, die trotz ihrer Eisenketten immer noch als sehr gefährlich galten. Besonders wenn sie, um Mühlsteine zu drehen, Tag für Tag wie Vieh im Kreis herumlaufen mussten, befürchteten die Sklavenhändler, dass sie aggressiv werden und ihnen Ärger machen könnten. Aber dann kam ein ganz besonders schlauer Händler auf die Idee, dass sie zum Drehen der Mühlsteine ja gar nichts mehr sehen können mussten, und deshalb stachen sie den kräftigsten Sklaven dann einfach ihre Augen aus. Und stell Dir vor, Mila, das hat tatsächlich so gut funktioniert, dass man das dann bei allen Mühlradsklaven so gemacht hat, weil sie ohne ordentliche Förderung als Blinde plötzlich so abhängig waren, dass sie trotz ihrer starken Muskeln immer schön brav bleiben mussten.“

„Bin ich denn wirklich so unselbständig, wie Du gerade tust?“, fragte Mila und legte mir dabei nachdenklich einen ihrer Arme um meine Schultern.
„Braucht ihr Hilfe?“, hörten wir plötzlich aus dem Nichts eine Männerstimme rufen und dann ganz schnelle Schritte, die sich von der anderen Seite der Straße auf uns zubewegten. Mila wollte sofort aufspringen, aber ich hielt sie zurück.

„Warte doch erstmal, was der will und wie der rüberkommt, wenn er da ist“, sagte ich leise zu meiner scheuen Maus, die sich schon wie ein flüchtendes Reh aufrappeln wollte. Dann war er da, der Mann. Jetzt kam es zuerst darauf an zu checken, ob wir ihm trauen wollten. Manchmal war es nämlich gar nicht so einfach, freundliche Helfer, die mehr störten, als sie sich nützlich machen konnten, wieder loszuwerden, ohne gleich patzig werden zu müssen.

„Seid ihr gestürzt?“, fragte er uns aufgeregt und kniete sich vor uns hin. Dafür, dass er uns nicht gleich antatschte, hatte er schon mal den ersten Vertrauenspunkt bei mir gutgemacht.

„Nein, wir haben uns nur ein bisschen hingesetzt, weil Mobilitätstraining voll anstrengend ist, wenn man noch nicht genug Übung hat“, sagte ich ganz freundlich und schielte ihn dabei etwas kühl an.

„Hhhmm, okay … Aber so ganz entspannt seht ihr dann doch nicht aus. Ich helfe Euch wirklich gern, wenn ich etwas für Euch tun kann. Wenn wirklich alles in Ordnung ist, kann ich auch weitergehen, ich will ja nicht aufdringlich sein“, sagte er in einem Ton, der verriet, dass er sich offensichtlich um uns sorgte.

„Es ist wirklich alles in Ordnung, aber wenn sie wollen, dürfen sie sich mit meiner Freundin gern ein paar Minuten über den besten Weg zum alten Marktplatz unterhalten. Währenddessen würde ich mir dann, bevor es wieder weitergeht, hier noch schnell mein Make-up auffrischen und ein bisschen mein Outfit in Ordnung bringen“, antwortete ich freundlich und wies mit einer lockeren Geste auf Ronja.

„Ich kann Euch auch gern hinbringen, das ist vielleicht einfacher, als deiner Freundin den Weg so umständlich zu erklären“, erwiderte unser Helfer, der wirklich einer von der besseren Sorte, die man antreffen konnte, zu sein schien. Seine Stimme verriet mir, dass er jetzt eher höflich und nett als überfürsorglich wirken wollte.

„Wir wollen ihnen aber wirklich keine Umstände machen“, hörte ich dann meine Freundin Mila sagen und zischte, während ich das Päckchen mit den feuchten Abschminktüchern aus meinem Rucksack zog, energisch dazwischen.

„Das war die falsche Antwort, Mila“, sagte ich, während ich mir meine vom Schweiß verlaufene Wimperntusche, den Lidschatten sowie das aufgeweichte Puder von meiner Augenpartie wischte. Danach fummelte ich zuerst wieder meine Puderdose heraus.

„Ah, ich verstehe, Du willst Deiner Freundin Mila also beibringen, wie sie nur mit einer aufgefrischten Wegbeschreibung ohne weitere fremde Hilfe selbständig wo ankommen kann“, antwortete unser Helfer, der mich immer mehr verblüffte. Während ich mich nach dem Ausbessern meiner lädierten Schminke mit dem Puder und danach mit neuem Lidschatten und frischer Wimperntusche wieder salonfähig machte, verfolgte ich zufrieden den Dialog zwischen meiner Freundin und dem unaufdringlichen Helfer. Ronja war jetzt plötzlich so eifrig bei der Sache, dass ich mir sogar noch in aller Ruhe sehr sorgfältig den Lippenstift auflegen konnte, den ich mir für mein heutiges Outfit bei Toni herausgesucht hatte. Kurz darauf verabschiedeten wir uns von dem charmanten Helfer und ich folgte Mila an ihrem Arm, die mit ihrem Stock plötzlich so konzentriert der Rinnsteinkante folgte und dabei einen viel kräftigeren Zahn zulegte, als ich ihr das noch vor wenigen Minuten so zugetraut hätte.

 

Morgengrauen

Mara

 

„Mara? Was war das denn? Etwa schon wieder Dein Kreislauf oder hast du jetzt Angst? Kannst du wieder alleine stehen?“, hörte ich Alex fürsorglich mit zittriger Stimme fragen.

„Mir geht es schon wieder gut, Alex. An dieser Lederhaube liegt es bestimmt nicht. Glaub mir, ich bekomme auch so genug Luft“, wollte ich mit beruhigenden Worten schnell sagen, bis ich hörte, dass aus dem Futteral nur ein dumpfes Murmeln drang und Alex aufgeregt weiter an den Schnallen an meinem Hals herumfummelte.

„Alex, bitte, es ist wirklich alles wieder gut. Ich glaube, mir war nur wieder kurz schwarz vor meinen Augen geworden. Von der Aufregung vielleicht … oder von den vielen Treppen“, sagt ich schnell und tastete nach meiner Lederhaube. Schnell stellte ich fest, dass diese mir während meiner kurzen Bewusstlosigkeit zwar schon wie vorher meine Augenbinde auch etwas gelockert worden war, aber dass sie zum Glück noch fest genug saß.

„Wolltest du deine blinde Partnerin eben nicht noch zum Set führen? Oder hast du jetzt etwa schon wieder Angst davor, dass uns mein etwas launischer Kreislauf die ganze Show platzen lassen könnte?“, stichelte ich ihn um ihn abzulenken auf ähnliche Art wie vorher im Auto und tastete so selbstverständlich wie alle Blinde das bei ihren Partnern tun nach seinem Arm. Zuerst erwischte ich ihn am Unterarm und strich zügig über seine dichten Haare hinauf bis zu seinen Ellenbogen. Von dort glitt meine Hand, ohne inne zu halten, darüber hinweg, bis ich die richtige Stelle an seinem Oberarm gefunden hatte. Durch die Haut seines Oberarms hindurch spürte ich seine Muskeln und umgriff oberhalb seines Ellenbogens zärtlich die passendste Stelle, um mich von ihm so wie Marga mich für die erste Szene hergerichtet hatte, durch das Studio führen zu lassen. Alex schoss locker und beschwingt los und es schien mir so, als ob er gar nicht bemerkte, wie aufgewühlt mein Inneres von dem kleinen Zwischenfall noch war. Es kam mir zwar wieder so vor, als sei ich stundenlang ohnmächtig gewesen, aber ich war mir trotzdem sicher, dass meine Ohnmacht mich bei weitem nicht so wirklich lange weggebeamt haben konnte. Außer meiner Lederhaube war auch meine Seidenbluse von dem Schluck Wasser, den Alex mir, um mich wieder aufzuwecken, übergeschüttet hatte, so nass wie meine Augenbinde vorhin im Auto geworden. Sehr lange konnte das Ganze absolut nicht gedauert haben. Das hörte ich nämlich auch wieder an der Geräuschkulisse, in Verbindung mit den Lauten, die ich aus den letzten Sekunden bevor ich weggeklappt war, noch gut in Erinnerung hatte und die noch immer fast die gleichen waren. Zu meinem Glück im Unglück durfte ich also wohl davon ausgehen, dass hier im Casting Studio außer Marga und Alex niemand von den anderen etwas von meinem Ausfall mitbekommen haben konnte. Ob die beiden, die in meiner Nähe waren, etwas von meinem Albtraum aufgeschnappt hatten, wusste ich jedoch schon wieder nicht. Genau davor hatte mich Ronja bis zum Schluss auch noch gewarnt und mir vorgehalten, dass ich mir selbst untreu werden würde, wenn ich plötzlich damit anfangen würde zu versuchen meine Blindheit vor Fremden zu verstecken. Ronja warnte, dass ich mich damit sogar selbst verleugnen würde. Dummerweise wurde mir erst jetzt richtig bewusst, was Ronja mir damit eigentlich sagen wollte. Aber wenn ich Alex jetzt beichten würde, dass ich auch ohne Augenbinde nichts sehen konnte, weil ich in Wahrheit genauso blind wie meine Freundin Ronja bin, würde das inzwischen richtig peinlich werden. Dass eine Blinde, also ich, ihre Blindheit nur unter der schwarzen Augenbinde versteckt hatte und die Wahrheit bisher geflissentlich verschwiegen hatte, das würden mir hier wohl auch diejenigen, die mir bis jetzt noch wohlgesonnenen waren, eher nicht durchgehen lassen. Langsam aber sicher wurde auch mir, leider viel zu spät, klar, dass ich, wenn dieses Geheimnis hier ans Licht käme, ohne Wenn und Aber als Lügnerin überführt wäre. Andererseits konnte es Alex ja eigentlich auch genauso so egal wie mir sein, ob ich unter meiner Augenbinde Schwarz, Weiß oder auch ganz einfach überhaupt nichts sehen konnte. Schließlich machte es ja auch wirklich keinen Unterschied, ob Frauen wie Ronja und ich beim Schminken schwarz, weiß oder gar nichts sahen. Das einzig Wichtige daran war doch schlussendlich nur, wie wir danach für Sehende aussahen. Aber eben nur fast, weil da ja neben dem Schminken zumindest bei Ronja noch das Problem mit ihren weiß vernarbten Augäpfeln bestand, das sie versuchte, mit ihren pechschwarzen Brillen zu kaschieren. Im Gegensatz zu ihr war ich mit meinem gut angepassten Paar Glasaugen bisher eigentlich auch ohne Brille immer ganz gut klargekommen. Natürlich war ich mir aber dennoch darüber bewusst, dass Sehende mir am blinden Blick meiner beiden Prothesen meist auch ohne so eine verräterische schwarze Brille trotzdem sofort ansahen, dass ich auch eine Vollblinde sein musste. Ich lernte schnell, dass meine künstlichen Augen, obwohl ich sie sogar noch eingeschränkt wie echte Augen bewegen konnte, Sehenden meine Blindheit schnell gnadenlos offen legten. Bei Licht betrachtet waren es ja auch wirklich nur noch zwei bunte Glasschälchen, die sich bei mir auf den chirurgisch sauber vernähten Resten meiner Augenmuskeln wie echte Augen bewegten. Meine Augen, die ich als Ersatz für meine entfernten Augäpfel wie Monokel in meinen entleerten Augenhöhlen trug, konnten sich deshalb trotz ihrer Beweglichkeit nicht mehr sehr genau auf das fokussieren, was ich mir mit meinen verbliebenen Sinnen gerade ansah. Hinzu kam noch die Starrheit der beiden großen schwarzen Glaspunkte, die mir in meinen neuen Augen vorne als Ersatz für richtige Pupillen genau in der Mitte jeder Iris in meine blinden Blicke eingeschmolzen worden waren. Für mich war dabei das einzig wirklich Wichtige, dass meine wunderlichen Augen, obwohl ich damit stockblind war, dennoch richtig schön sexy aussahen. Dass das tatsächlich so wahr, hatten mir schon früh einige meiner Freundinnen, die entweder Normalsichtige waren, oder die wenigstens noch über einen ausreichend brauchbaren Sehrest verfügten, glaubhaft bestätigt. Seither störte es mich auch nicht mehr, dass ich damit nur noch mehr oder weniger gut schielen und nicht mehr wie mit richtigen Augen exakt geradeaus schauen konnte. Das war halt bei mir alles einfach so wie es bei mir schon immer war und ich vermisste ja bisher auch nichts. Nur wie ein Monster wollte ich natürlich absolut nicht aussehen. Manchmal hörte ich aus den Beschreibungen von sehenden Freundinnen, die mir meinen Blick sogar mit betörend süß zu erklären versuchten, eine irrsinnig schrille Mischung aus Neid und Mitleid heraus. Gerade, weil andere Frauen mir für meine spezielle Optik schon recht oft so schöne Komplimente gemacht hatten, hätte für mich eigentlich auch heute alles, so wie es war, ganz anders richtig gut laufen können. Ich hätte nur nicht damit angefangen dürfen von Anfang an zu schummeln, dann wäre ich jetzt nicht in diese mir im Moment schier ausweglos erscheinende Klemme geraten. Hinzu kam noch, dass ich normalerweise auch ohne meinen Sehsinn eigentlich immer ganz selbstbewusst auftreten und solange ich denken konnte, auch fast immer ohne nennenswerte Unterstützung von Sehenden ganz gut allein zurechtkam. Aus meinen eigenen, als junge Frau bisher eigentlich trotz allem immer nur guten Erfahrungen, die ich im Umgang mit meiner Blindheit bis jetzt gemacht hatte, hätte gerade ich vorher wissen müssen, dass die absurde Idee mit der Augenbinde mir nur zusätzliche Probleme bereiten würde. Meine beiden Fakeeyes, die ich mit meinen unnötigen Schwindeleien zu Lügenblicken degradiert hatte, waren schließlich so hübsch angefertigt worden, dass ich meine Blindheit auch heute besser nicht hätte versuchen sollen zu verstecken. Aber die Versuchung, mit dem Augenbindentrick auch einfach mal wie eine richtig sehende junge Frau behandelt zu werden, war einfach zu groß. Albträume, die mich, als ich noch klein war, manchmal aus heiterem Himmel, so wie andere Frauen eine Migräne bekamen, mit Kindheitserinnerungen überfielen, hatte ich schon viele Jahre keine mehr gehabt. Das war für mich seit dem Moment so, als ich merkte, dass mich meine Blindheit weder in meiner Selbstwahrnehmung noch bei der Wahrnehmung meiner Umgebung im Vergleich zu meinen Freudinnen nennenswert einschränkte. Irgendwie hatte ich wohl Glück, dass ich schon sehr früh zu dieser Erkenntnis gelangte. Deshalb erlebte ich auch diese Albträume schon lange vor dem Eintritt in meine Pubertät so zum letzten Mal. Danach kamen mir meine Träume mehr wie Hollywood Romanzen vor, anstatt wie früher als Albträume. Sie gaben mir im Vergleich zu früher sogar sehr oft richtig viel Auftrieb. Im Gegensatz zu meinen frühkindlichen Angstattacken, an die ich mich bis heute früh nur noch vage erinnern konnte war mit dem heutigen Tag plötzlich alles ganz anders gworden. Insbesondere dann, wenn es früher darum ging, neue Cliquen aufzutun oder mit einer Frau, deren Temperament in meinem Takt pulste, eine heiße Nacht zu verbringen, waren mir meine beiden hübschen Glasaugen bisher stets treue Begleiter gewesen. Auch, dass ich deshalb, weil sie eben doch nur hübsche Attrappen sind, damit eben immer total blind unterwegs sein muss, war für mich selbst seit langer Zeit kein wirkliches Problem mehr gewesen. Aber Männer waren da wohl anders als Frauen gestrickt. Warum musste ausgerechnet Alex so ein Mann sein, der meinte, dass ein Leben ohne Augen für eine junge Frau nicht mehr lebenswert sei. Aber selbst wenn ich es jetzt noch mit Ronjas Trick, dem mit einer ihrer schwarzen Brillen probieren wollte, würde ich die verfahrene Situation hier in diesem Moment auch damit nicht mehr in den Griff bekommen.

„Wenn ich nur wüsste, wie ich diesen Traum deuten sollte und ob ich während meiner Ohnmacht möglicherweise, ohne dass ich es bemerkt hatte, sogar schon etwas von meinen Gedanken hatte verlauten lassen?“, fragte ich mich wiederholt noch einmal selbst. Von einem Augenblick zum anderen fühlte ich mich plötzlich verletzlich, weil meine Angst davor, entlarvt zu werden, mein Selbstbewusstsein immer mehr zerfraß und ich schon gar nicht mehr wusste, ob es schlimmer war, nur blind zu sein oder ob mich die Gefahr als Lügnerin dazustehen, noch mehr belastete. Mehr und mehr von meinen eigenen Ängsten verwirrt spürte ich wie lange Zeit zuvor nicht mehr, dass ich von Minute zu Minute unsicher wurde. Plötzlich begann ich zu verstehen, wie sich Ronja manchmal fühlen musste, wenn ich sie mit meinem Selbstbewusstsein und meiner Souveränität in den letzten Wochen oft an ihre Grenzen gebracht und überfordert hatte. Natürlich hatte ich es nur gut mit ihr gemeint, aber ich verstand gerade, dass mein Mitreißen im tiefsten Inneren meiner Freundin möglicherweise genau das Gegenteil bewirkte. Ich hatte ihr ohne es zu merken viel zu wenig Raum zur eigenen Selbstverwirklichung und zur Bewältigung selbstverursachter Risiken gelassen. Das Einzige, das sie brauchte, war vertraute Nähe als Vitamin gegen die Einsamkeit und gegen gefährliche Selbstzweifel. Schon deshalb hätte ich sie heute nicht allein zu Hause lassen dürfen. Während mir bewusst wurde, wie aufgewühlt und hilflos ich mich in diesem Moment seit langer Zeit selbst wieder fühlte – ich hatte es schlicht weg vergessen – halfen Selbstvorwürfe jetzt allerdings auch nicht mehr weiter. Die Selbstreflexion half mir aber dabei weiter, wieder zu mir selbst zu finden, weil mir wieder eingefallen war, was mich zu dem hatte werden lassen, wie ich bin.

Nebelplausch

Marvin

 

Die hellen, aber doch dumpf klingenden Töne des Bambus-Glockenspiels, das an Tonis Praxistür angebracht war, mischten sich harmonisch mit den anderen leisen Klängen, die mir hier immer sofort ein schönes Gefühl von Geborgenheit vermittelten.

„Hallo Marvin? Ich hätte dich ja fast nicht wiedererkannt, aber so perfekt wie du heute ausschaust, bekomme ich das ja, selbst wenn ich mir besonders viel Mühe gebe, bei mir nicht besser hin. Wie ich sehe, hast du heute auch nicht so wie sonst üblich deine Mutter als Guide für dich dabei. Ich hoffe, dass es ihr gut geht, und freue mich darauf, deine neue Begleiterin kennenzulernen“, begrüßte mich Toni wie eine alte Freundin.

„Hat dein neues Outfit auch etwas mit ihr zu tun oder verbirgt sich etwas ganz anderes hinter deiner Verwandlung?“, fragte Toni, die von Marvins neuem femininen Erscheinungsbild offensichtlich überrascht, aber eher neugierig interessiert als ablehnend klang.

„Ja, meiner Mutter geht es so weit ganz gut, nur mir geht es nicht mehr gut mit ihr. Zum Glück hat sie noch nichts davon mitbekommen, wie Mila und ich heute unterwegs sind. Mila ist nämlich gar nicht mein Guide, das ist eher umgekehrt, sie ist nämlich meine Freundin“, sagte ich und nahm Toni dabei herzlich in den Arm.

„Hallo Mila, herzlich willkommen. Wollt ihr beiden Hübschen erstmal einen Tee?“, fragte Toni, die nie gleich zu hastig zum eigentlichen Thema kam. Toni interessierte sich immer erst für alles Mögliche, also alles, was sich seit dem letzten Besuch bei ihr so alles zugetragen hatte.

„Ein Tee ist zur Begrüßung? Da fühle ich mich doch gleich ganz wie bei uns zu Hause“, sagte Mila, die sonst gar nicht so schnell war, wenn es darum ging, mit Fremden locker zu plaudern. „Meine Familie kommt schließlich aus Albanien und da gibt es immer zuerst mal Tee, vor allem dann, wenn sich Leute zum ersten Mal neu begegnen, aber natürlich auch, wenn wir alte Freunde wieder willkommen heißen. Eigentlich gibt es bei uns immer Tee.“ plauderte Mila gleich weiter.

„Aus Albanien? Dann scheinst du ja aus einer kulturell sehr weltoffenen Familie zu kommen. Auf einige junge Frauen, die von dort kommen und sich hier von mir versorgen lassen, wird so gut aufgepasst, dass sie keinen Meter alleine vor die Tür kommen können. Das führt dann leider unweigerlich dazu, dass sie große Defizite in ihrer Mobilität aufbauen“, antwortete Toni meiner Freundin Mila mit einem anerkennenden Kompliment.

„Da brauchst du aber gar nicht bis nach Albanien zu schauen, Toni. Meine Mutter will mich inzwischen auch mit allen Mitteln an die Kette legen“, blaffte ich zornig dazwischen.

„Wenn meine Brüder etwas von Marvin wüssten, ginge es mir auch nicht anders. Selbst als Mara habe ich mich noch nicht getraut, sie mit zu uns nach Hause mitzunehmen oder daheim etwas mehr von uns zu erzählen. Sie wissen nur, dass ich in der Schule ein anderes blindes Mädchen getroffen habe und dass wir uns öfters bei Mara treffen, um zusammen zu lernen. Aber schon wenn Mara mich zuhause zum gemeinsamen Lernen abholen kommt, spüre ich, dass man mich überhaupt nicht gern mit ihr mitgehen lässt", antwortete Mila, die zu Toni überraschend schnell das gleiche Vertrauen unter Frauen gefunden hatte wie das bei mir auch der Fall war, als ich sie zum ersten Mal traf.

„Ein anderes blindes Mädchen? Also ist es damit offiziell, dass du dich als Frau entdeckt hast, Mara?“, fragte Toni ganz locker in unsere kleine Dreierrunde.

„Ja, aber das ist schon lange so. So richtig dumm läuft es erst, seit mein Vater weg ist, was ich ihm, nachdem ich am eigenen Leib erfahren muss, wie stur meine Mutter sein kann, überhaupt nicht mehr verübeln will. Zum Glück habe ich jetzt Mila. Wenn ich sie nicht hätte, wäre ich meiner Mutter inzwischen vielleicht auch schon genauso wie mein Vater davongelaufen, aber was nicht ist, kann ja noch werden“, antwortete ich Toni mit entschlossener Stimme.

„Weglaufen ist aber selten eine gute Lösung. Woran hängt es denn konkret? Ich meine damit, dass du ja offensichtlich immer noch genug Freiräume für die gemeinsame Zeit mit Mila finden kannst. Und sie scheint es ja auch nicht einfacher zu haben, sich zu dir wegschleichen zu können, oder?“ sagte Toni, die viele Sachen, vor allem dann, wenn sie zunächst problematisch erschienen, oft ganz einfach auf einen sehr praktischen Nenner bringen konnte.

„Aber manchmal ist Weglaufen eben die einzige Option“, brummte ich und ergänzte noch etwas dazu.

„Wenn ich ihr zu meinem Vater weglaufen würde, wäre das sogar voll legal.“

„Und wenn ich eine andere Option hätte, die vielleicht besser ist?“, fragte Toni ganz entspannt und schob auch noch etwas nach. „Eine Option mit Mila, also eine Option für euch beide?“

„Hey Toni! Echt jetzt …? Und wie wäre die? Deine Option, meine ich?“, hörte ich mich aufgeregt rufen und fiel Toni ganz spontan um den Hals.
Also passt mal auf, ihr zwei. Ich kenne da eine Frau, sie heißt Maika, eine Amateursportlerin, die hauptberuflich bei der Stadt tätig ist und als Abteilung des Turnvereins eine Inklusionssportgruppe betreibt. Wäre das denn nicht etwas für euch beide?

„Oje, ich und Sport, sowas kann ich doch gar nicht, das geht ja schon damit los, dass ich einen Ball nicht einmal dann sicher sehen kann, wenn er nur langsam auf mich zurollt“, sagte Mila entsetzt.

„Ach Mila, tu doch nicht so, als ob man alle Bälle sehen muss, um mit ihnen zu spielen. Da gibt es zum Beispiel Showdown – eine Art Tischtennis – das ist so ähnlich wie Air-Hockey – es wird auch als Tischball bezeichnet oder Blindentischtennis genannt. Ganz abgesehen davon gibt es neben den ganzen paralympischen Disziplinen mit und ohne Bälle ganz viele Sportarten, bei denen wir überall mitmachen können“, entgegnete ich ihr voller Begeisterung.

„Du meinst, ich müsste es nur wollen und mich trauen“, sagte Mila zwar noch ängstlich, jedoch schon etwas mutiger.

„Aber mein anderes Problem löst das immer noch nicht“, fügte ich plötzlich sogar etwas schmollend und weniger begeistert als vorher hinzu.

„Du bist heute aber ganz schön schwierig, Mara", bemerkte Toni zwar ausgleichend, aber dennoch etwas vorwurfsvoll in meine Richtung. Ich gehe mal davon aus, dass dir Mara als Anrede lieber ist als Marvin, oder?“, seufzte Toni und fuhr fort.

„Gib dir und uns doch einfach mal ein bisschen Zeit, Mara. … Okay? Alles Weitere sollten wir dann eh besser mit Maika besprechen. Ich rufe sie einfach mal an und frage sie, ob sie spontan Zeit hat, mal schnell hier vorbeizukommen. Aber nur wenn ihr das wollt, ihr seid ja eigentlich aus einem ganz anderen Grund hier und ich will mich ja nicht aufdrängen, wenn ihr eure Dinge anders regeln wollt.“

„Also wenn ich den Ball nicht sehen muss, würde ich mir das schon mal anhören, bevor mir Mara wieder vorhält, dass ich so unselbständig wie eine geblendete mittelalterliche Sklavin erzogen worden bin“, sagte Mila. Sie verblüffte mich mit ihrer offensiven Kommunikation dermaßen, dass mir erst mal meine Spucke wegblieb und ich deshalb nur sprachlos zustimmend zu dem Gesagten nicken konnte. Nach einem kurzen Telefonat kam Toni dann vorsichtig zur Sache.

„Maika kommt in zwanzig Minuten dazu. Dann hätten wir, falls du dafür jetzt noch genügend den Kopf freihättest, noch ein bisschen Zeit für deine Augen, Mara. Kommst du gut klar so oder möchtest du es lieber mal mit Acryl statt mit Glas probieren?“, fragte Toni vorsichtig und ersparte Mila feinfühlig die peinliche Frage, ob Mara sie vielleicht bei dem nachfolgenden Gespräch gar nicht dabei haben wollte.

„Ich kann auch hinausgehen, wenn euch das lieber ist?“, sagte Mila aber dann sofort von sich aus in die Runde.

„Nee, bleib nur, so einfach kommst du hier jetzt nicht mehr weg, Süße“, sagte Mara und fügte hinzu, dass Mila schließlich schon vor zwei Jahren einen Glaukomanfall auf ihrem rechten Auge hatte. Ihr kollabiertes Glupschauge war seither nicht nur ein hässlicher Makel, sondern war auch zu einem medizinischen Problem geworden, das meiner Freundin seit einiger Zeit auch zunehmende Schmerzen bis hin zu heftigen Migräneanfällen bereitete.

„Das kenne ich nur zu gut aus eigener Erfahrung“, sagte Toni, die aus dem gleichen Grund auf einer Seite selbst ein Glasauge in ihrer einen, aus dem gleichen Grund auch ausgeräumten Augenhöhle trug. Dann fügte Toni hinzu, dass sie jetzt aber gern zuerst wenigstens noch den Status von Maras Augen fertig machen würde und danach auch Mila gern zur Beantwortung von Fragen oder für Beratungen zur Verfügung stehen wolle.

„Eigentlich wollte ich mir von dir heute meine jetzigen Glasprothesen erstmal nur kurz frisch aufpolieren lassen, Toni. Das ist ja der große Vorteil, dass die das mit sich machen lassen und man sie nicht dauernd wegschmeißen muss, wenn man endlich mal welche hat, die voll gut passen. Oder hast du was den Sport, über den wir gerade gesprochen hatten, etwa Bedenken, dass mir dabei meine Glasprothesen dann plötzlich doch unerwartet zu Bruch gehen könnten?"

„Aber nein, Mara, deine Glasprothesen sind auch, was die Gefahr von Allergien angeht, natürlich immer noch das Nonplusultra. Solange sie dir mit organischen Einlagerungen noch keine Probleme bereiten und du noch so gut mit ihnen klarkommst, spricht auch überhaupt noch nichts für neue Augen. Sie sind ja auch noch gar nicht so alt. Auch wegen des Sportes hätte ich zunächst mal eher wenig Bedenken, außer wenn du vorhättest, gleich mit hartem Kampfsport wie zum Beispiel Kickboxen einzusteigen. Ich gehe mal davon aus, dass du auch in den vergangenen Monaten weder Probleme mit Reizungen noch mit Entzündungen hattest. Aber ich würde trotzdem mal gern noch selbst draufschauen, wenn das für dich ok ist?“, sagte Toni vorsichtig wie immer. Toni wusste natürlich, dass ich ihr gegenüber diesbezüglich überhaupt nicht dünnhäutig war und weder Probleme noch Scheu davor hatte, dass sie mir bei jeder Kontrolle auch immer meine beiden Augen kurz herausnehmen musste. Toni war schon aufgestanden und in den hinteren Teil des Zimmers gegangen, wo sie geduldig darauf wartete, dass ich, wenn ich auch so weit war, zu ihr nachkommen würde. Für die anstehende Prozedur stand dort eine gepolsterte Liege, deren bequeme Kopfstütze mit weichem Leder überzogen war. Diese stand unter einer starken Lampe, das wusste ich noch von früheren Besuchen bei Toni. Ich stellte mir das immer so ähnlich vor, wie man das von Zahnarztpraxen kannte, und den Weg dorthin kannte ich auch gut genug, um ihr ohne Stock zügig folgen zu können.

 

Vollstreckung

Mara

 

„Wie geil ist das denn!“, hörte ich das Ekel wie durch Watte gleich wieder dumm in der Halle herumschreien. Nur war das Geschrei jetzt so leise, dass ich die Worte fast nicht mehr verstehen konnte. Wegen des schalldämmenden Effektes dieser schrecklichen Ganzkopfledermaske konnte ich nun auch keine Details mehr hören. Das machte mir in dieser surrealen Lage, in die ich mich aus purem Übermut hineinbegeben hatte, im Gegensatz zu meiner Blindheit jetzt auch wirklich etwas Angst. Zusätzlich zu der Angst spürte ich aber auch Wut in mir aufkeimen, weshalb ich in meiner fortgeschrittenen Isolation plötzlich richtig sauer wurde. Ronja hatte mich zwar davor gewarnt, dass ich niemandem trauen könne, aber diese Einsicht kam jetzt etwas spät. Wie kamen diese unersättlichen Auftraggeber überhaupt dazu, mich hier wie eine Leibeigene vorzuführen? Oder war ich hier tatsächlich in einer mittelalterlichen Folterhölle anstatt in einem nur etwas schrägen Berliner Filmstudio gelandet? Vertraglich war schließlich nur ausgemacht gewesen, dass ich meinen Auftraggebern zu meiner Gage als Model noch einen Tag Blindheit schulde. Aber von einem Hörverlust, dem ich ganz bestimmt nicht zugestimmt hätte, war vorher nie die Rede gewesen. Etwas nüchterner betrachtet waren die Akteure hier aber vielleicht doch nur durchgeknallte Künstler und keine echten blutrünstigen Barbaren. Für Marga, die Kamerafrau, und Alex, den ich inzwischen noch süßer als vorher fand, mochte das ja zutreffen, aber sicher nicht für diesen ungehobelten Schreihals. Kaum, dass ich an ihn gedacht hatte, hörte ich ihn auch schon wieder weit entfernt, größtenteils unverständlich, immer noch in einer Tour weiter herumbrüllen.

„Di. ….e Einst…. nochm… Ma.ga d… hoh.. .uss abe.d…. m.. Kett. .m Hals.“ Nur einen kleinen Augenblick später drehte Marga mich unerwartet um meine eigene Achse und ich spürte, dass ich unverrichteter Dinge wieder zurück in das Zimmer mit ihren Utensilien gebracht wurde. Dort angekommen streichelte sie mich beruhigend und schrie mir in eines meiner beiden tauben Ohren, dass ich das ganz cool gemacht hätte und froh darüber sein solle, dass mein Shooting gleich so gut angefangen habe. Dann klickte sie mir direkt über meinem Kehlkopf eine rasselnde Kette an meinen Hals. Die Taubheit hatte meine Wahrnehmung zwar schemenhaft und gespenstig blass werden lassen, aber ich konnte mir trotzdem noch ganz gut zusammenreimen, was Marga und ihre Filmtruppe weiter mit mir vorhatten. An dem Leder, das man mir um meine Kehle geschnallt hatte, befand sich offensichtlich eine spezielle Öse für eine Kette, an der Marga mich dann gleich wieder zurück in das Rampenlicht der Halle führte. Aber als mich dort dann eine andere Person rau an meiner Halskette ergriff und mich wie ein Stück Vieh eine schmale hölzerne Treppe hinauf zerrte, holte ich tief Luft, um laut zu schreien. Denn ich hatte mich gerade dazu entschlossen, mir die ganze Maskerade vom Körper zu reißen und die verfluchte Kacke hier an dieser Stelle jetzt einfach komplett abzubrechen. Doch dann spürte ich im letzten Moment, bevor ich meiner aufgestauten Wut freien Lauf lassen wollte, eine sehr zärtliche Umarmung. Es waren die Arme des Mannes, dem ich bis hierher gefolgt war – Alex. Zornig und hilflos, wie ich zwar immer noch war, spürte ich jetzt aber auch wieder diesen einen unausgesprochenen Wunsch in Erfüllung gehen. Ich roch den Atem von Alex, der mir plötzlich wieder ganz nah war, und ich spürte, wie er mich vorsichtig von der Kette an meinem Hals befreite. Zu dumm, dass diese blöde Haube keine Öffnung für meinen Mund hatte. Ganz sanft drückte er mich nach hinten und setzte sich neben mich auf eine hölzerne Bank. Seine Finger glitten plötzlich zärtlich über meinem Hinterkopf und ich stellte mir vor, dass er mich wie eine Prinzessin in einem Märchen mit einem Kuss erlösen wolle. Wie in Trance ließ ich mich entspannt zur Seite kippen und zärtlich von ihm auf meinem Rücken liegend auf die Holzbank betten. Aber dann hörte ich plötzlich ein angsteinflößendes Zischen, das in Sekundenbruchteilen zu einem wilden Fauchen anschwoll und in meinem Kopf eine infernalische Panik explodieren ließ.

„Tock!“, dröhnte es dumpf durch die Halle, bevor der derbe Ton, satt in einer eigenartigen Stille, verklang und sich das Geräusch, begleitet von gruseligen Echos, zwischen den Requisiten verlor. Total benommen spürte ich, dass Alex’ Finger vor Aufregung – oder war es gar Erregung? – wie Espenlaub zitterten, während er mich von der fürchterlichen Kopfhaube befreite. Marga wischte mir mit einem lauwarmen Tuch, das nach einer Mischung von Rosen und Lavendel duftete, den Schweiß von meinem Gesicht, während Alex mir tröstend meine Hände hielt. Seine Fingerkuppen glitten über meine glühenden Wangen und tanzten verspielt über die feuchte Seide meiner Augenbinde. Diese war inzwischen von dem Wärmestau, unter dem das derbe Leder dampfend heiß geworden und von meinem Angstschweiß tropfnass durchweicht. Ich spürte auch sofort, dass sie merklich enger als vorher saß, weil die Seide von der Nässe eingegangen und von der Wärme noch zusätzlich geschrumpft worden war. Das schwarze Tuch war unter der bizarren Haube zu einer Art Kordel geworden, die sich mittlerweile ganz schmal in meine blonden Haare eingegraben hatte. Der seidenweiche Stoff war während des Drehens zu einer schwarzen Schnur geworden, die sich wie ein Gummi über meinen damit fest verbundenen Augen bis zu meinen Schläfen so tief in meine Augenhöhlen eingeschnürt hatte, dass meine Lider nun regelrecht festgezurrt waren. Zum Glück tat mir das jämmerlich schmerzliche Bild, das ich in diesem Moment sicherlich abgab, weder seelisch noch körperlich weh. Aber mir war trotzdem etwas mulmig zumute, weil ja jedem der Anwesenden jederzeit aufstoßen könnte, dass ich in meinen beiden Glasaugen kein Schmerzempfinden mehr hatte. Die doofe Augenbinde machte mir vor allem deshalb zunehmend Probleme, weil ich sie mehr und mehr als Verleumdung meiner selbst empfand. Bei Licht betrachtet machte ich mir inzwischen viel zu viele Gedanken darüber, dass ich enttarnt und so der Lüge überführt werden könnte. Vielleicht war ich nur deshalb blind für die Erkenntnis, dass außer mir hier ja eigentlich noch niemand erahnen konnte, dass ich unter meiner Augenbinde nur deshalb keine Schmerzen empfinden konnte, weil ich beidseitig enukleiert worden war. Sie konnten überhaupt nicht wissen, dass mir dort, wo früher einmal meine richtigen Augen waren, während der Enukleationen gefühlstaube Plomben unter meinen Augenmuskeln eingenäht werden mussten, um mir wenigstens einen Rest Beweglichkeit für meine Glasprothesen zu erhalten. Dennoch war ich mir bewusst, dass ich mir mit meiner Schwindelei ein riskantes Spiel eingebrockt hatte. Der Druck meiner Augenbinde wurde mir ungeachtet dessen, dass die zwei Plomben, mit denen meine leeren Augenhöhlen aufgefüttert worden waren, keine Schmerzrezeptoren hatten, dennoch zusehends lästig und mit fortschreitender Zeit nervte mich das schwarze Accessoire mehr und mehr. Im Gegensatz zu meiner Freundin Ronja war ich ja nicht mal das Tragen einer Brille gewohnt. Die Seide, die sich während der vergangenen halben Stunde immer tiefer in meine Kopfhaut eingeschnürt hatte, quetschte mir die Glasschälchen meiner Augenprothesen mittlerweile immer strammer auf meine Bindehäute, die bei mir, weil ich darunter keine Hornhäute mehr hatte, zum Glück auch nicht mehr wirklich schmerzempfindlich waren. Trotz allem fühlte sich mein schwarzes Kopfband dennoch überhaupt nicht mehr so leicht und schon gar nicht mehr so zart an wie zu dem Zeitpunkt , zu dem Alex mich zu Hause abgeholt hatte. Meine Maskerade war zwar noch nicht wirklich schmerzhaft, aber sie wurde mir zunehmend unangenehm. Eigentlich fehlte mir nur eine gute Idee oder noch besser eine Chance, die ich dafür nutzen konnte, um mich, ohne mich damit zu outen, wieder von meinem unnötigen Kopfband zu befreien. Das alles ging mir durch den Kopf, während ich das sanfte Streicheln von Alex auf der nassen Haut meines Gesichtes genoss. Dabei saß ich in meine Gedanken versunken, verträumt neben ihm auf der Holzbank, die zu den Requisiten der Enthauptungsmaschine gehören musste, und hatte meinen Kopf an seiner Schulter angelehnt. All die schönen Stunden, die ich in den letzten Wochen mit meiner Freundin Ronja erlebt hatte, verblassten im Moment vor den Gefühlen, die in mir jetzt für Alex brodelten. Nur die Dreharbeiten, die noch nicht beendet waren, standen meinem heutigen Glück jetzt noch im Wege. Ich träumte schon kurz davon, mich jetzt gleich mit Alex in die Polster dieser Liebesschaukel, mit der er mich abgeholt hatte, drücken zu dürfen. Leider rissen mich die Worte der Stimme, die ich noch von der Zurechtweisung des Trampels in Erinnerung hatte, aus meinen schönsten Träumen und holten mich wieder total unromantisch in die Realität zurück. Frisch aus meinen Träumen gerissen war ich zwar ungeduldig, aber ich war auch darauf gespannt, wie es jetzt weitergehen würde. Sofort konzentrierte ich mich wieder darauf, mich nicht doch noch aus Versehen zu früh zu verraten und mein Geheimnis, solange es mir noch nötig erschien, weiter sorgfältig bei mir zu bewahren.

„Jetzt fehlen mir aber echt die Worte! …“ hörte ich diese rauchige und auch sehr sympathische Frauenstimme in einem ganz anderen Tonfall als vorhin warm und herzlich klingen. Sofort hörte ich heraus, dass sie nie viel zu sagen brauchte, um das zum Ausdruck zu bringen, was sie ehrlich dachte.

„Du musst Susi, die Kamerafrau sein?“, sprudelte ich erfreut in ihre Richtung heraus und war froh darüber, nun auch meine eigene Stimme wieder unverfälscht hören zu können.

„Ja, ich bin Susi und das, was ich von euch beiden eben in meinen diversen Kästen und Boxen aufgenommen habe, ist das Schärfste, was ich in meinen zwischenzeitlich fast sieben Berufsjahren je vor meine Linse bekommen habe", sagte Susi.

„Eine Enthauptung mit dem Gesicht nach oben. Das hat sich hier vor dir noch keine getraut. Ich habe auch schon eine Idee dafür, wie wir die neue Bilderstrecke nennen könnten", fügte Susi noch total begeistert hinzu.

„Romeos und Julias kopflose Liebe im Schatten der Guillotine könnte doch voll passen“, hörte ich Susi danach noch sagen, und es klang irgendwie so, als ob sie von uns für ihren Einfall auch gern ein bisschen Lob hören wollte.

„Wie?“, fragte ich ganz verdutzt. „Hast du mich eben etwa gerade einen Kopf kürzer gemacht, Alex?“

„Aber ja, Mara, diese heftige Horrorszene hast du tatsächlich mit Bravour hinter dich gebracht. Das Geräusch von dem herabfallenden Fallbeil, das dir einen so großen Schrecken eingejagt hatte, hast du Marga mit ihren Lautsprechern und den Verstärkern zu verdanken. Den Rest erledigt Susi am Schneidetisch.“

„Ganz ohne Theaterblut und ohne Schweinerei?“, fragte ich ungläubig.

„Hey, willkommen in der digitalen Realität, Süße“, sagte Alex und knuffte mich frech mit seinem Daumen in meine Seite.

„Aber die modernen Effekte kennst du doch sicher auch vom Fernsehen und aus dem Kino. Selbst Liebesschnulzen kommen heute ja nicht mehr gut beim Publikum an, wenn die coolen Bildeffekte fehlen", erklärte mir Alex.

„Das geht ja mittlerweile schon bei den Bands los. Ein Musikvideo, das nicht gleich mit krassen Bildern knallt, hört sich doch inzwischen, selbst dann, wenn die Musik noch so gut ist, fast keiner mehr bis zum Schluss an. Die zippen doch dann alle lieber gleich zur nächsten Show weiter, wo es außer nur auf die Ohren auch wieder ordentlich was dazu auf die Augen gibt", fügte Alex dann noch ergänzend hinzu.

„Von mir aus, ich hab’s da halt mehr mit passenden Büchern zur Musik als mit Filmen“, beendete ich das Gespräch etwas kühl. Dann fragte ich, ob das Casting mit meiner unerwarteten Enthauptung so früh am Tag jetzt etwa schon wieder beendet sei.

„Schließlich sind wir ja alle Profis und wissen auch sicher alle noch etwas Besseres mit unserer Zeit anzufangen, als diese hier nutzlos weiter verplempern zu müssen. Falls es das dann schon war mit meinem heutigen Shooting, wäre ich ganz froh, wenn Alex mich dann gleich wieder nach Hause bringen würde", sagte ich dann noch etwas spitz.

„Hey Puppe, in deinem Vertrag steht bis 17:00 Uhr, oder soll ich dir den Rest von deiner Gage abziehen? Dann kannst du auch gleich gehen“, tönte der unsympathische Produzent wieder unpassend dazwischen.

„Besser Fresse zu, wenn du keinen Plan hast“, blaffte Susi das fettleibige Ekel an. „Noch besser wäre es, du würdest gleich ganz Leine ziehen. Wolltest du nicht noch in die Stadt oder irre ich mich da?“ Meine Augenbinde spannte sich von dem schadenfrohen Grinsen, das ich mir aber überhaupt nicht verkneifen wollte, kurz noch mehr. Die schwarze Seidenschnur grub sich dabei mit noch tieferen Furchen in die nackte Haut meiner äußeren Augenwinkel hinein, aber, außer dass mich mein Kopfband immer mehr nervte, schmerzte mich dort zum Glück noch immer nichts wirklich. Susi war mir richtig tough zuvorgekommen, bevor ich dem Dicken selbst etwas auf seine neuerliche Unverschämtheit hatte antworten können. Wenig später hörte man vom Innenhof noch kurz das röhrende Aufbellen eines Sportwagenmotors, dann war er endlich wirklich weg, der Depp.

„Jetzt brauchen wir noch die kurze Szene mit dem Richtschwert und dann können wir uns den schönen Einstellungen mit dem quicklebendigen Engelchen zuwenden“, sagte Susi gut gelaunt in die kleine Runde. Einerseits schöpfte ich, als ich das hörte, wieder Hoffnung auf einen dann doch noch recht frühen Feierabend für mich. Aber andererseits wurmte mich der Gedanke, dass Alex nach den Szenen mit mir noch mit einem ‚Engelchen‘ weitere Einstellungen drehen sollte. So hatte ich mir diesen Tag nun wirklich nicht vorgestellt und ich spürte plötzlich eine bleierne Traurigkeit in mir aufsteigen.

„Eifersucht kann es ja nicht sein, wir sind ja alle Profis, oder?“, murmelte ich leise zu mir selbst. Danach nagte ich mit meinen Schneidezähnen genervt an meiner Unterlippe herum, nachdem ich gerade voller Ironie den blöden Spruch, den Alex vorhin im Auto gesagt hatte, auf meine Art verbittert nachgeäfft hatte. Dass Ronja jetzt plötzlich auch in dieser Beziehung mit ihrer Schwarzseherei Recht bekommen sollte, stieß mir noch mehr auf als die Sorge, beim Schummeln erwischt zu werden. Wenigstens mein Vergnügen mit Alex, für das ich mich für diese blöden Aufnahmen so tapfer ins Zeug gelegt hatte, wäre doch wirklich redlich verdient gewesen. Eigentlich hatte mit Alex und mir doch alles ganz gut angefangen, oder bildete ich mir das nur ein …? Meine Gedanken wollten sich gerade weiter mit meiner möglichen Konkurrentin, diesem Engelchen, befassen, als Marga sich mir erneut zuwandte.

„Komm Kindchen, du musst jetzt dein Sünderhemdchen anziehen“, hörte ich Marga sagen, die mich vorsichtig an meinem Handgelenk ergriff und mich wieder sanft hinter sich herzog. Die Akustik der Halle verriet mir, dass wir uns auf dem Weg zurück in das Ankleidezimmer befanden, in dem Marga ihre ganzen Requisiten aufbewahrte. Mir wurde gleich wieder mulmig, als ich an Susis letzte Worte zu mir dachte. Ein Richtschwert hatte sie gesagt und jetzt sprach Marga von einem Sünderhemdchen. Das konnte doch nur bedeuten, dass Alex mich noch ein zweites Mal vor der Kamera hinrichten sollte. Dann würde mein Kopf noch einmal von ihm ungeküsst über die Bretter, die die Welt bedeuten, rollen müssen und dieses blöde Engelchen, das die Erleuchtete spielen durfte, würde am Ende noch von ihm vor der Kamera geknutscht werden. Auf der anderen Seite war meine unerwartete Enthauptung so genial inszeniert abgelaufen, dass ich dabei zu keinem Zeitpunkt abgesehen von dem unerwarteten Schluss Angst bekommen hatte. Alex hatte mich so professionell in seinen Bann gezogen. Er war so geschickt, dass mir das Ganze zunächst wirklich wie ein abenteuerlicher Flirt und gar nicht wie eine Hinrichtung vorkam. Ich hatte ja erst danach erklärt bekommen, wie die außergewöhnlichen Szenen mit mir und ihm für das Publikum auf der Leinwand herüberkommen würden. Vielleicht sollte ich das Shooting einfach durchziehen, die Kohle mitnehmen, mit Ronja danach irgendwo cool etwas essen gehen und mir diesen Alex und seine krasse Truppe einfach wieder aus dem Kopf schlagen.

Aber wollte ich das?

Nein, eigentlich nicht!

Ganz im Gegenteil.

Vorher wollte ich ihn – Alex!

 

Nebelaugen

Marvin

 

„Als ob ich ein Problem damit hätte, dass du mir in meine leeren Höhlen schaust“, sagte ich mit einem schiefen Grinsen zu Toni und stand auch auf, um ihr in den hinteren Teil des Raumes zu folgen. Zielsicher schritt ich auf die Liege zu, die noch genau dort stand, wo ich sie erwartet hatte, und grätschte mich mit einem Schwung darauf. Natürlich wusste ich, dass neben der Liege auch ein Behandlungsstuhl mit bequemen Kopfstützen, so wie ihn andere Okularistinnen auch gerne benutzen, stand, aber der erinnerte nicht nur mich an den Zahnarzt. Toni war einfach die Beste, weil sie selbst für solche kleinen Dinge, die Ängste auslösen konnten, immer eine Alternative zu bieten hatte.

„Komm nur, Mila, wenn du nicht genug siehst, darfst du hier inklusive mir auch alles anfassen, was dich interessiert“, fügte ich locker hinzu und fummelte mir geübt meine beiden Prothesen heraus. Wie immer bei Toni legte ich meine beiden Augen dann auf das Tuch des kleinen Schwenktisches vor mich hin, das ich dort, wo es immer lag, schnell ertastet hatte. Dann nahm ich meine Beine hoch, legte meinen Kopf zwischen den Ohren der Kopfstütze mit meinem Hinterkopf auf die weiche Lederbespannung und starrte ohne Augen im Kopf hinauf in die Wärme, die mir signalisierte, wo Tonis Lichtquelle war. Vorsichtig zog Toni mir erst die Lider meiner einen und dann meiner anderen Augenhöhle auf und spreizte den Spalt zwischen meinen Wimpern so weit auf, wie es für die neue Statuserhebung erforderlich war. Dann bestätigte sie mir zufrieden, dass das blass vernarbte Schleimhautgewebe meiner beiden verplombten Schädelhöhlen auf beiden Seiten in hervorragend gepflegtem und absolut reizfreiem Zustand war.

„Komm nur, Mila“, sagte Toni dann, die sah, dass Mila aufgestanden war und sich unschlüssig hinter ihrer linken Schulter stehend bizarr den Kopf verdrehte, und schob sie nach vorn. Mila stand jetzt genau an der Stelle, an der Toni selbst eben noch für die Untersuchung neben mir auf meiner Brusthöhe gestanden hatte und sich dort über meinen Kopf gebeugt hatte.
„Kannst du etwas erkennen, Mila?“, fragte ich meine Freundin, deren Hand ich in meine genommen hatte, weil mir klar war, dass dieser Schritt Mila eine gewaltige Überwindung gekostet haben musste.

„Ja kann ich. Du bewegst dich ja nicht und es ist ja auch nur ein kleiner Teil deines Gesichtes, um den es gerade geht. Solche Dinge kann ich, auch wenn es anstrengend ist, wirklich noch richtig gut sehen. Sogar farbige Schatten kann ich noch sehen und dass du deine schönen blonden Wimpern schwarz getuscht hast, sehe ich auch ganz deutlich. Es sieht zwar nicht so gruselig aus, wie ich es befürchtet hatte, aber mit deinen Augen drin gefällst du mir viel besser.

„Daran soll’s nicht scheitern“, antworte ich mit einem Kichern und zog mich an Milas Hand hoch zu dem Schwenktischchen, auf dem ich tastend nach meinen Augen suchte, die da aber nicht mehr lagen. Im selben Moment hörte ich das schrille Heulen der Poliermaschine und wusste, dass Toni schon dabei war, mir meine Augen neu aufzupolieren.
„Dass du so eitel bist, passt eigentlich gar nicht zu dir“, sagte Mila neckisch, stupste mich frech und drückte mir einen super schönen langen Kuss auf meine Lippen.

„Hey, ich bin doch gar nicht eitel“, wehrte ich mich gekünstelt, legte ihr meine Arme um ihren Nacken und zog sie zu mir herunter auf die Liege. Da diese nur für eine Person gedacht und deshalb sehr schmal war, plumpste Mila mir mit ihrem Oberkörper voll auf meinen neuen Busen. Wir quietschten kurz vor Glück, beherrschten uns dann aber wegen Toni schnell wieder, rappelten uns auf und setzten uns gleich wieder artig nebeneinander auf die Liege.

„Tut das nicht immer voll weh mit diesen dicken Glasbrummern da drin?“, fragte Mila mich leise, als wir kurz alleine waren, und erzählte mir, dass einer ihrer Brüder ihr, als ihre Augen noch besser als heute waren, mal Kontaktlinsen besorgt hatte, die ihr aber, obwohl sie ganz dünn und weich waren, trotzdem immer wie Fremdkörper in ihren Augen vorgekommen waren.

„Ach Quatsch, Mila, unsere Bindehäute, die Leuten wie mir nach den Enukleationen wie Schirmchen über unsere verbliebenen Augenmuskeln gespannt werden, sind nicht mehr und nicht weniger schmerzempfindlich als eine ganz normale Mundschleimhaut es auch ist. Das wird deshalb ja extra so gemacht, dass die Glasaugen, die sich ja auf den vernarbten Muskeln noch eingeschränkt bewegen können, nicht direkt auf dem verhärteten Gewebe reiben. Sehende wollen mir das übrigens auch alle oft gar nicht gleich glauben. Sie vergleichen das immer mit ihren eigenen schmerzhaften Erfahrungen, die sie gelegentlich mit einer Wimper oder einer Mücke in ihren richtigen Augen machen. Viele wissen nämlich gar nicht, dass diese Schmerzen eigentlich von ihren viel empfindlicheren Hornhäuten und gar nicht von den Bindehäutchen kommen. Deshalb wollen sie mir auch oft nicht glauben, dass ich die Schmerzen, von denen sie mir dann oft ganz entsetzt erzählten, nicht nur selbst gar nicht kenne, sondern sie mir auch nicht einmal andeutungsweise vorstellen kann. Das liegt bei mir natürlich ganz einfach wie so oft wieder einmal daran, dass ich selbst ja schon ewig lang überhaupt keine eigenen Augen mehr habe. So gesehen kann ich da, was deine Angst vor Schmerzen angeht, eigentlich gar nicht aus eigener Erfahrung mitreden, aber dass da ohne Augen drin nicht mehr viel da ist, was noch wehtun kann, das darfst du mir wirklich glauben.“

„Ich hab ja gar nicht gesagt, dass ich dir das nicht glauben will, aber Angst hätte ich trotzdem davor, wenn es für mich auch eine Möglichkeit gäbe, mein Glubschauge gegen ein normal aussehendes Auge eintauschen zu können. Aber du weißt ja selbst, warum das bei mir eh nicht gehen würde“, sagte meine Freundin in dem Moment, als wir Toni wieder zu uns kommen hörten. Einen Moment später war Toni mit meinen frisch polierten Augen aus der Werkstatt zurück und wir saßen immer noch brav nebeneinander auf der Liege.

„Magst du lieber wieder selbst Mara?“, fragte Toni und führte meine Hand in ihre feuchte Handfläche, in der meine Augen lagen, die sich vom Abspülen nach dem Polieren noch lauwarm vorgewärmt anfühlten.

„Kann ich, aber du kannst Mila ja auch mal zeigen, wie das mit dem Sauger geht“, sagte ich und hörte, dass Toni schon eine Rollschublade aufzog und nach dem winzigen, hohlen Gummistäbchen griff. Diese Gummisauger, mit denen man künstliche Augen wie mit einem Saugnapf an der Pupille ansaugen konnte, waren vor allem für Anfänger gut oder für Sehende nützlich, die das bei anderen machen mussten. Mit dem Griff, der wegen des Vakuums bombenfest auf der angesaugten Pupille saß, war es auch für frisch Enukleierte ganz einfach, ihr neues Glasauge unter die Lider in die leere Augenhöhle hineinzuschieben und es so lange zu verdrehen, bis die Prothese dann endlich richtig saß. Aber der Sauger war nicht nur für Sehende, die das bei solchen wie mir machen wollten, eine große Hilfe. Auch Blinde wie Mila kamen mit Saugern am Anfang so oft besser als geübte Betroffene klar. Geübte wie ich erledigten sowohl das Einsetzen als auch das Herausnehmen, meistens ohne Sauger. Das ging mit Fingerfummeln genauso gut, aber dafür noch viel schneller, außer wenn die leeren Augenhöhlen entzündet und verklebt waren, dann ging oft gar nichts mehr ohne Sauger. Aber so weit brauchte es ja hier bei uns auch niemand kommen lassen, da hier die Versorgung auf hohem Niveau möglich und der Rest nur eine Frage der guten Hygiene, hochwertiger Pflegemittel und regelmäßiger Kontrollen war.

„Viola! Mara, jetzt strahlen deine Augen wieder wie leuchtende Sterne“, sagte Toni und drehte ihren Kopf dann zu Mila. „Das Polieren muss bei Acrylaugen noch viel öfter gemacht werden“, erklärte Toni und setzte sich dabei neben mich auf die Liege. „Aber auch Glasprothesen müssen in größeren Zeitabständen, dennoch auch regelmäßig poliert werden, weil selbst das Kryolithglas, das auch Opalglas genannt wird, mit der Zeit von der Tränenflüssigkeit angegriffen wird. Die Tränenflüssigkeit ist nämlich so aggressiv, dass sie sogar die Oberfläche von gläsernen Augen wie Säure anätzen und rau machen kann. In diesen kleinen Poren können sich dann verkrusteter Schleim und Schmutzpartikel sowie Reste von Blütenpollen oder Feinstaub festsetzen, die dann Allergien und Entzündungen der leeren Augenhöhlen zur Folge haben können", erklärte Toni meiner Freundin, die dachte, dass das Polieren nur aus Gründen der von mir bestrittenen Eitelkeit stattgefunden hätte.

„Oje, und ich dachte, das sei nur wegen der Optik, und hatte mich schon gewundert, weil ich Mara bisher eher als sportlich-legere, ja sogar fast etwas gruselig-schräge, als eitel kennengelernt habe. Ich kann sie ja auch so gut wie gar nicht sehen. Aber als eine Lolita, die sich aus Eitelkeit dauernd ihre Augen neu aufpolieren lassen will, hätte Mara wirklich nicht in das Bild gepasst, das ich von meiner Freundin in meinem Kopf habe", sagte Mila und wurde ein bisschen rot dabei.

„Mit Eitelkeit hat das Polieren wirklich nichts zu tun, Mila“, lachte ich meiner Freundin zu und erklärte ihr noch einmal mit meinen eigenen Worten, dass das Polieren selbst mit sorgfältiger Pflegebegleitung immer wieder notwendig wird.

„Aber auch trotz des Polierens“, wiederholte ich, weil ich Mila ihre Angst vor Glasaugen nehmen wollte, selbst noch einmal die wichtigsten Dinge, die ihr Toni gerade erklärt hatte, noch einmal. „Du musst das halt, wenn du ein Glasauge hast, wegen der Einlagerungen, die das Glas mit der Zeit fast so rau wie feines Schmirgelpapier machen, immer mal wieder machen lassen, Mila.“

„Ach lass doch, selbst wenn ich mich dazu durchringen könnte, würde ich das von meinen Eltern ja eh niemals erlaubt bekommen“, seufzte Mila, der es mit ihren Augen zu Hause ähnlich wie mir mit meiner Mutter ging, wenn wir mal wieder über meine Testosteronknollen stritten.
„Etwas pflegeaufwändiger ist das schon, wenn man statt der richtigen Augen Glasaugen hat“, ergänzte Toni, als sie merkte, dass es hier offensichtlich noch ganz andere Probleme gab.

„Aber solange ich mir von Toni in regelmäßigen Zeitabständen immer mal wieder rechtzeitig zwei neue Augen machen lasse, ist es eigentlich völlig unproblematisch“, ergänzte ich und lächelte Mila aufmunternd an. Dann fügte ich noch hinzu, dass das ja auch alles überhaupt nicht wehtut und dass ich auch immer wieder gern zu Toni komme. Mir war wichtig, dass Mila verstand, wie dankbar ich Toni dafür bin, dass sie mir im Rahmen ihrer Möglichkeiten trotz meiner fehlenden Augen immer wieder zu so zauberhaften Blicken verhilft.

„Das hat also überhaupt nichts damit zu tun, ob meine verbrauchten Augen dann immer noch gut aussehen oder nicht. Glasaugen sind eben selbst dann, wenn sie wunderschön gemacht wurden, doch Fremdkörper. Fremdkörper, die der Körper unabhängig davon, wie gut sie aussehen, wie alles, was nicht original ist, bekämpft. Deshalb müssen sie, egal ob sie aus Glas geblasen wurden, oder nur aus Plastik gebacken worden sind, alle ein bis zwei Jahre gegen neue Augen ausgetauscht werden. Wenn sie so wie die, die ich im Moment habe, nicht aus Plastik, sondern aus widerstandsfähigem Glas hergestellt worden sind, halten sie, wenn sie gut gepflegt werden, viel länger. Dann reicht es, sie erst nach zwei bis drei Jahren wieder gegen neue Augen auszutauschen“, fügte ich dann noch hinzu, weil das Ganze hier ja ganz neu war für Mila.
„Ich weiß, dass das nicht einfach ist, wenn man ein Glasauge braucht“, sagte Mila kleinlaut, und aus ihrer Stimme konnten alle Anwesenden deutlich heraushören, wie sehr dieses Thema meine Freundin belastete.

„Hey, keine Angst, ich habe ja auch eines“, sagte Toni und knuffte Mila aufmunternd.

„Ich habe meines schon bekommen, als ich sieben Jahre alt war, sogar aus dem gleichen Grund, warum du Mila auch eines bräuchtest. Seitdem habe ich auch Tropfen für mein sehendes Auge, die ich sehr regelmäßig nehme. Zum Glück hatte ich bis heute und ich werde im nächsten Jahr neununddreißig Jahre alt, nie wieder ernsthafte Probleme mit einem zu hohen Augeninnendruck gehabt. Weder mit meinem künstlichen noch mit meinem biologischen Auge“, erklärte Toni meiner Freundin Mila ganz entspannt und geduldig und ließ den kleinen Joke mit dem unproblematischen Augendruck ihres Glasauges einfach so im Raum stehen.

„Ach Mila, Glasaugen zu tragen ist weder schlimm noch sonst ein großes Ding. Eigentlich haben viele Betroffene wie du vorher nur wegen der Horrorgeschichten, die viele Nichtbetroffene und Schmerzpatientinnen verbreiten, unbegründet Angst vor den Enukleationen. Dabei ist es gar nicht so, wie es oft fälschlich behauptet wird, dass sich die leeren Höhlchen nach der Entfernung der Augäpfel wie Wunden anfühlen. Die Schleimhaut darf sich nur nicht entzünden, aber das ist ja bei allen Schleimhäuten so. Wenn die in Ordnung sind, tut da nämlich weder mit den Prothesen drin noch ohne wirklich etwas weh. Es fühlt sich ein bisschen ähnlich an wie im Mund, alle anderen Gerüchte sind Quatsch, das darfst du mir wirklich glauben“, ergänzte ich Tonis Erklärungen, weil ich wusste, dass sich viele Schmerzpatienten so wie Mila oft unnötig quälten.

„Vielen Menschen, die sich in meiner Versorgung befinden, ging es lange Zeit genauso wie dir, Mila. Das größte Hemmnis ist bei vielen die fehlende Beratung und die Angst vor dem Unbekannten, der oft in Gesprächen unzureichend begegnet wird. Deshalb leiden viele genauso lange wie du unter unsäglichen Schmerzen, bevor sie sich dann doch eigentlich viel zu spät zu einem vermeintlichen Ende mit Schrecken entschließen. Das ist fast bei allen so“, sagte Toni, sah Mila an und gab ihr genug Zeit, um über das, was sie gerade gesagt hatte, in Ruhe nachzudenken. Dann fuhr sie mit leiser Stimme fort und berichtete meiner Freundin Mila von ihrer eigenen Erfahrung.

„Weißt du, Mila, wenn bei jemandem wie uns die Glaukomerkrankung erst noch nur auf einem Auge kollabiert ist, sind die Tropfen für das funktionierende Auge noch viel wichtiger als das blinde Glasauge. Das Glasauge muss nämlich nur noch gut aussehen und sich noch bestmöglich mit dem sehenden Auge mitbewegen können“, redete Toni darauf meiner Freundin ins Gewissen. Aber für dein anderes besseres Auge solltest du wirklich nicht noch mehr Zeit ungenutzt verstreichen lassen, dort geht es nämlich um den Erhalt deiner restlichen Sehkraft und dabei zählt jeder Tag.

„Ohne die Tropfen hätte ich meinen Beruf, in dem ich auch oft sehr genau hinschauen muss, vielleicht sogar schon aufgeben müssen“, sagte Toni mit einem fürsorglichen Unterton in ihrer Stimme dann noch sehr aufmunternd zu ihr.

„Lass mal Toni. Mara hat mir das auch schon alles erklärt, aber so einer Operation würde meine Familie nie zustimmen. Man sieht das bei uns als eine Strafe Gottes und will auf keinen Fall, dass zu Hause bei unseren Nachbarn in Albanien jemand etwas davon mitbekommt, dass meine Mutter ein behindertes Kind hat. Schon hier darüber zu reden ist unendlich schwierig und ich bin schon froh darüber, dass ich nach der Glaukom-Attacke überhaupt nochmal wieder in die Schule gehen durfte. Dummerweise bin ich seit dem Anfall zusätzlich zu meiner fortschreitenden Erblindung jetzt ja auch noch im Gesicht entstellt. Wenn ich Pech gehabt hätte, wäre ich schon in mein Heimatland gebracht und dort in einem Keller vor den Augen der Öffentlichkeit weggesperrt worden. Dazu ist es nur wegen des persönlichen Einsatzes unserer Lehrerin und der Frau vom Jugendamt nicht gekommen, die das im letzten Moment gerade noch verhindern konnte. Meine Eltern haben damals zum Glück nicht geahnt, dass ich heute sogar einen Blindenstock brauche, sonst hätten die mich bestimmt trotzdem bei meiner Oma in Albanien eingesperrt und vor den anderen Leuten versteckt.

„Die fühlen sich echt wieder wie nagelneu an, Toni“, platzte ich in die Unterhaltung hinein und machte damit klar, dass ich der Meinung war, dass wir Mila für heute genug gestresst hatten.

„Na dann ist ja alles gut, Mara, aber du weißt schon, dass du spätestens, wenn du Fremdkörpergefühle, leichte Juckreize oder Sekret feststellst, zügig wiederkommen solltest“, mahnte Toni.

„Ja, ich weiß schon, dass meine alten Augen schon das Ablaufdatum überschritten haben, aber so gute Prothesen wie die hatte ich eben vorher noch nie“, scherzte ich und fügte noch hinzu.
„Aber das soll keine Nörgelkritik an dir sein, Toni, du hast mir die beiden ja schließlich so perfekt geblasen, wie sie sind. Vielleicht probiere ich ja beim nächsten Paar dann auch wirklich mal Acryl aus.“

„Hey Mara, alles gut, wir kennen uns jetzt schon so lange. Du solltest eigentlich wissen, dass wir zwar über alles reden können, aber die Entscheidungen, was gemacht wird, treffen bei mir alle Betroffenen immer selbst, auch du. Ich will nur informieren und auf keinen Fall suggerieren oder gar dominieren. Das ist nämlich eine Frage der Haltung und der Wertschätzung“, sagte Toni und gab mir damit die Möglichkeit, mir noch mal etwas von meinem wirklichen Problem von der Seele reden zu können. Ach Toni, wenn meine Mutter nur die Hälfte von dem Vertrauen, das du mir entgegenbringst, hätte. Dann könnte wirklich alles ganz schnell auch wieder gut werden. Leider glaube ich im Moment, dass sie im Grunde ihres Herzens genauso feige und respektlos über mich denkt wie Milas Familie, das bei ihr auch tut“, sagte ich und war dann erneut über Milas Reaktion überrascht.

„Aber Mara, warum bist du nur so ungeduldig? Noch vor einer guten Stunde hast du mir vorgehalten, ich hätte mich versklaven lassen. Das hast du gesagt. Und das nur, weil ich während des Plauschs mit dir noch keine Haltestellen mitzählen konnte und weil ich in unbekanntem Terrain noch nicht viel Übung mit meinem Stock habe. Denk doch einfach mal praktisch darüber nach, wie du dein Problem ohne die Mithilfe deiner Mutter lösen könntest. Schließlich habe ich es bis jetzt ja auch immer noch irgendwie geschafft, nicht irgendwo in einem Keller in unserer Heimat weggesperrt worden zu sein. Du weißt doch, dass ich mir nur, weil meine Familie meine Blindheit so peinlich findet, auch immer selbst helfen musste, um nicht schon lange einsam vor mich hinvegetieren zu müssen", sagte Mila fast etwas vorwurfsvoll zu mir.

„Deine schlauen Sprüche helfen mir aber auch nicht über den mir drohenden Stimmbruch hinweg“, gab ich Mila säuerlich zurück, die ja leicht so altklug daherreden konnte, weil sie in dieser Sache nicht selbst betroffen war.

„Schon mal an Hormone zum Schlucken gedacht?“, sagte Mila schnippisch. Dann hörte ich wieder ein typisches Scheuern ihrer Kleidung. Deshalb wusste ich auch sofort, dass sie sich gerade mal wieder ihren Hals verrenkte, um sich einen Blick auf mein Gesicht zu verschaffen. Aber entgegen all meinen sonst so treffsicheren Schlussfolgerungen fuhr sie mit einem mehr als verblüffenden Vorschlag ganz anders fort, als ich mir das in meinen kühnsten Träumen hätte vorstellen können.

 

Blackout

Mara

 

„Hey Marga, was soll das?“, fuhr ich meine Visagistin zickig an, als sie wieder am Knoten meiner Augenbinde herumnestelte.

„Aber Mara Schwarz passt doch jetzt überhaupt nicht mehr zur Handlung!“

„Welche Handlung?“, fragte ich misstrauisch.

„In der nächsten Einstellung wird Alex dir als stolze Prinzessin deinen Kopf mit einem Richtschwert herunterhauen und du wirst dabei die gleiche Kollektion ganz in Weiß tragen, Schätzchen.“

„Ganz in Weiß?“

„Ja, ganz in Weiß. Hier zieh dich schnell um, bevor die wieder Stress machen draußen am Set.“

„Meine Augenbinde auch ganz in Weiß jetzt?“, fragte ich etwas genervt, während ich die neuen hellen Dessous gegen die alten schwarzen austauschte.

„Ja, aber jetzt noch nicht. Alex wird sie dir erst kurz vor dem finalen Hieb, also erst dann, wenn du wirklich bereit bist, für ihn sterben zu wollen, vor den laufenden Kameras umbinden. Du wirst dann bereits mit andächtig gefalteten Händen vor ihm knien. Im Drehbuch steht dazu, dass du für deine Erlösung dankbar sein sollst. Du sollst den Hieb seiner Klinge sehnsüchtig erwarten, weil er dem Unglück deiner ihm geweihten Liebe damit ein Ende bereiten kann“, erklärte mir Marga und streichelte mich während des neuen Briefings sehr beruhigend. Marga nestelte mir dabei, obwohl ich ihre Hände dauernd wie ein störrischer Esel mit bockigen Kopfbewegungen versuchte abzuschütteln, immer wieder an dem Knoten meiner Augenbinde herum. Zum Glück hatte ich diesen nahezu unlösbar zugezogen, aber sie spürte wohl schon, dass mir das Ganze immer mehr voll gegen den Strich ging. Das kalte Metall, das sich plötzlich hinter meinem linken Augenwinkel unerwartet über meine Haut schlich, merkte ich erst kurz bevor ich das helle, scharfe Kratzen einer zu schnippenden Schere hörte. Mir blieb fast der Atem stehen, als mir klar wurde, was jetzt gleich passieren würde. Deshalb hatte ich im letzten Moment gerade noch rechtzeitig meine beiden Augen ganz fest zugekniffen und ihr wütend wieder mein schwarzes Seidentuch aus ihren Händen gerissen. Aber so zerschnitten wie mein schönes altes Augenband jetzt war, konnte ich es mir unmöglich noch einmal umbinden. Bevor die arme Marga sehen und verstehen konnte, warum ich so sauer reagierte, wühlte ich vor mir auf dem Schminktisch herum und fand prompt irgendeinen anderen Fetzen Stoff, den ich zumindest ersatzweise auch für geeignet hielt. In Windeseile hatte ich mir diesen gewebten Streifen, bevor Mara intervenieren konnte, wieder genau in der gleichen Art um meinen Kopf geschlungen und ihn dort als neue Augenbinde fixiert.

„Hey, bist du irre oder was? Das ist voll grelles Pink und sieht voll plüschig aus …“, schnauzte Marga mir total angepisst hinterher. Aber da war ich schon lange aufgesprungen und ihr einfach davongerannt. So wie ich war, lief ich, meine Hände tastend und schützend voraus, mit gespitzten Ohren, so schnell ich konnte, voll vom Adrenalin aufgeputscht, hochkonzentriert auf meinen Weg, wieder zum Set hinaus.

„Alex?“, rief ich laut und stapfte dabei weiter, mit meinen Händen vor mir her tastend auf das Schafott zu.

„Marga, was soll das?“, hörte ich Alex rufen, der irritiert auf mich zustürmte und mich mit ausgebreiteten Armen auffing.

„Es ist alles vorbei! Du musst mich sofort richten, bevor ein Unglück passiert!“, waren meine Worte, mit denen ich mich schluchzend an seinen Hals warf.

„Aber du darfst doch jetzt noch gar nicht blind sein …“, stammelte er voll verdattert herum.

„Hey, nein! … Äh ja … meine ich … alles gut, macht einfach weiter so …“, hörten wir Susi rufen. Ich klammerte mich an Alex und schob ihn weiter in Richtung Schafott. Erneut taumelten wir, diesmal eng umschlungen, die hölzerne Treppe hinauf und ich sank auf meine Knie und bat ihn um den erlösenden Hieb.

„Aber Mara, das Drehbuch …“, stotterte Alex.

„Es geht nicht mehr um ein Drehbuch, das hier ist bitterer Ernst“, schluchzte ich flehend weiter, streckte meine Arme hoch zur Decke und ließ mich wimmernd auf meine Knie sinken.

„Aber …?“, Doch dann verschlug es Alex erst recht die Sprache, als er sah, dass ich als seine Delinquentin bereits wie im Drehbuch beschrieben vor ihm kniete und mir selbst meine Augenbinde vom Kopf riss. Davon stand genauso wenig etwas im Drehbuch wie von meinen weit aufgerissenen toten Augen, die ihn jetzt eiskalt mit glasigem Blick anschielten, und ich ihn, so wie ich wirklich war, bat, mich von meinem Leid zu erlösen.

„Weiter … weiter! … Alex, richte sie!“, schrie Susi ganz aus dem Häuschen in die absurde Szene hinein. Es herrschte Totenstille und ich hörte, dass Alex sich langsam aufrichtete. Sein Atem hörte sich so angestrengt an, wie es sein muss, wenn ein Richtschwert von einem Henker hochgewuchtet wird, um es danach auf den Hals der Delinquentin zurasen zu lassen. Er sagte kein Wort mehr und es schien mir, als sei er gedanklich in einer anderen Welt. Wie eine Kerze würde das Richtschwert, das er hoch in die Höhe aufgereckt hatte, jetzt über ihm zum Himmel aufragen. Ein tiefer Atemzug verriet mir, dass er nun alle Kraft in den Hieb legte, den er vorher einstudiert hatte. Als das weiche Silikon des federleichten Requisits meinen Hals berührte, ließ ich mich schwungvoll zur Seite kippen und blieb bewegungslos auf der blättrigen alten Farbe der Holzbohlen, mit verwunden weit von mir gestreckten Gliedern, auf dem Schafott liegen.

„Klappe! … Oh wie krass …“, rief Susi vor Begeisterung, stürmte auf mich, auf Alex und auf die Bühne zu und umarmte uns beide, außer sich vor Freude. Marga kletterte indes keuchend die Holztreppe hinauf und gesellte sich auch zu Alex, Susi und mir dazu. Alle umarmten mich und hatten vor Rührung Tränen in den Augen. Die alte Marga fand zuerst ihre Fassung wieder.

„Kein Wunder, dass du als Blinde so viel authentischer rüberkamst als all die anderen, die sich bei uns vor dir an solchen Rollen versucht hatten, Mara“, hörte ich Marga von mir schwärmen.

„Du hast wundervolle Augen, Mara“, hallte ein Kompliment von Alex durch die gespenstige Stille im Studio, die nur noch vom leisen Summen der Kameras gestört wurde.

„Was für ein genialer Silberblick“, raunte Susi mit einer Mischung aus Mitleid, Anerkennung und Betroffenheit in ihrer vor Aufregung bebenden Stimme.

„Ihr wolltet doch eine Blinde, oder?“, fragte ich noch keuchend von der Anstrengung, aber nicht ohne Stolz über meine gerade vollbrachte schauspielerische Leistung spontan etwas übermütig in die Runde, bevor mir dann aber schnell wieder bewusst wurde, wie hoch ich gerade gepokert hatte.

„Oh Gott, Mara, aber wenn du wirklich blind bist …“, stotterte Alex unbeholfen dazwischen.

„Sorry, ich wollte nicht blöd werden, dass das alles so glatt lief, war ja mehr euer Verdienst als meiner. Voll cool von euch, dass ihr so drauf seid. Mir ist schon klar, dass mein Versteckspiel auch deutlich schlechter für mich hätte ausgehen können. Schließlich war ich ja diejenige, die geschummelt hatte und nicht ihr. Mir wurde leider erst später klar, dass ich uns alle damit in eine etwas beschissene Situation manövriert hatte", lenkte ich schnell ein und war zunächst nur froh darüber, dass jetzt alles raus war. Aber dann kamen mir Zweifel, wie Alex das eben gemeint haben könnte. War ich jetzt etwa doch in die Situation geraten, die ich so gefürchtet hatte und die ich deshalb unbedingt hatte vermeiden wollen? Ronja, meine rumänische Freundin, hatte mich neben den anderen Risiken gerade auch davor, noch dazu mit meinen eigenen Argumenten, intensiv gewarnt. Seit Wochen versuchte ich meiner Ronja vorzumachen, dass es der falsche Weg war, die eigene Blindheit vor den Sehenden zu verstecken. Nur heute war ich mir selbst einmal untreu geworden. Ausgerechnet ich, die toughe Mara, war in meine eigene Falle getappt. Oh je, wie peinlich. Nur gut, dass ich Ronja wenigstens nicht mit hierhergenommen hatte, das hätte mir in dieser blöden Situation gerade noch gefehlt.

„Ja klar, aber woher hätten wir denn vorher wissen sollen, dass es hier in Berlin eine so toughe Hübsche wie dich wirklich gibt, die sich bei dem krassen Zeug hier nicht gleich ins Hemd macht? Also ich meine damit ein Model, das sich trotz des völlig durchgeknallten Drehbuchs so souverän wie du vor unseren Kameras bewegen kann. Aber wenn ich geahnt hätte, dass du eine wirklich blinde Frau bist, hätte ich mich natürlich dafür eingesetzt, dass dir das erspart geblieben wäre, das musst du mir einfach glauben, Mara“, sagte Alex und griff nach meiner Hand.

„Wieso ersparen? Ich hatte eben nicht den Eindruck, dass wir bei Mara in irgendeiner Form verletzend rübergekommen sein könnten, und diskriminieren wollen wir ja auch niemand, oder?“, blaffte Susi Alex an, bevor ich selbst etwas dazu sagen konnte.

„Das war eben sowas von mitreißend, wie du dich da so mega leidenschaftlich in das Geschehen eingebracht hast, dass Sehende schon vom bloßen Zusehen Gänsehaut bekommen müssen. Deine Mimik war in Verbindung mit deinem frechen Grinsen, in dem sich eine Mischung aus Stolz und überlegener Gelassenheit spiegelte, wirklich einzigartig“, lobte Susi mich, nachdem sie sich mir direkt zugewandt hatte, dann noch weiter. Ihr Lob verstärkte meine eh schon vorhandene Peinlichkeit so sehr, dass ich dazu noch knallrot anlief. Alex zog mich noch dichter an sich heran, aber er zitterte noch immer.

„Mara, warum hast du denn nichts gesagt? Ich hoffe, wir waren nicht zu schroff zu dir?“

„Hey, schon gut! … Was heißt schon schroff? … Bisher war ja alles ganz okay, für mich fing es erst eben an, ein bisschen blöd zu werden“, antwortete ich ihm mit einem glücklichen Lächeln und schmiegte mich an seine Schulter.

„Gibt es hier vielleicht noch irgendwo einen Kaffee, bevor ihr dann mit dem Engelchen weiterdrehen wollt?“, murmelte ich plötzlich etwas weniger glücklich. Aber vielleicht, so dachte ich, ergab sich ja trotz des Drehs mit dem Engelchen noch eine Chance auf ein Wiedersehen mit Alex.

„Das ist eine prima Idee, wir haben eh schon die Frühstückspause auf die Mittagspause verschoben und die ganze Zeit durchgearbeitet. Diese Pause haben wir uns jetzt auch wirklich verdient“, sagte Alex und drückte mich noch fester an sich.

„Ja cool, ich habe auch schon dringend eine Pause nötig, und dann reden wir erstmal in Ruhe darüber, wie wir heute Nachmittag mit dem Engelchen weitermachen. Mach dir darüber aber keine schlechten Gedanken, Mara, da fällt mir schon was dazu ein, Süße“, sagte Susi. Dann ergriff sie mich an meinem Arm und zog mich von Alex weg. Susi hakte mich auch gleich wie eine alte Freundin auf ihrer linken Seite unter und führte mich zu einem Ort, an dem es schon nach frischem Kaffee und nach leckeren Croissants roch.
„Bist du schon lange so blind, Mara?“, hatte Susi mich auf dem Weg noch kurz bevor wir durch die Tür in diesen schönen Raum hier gegangen waren, ein bisschen zu neugierig gefragt. Auch die Formulierung ihrer Frage, also wie sie gefragt hatte, ließ mich einen kurzen Moment hellhörig werden, aber dann war der Gedanke auch schon wieder weg. Ich spitzte meine Ohren und war froh, dass Alex uns dicht hinterher gefolgt war. Das war mir in diesem Moment wichtiger als alles andere.

 

Nebeldrogen

Marvin

 

„Solche Hormone sind nicht nur verschreibungspflichtig und in Deutschland an hohe Auflagen gebunden, sondern auch oft in ihrer Wirkung unumkehrbar“, gab Toni nüchtern zu bedenken.

„Meine Brüder handeln da mit allerlei illegalem Zeug in solchen Muckibuden, wo sich schwere Jungs an Geräten damit abquälen, dass ihre Brustmuskeln zu dicken Männertitten anschwellen", sagte Mila daraufhin, als ob es sich dabei um harmlose Lutschbonbons handeln würde.

„Und was soll ich mit solchen muskulösen Männertitten?“, fragte ich, mehr schockiert vom Vorschlag meiner sonst so scheuen Freundin als von dem Frust getrieben, von dem ich mich bis eben noch lenken ließ.

„Nein, doch nicht solche Hormone. Es gibt da ganz spezielle Pillen für Frauen wie dich. In Südamerika und in Südostasien gehört das sogar zur Kultur dazu und in Indien gibt es seit hunderten von Jahren sogar schon das dritte Geschlecht. Ähnliches findet bei uns, wenn gleich auch erst viel später, mittlerweile unter dem Begriff ‚divers‘ seit wenigen Jahren ebenfalls den verdienten Respekt in der öffentlichen Diskussion. Es ist nur noch viel zu wenig kommuniziert", sagte Mila, die wie immer, auch was dieses Thema anging, hervorragend recherchiert hatte.

„Mila, woher weißt du das denn alles?“, fragte Toni, gleichermaßen verblüfft und erstaunt.

„Nur weil ich blind wurde, musste ich ja nicht auch gleich blöd werden und da ich nicht wie Mara alleine raus konnte, hab ich Spaß daran gefunden die Welt und alle möglichen Antworten auf noch mehr mögliche Fragen mit meinem Computer im Internet zu recherchieren“, sagte Mila verschmitzt. Dann verriet sie uns, warum und wie sie sich diese Informationen alle beschafft hatte.

„Ich habe schon immer gern viel im Internet recherchiert, also schon als ich noch bessere Augen als heute hatte, und mit dem Wissen meiner Recherchen auch immer beste Noten in der Schule geschrieben. Dafür hatte ich, weil ich selten raus durfte, auch immer mehr Zeit als andere Mädchen in meinem Alter. Nur musste ich damals mehr mit den Sachen aufpassen, die bei uns zu Hause verboten waren. Aber seit ich vor zwei Jahren dann damit begonnen hatte, mit meiner neuen Braillezeile für die Schule zu üben, kann ich seitdem in aller Ruhe in alles Mögliche lesen, ohne dass jemand das um mich herum mitbekommen kann. Dass ich mich als Maras Freundin dann erst recht für alles, was mit Geschlechtsidentität zu tun hatte, mega interessierte, ist ja wohl klar, oder?“, sagte Mila. Während sie sprach, wuschelte Mila dabei die ganze Zeit so, als ob sie angestrengt nach etwas suche, in ihrem Rucksack herum, aus dem sie dann plötzlich zwei Schächtelchen hervorzog.

„Das hier ist das Casodex. Davon musst du die ersten vierzehn Tage immer am Morgen eine nehmen, Mara. Da sind nur 50 mg Wirkstoff drin, aber das reicht schon, um dein Testosteron für die Anschlussbehandlung mit Histrelin zu blocken. Das Histrelin hier ist dummerweise ein Implantat, da müssen wir uns noch etwas einfallen lassen, wo, wie und von wem wir dir das an einer dafür geeigneten Stelle unter die Haut schieben lassen könnten, aber danach hast du dann erst mal für ein Jahr Ruhe vor deiner Pubertät. Und das Beste daran ist, dass diese Präparate deine Pubertät nur aufschieben und du danach immer noch entscheiden kannst, wo du wirklich hinwillst. Oh Mila, das ist ja zu schön, um wahr zu sein, warum hast du mir das denn nicht schon früher gesagt?“, rief ich voller Begeisterung aus und fiel meiner Freundin vor Freude um den Hals.

„Na ja, du tust ja auch so mega viel für mich und da dachte ich, dass ich dich ja auch mal mit etwas Schönem, also mit etwas, was du dir wünschst, überraschen könnte. Nur eine nette Anerkennung, die du dir nicht auch selbst beschaffen könntest, sollte das beste Geschenk für die beste Freundin sein, oder? Da solche Hormone für dich selbst aber nicht erhältlich sind, war das die größte Chance, um dich zu überraschen, die ich dafür nutzen konnte, dir eine schöne Freude zu machen, Mara. Und da ich für solche Sachen ja quasi an der Quelle sitze, war es nicht mal wirklich schwer für mich, deine sehnlichsten Wünsche in Erfüllung gehen zu lassen. Meinem Bruder habe ich vorgeflunkert, dass ich das Zeug für mein Auge brauche, und der hat es mir abgenommen. Manchmal hat es sogar auch mal Vorteile, wenn man wo lebt, wo viele Dinge totgeschwiegen und unter der Hand geregelt werden“, sagte Mila, fiel mir um meinen Hals und drückte mich ganz fest.

 

Vergiftung - Band 2 aus der Schattenglut-Reihe

 

 

 

Vergiftung

 

Texte: © Copyright 2022 - 2025:

Lisa Mondschein, alle Rechte vorbehalten.

Fassung 7.1.1 Mai 2025

 

 

 

 

Ein erotischer Thriller -Transsexuell? Blind? Amputiert? - aufgeben ...? niemals ...!

 

 

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wären rein zufällig.

 

 

 

Entspannung

Mara

 

Dort, wo ich mich jetzt zusammen mit Susi, Marga und Alex befand, herrschte eine ganz andere Art von Wärme als draußen im Studio. Während draußen noch immer die Gebläse der Kameras surrten und die Scheinwerfer wie unzählige künstliche Sonnen vor sich hin dampften, war es hier sehr angenehm. Vor allem roch es in diesem Raum nicht mehr nach dieser muffigen Mischung aus altem, abgestandenem und triefend nassem Schweiß. Statt nach Ausdünstungen von morschem Holz, billiger Farbe, Fett und Schmieröl duftete es nun richtig gut nach einem leckeren, herzhaften Frühstück. Nur unsere Leiber trieften noch immer von den Anstrengungen und den Erlebnissen, die uns von den hinter uns liegenden Episoden noch alle bewegten. Bis auf die winzigen weißen Dessous aus durchnässter Seide war ich splitternackt, auch meine Augenbinde trug ich seit der letzten Szene nicht mehr. Auf meiner Haut stand aber immer noch der kalte Schweiß, der mir während der Schlussszene jedoch größtenteils nicht wegen der Hitze, sondern vor allem aus Furcht, Verzweiflung und Angst in Strömen aus den Poren meiner Haut herausgetreten war.

Die Hitze, die sich dort drüben vom Licht der Scheinwerfer ausgehend mit dem Gestank mischte, der eher einer Horrorgruft als einem Filmstudio ähnelte, war ja nicht das Schlimmste gewesen. Mich gruselte es noch immer vor dem, was ich in den wenigen, zum Glück schon vergangenen Vormittagsstunden bisher dort drüben erlebt hatte. Deshalb war ich jetzt auch sehr froh darüber, dass es hier zum Erholen in den Drehpausen offensichtlich auch gemütlichere Ecken als dieses bizarre Studio gab.
Das Versteckspiel, das ich mir damit eingebrockt hatte, dass ich unter der Augenbinde meine zwei Augenprothesen versteckt hatte, war zum Glück auch schneller beendet gewesen, als ich das ursprünglich dummerweise geplant hatte. Im Nachhinein könnte ich mich immer noch selbst für diese Schnapsidee ohrfeigen.
Ausgerechnet ich, diejenige, die immer dafür eintrat, dass es das Coolste ist, wenn man einfach offen dazu steht, dass man halt blind ist, wenn man keine eigenen Augen mehr im Kopf hat.

„Wie konnte ich mich nur so naiv ohne Not in so eine blöde Situation bringen?“, fragte ich mich voller Unverständnis über mich selbst. Aber egal, das war mir ja auch nur deshalb passiert, weil sie in der Anzeige ein blindfolded Model suchten. Und inzwischen war ich mit meinem gläsernen Silberblick ja auch so, wie ich bin, doch noch zur Primadonna geworden. Jetzt fehlte mir nur noch der finale Erfolg mit Alex, dann wäre der Tag doch noch perfekt gelaufen und ich könnte Ronja für ihre Schwarzseherei dann doch noch eine lange Nase machen. Bei dem Raum, in dem ich mich jetzt mit dem Filmteam befand, musste es sich um eine Art vom Sonnenlicht durchfluteten Wintergarten handeln. Die direkten Sonnenstrahlen, die ich hier sofort sehr intensiv auf meiner noch fröstelnden Haut spürte, taten richtig gut und die wohlige Wärme verteilte sich im Nu in meinem ganzen Körper. Noch bevor ich richtig auf einer gemütlichen Bank Platz genommen hatte, schob sich Alex neben mich auf die Bank. Mein Herz machte einen freudigen Sprung, als ich seine Nähe und seinen Körper so nah neben mir spürte. Vielleicht würde sich das Problem mit diesem Engelchen ja doch noch irgendwie ganz von selbst erledigen. Oder das ganze Engelchen würde sich plötzlich als eines meiner albträumerischen Hirngespinste, die ich manchmal hatte, einfach in Luft auflösen, das wäre natürlich noch besser. Die starken Arme, nach denen ich mich schon wieder so gesehnt hatte, waren auch unbedeckt. Alex hatte schöne, dichte Haare auf seinen kräftigen Unterarmen und seine Haut fühlte sich mehr feucht als noch richtig nass, aber weich und warm an. Sein Oberarm fühlte sich nach viel Training im Fitnessstudio an. Sein Bizeps war schön kugelig und richtig sexy hart. Vermischt mit der frischen Luft, die nach Zierpflanzen und Pampasgras roch, sog ich gierig seinen herben Duft in meine feine Nase. Wenn er mich doch nur gleich nach der Beendigung der Dreharbeiten an einen Ort entführen würde, an dem wir beide ganz allein sein konnten und …?

„Darf ich, Mara?“, fragte er mich in diesem Moment ganz zärtlich und riss mich mit süßen Worten, die mir viel zu höflich und damit fast schon scheu klangen, aus meinen Träumereien heraus zurück in die Gegenwart. Wenigstens traute er sich dabei, sich noch enger an mich zu kuscheln und mich dazu noch vorsichtig liebevoll zu streicheln.
„Und dann?“, fragte ich ihn keck und schielte ihm dabei ungeniert mit weit geöffneten Augen auf den imaginären Punkt in seinem Gesicht, an dem ich seine mich neugierig taxierenden Augen vermutete. Seine Antwort spürte ich zuerst am Vibrieren seiner Fingerkuppen auf meiner Haut und kurz danach fanden sich unsere Lippen für einen flüchtigen Kuss.

„Hey!“, protestierte ich mit einem Tonfall, der keinen Zweifel daran ließ, dass ich das für meinen Geschmack eh viel zu zögerliche Vorpreschen von Alex überhaupt nicht unterbinden wollte, und genoss weiter seine Nähe. Ohne noch eine weitere Sekunde ungenutzt verstreichen zu lassen, umarmte ich ihn. Voller Leidenschaft stürzte ich mich mit einem schrillen Schrei auf ihn und fing an, ihn voll durchzukitzeln.

„Pssst … nicht so laut“, zischte Susi etwas nervös dazwischen, während sie mir einen heißen Kaffeebecher in meine rechte Hand schob. „Zucker und Milch stehen direkt hinter deinem Teller vor dir, rechts ist Butter und links daneben ein Glas Nutella“, hörte ich Susis Stimme links vor mir. Am Klappern rechts daneben erkannte ich, dass auch Marga dort drüben, also Alex und mir gegenüber, neben Susi ebenfalls Platz genommen haben musste. Mein Gehirn arbeitete plötzlich so, als hätte jemand auf einen Alarmknopf gedrückt. Von einem Moment auf den anderen versteifte sich alles in mir, von der kleinen Zehe bis zur obersten Haarwurzel. Auch Alex erschrak, als er mein plötzliches Misstrauen spürte. Erschrocken zuckte er zurück. Er tat mir zwar leid, aber da musste er jetzt durch. Woher wusste Susi, wie man Blinden die Sachen auf dem Teller und auf dem Tisch richtig ansagt? Das, was ich da von ihr gehört hatte, war viel zu perfekt, um purer Zufall gewesen sein zu können. Irgendetwas schien hier immer noch kräftig zu stinken, und genau das, dachte ich mir, werde ich jetzt gleich herausfinden. Mit einem kritischen Blick auf die Stelle, wo ich Susis Stirn vermutete, fixierte ich sie mit meinen blinden Augen. Auch die kritischen Falten auf meiner Stirn machten aus meinem plötzlichen Misstrauen ihr gegenüber keinen Hehl. Wie aus der Pistole geschossen fuhr ich sie zornig an.

„Du schenkst mir jetzt sofort reinen Wein ein! … Hörst du? … Ich will auf der Stelle eine Erklärung dafür haben, was das hier alles zu bedeuten hat“, schrie ich so, dass meine Worte wie Peitschenhiebe durch den Raum knallten. „Ich will jetzt sofort von dir wissen, was du mir denn außer dem Marmeladenglas auf zwei Uhr und dem Käseteller mit den Trauben auf elf Uhr noch alles verschwiegen hast?“, zischte ich sie noch weiter an. Während ich vor Wut schnaubend auf ihre Antwort wartete, stocherte ich, um mich abzulenken, weiter vorsichtig mit meiner Gabel auf dem Käse herum. Aus der Konsistenz und der Topografie der Köstlichkeiten auf dem Käseteller konnte ich mir auf diese Weise ohne fremde Hilfe prima selbst ein Bild von den verschiedenen Käsesorten machen.

„Ich wüsste nicht, wer hier noch außer dir versucht haben könnte, jemanden etwas zu verschweigen“, keifte Susi sofort beleidigt zurück.
„Das mit deinen Augen geht uns genau genommen ja auch gar nichts an, schon gar nicht in der Pause. Alles, was uns und die Dreharbeiten hier betrifft, steht schließlich in dem Vertrag, den du unterschrieben hast. Aber deshalb brauchst du ja nicht gleich blöd zu werden, nur weil ich dir ein bisschen helfen wollte“, sagte Susi dann schon wieder in gemäßigterem Ton.

„Falls du nicht mit uns darüber reden willst, ist das zumindest für mich auch so voll ok. Ich rate dir nur, draußen am Set ein bisschen darauf zu achten, was du sagst. Du solltest nämlich auch daran denken, dass wir hier außer den Bildern auch den Ton nonstop aufzeichnen“, gab Susi dann noch recht spröde, aber mit einem fürsorglich warnenden Unterton weiter von sich. Dann senkte sie vermutlich ihren Blick, um sich schweigsam schmollend mit den Sachen auf ihrem Teller zu beschäftigen. Nur einen kleinen Augenblick später, ich dachte gerade noch über Susis Warnung über die ununterbrochenen Tonmitschnitte nach, wurde knirschend ein knuspriges Körnerbrötchen in zwei Hälften geschnitten. Im selben Moment war es plötzlich vorbei mit der Stille. Ein extrem lautes Geräusch, das sich nach einem Missgeschick anhörte, schreckte uns alle unerwartet auf. Ein metallisches Klirren verriet auch mir, dass Susis Messer gerade unbeabsichtigt voll auf den vor ihr stehenden Porzellanteller gekracht sein musste. Das kurze Krachen war so heftig, dass man fast denken konnte, sie hätte ihren Teller mit einer Streitaxt gewaltsam in Stücke hauen wollen. Im ersten Moment fragte ich mich, ob sie vielleicht vom Jähzorn getrieben mutwillig mit ihrem Besteck in ihren Teller geschlagen hatte. Aber im selben Augenblick nahm ich dann zeitgleich einen keuchend ausgestoßenen Atemzug wahr, der zuerst über meinen Unterarm und dann über mein Gesicht hinweg fegte. Über die Bedeutung der Geräusche, die ich soeben gehört hatte, musste ich nur kurz nachdenken, bis ich, auch ohne sehen zu können, selbst darauf kam, was da gerade schiefgegangen sein musste.

„Ach nee, voll ‚Big Brother is watching me‘ oder was?“, antwortete ich zunächst schnippisch auf Susis noch unkommentierte Warnung von vorher.
„Hast du denn ein Problem mit deinem Brötchen, Susi?“, fragte ich sie dann weiter, aber diesmal mit einem süßlich scheinheiligen Säuseln in meiner Stimme.
„Mit meinem Brötchen ist alles okay, aber vielleicht brauchst du ja Hilfe, um das Kleingedruckte in deinem Vertrag zu verstehen? Oder weißt du gar nicht mehr, was du unterschrieben hast?“, blaffte Susi mich angriffslustig an und hantierte dabei weiter mit ihrem halben Brötchen auf ihrem Teller herum.
„Nee, fürs Kleingedruckte sicher nicht, ich will nur wissen, warum du mir die Sachen, die sich vor mir auf dem Tisch befinden, so fachkundig ansagen konntest. Und dann würde ich auch noch gerne von dir hören, wie das ‚so blind …‘ in deiner Frage vorhin gemeint war?“, fragte ich Susi und biss dabei jetzt wieder genüsslich in mich hinein grinsend in mein Croissant. Das krosse Teilchen hatte ich vorher mit einer gehörigen Portion Nutella so aufgewertet, dass der Zucker und die Endorphine, so gestresst wie ich mich bis vor kurzem noch gefühlt hatte, mich hoffentlich schnell wieder auf Vordermann brachten. Nach Susis aggressiver Reaktion auf meine schnippische Frage fühlte ich mich aber auch ohne die Wirkung der Schokolade schon wieder richtig gut. Schließlich hatte sie mir damit deutlich zu verstehen gegeben, dass sie auch einen wunden Punkt versteckte, an dem ich sie jetzt voll erwischt hatte. Aus eigener Erfahrung wusste ich nur zu gut, wie dünnhäutig Menschen gestrickt sein konnten, die sich manchmal unsicher fühlten, wenn sie meinten, etwas Offensichtliches geheim halten zu müssen. Mittlerweile war ich mir absolut sicher, dass ich hier nicht mehr die Einzige war, die dummerweise versucht hatte, kleine Geheimnisse nicht allzu sehr öffentlich werden zu lassen. Susi biss nach einer peinlichen Stille dann auch endlich in die bröselige Kruste ihrer Brötchenhälfte, die sie vorher dünn mit Butter und danach dick mit Heidelbeerkonfitüre bestrichen hatte. Um welche Frucht es sich dabei handelte, hatte ich schon gerochen, während Susi sich mit dem Aufschrauben des Glases abmühte.

„Ich kann auch so sehen wie du. Nur bin ich noch nicht so blind wie du“, gab mir Susi mit vollem Mund etwas kleinlaut zur Antwort. Dazu schlürfte sie durch den Milchschaum hindurch an ihrem Cappuccino. Sie bemühte sich aber immer noch, sich gelassener zu geben, als sie es tatsächlich zu sein schien.
Mir kam das Ganze inzwischen eher wie ein albernes, aber für mich diesmal sehr amüsanteres Versteckspiel vor. Deshalb fing mir das Versteckspielen mit Susi jetzt auch mit jedem weiteren Satz immer mehr an Spaß zu machen. Außerdem hatte ich ihr komisch formuliertes „so blind“ jetzt schon zum zweiten Mal gehört, aber inzwischen hatte ich schon eine recht klare Vermutung, was sich dahinter verbergen könnte. Mit wachsendem Vergnügen setzte ich das ‚Katz-und-Maus‘-Spiel mit einer weiteren belanglos klingenden Gegenfrage fort.

„Aber wie kannst du Arme denn noch fotografieren und sogar filmen, wenn du selbst auch so blind sein solltest wie ich es bin?“, antwortete ich mit gespieltem Erstaunen und versuchte, Susi so immer weiter aus ihrer Reserve zu locken.
„Erstens bin ich noch nicht so blind wie du, und wenn es bei mir auch so weit ist, habe ich nicht vor, deshalb gleich meinen Beruf zu wechseln“, antwortete Susi. Aus ihrer Stimme konnte ich deutlich heraus hören, dass sie sich ganz und gar nicht so cool fühlte, wie sie sich gerade gab, und sich mit einem leisen Schmatzen ziemlich nervös einen klebrigen Marmeladenrest von ihrer Oberlippe ableckte.
Leise kauend fuhr Susi fort.

„Jetzt weißt du ja auch, wie ich das ´so blind´ vorhin meinte. Aber auch wenn ich im Gegensatz zu dir nur ein Glasauge habe, brauchst du mich dafür weder zu bemitleiden noch mich damit aufziehen. Oder hast du das etwa gerne, wenn dich Leute gleich in Watte packen wollen, nachdem sie gerafft haben, warum du sie so süß anschielst?“
„Du bist aber auch ganz schön heftig drauf, Süße“, gab ich Susi nachdenklich zur Antwort und dachte über die gesamte neue Situation immer entspannter nach. Irgendetwas wollten sie hier alle vor mir verbergen, ich musste jetzt nur noch herausfinden, was sich hinter dem eigenartigen Verhalten meiner Gesprächspartner und hinter diesem eigenartigen Geschäftsmodell wirklich verbarg.

„Nach dem Frühstück kommen übrigens nur noch schöne Szenen, Mara“, brachte sich Alex wieder in Erinnerung und versuchte unser für die anderen offensichtlich nerviges Gezicke mit einem neuen Thema diplomatisch zu beenden.

„Na prima, dann wünsche ich dir schon mal viel Spaß mit dem Engelchen“, sagte ich diesmal aus Eifersucht angefressen und rückte noch ein Stückchen weiter von dem neben mir süßsäuselnden Charmeur in Richtung Fenster weg.

„Hey Süße, keine Angst, wir bekommen das schon zusammen hin, sei doch nicht immer gleich so zickig“, hörte ich Alex glaubhaft ehrlich um mich bemüht sagen. Im selben Moment, in dem er das gesagt hatte, war er mir auch schon wieder nachgerückt und hatte mir schon wieder seinen Arm um meine Schultern gelegt. Das fand ich jetzt wieder echt cool von ihm und genoss es, dass er keiner war, der gleich aufgab, wenn eine toughe Frau wie ich ihm mal kurz ihre kalte Schulter gezeigt hatte. Aber das war nicht der einzige Grund, warum ich mich nicht gegen seinen Arm wehrte, zumal er sich so zärtlich um meine Schultern schlängelte, dass es sich schon wieder unglaublich schön anfühlte. Ich freute mich richtig doll darüber, dass er es mir so leicht machte, gleich wieder aufzurücken, und kuschelte mich noch fester als vorher an seinen muskulösen Prachtkörper.

„Ihr hättet mir ja auch gleich sagen können, dass ihr mich auch für die Rolle des Engelchens eingeplant hattet“, sagte ich grinsend und knuffte meinen neuen Schwarm wieder frech in seine Rippen. Mit meinem Ellenbogen konnte ich seine sexy trainierten Knochen durch sein Oberhemd hindurch Bogen für Bogen deutlich spüren.

„Aber vorher musst du mir erst noch einmal richtig schöne Augen machen, Süße“, sagte Alex mit einer vor hörbarer Erregung belegten Stimme. Sie klang dabei so aufregend, dass ich ihm am liebsten gleich hier vor allen Leuten seine Kleider vom Leib gerissen und ihn sofort vernascht hätte.

„Das hört sich ja fast so an, als ob ich jetzt lammfromm werden müsste?“, flirtete ich mit ihm weiter und gab mich vollends entwaffnet und willig. Was für ein Tag, dachte ich, überglücklich und ließ mich von meinen Gefühlen für den schönen Mann neben mir, so als würde ich auf Wolken davongetragen, weiter in mein Abenteuer hinein treiben. Der Blick, den ich meinem ersten Traummann, begleitet von süßen Worten der Begierde, jetzt zuwarf, war für Sehende extrem schwer zu deuten, das wusste ich nur zu gut. Aber sein Kompliment über meine schönen Augen hallte in diesem Moment wieder wie Musik in meinen Ohren und ich sah ihn damit mit weit geöffnetem Herzen so leidenschaftlich glühend an, wie ich nur konnte. Als Antwort umfingen seine Hände zärtlich meinen Hals. Alex hatte seine Handflächen nach oben gedreht und seine beiden Däumchen streichelten mich zärtlich unter meinem Kinn. Ich wusste, dass er mir jetzt ganz tief in meine Augen sah.

„Du bist aber nicht wirklich ganz blind, oder?“, hörte ich ihn fast flehend stottern, und ich fühlte, wie er den Bewegungen meiner Pupillen Millimeter für Millimeter mit seinen Augen folgte. Ohne ein Wort zu sagen, umarmte ich ihn und ließ meine Hände Wirbel für Wirbel über seinen Rücken gleiten.

„Und wenn es doch so ist?“, flüsterte ich leise.

„Ich kann dich doch mit meinen Händen und mit meinem Herzen viel besser sehen als du mich mit deinen Augen “, sagte ich weiter und hauchte ihm einen zarten Kuss auf seine Wange.

„Nicht dass ich euch das nicht gönnen würde, aber wir sollten wirklich zusehen, dass wir fertig sind, bevor Pawel hier wieder auftaucht“, schaltete sich Susi mit einem drängenden und sogar etwas ängstlichen Unterton in ihrer Stimme wieder in unsere Unterhaltung mit ein.

„Jetzt hast du es aber plötzlich sehr eilig, mich hier wieder loszuwerden, Süße“, provozierte ich Susi mit einem schrägen Grinsen und freute mich darüber, dass sie mir mit dieser Bemerkung einen Anknüpfungspunkt dafür geliefert hatte, sie weiter auszuquetschen.

„Das musst du mir jetzt aber doch noch etwas genauer erklären, ich bin nämlich nicht nur neugierig, sondern insbesondere dann wenn mein Bauchgefühl mir sagt, dass etwas nicht ganz koscher sein könnte auch misstrauisch“, fügte ich mit dem gleichen Grinsen noch hinzu. „Oder bist du etwa eifersüchtig, Susi?“

Nebelsport

Marvin

 

„Gut so, Mila! Achte auf deinen festen Stand und dann versuche nach Maras Angriff einfach ihrer Bewegung so lange zu folgen, bis du sie sicher und fest am Kragen zu fassen bekommen hast. Lass dich einfach mitreißen und rolle dich ab, um deinen Körper mit ihrem Schwung aufzuladen, und danach lässt du sie einfach zum geeigneten Zeitpunkt los. Dann probiert jede von euch so elegant wie möglich noch einmal in den sicheren Stand abzurollen“, schrie Maika den beiden Kämpferinnen zu. Marc, Maikas Freund, stand hinter dem Rolli der Trainerin, verfolgte jedes Geräusch der Kampfhandlung gespannt und war dabei aufs Äußerste konzentriert.

„Iiijaaahhh …“, stieß Mara einen hell und laut durch die Halle gellenden Schrei aus, bevor Maika sie in ihrem pinkfarbenen Jujitsu-Kampfanzug wie eine Gepardin auf Mila zufliegen sah. Mila hatte sich im exakt gleichen Outfit wie ihre Freundin gekleidet, perfekt auf deren Attacke vorbereitet, weshalb die beiden einen Moment später zu einem farbenprächtigen Knäuel verschmolzen und polternd, als seien sie ein Ganzes, über die dünne Bodenmatte fegten. Einen Moment später entdröselte sich die leuchtende Kugel der in sich verschlungenen Leiber der Kämpferinnen schon wieder, Arme und Beine wirbelten durch die Luft, bis sich die letzte Verbindung der beiden elegant wie in einer für ein Ballett einstudierten Choreografie wieder löste und damit endete, dass die Frauen wieder mit beiden Beinen fest auf dem Boden neben der Matte standen.

„Bravo, ihr zwei, ihr werdet immer besser. Alle Achtung!“, rief Maika anerkennend und fing, begleitet von Marcs Klatschen, ebenfalls an zu applaudieren. Dann stemmte sie sich mit ihren Armen auf den Armlehnen ihres Rollis hoch und streckte sich. So tat Maika das fast immer, wenn sie voller Tatendrang darüber nachdachte, wie sie andere, die sich noch besser als sie bewegen konnten, noch weiter an ihre Grenzen heranführen konnte. Maika hatte noch großes Glück, dass sie trotz der Querschnittslähmung, die sie am Ende ihres Sportstudiums nach einem Skiunfall aus der Bahn geworfen hatte, ihre Arme noch uneingeschränkt bewegen konnte. Leider hatte sie durch den Unfall ihr Körpergefühl unterhalb ihres Brustwirbels für immer verloren, was ihr so lange viel mehr als heute zu schaffen machte, bis sie hier im Sportverein wieder neue Freunde und eine Aufgabe gefunden hatte. Eine Aufgabe, die ihr zwar keinen Weg zurück in ihr altes Leben eröffnete, die der noch immer leidenschaftlich Sportbegeisterten aber eine neue Perspektive eröffnete, aus der sich zwar eine andere, aber dennoch gute neue Lebensqualität für sie entwickelt hatte. Durch den Sport gewann sie in dem Moment, als sie verstand, dass sie auch als Körperbehinderte noch immer mitmachen konnte, schnell wieder ihre frühere Lebenslust zurück. Ihr neues Studium der Sozialwissenschaften absolvierte sie daraufhin genauso mit Bravour, wie sie das in dem Sportstudium, das sie nach ihrer Verletzung abbrechen musste, vorher auch getan hatte.

„Maika, die beiden sind inzwischen wohl weit genug dafür, dass ich sie zum ersten Mal zum Baden mitnehmen kann“, sagte Marc in einem Ton, der beängstigend schneidend klang.

„Als ob das, was du mit den beiden vorhaben könntest, puren Badespaß verspräche“, sagte Maika verschmitzt und griff nach hinten zu den Händen ihres Freundes, die sich auf den Schiebegriffen ihres Rollis befanden. „Von mir aus. Ich hoffe aber, dass du es nicht gleich so übertreibst, dass die beiden danach zur Erholung auf der Solarfläche im Schwimmbad noch ein paar Minuten Ruhe für ein entspanntes Schläfchen finden können“, sagte Maika lachend. Mila und ich hörten noch ein Küsschen schmatzen, bevor Marc zu uns auf die Judomatte schlenderte und uns einen Ellenbogen anbot. Schon das kam ihnen komisch vor, weil Marc über den Maika auch Toni, die Augenmacherin, kennengelernt hatte, sonst immer knallhart auf den Stockeinsatz bestand. Marc war bei der Marine einer der jüngsten Kampfschwimmer gewesen, bis er mit seinem Motorrad in einer engen Kurve in einen Bierlaster gerast war, der dort in der zweiten Reihe geparkt war. Der Fahrer war gerade dabei, mit der Heckladerampe Bierfässer für eine Kneipe zu entladen, als Marc nicht mehr ausweichen konnte und sein Blut nach einem lauten Knall, begleitet von einem Splittern und Krachen, über den Fahrer hinweg in den Laderaum spritzte. Marc brauchte fast zwei Jahre, um nach dem Unfall wieder auf die Beine zu kommen. Die scharfkantige Ecke der Aluminiumrampe hatte sein Helmvisier durchschlagen und war auf der Höhe seiner Nasenwurzel horizontal bis zu seinen beiden äußeren Augenwinkeln in seinen Schädel eingedrungen. Mit einer Größe von zwei Metern vier sah sein durchtrainierter Körper aus der Ferne mittlerweile wieder atemberaubend gut und durchaus auch erneut gefährlich aus. Nachdem er sich nach dem Unfall, zäh wie er war, wieder auf sein altes Kampfgewicht trainiert hatte, war die imposante Autorität, die sein Ego abstrahlte, wieder voll hergestellt. Aus der Nähe strahlte das markante Gesicht des noch immer kernig wirkenden ehemaligen Marinesoldaten mit seiner Gesichtsepithese und seiner hellblonden Stoppelfrisur eine faire Wärme, aber auch kompromisslose Härte aus.

„Bassbariton! Oder was meinst du dazu, Mila?“, hörte ich mich sagen, während ich meinen Griff um Marcs voluminösen Bizeps noch etwas lockerte. Das Gefühl, das mich begleitete, war keine Aufregung, aber Angst oder Unsicherheit war es sicher auch nicht. Das, was ich gerade empfand, während Marc Mila und mich zum ersten Mal in das Tauchbecken mitnahm, war eher eine Mischung aus Stolz und Anerkennung. Ein Gefühl, das mir so richtig gut reinlief.

„Bariton trifft es eher, Mara. Das, was du dabei noch herausgehört hast, gehört weder auf eine Bühne noch in einen Chor. Das sind die Resonanzen des wirklichen Lebens, die sich herausbilden, wenn man seine Amygdala etwas kognitiver trainiert hat als üblich“, sagte Marc kühl und sachlich.

„Amygdala?“, fragte ich neugierig, wobei man noch ein interessiertes Stirnrunzeln aus meiner Stimme heraushören konnte.

„Das ist das Angstzentrum in unserem Gehirn, das man durch Meditation beeinflussen kann, wenn man weiß, wie es geht“, platzte Mila so schnell mit einer richtigen Erklärung heraus, dass sogar Marc verblüfft war.

„Angstzentrum? Ist hier denn etwa jemand wasserscheu?“, fragte ich scheinheilig, obwohl ich genau wusste, dass Mila im Gegensatz zu mir erst im Schwimmunterricht in der Schule zum ersten Mal in tiefem Wasser war. Aber Mila war eben Mila und immer vorne, wenn sich ihr neue Chancen auftaten, am Leben außerhalb ihrer frühkindlichen Grenzen teilzuhaben. Sie war inzwischen genauso mobil wie ich geworden und hatte sich auch in ihrer Familie so durchgesetzt, dass sich mittlerweile dort niemand mehr traute, ihr ihre Freiheit zu beschneiden.

„Mara, wir machen das hier nicht nur zum Spaß! Einerseits ist es voll in Ordnung, wenn ihr Ansätzen von Angst mit Humor begegnet, aber andererseits musst du auch nichts ins Lächerliche ziehen, wenn es dafür keinen begründeten Anlass gibt. Schließlich will ich euch zeigen, wie man sich im Wasser zurechtfindet und wie man sich, wenn es mal sein muss darin auch wehren kann. Zum Planschen musst du an den See oder ins Schwimmbad, aber nicht hier ins Tauchbecken gehen“, sagte Marc und Mara steckte ihren Rüffel, ohne einen weiteren Mucks zu machen, ein.

„Hier schaut euch das mal an und in einer Minute würde ich dann gern von euch hören, was das ist und wofür wir das einsetzen können“, sagte Marc und verteilte zwei Mappen. In die Mappen waren ein paar DIN-A4-Bögen mit braillebedrucktem Karton eingeheftet.

„Ein Alphabet für Taubblinde? …", platzte die Antwort schon nach Sekunden wieder schneller als von mir aus Mila heraus.

„Klar! Taucher müssen sich ja unter Wasser mit Handzeichen, die wir nicht sehen können, verständigen, ist doch voll logisch, dass wir dafür stattdessen diese Tipp- und Wischzeichen verwenden. Voll cool, dass es sowas schon gibt, da braucht man das Rad ja nicht noch einmal neu zu erfinden“, ergänzte ich spontan und hoffte, damit meinen Patzer wiedergutgemacht zu haben.

„Gut gemacht! Dann übt ihr die restliche Zeit jetzt das „M“, das „R“, das „C“ und das „O“ und in fünfundvierzig Sekunden erklärt ihr mir, wofür wir die vier Zeichen brauchen, sagte Marc schnell, ohne uns zu loben. So hatten Mila und ich uns vorher wirklich noch nie berührt. Mein Puls fing an, von dem Stress, den Marc aufbaute, zu rasen, und unsere Hände fummelten schweißnass in unseren Handflächen, während wir mit der jeweils anderen Hand die Zeichen in den Schnellheftern lasen.
„So, die Damen! Ich bin ganz Ohr …“, sagte Marc grinsend, als die Zeit abgelaufen war.

„Das ‚O‘ nutzen Gehörlose in der Gebärdensprache als ‚ok‘, das hat die gleiche Bedeutung wie Däumchen hoch“, sagte Mila jetzt ganz und gar nicht mehr vorlaut.

„Die anderen Zeichen könnten wir sein. Weil unsere Namen alle mit „M“ anfangen, können wir schlecht die Anfangsbuchstaben nehmen, aber ein „C“ gibt es nur bei Marc und ein „R“ nur bei mir. Deshalb könnte das ‚A‘ dann auch für Mila genommen werden, ohne dass etwas zweideutig wird“, ratterte ich ruhig meine Überlegungen herunter und wartete ab, was Marc dazu zu sagen hatte.

„Alle Achtung, gar nicht schlecht für den Anfang“, sagte Marc und klang dabei erfreut überrascht.

„Kennt ihr das?“, fragte Marc und hielt jeder von uns eine Art Bauchgurt hin.

„Wow! Navigürtel, oder?“ platzte es wieder aus Mila heraus. Mila und ich hatten diese Dinger schon vor längerer Zeit auf der SightCity in Frankfurt ausprobiert. Den Trip dorthin hatte ich mir noch vor Ausbruch der Coronapandemie zum Abschluss von Milas Mobilitätstraining für ein gemeinsames verlängertes Wochenende überlegt, bei dem Mila mich vom Anfang bis zum Ende ganz alleine auch zu den drei Übernachtungen guiden musste.

„Klar kennen wir das. ‚Nice to have‘, aber geht auch ohne“, sagte diesmal ich eher trocken als vorlaut.

„Genauso ist es. Im Wasser müsst ihr euch nämlich auch ohne solche modernen Hilfsmittel orientieren. Deshalb zieht ihr euch jetzt aus und danach noch kurz die Gurte an. Damit richtet ihr euch nach Norden aus und merkt euch den akustischen Fingerabdruck der Nordrichtung. Danach zieht ihr die Gurte wieder aus und dann geht’s ab ins Wasser“, sagte Marc und verfolgte das weitere Geschehen. Ohne es zu betonen, achtete er auf die Zeit, die sich Mila und ich zur Bewältigung der neuen Aufgabe nahmen.

„Brrr, das Wasser ist ja extrem ungemütlich kalt“, schnatterte Mila, und ich hörte heraus, dass sie sich nicht nur zum Aufwärmen gern an mich gekuschelt hätte, sich aber zusammenriss, nachdem Marc uns klargemacht hatte, dass er hier der Einzige war, der die Hosen anhatte. Als er uns, statt Milas Gewimmer zu kommentieren, im selben Moment vom Beckenrand dazu aufforderte, von der südwestlichen Ecke des Beckens aus exakt nach Norden zu kraulen, hatten Mila und ich keine Zeit mehr, um über die mehrfache Bedeutung des ‚Hosenanhabens' zu sinnieren. Kaum angekommen mussten wir von der Stelle aus, an der wir angekommen waren, die Kacheln bis zur nordöstlichen Ecke abzählen. Unser Ergebnis, das dreißig Zentimeter auseinanderlag, ergab sich für uns aus drei mal zehn Zentimeter Fliesenbreite, die wir voneinander abweichend angekommen waren, schien Marc aber nicht wirklich überzeugt zu haben.

„Letzte Runde ihr zwei!“, rief Marc uns eine gute Stunde später zu und ergänzte seine Ansage um ein weiteres Ziel.

„In 3 m Tiefe auf zwei Uhr mit Hand geben, aber ohne dazwischen aufzutauchen!“ Als unsere Köpfe fünfundzwanzig Sekunden später zeitgleich mit brennenden Lungen die kalte Wasseroberfläche durchstießen und wir gierig frische Luft in uns aufsogen, hörten wir Marc schon vor Begeisterung über unsere Leistungen applaudieren.

„Los, ihr zwei Wasserratten, das reicht für heute, und jetzt geht es unter die heiße Dusche. Eure ist auf zehn Uhr und meine auf acht Uhr. Wir treffen uns dann in fünfzehn Minuten wieder drüben in der Halle bei Maika.“

„Ohne Stöcke?“, fragte Mila entsetzt.

„Probiert’s doch mal mit Schnalzen, und wenn das nicht klappt, lauft ihr vom Ausgang der Tauchschule einfach auf ein Uhr zu. Der Eingang zur Turnhalle befindet sich vom Ausgang der Tauchschule aus 125 Schritte in südsüdwestlicher Richtung“, sagte Marc grinsend, und dann war er weg.

„Los, komm schon, Mila, die heiße Dusche wartet schon. Nur auf uns beide, wir zwei ganz alleine“, sagte ich noch aufgedreht und richtig berauscht von dem krassen Training, das Marc mit uns veranstaltet hatte.

„Oh, war das so mega cool“, sagte ich zu Mila, während wir einander einseiften, uns von der Seife glitschig aneinander rieben und streichelten und im Dampf der heißen Dusche wild zusammenknutschten. Mila und ich quietschten schon sehr vergnügt, bevor meine Freundin plötzlich anfing, mir mit ihrer Zunge gegen meinen nassen Hals zu schnalzen und dazu eine scheinheilige Bemerkung machte.

„Ob er das wirklich so gemeint hat mit dem Schnalzen, unser Marc?“, dazu kicherte sie, so wie sie immer in der Knutschhöhle hinter der Tür auf unserem Spitzboden kicherte, wenn unser Liebesspiel am schönsten war.

„Bestimmt nicht, aber schön ist es trotzdem“, kicherte ich zurück und biss ihr dabei ganz zärtlich in ihr rechtes Nippelchen, bevor ich sie daran erinnerte, dass wir in wenigen Minuten wieder in unseren Jujitsu-Anzügen in der Turnhalle erwartet werden würden, was uns beiden zwar in diesem Moment nicht gefiel, aber leider nicht zu ändern war.

 

Befreiung

Mara

 

„Glasaugen? … Zwei? … Aber du kannst sie doch voll bewegen?“, stotterte Alex voller Mitleid und brachte mich damit unerwartet wieder voll auf die Palme.
Wie konnte ich nur so doof sein, mich hier meinen Gefühlen hinzugeben und mich schutzlos an Leute auszuliefern, bevor ich überhaupt herausgefunden hatte, was sie wirklich im Schilde führten? Wie ein Dummerchen hatte ich mich von Alex ablenken und einwickeln lassen. – Ich und Engelchen – voll peinlich und auch noch voll dumm dazu. Der Schlüssel zu dem Geheimnis war Susi, so viel stand schon mal fest. Dann fiel mir der Spruch „Angriff ist die beste Verteidigung“ ein und in dem Moment wusste ich auch, wie ich am schnellsten weiterkommen konnte, um hier Licht ins Dunkel zu bekommen. Ohne zu zögern befreite ich mich aus der liebevollen Umklammerung, die sich für mich plötzlich wie schleimiger Sabber anfühlte, und griff quer über den Tisch nach Susi, die ich im V-Ausschnitt ihres Baumwolltops oberhalb ihrer Brust zu fassen bekam.

„Hey, was soll das, spinnst du?“, schrie sie entsetzt auf, aber da hatte ich ihr schon den Stoff ihres Tanktops so eingedreht, dass ich sie daran über die Tischplatte hinweg zu mir herziehen konnte. Mit einem trockenen „Plopp“ riss sie mit ihrem Bauch ihren Cappuccino um, der auf die Tischplatte platschte, bevor die ausgeleerte Tasse schrill gegen die Untertasse klirrte. Ich spürte ihren kräftigen linken Arm, mit dem sie sich widerspenstig versuchte, an meinem Schlüsselbein abzustützen. Aber bevor sie es verhindern konnte, erwischte ich den kurzen Stummel, der nutzlos aus der Öffnung ihres Tanktops von ihrer rechten Schulter herabhing mit meiner Hand und hielt ihn fest. Susi erstarrte von einem Moment auf den anderen und stammelte, von meinem Vorstoß noch völlig verwirrt, irgendetwas Unverständliches vor sich hin. Marga sprang auf und wich zurück, während ich auch aufsprang und, ohne Susi loszulassen, um den Tisch herum huschte und ganz dicht an sie herantrat.

„Sag mir endlich, was hier wirklich los ist!“, schrie ich sie an, packte sie an ihren Schultern und versuchte sie auf diese Art so wachzurütteln, dass sie mich endlich darüber aufklärte, was hier wirklich abging. Während ich sie so schüttelte, wabbelte der kurze Rest ihres amputierten rechten Arms unter meiner linken Hand wie Pudding vor und zurück. Susi war also, so wie ich mir das bereits gedacht hatte, eine Einarmige. Der Verdacht, dass das tatsächlich nur so sein konnte, war mir schon seit ihrem Missgeschick mit dem Brötchen von einem Moment auf den anderen recht klar geworden. Jetzt musste ich nur noch herausfinden, was das widerliche Ekel mit ihrer Amputation zu tun hatte, schließlich war er es ja auch, der per Annonce eine Blinde gesucht hatte.

„Pawel hat uns alle in der Hand“, brach es schluchzend aus ihr heraus, und ich nahm sie tröstend in den Arm. Endlich hatte ich einen Beleg dafür gefunden, dass sowohl Susi als auch die anderen lieben Menschen hier die grauenhaften Dinge, auf die ich hier gestoßen war, gar nicht selbst zu verantworten hatten. In dem Glauben, als Model einen schönen, spannenden Tag erleben zu dürfen, war ich nun doch auf ein Geflecht von mafiösen Verbrechern gestoßen. Dass ausgerechnet ich, eine Blinde, hier jetzt so urplötzlich das Licht in das Geschehen brachte, das helfen konnte, Unschuldige aus den Schatten zu führen, bockte mich plötzlich richtig voll auf.
Susi fing gerade erst damit an, sich bei mir auszuweinen, und schmiegte sich dabei mit ihrem Gesicht auf die nackte Haut an meinem Hals. Ihre langen Haare wallten über meinen Oberkörper, aber sie lagen nicht so schwer wie Ronjas Haare auf meinen Brüsten und sie fühlten sich strohig, kratzig anstatt warm, weich und kuschelig an. Eigentlich hatte ich bis jetzt ein aufgewecktes, spritziges Bild von Susi in meinem Kopf. Das Bild von einer sportlichen jungen Frau, die sich selbstbewusst und natürlich gab, eine, die zu ihrem schönen Körper stand und die wusste, was sie wollte. Aber dass sie, so wie ich auch, ein Handicap hatte, schockte mich trotzdem etwas. Dann zweifelte ich an mir selbst. Unter normalen Bedingungen hätte ihr fehlender Arm diesem Bild, das ich von ihr in meinem Kopf hatte, ja auch nicht zwingend geschadet. Schließlich hatte Susi bis vor wenigen Minuten mit einem gesunden Selbstbewusstsein geglänzt und auch über eine Menge positive Ausstrahlung verfügt. Das, was mich verunsichert hatte, war wohl eher der Versuch, dass sie genauso dumm wie ich offensichtlich versucht hatte, ihren Makel zu verstecken, anstatt einfach tough zu dem zu stehen, wie sie ist. Dann wurde mir klar, dass ich mich mit den Grübeleien über ihr Missgeschick, das ihr mit dem Brötchen passiert war, einen kurzen Moment lang selbst getäuscht hatte. Es war nämlich gar nicht ihr fehlender Arm, der mich weiter über sie rätseln ließ, sondern es lag wohl eher an dieser billigen Perücke. Die passte nämlich überhaupt nicht in das Bild, das ich bis eben von Susi in meinem Kopf hatte. Eigentlich hatte ich auch überhaupt keinen Bock darauf, mir das schöne Bild, das ich noch immer von ihrem Körper in meinem Kopf hatte, einfach so mir nichts, dir nichts verschandeln zu lassen. Zumindest nicht von einem Accessoire, das mir nicht gefiel und das ich sowieso nicht sehen konnte. Soweit ich denken kann, hatte ich die Freiheit, die Welt so zu sehen, wie sie mir in meiner Vorstellung passte. Insbesondere was die schönen Dinge betraf, war ich mir sicher, dass ich daran auch zukünftig nichts ändern wollte – zumindest so lange nicht, wie ich noch so blind bleiben muss, wie ich es bin, seit ich denken kann. Brainport und all die anderen medizinischen Experimente, die in jüngster Zeit immer wieder als Hoffnungsschimmer für Blinde durch die Medien gegeistert sind, sind für mich noch nie besonders interessante Themen gewesen. Niemals würde ich mir meinen Schädel für etwas aufmeißeln lassen wollen, das mir eine bessere Welt versprach. Meine Welt war für mich bis jetzt eigentlich voll in Ordnung, aber das, was hier abging, das war wohl alles andere als in Ordnung. Selbst die Frage, warum Susi eine solche fürchterliche Perücke trug, ließ mich einen kleinen Augenblick später wieder los. Der Gedanke war, so schnell wie er mir in den Kopf gekommen war, auch schon wieder weg.

„Danke, Mara, das tat mega gut …“, hörte ich Susi sagen und wurde mir darüber bewusst, dass ich mal wieder in diese tranceartige Welt meiner Gefühle und Selbstreflexion abgeglitten war, in der ich oft außergewöhnlich gute Antworten auf schwierige Fragen fand. Das war vor allem oft dann so, wenn mich etwas bedrückte oder wenn ich vor Freude mal wieder nicht mehr so ganz klar denken konnte.

„Jetzt wissen wir wenigstens, wo wir mit uns untereinander dran sind“, sagte ich knapp und dachte schon weiter darüber nach, wie ich am schnellsten herausfinden konnte, was es mit diesem verbrecherischen Pawel wirklich auf sich hatte und womit er hier mitten in Berlin brave Leute erpressen konnte.

„Dann heißt das fette Ekel, das du vorhin so taff hinauskomplimentiert hast, also Pawel. Damit hat das Böse hier jetzt wenigstens schon mal einen Namen“, brummelte ich grimmig und drückte die arme Susi, die immer noch zitterte, noch fester an mich.
Aus dem Hintergrund heraus hörte ich Geräusche, die mir verrieten, dass Marga und Alex damit begonnen hatten, den Frühstückstisch abzudecken und aufzuräumen. Am Wischen sowie dem Tröpfeln und Plätschern von Wasser, das aus einem Eimer hallte, hörte ich, dass Marga sich mit einem Lappen bewaffnet hatte und gerade den aus gekleckertem Cappuccino von der Tischplatte wischte. Alex trug, ohne sich einzumischen, das Geschirr ab.

„Und was hat es mit diesem Pawel jetzt auf sich, dass ihr ihn so fürchten müsst?“, fragte ich Susi vorsichtig, während ich ihr zärtlich tröstend weiter ihren Rücken streichelte. Gerade als ich verstanden hatte, dass Pawel ein Name russischen Ursprungs ist, der übersetzt ‚der Kleine‘ bedeutet, hörte ich erneut das unheilverkündende Röhren des Sportwagens aus dem Innenhof heraufschallen, das uns die Rückkehr dieses üblen Tyrannen überraschend ankündigte.

„Alex! … Schnell, es gibt hier doch bestimmt eine Feuertreppe, oder?“, rief ich und sprang entschlossen auf.

 

Nebeljunge

Marvin

 

„Kommt gar nicht infrage, Mama! … Was soll ich in Marburg? Mein Zuhause ist doch hier und hier ist Mila, meine Freundin, und auch meine anderen Freundinnen und der Sportverein und meine ganzen anderen Freunde“, rief ich entsetzt und stampfte voller Zorn mit meinen schicken schwarzen Heelboots auf den Boden.

„Marvin! Bitte stell dich nicht so an. Ich will doch nur das Beste für dich und in Marburg haben blinde Jungs einfach eine viel bessere Förderung. Dort hast du auch nach deinem Abitur viel bessere Chancen als hier in der Provinz“, sagte sie und tadelte mich danach noch äußerst aggressiv. Das tat sie immer so, wenn sie hörte, dass ich wieder diese schicken Overknees trug, deren Stiefelschäfte bis hoch zur Mitte meiner Oberschenkel eng zugeschnürt getragen wurden.

„Mara, Mama, Mara! … M A R A“, buchstabierte ich ihr meinen Namen so laut, dass sich dabei sogar meine Stimme überschlug. Gefühlt zum hunderttausendsten Mal fügte ich mit lautem Kreischen, wie immer, wenn sie mich mit ihrer herabwürdigenden Arroganz so fies behandelte, noch meinen Standardsatz zu diesem Thema hinzu.

„Einen Marvin hattest du nämlich nie!“, danach atmete ich noch einmal heftig durch und arbeitete daran, meine Wut wieder in den Griff zu bekommen. Ihr müsst gegen in euch aufkeimende Wut ankämpfen. Nur wenn ihr rational denkt und auch so handelt, könnt ihr die Oberhand gewinnen und diese auch behalten. Das hatte Marc Mila und mir am Rande unseres letzten Trainings beigebracht. Deshalb versuchte ich mich jetzt auch wieder einzukriegen, weil ich auch wirklich gar keinen Bock darauf hatte, mich mit meiner Mutter, mit meiner Zurückkeiferei auf eine Stufe zu stellen.

„Ich habe dich als Marvin zur Welt gebracht und dich deshalb genauso, wie es richtig ist, im Internat in Marburg angemeldet. Spätestens, wenn du dich dort eingelebt hast, wirst auch du einsehen müssen, dass es das einzig Richtige für dich war. Anders ist dir ja nicht mehr zu helfen“, sagte sie eiskalt und bestimmend in einem Ton, aus dem ich sowohl ihre Entschlossenheit als auch ihre Frustration heraushören konnte.

„Wenn du dort“, fuhr sie völlig abgenervt weiter fort, „so wie hier mit deinen Hirngespinsten weitermachst, werden dich außer den anderen Jungs auch noch die ganzen Mädchen für deine alberne Maskerade auslachen. Besser, du kommst noch rechtzeitig zur Vernunft. Spätestens, wenn du in Marburg mit deinen Spinnereien aufgelaufen bist, hat das Ganze sowieso ein Ende. Ein schmerzliches Ende, aber das liegt ja an dir. Diese Mila war wahrlich nicht der richtige Umgang für dich, mein Sohn“, laberte sie weiter herzlos ihren Lieblingsmonolog herunter, der üblicherweise darin gipfelte, dass an allem nur Mila und der Sportverein schuld seien.

„Du verstehst wie immer gar nichts, Mama. In den Ferien werde ich siebzehn Jahre alt, das ist in nicht einmal zwei Wochen. Selbst wenn du im letzten Moment versuchst, etwas zu erzwingen, das nie war, werde ich spätestens in einem Jahr dann doch endgültig in einem Körper leben, der zu dem passt, was ich wirklich bin und auch schon immer war. Eine Frau. Eine Frau im Körper einer Frau, so wie du auch“, sagte ich noch immer sehr laut. Aber mein Ton war schon wieder etwas weniger laut als vorher. Fast beschwörend war er, denn ich schrie nicht mehr mit ihr, aber ich merkte, dass meine Stimme mit jedem weiteren Wort tränenschwerer klang. Dann ließ ich sie irgendwann einfach stehen und rannte mit polterndem Klackern, begleitet vom Ächzen der morschen Holzstufen, auf den Spitzboden hinauf, wo ich die Tür sofort hinter mir verriegelte. So wie ich war, also noch so schick angezogen, wie ich vor wenigen Minuten vom Tanzen mit Mila und unseren Freunden von einem coolen Heavy-Metal-Konzert glücklich nach Hause gekommen war, zog ich die immer schriller quietschende kleine Tür zu meiner Höhle auf. Im alten Bettzeug, das mich unter den noch mit der Restwärme des vergangenen Tages aufgeheizten Ziegeln mit behaglich aufgestauter Energie auffing, weinte ich mich dann heftig aus. Wie so oft fragte ich mich heulend und schniefend, warum meine Mutter mir das alles antat. Trotz der abgrundtiefen Enttäuschung, die ich in meinem tiefsten Inneren empfand, war mir schon auch noch klar, dass sie das alles nur tat, weil sie mich mehr denn je liebte, aber das war ihr Problem und nicht meines. Mein Problem war auch nicht, dass ich ihr unmenschliches Verhalten mir gegenüber nicht erklären könnte. Mein Problem war viel mehr, ob ich ihr das alles jemals verzeihen können würde, und das bezweifelte ich von Tag zu Tag immer mehr. Warum Mila? Immer gab sie Mila an allem die Schuld. Mila war nicht nur noch immer meine beste Freundin, sondern mittlerweile auch eine unwahrscheinlich toughe, selbständige und bildhübsche Frau geworden. Mit ihren schweren, langen, schwarzen Haaren, ihren dunklen, fast schwarzen Augen – Toni hatte sich da wohl wieder einmal mehr fast selbst übertroffen – wirkte sie, so wie sie sich mir beschrieben hatte, wie eine Madonna. Ihr Glasauge sah nahezu identisch wie ihr letztes eigenes Auge aus, das zwar auch blind war, mit dem Mila aber einhundert Prozent mehr sehen konnte als ich. Weil ihr Sehrest nur noch so klitzeklein war, galt sie gesetzlich noch immer genauso wie ich als absolut blind. Ihr sportlich trainierter Körper, den ich besser kannte als alle die anderen Menschen, die sie sonst noch umgaben, offenbarte Sehnden jedoch auf den ersten Blick, dass Mila trotz ihrer ruhigen Ausstrahlung alles andere als eine wehrlose Behinderte war. Ihre Schlagfertigkeit und ihre oft auch selbstironischen Witze trafen immer genau den richtigen Punkt. Das schallende Gelächter, das danach so gut wie immer ausbrach, bewies, dass Mila sich nicht nur intellektuell noch weiterentwickelt hatte, sondern mittlerweile auch in jeglicher Hinsicht gesellschaftlich als junge Frau voll integriert war. Sowohl Mila als auch ich waren beide schon lange nicht mehr auf die Barmherzigkeit anderer angewiesen und wussten genau, was und wohin wir wollten. Unsere Freundschaft hatte sich schon vor mehr als einem Jahr verändert. Mila war seit dieser Zeit mit einem Mann aus unserem Sportverein zusammen, was unsere Freundschaft jedoch nicht belastete, nur meine Mutter hatte das bis heute noch nicht gerafft. Schon das bestätigte wie vieles andere auch, dass meine mehr und mehr verbitterte Mutter von Monat zu Monat immer mehr nur noch sich selbst und ihre eigene Welt mit ganz anderen Augen sah. Die restlichen, also die normalen Leute, die uns umgaben, und ich sahen vieles ganz anders. Aber Mila konnte die Welt mit ihrem einen kranken Auge inzwischen wieder um einiges besser als früher sehen. Die Tropfen, die sie kurz nach unserem ersten Besuch bei Toni in der Augenklinik verordnet bekam, hatten ihren Augendruck schon nach kurzer Zeit auf ein gutes Normalmaß gesenkt. Weil Mila ihr ganz schlimm krankes Auge mittlerweile so wie mir meine beiden kranken Augen ja auch entfernt und durch ein Glasauge ersetzt worden war, ging es ihr viel besser als früher. Seit sie für ihr besseres Auge regelmäßig die guten Tropfen nahm, hatte sie schon seit mehr als zwei Jahren keine Schmerzattacken mehr. Bei rechtzeitiger Behandlung hätte sie gute Chancen haben können, auf ihrem besseren Auge auch heute noch so gut wie Toni sehen zu können. Dann hätte sie jetzt vielleicht schon begleitet Autofahren dürfen, aber das war mit ihrer Familie für sie eben nicht drin. Aber den letzten winzigen Rest von dem bisschen Sehkraft, der bei ihr noch zu retten gewesen war, würden sie ihr jetzt genauso wenig wie ihr Selbstbewusstsein und ihre Wehrfähigkeit noch einmal nehmen können. Gegen ihren schon extrem stark auf weniger als drei Grad eingeengten Tunnelblick konnte man wegen der vielen abgestorbenen Zellen ihres Sehnervs nichts mehr machen. Aber im Gegensatz zu früher konnte sie jetzt mit ihrem einen verbliebenen Auge sogar wieder Farben sehen. Dennoch war es so, dass Mila, genauso wie ich, wenn sie alleine in unbekanntem Terrain unterwegs war, nach wie vor sowohl zur Orientierung als auch für ihre Sicherheit selbst für kleine Strecken auf ihren Langstock angewiesen war. Von ihr wusste ich, dass ihr Freund so blond wie ich war. Seinen Namen, also dass er Tim hieß und ein total netter Hüne mit einem frechen, aber stilvollen Humor war, wusste ich schon vorher. Weil Tim und ich uns auch schon länger vom Sport flüchtig kannten, wusste ich auch, dass er leidenschaftlich gern Motorrad fuhr. Vor ein paar Monaten, das war, als Mila und ich uns mal wieder wie früher hier oben in meiner Kuschelhöhle verkrochen hatten, erzählte sie mir von einem schier unglaublichen Abenteuer. Eigentlich hatten wir uns hier oben nur zusammen verkrochen, um mit dem iPad coole schwarze Klamotten für mich zu recherchieren, aber wir tratschten dabei natürlich auch über alles Mögliche. Plötzlich erzählte sie mir dann etwas total Verrücktes. Mila rückte geheimnisvoll flüsternd damit heraus, dass sie auf der Autobahn sogar selbst mit Tims Motorrad gefahren war. Weil Mila mit ihrem Röhrengesichtsfeld auf eine Distanz von weniger als einem Meter vor ihrem Auge nur knapp die Fläche einer kleinen Briefmarke mehr oder weniger verschwommen sehen konnte, galt sie gesetzlich wie ich als Blinde. Aber auf zehn Meter konnte sie, wenn sie sich anstrengte, sogar schon Autokennzeichen entziffern und auf einhundert Meter rote von gelben und schwarzen Autos unterscheiden. Die kleineren Bildchen von den coolen Klamotten konnte sie mir oft sogar ganz spontan mega gut erklären. Ich fand das immer total spannend, das war fast so gut wie die Sachen beim Shoppen selbst anzufassen. Als sie mir beschrieb und erklärte, wie Sehen eigentlich so funktioniert, war ich besonders neugierig, und es kam bei mir so an, dass ich mir das Sehen mit der Zeit so ähnlich wie Radar oder Sonar vorzustellen versuchte. Bei den größeren Bildern, die mehr Flächen auf dem iPad einnahmen, brauchte Mila viel mehr Zeit, um das ganze Bild erfassen zu können. Sie erklärte mir, dass das so ähnlich wie zoomen sei. Ich hab’s ihr, ohne weitere Details nachzufragen, einfach geglaubt und mit dabei eine Art Radarpuzzlespiel vorgestellt. Aber, dass sie als Blinde wirklich selbst mit Tims Motorrad fahren konnte, ohne wo dagegen zu fahren, erschien mir nahezu unglaublich. Ich konnte auch fast alles, nur Motorrad fahren war für mich außer als Sozia wohl nie drin. Wenn ich das auch wie Mila könnte, würde mir als Motorradfahrerin sicher ähnlich wie beim Skifahren der Wind in mein Gesicht wehen und mir pfeifend wild meine Haare zerzausen. Bei dem Gedanken daran, wie sehr ich mich in engen Kurven, in denen ich dann kraftvoll Gasgeben und mein Motorrad aufheulen lassen könnte, schlummerte ich ein. Erschöpft und dann doch wieder über die ständigen Streitereien mit meiner Mutter verzweifelt, verbrachte ich die Nacht alleine auf dem Dachboden. Der kühle Abendwind hatte die Ziegel abgekühlt. Trotz der angenehmen Kühle, die mich umgab und mich mehr und mehr beruhigte, wachte ich immer wieder auf, schlief dann wieder ein und danach unruhig weiter. Weil ich von dem Streit mit meiner Mutter trotz allem noch viel zu lange zu sehr aufgewühlt war, schlief ich einerseits nicht gut ein und träumte andererseits dazu auch noch schlecht, aber ich träumte wenigstens nichts Schlimmes über Marburg. Kurz nach sechs Uhr heizte die Morgensonne die Ziegel schon wieder so sehr auf, dass ich allerdings mehr von meinen Träumen verstört als von der Hitze geweckt schon wieder extrem früh aufwachte. Es war sogar so früh, dass ich noch mehr als genug Zeit für eine Runde Frühsport hatte, von dem ich mir etwas Ablenkung von meinen Problemen erhoffte. Außerdem war heute der letzte Schultag vor den Sommerferien, weshalb ich auch noch später als sonst in der Schule ankommen musste. Schleichend sickerte mir die Gegenwart in meine Träume und verdrängte verwässernd das Grauen, das ich in dieser Nacht erlebt hatte. Die wenigen Geräusche, an die ich mich aus meinen widerlichen Träumen noch erinnern konnte, pochten regelrecht in meinem Kopf und das muffige Bettzeug war so nass geschwitzt wie meine Haut, auf der ich kalte Schweißperlen fühlte. Kalter Schweiß, kein warmer Schweiß wie der von der Sonne und auch kein heißer Schweiß wie, der, den man so gern mag, wenn erregte Gefühle wallen. Die schlimmsten Handlungen hatte ich zum Glück schon wieder vergessen. Aber, dass es um Mila ging, hatte ich nicht vergessen. Reste des morgendlichen Taus tropften von den fast schon wieder von der neuen Hitze dampfenden Ziegeln auf meine nackte Haut und ließen mich schaudern. Im Dämmerschlaf verwandelten sich die Ziegel, die dicht über mir in der noch jungen Sommersonne neu erglühten, in laut und wild lodernde Flammen, die klebrig zähes Blut weinten. Die flammenden Tropfen waren so heiß, dass sie sich schon wieder kalt anfühlten und dort wo sie hinfielen, wie siedendes Öl alles zu bleiernem Nebel verbrannten. Sie fühlten sich noch kälter als der kalte Keller an, in dem ich Mila gerade in meinen Träumen angekettet und wie in einer Gruft eingesperrt zwischen dem Klirren schwerer Eisenketten erlebt hatte. Nach einer halben Stunde auf dem alten Spinningrad, das ich hier oben gefunden hatte und nach einigen anstrengenden Übungen mit den Expandern, den Hanteln sowie unzählige Kniebeugen und Liegestützen ging es mir noch nicht wirklich besser. Selbst der Gedanke steil einen Berg hinauf zu radeln vermochte es nicht, mir den Kopf freizumachen. Mir war noch immer speiübel als ich die knarzende Bodentreppe hinunterschlich, um mich im Bad für die Schule fertig zu machen. Wenigstens war heute der letzte Tag vor den Sommerferien, was eigentlich ein Anlass zur Freude hätte sein können. Aber ich konnte mich heute über nichts, nein über gar nichts freuen an diesem scheiß Tag, der nicht besser war, als die üble Nacht, die ich gerade voller Schmerzen versuchte hinter mir zu lassen. Ich hoffte an diesem beschissenen Morgen nicht auch noch meiner Mutter zu begegnen zu müssen, die zum Glück meistens noch schlief, wenn ich in die Schule wegmusste. Besonders dann, wenn wir Stress miteinander und uns wie wir gestern gestritten hatten, litt sie noch heftiger unter ihren Schlafstörungen, aber dann ließ sie mich danach wenigstens wieder eine Weile in Ruhe. Als ich unter die Dusche schlüpfte und das Wasser ganz heiß aufdrehte, war noch alles ruhig, bis auf das Wasser, das zischend und dampfend aus dem Duschkopf auf mich herunter sprudelte. Endlich gelang es mir, mich unter dem heißen Wasserfall etwas abzulenken. Noch vor Schulbeginn würde ich alles, was mich so aufwühlte, in Ruhe mit Mila besprechen können. Zu diesem Zeitpunkt glaubte ich auch noch fest daran, dass auch unserer Klassenlehrerin noch ein paar gute Argumente gegen dieses olle Internat in Marburg einfallen könnten. Das musste sie schon deshalb für mich machen, weil sich gerade unsere Inklusionsklasse im ganzen Landkreis als Musterbeispiel für inklusive Förderung mit Mila und mir einen überaus guten Namen in der Lokalpresse gemacht hatte. Deshalb war unsere ganze Schule auf sich selbst so stolz wie auf uns beide, ihre beiden blinden Schüler, was mir allerdings stets total missfiel. Hinzukam noch, dass ausgerechnet Mila und ich heute als die beiden Besten unseres Jahrgangs noch Buchpreise überreicht bekommen sollten, was mir noch mehr als der falsche Stolz zuwider war. Die Zeitungsartikel, die uns beide als blinde Schüler umgeben von Normalen, die sich gern selbstgefällig als ausnahmslos offen und tolerant darstellten, in den Himmel lobten, fand ich sonst immer alle voll zum Kotzen. Aber heute war alles anders, ich musste nur dafür sorgen, dass sie in dem Bericht über Mila und mich von uns als zwei Schülerinnen berichteten. Ich musste nur aufpassen, dass sie mich in dem Artikel nicht versehentlich Marvin nannten, was in meinen Augen eine totale Katastrophe gewesen wäre, wenn es so gekommen wäre.

 

Kursänderung

Mara

 

„Alex, pass doch auf! Wenn du so weiterfährst, schaffen wir es bestimmt nicht, uns rechtzeitig in Sicherheit zu bringen." Die schwere Limousine war mit aufheulendem Motor über den Bordstein auf die Straße hinausgeschossen, schlingerte und fädelte sich dort dann mit quietschenden Reifen in den dichten Verkehr ein. Meine Stimme klang schrill, weil ich Alex, nachdem ich mich gerade noch rechtzeitig am Türgriff festklammern konnte, von meiner plötzlich aufkeimenden Angst getrieben hysterisch angeschrien hatte. Alex hatte den schweren Humvee, ungefähr so schnell wie eine Raubkatze im Zirkus durch einen Feuerring springt, beschleunigt. Mit Vollgas hatte er den monströsen Wagen über den hohen Bordstein aus dem Hof heraus auf die Fahrbahn gejagt. Erst als der Luxuspanzer dort zunächst ächzend in die Federn gekracht und dann noch einmal mit einem kreischenden Knirschen mit dem Heck aufgeschlagen war, hörte man nur noch das quietschende Walken der Räder auf dem Asphalt. Danach war er noch ein Stück über die Fahrbahn gerutscht, bevor die Räder unseres Vehikels wieder Halt fanden und uns vier darin mit dem Verkehr davontrugen. Das Navi plärrte Alex am laufenden Band irgendwelche Anweisungen zu, die mich, weil sie sich so präzise anhörten, meinen ließen, dass selbst ich als Blinde mit so einem Ding als Hilfsmittel im Notfall noch alleine Autofahren könnte. Allerdings, nur wenn da nicht die vielen anderen Autos um uns herum gewesen wären, von denen uns einige wenige immer wieder erzürnt oder ungeduldig anhupten.
Wir waren unterwegs zu meiner Wohnung, weil mir im Moment so spontan kein anderer sicherer Ort als dieser eingefallen war. Außerdem wollte ich auch unbedingt zu Ronja, die sich bestimmt schon Sorgen um mich machte. Marga saß mit Alex vorne und Susi und ich versanken in dem edlen Leder der riesigen Fahrgastzelle, die mehr an eine Luxusdiskothek als an ein Auto erinnerte. Die Trennscheibe, die den noblen Fahrgastraum von Marga und Alex und von Susi und mir diskret separieren konnte, war noch heruntergefahren und Susi hatte gerade damit angefangen, mir meine Umgebung zu erklären, als ich vorsichtig ihren Redefluss unterbrach.

„Sorry Susi, aber der protzige Prunk dieser Karre interessiert gerade nicht wirklich. Alex hat auch schon versucht, mich für viele weitere aus meiner Sicht völlig unnötige Details zu begeistern, aber dafür haben wir jetzt keine Zeit. Er hat mir bereits auf der Hinfahrt mehr als genug über diesen Wagen erklärt. Ich möchte jetzt lieber erfahren, was es mit diesem Pawel auf sich hat, und danach bist du mir auch noch ein paar weitere Erklärungen zu dir schuldig. Aber vorher muss ich erst noch einmal kurz telefonieren.“ Nach kurzem Wühlen in meinem Rucksack hatte ich mein Handy in der Hand und sagte „Ronja anrufen“ in das Mikrofon, worauf einen Moment später das Rufzeichen ertönte.

„Ronja? Alles okay bei dir?“

„…“

„Von wegen gut gegangen, aber das erkläre ich dir alles später, dafür ist jetzt keine Zeit. Du musst jetzt ganz schnell Koffer packen. Koffer für uns beide …“

„…“

„Wie, nicht zu Hause? Wo bist du denn? Ich hoffe, dass du nicht entführt wurdest!“

„…“

„Wo in der Stadt? Was machst du denn dort und wie bist du überhaupt da hingekommen? … ach egal, sag mir einfach die Adresse, dann kommen wir dich gleich mit dem Wagen von Alex abholen.“

„…“

„Ja genau, mit diesem Schlitten.“

„…“

„Marjelchen? Restaurant? … Was machst du denn da?“

„…“

„Schattenglut?“

„…“

„Was mit Bildern? Um Gottes willen, nimm dich ja in Acht! Und wer ist überhaupt wir …?“

„…“

„Yasu?“

„…“

„Wie keine Frau …, doch eine Frau, …? Hast du was genommen? … oder ist sonst was los mit dir? … da stimmt doch verdammt was nicht!“

„…“

„Hey Süße, du bist blind! Wie kommst du denn auf so verrückte Ideen, wenn ich nicht bei dir bin?“

„…“

„Alex, wie lange brauchen wir bis zur Mommsenstraße 9?“, rief ich durch die geöffnete Trennscheibe nach vorne.

„Warte Ronja, Alex tippt deine Adresse gerade schon als neues Ziel in unser Navi ein, wir …“, sagte ich wieder in mein Telefon. Bevor ich den Satz vollends ausgesprochen hatte, wurde ich von dem nur kurz verstummten, aber jetzt wieder schrill ertönenden Geplärre des Navis unterbrochen.

„Etwa vierzig Minuten Mara, aber nur wenn der Verkehr mitmacht“, rief Alex mit zur Seite gedrehtem Kopf nach hinten zu mir und Susi in den Fahrgastraum, während er viel zu schnell weiter in Richtung Alexanderplatz raste.

„Hallo Ronja?“

„…“

„Wir sind in etwa vierzig Minuten da. Pass ja gut auf dich auf“, dann war das Gespräch beendet.

„Habt ihr schon einmal etwas von einer ´Schattenglut´ in der Mommsenstraße gehört?“, fragte ich in die Runde und hörte an der Atmung der Mitfahrenden, dass sich wohl alle nur schulterzuckend ansahen. Während ich mit meinem Handy im Internet nach Schattenglut Berlin recherchierte, ordnete ich meine Gedanken. Kurz darauf hämmerte mir meine Screenreader-App über Bluetooth die Information über ein Schattenglutprojekt durch zwei In-Ear-Stöpsel so auf meine Ohren, dass die anderen davon nichts mitbekommen konnten. Bei dem eigenartigen Projekt ging es tatsächlich um Bilder von Menschen mit Handicap – ging es da wirklich um Kunst? Nach den Erfahrungen, die ich heute mit der modernen Filmkunst machen musste, war ich sofort mehr als misstrauisch. Da es sonst keine weiteren Treffer zu meinem Suchwort gab, musste das eigentlich die Seite sein, auf der wohl auch meine Freundin Ronja auf das Schattenglut gestoßen sein könnte. Aber eine Adresse konnte ich dort nicht finden. Es gab nur eine Telefonnummer. Die fehlende Adresse ließ sofort wieder schrill alle Alarmglocken bei mir läuten. Zugern hätte ich sofort ausprobiert, was es mit dieser Nummer auf sich hatte, sah jedoch davon ab, da ich niemanden mehr als nötig vorwarnen und mit so einer unüberlegten Handlung auch keine Leute auf unsere Ankunft aufmerksam machen wollte. Meine Daumen huschten noch einmal über das Display meines Handys, weil ich Ronja noch eine kurze SMS zukommen lassen wollte, um auch sie davor zu warnen, dass sie nicht versehentlich zu früh etwas von unserem Besuch an falscher Stelle preisgab. Mit einem „Bing!“ quittierte mein Handy mir das Absenden folgender Nachricht:

´Bitte verrate niemandem, dass ich frisch vom Friseur zu dir komme, denn ich möchte dich mit meiner neuen Haarfarbe überraschen.

LG Benny´.

Selbst wenn die Nachricht jetzt in falsche Hände geraten würde, wäre damit noch kein Verdacht geweckt. Ronja hatte die Botschaft zwischen den Zeilen mittlerweile vermutlich schon gelesen und auch bestimmt schon während des Lesens sofort verstanden. Dessen war ich mir ganz sicher und wollte mich gerade wieder auf das Gespräch mit Susi konzentrieren, als diese mich schon ganz neugierig auf mein Telefonat und mein geheimnistuerisches Herumgewische auf meinem Handy ansprach.

„Wem schreibst du?“, fragte mich Susi, die plötzlich unüberhörbar beleidigt klang. Offensichtlich hatte sie sich darüber geärgert, dass ich sie gerade während ihrer gut gemeinten, aber völlig überflüssigen Erklärungen unterbrochen hatte. Der Luxusschlitten, in dem wir trotz der schnellen Fahrt wie auf einem fliegenden Teppich schwebend, bequem in unseren Sesseln saßen, war mir eigentlich recht egal. Das, was mich beschäftigte, waren meine Gedanken, die um die rätselhafte Bar kreisten, von der Ronja gerade berichtet hatte.

„Oh, sorry Susi, ich wollte nicht pampig rüberkommen, aber ich habe auch nur ganz kurz noch ein paar Dinge zu dieser mysteriösen Schattenglut checken wollen. Aber jetzt bin ich wieder mit meiner ganzen Aufmerksamkeit hier. Siehst du hier irgendwo eine Kühlbox oder eine Bar? Zwei Gläschen Champagner oder zwei schicke Cocktails wären doch jetzt nach diesem Schrecken gar nicht so schlecht, oder?“

„Ja klar gibt’s hier eine Bar. Links von dir hängen sogar unzählige Champagnerflöten dekorativ wie Eiszapfen von der Decke. Sie hängen dort in speziellen, etwas futuristisch anmutenden Haltern, die mit weißem Leder überzogen sind. Darin sind sie so perfekt fixiert, dass sie sich, selbst wenn der Wagen noch so wild schaukelt, nicht berühren können. Andernfalls hättest du sie in den Kurven sicher auch selbst schon klingen gehört, hier drin ist wirklich alles bis auf die letzten Feinheiten echt perfekt gemacht. Aber das hat dich ja alles nicht interessiert, als ich dir die ganzen Details erklären wollte, sagte Susi, während ich an einem fast unhörbaren Klacken hörte, dass sie sich bereits an den Haltern der Gläser zu schaffen machte.

"Es grenzt ja eh schon fast an ein Wunder, dass hier drinnen so eine stille, friedliche Geräuschkulisse herrscht, obwohl Alex viel mehr aus dem Wagen herausholt, als der Stadtverkehr eigentlich zulassen würde“, antwortete ich Susi und nahm eine sehr exklusiv verschlossene, eisgekühlte Sektflasche entgegen, die Susi mir, während wir so sprachen, wortlos zwischen meine Hände geschoben hatte.

"´Moet-Chandon-Imperial´ aus dem Kühlfach“, sagte Susi, und ich spürte, dass sich der Tau, der sich in dem Moment, in dem die Flasche ins Warme gekommen war, auf ihr niedergeschlagen hatte, auf dem schweren, dicken Glas sofort in eine hauchdünne Schicht Reif verwandelte. Sie war mit einem speziellen silbernen Schnappverschluss versehen, also schon entkorkt worden, obwohl offensichtlich noch kein Tropfen des edlen Getränks ausgegossen worden war.

„Alex, was hattest du denn mit der Champagnerflasche vor?“, hörte ich Susi neugierig durch die noch immer geöffnete Trennscheibe nach vorne fragen.

„Das Gleiche wie du, nur dass Mara bei mir ein bisschen zickiger drauf war als bei dir“, gab Alex ihr schnippisch zur Antwort, worauf Susi mit einem leisen ‚Klicken‘ einen Schalter betätigte. Die Trennscheibe begann sich im selben Moment mit einem fast unhörbar leisen Summen langsam zu schließen. Auf ein frisches Zischen folgte helles Klirren und prickelndes Sprudeln, wonach ich Susi, nachdem wir zusammen mit vereinten Kräften unsere Gläser gefüllt hatten, eine kühle Sektflöte in ihre Hand drückte. Mit einem hörbaren Grinsen knuffte sie mich während unseres Anstoßens frech in meine Seite, was bei mir sofort ein wohliges Gefühl auslöste. Ein Gefühl, das bestens zu dem prickelnden Getränk passte, das mir gleich darauf kühl und anregend über meine Lippen und danach in meine Mundhöhle rinnen sollte.

„So, Mara“, sagte Susi, „dann erst mal Prost, Süße!“

„Prost, Susi“, sagte ich lächelnd, als unsere Gläser sich trafen und, so wie ich das beim Anstoßen liebte, hell wie Glöckchen klangen. Nach meinem ersten Schluck verließ ein leiser, wohltuender Seufzer meinen Mund. „Ah, das tut jetzt richtig gut …“, flüsterte ich zum ersten Mal wieder halbwegs entspannt und war froh, dass die letzten stressigen Minuten vorläufig erstmal vorüber waren.

„Komm, wir setzen uns besser da drüben zusammen auf die Couch, dann ist es kuscheliger zum Reden, oder?“, hörte ich Susi sagen, während sie aufstand und sich über mich beugte. Sie roch so zart und frisch, wie sich ihre Stimme anhörte, und mir gefiel ihr Vorschlag gleich gut. Gerade jetzt, wo Ronja mir vor einer Minute am Telefon mit leicht vergnügter Stimme etwas von einer Yasu erzählt hatte, mit der sie sich offenbar auch ohne mich ganz nett vergnügte, tat mir Susis tröstende Nähe richtig gut. Statt zu Hause auf mich zu warten, hatte sich meine sonst eher vorsichtige und schüchterne Freundin, so wie es schien, auch ein kleines Abenteuer gegönnt. Als Ronja mir soeben erste Details ihrer heimlichen Spritztour in die Stadt erzählt hatte, war ich zuerst richtig neidisch geworden. Offenbar war der Tag bei ihr deutlich besser als bei mir gelaufen. Im Vergleich dazu hatte sich das mit Alex und mir gerade nicht mehr so gut weiterentwickelt, wie es für mich am Anfang noch den Anschein hatte. Ja, Alex … ok! … Er war mir schnell sympathisch, aber vielleicht auch zu schnell. Ronja hatte mich ja eindringlich vor Typen wie ihm gewarnt. Möglicherweise war er ja doch nur so eine Art Playboy. Dann war es vielleicht ja auch besser so. Plötzlich spürte ich wieder diese schwere Kälte, die mich trauriger machte, als mir lieb war, wenn ich so wie jetzt an ihn dachte. Vielleicht hatte er ja auch nur spontan weiter geflirtet, als er soeben behauptet hatte, dass er die Champagnerflasche ursprünglich extra für ein entspanntes Kennenlernen mit mir schon geöffnet hatte, bevor er zu mir an meine Tür gegangen war. Vielleicht hatte er sie ja aber auch für Susi vorbereitet, weil sie als Einarmige mit dem Entkorken nicht mehr so gut klarkam …

„Mara? … alles in Ordnung? … oder stimmt etwas nicht mit dir?“, hörte ich Susi fragen und es war mir total peinlich, dass ich voll in meine Gedanken versunken kurz in eine Art Trance abgedriftet war und ein bisschen weggetreten gewesen sein musste.

„Ne, schon wieder gut, Susi, danke! Ich glaube, das war gerade alles nur etwas viel auf einmal für mich“, versuchte ich mich stammelnd so gut wie möglich herauszureden und wechselte vorsichtig tastend meinen Sitzplatz neben sie auf die weiche Couch.

„Na komm, ist doch alles so weit wieder gut fürs Erste“, sagte Susi und legte mir zärtlich ihren linken Arm um meine Schulter, was mir sofort ein Gefühl von Geborgenheit und Schutz vermittelte. Nach einem weiteren, diesmal richtig großen Schluck aus meiner Sektflöte sprudelten die Fragen aber dann wie aus einer Quelle regelrecht alle auf einmal aus mir heraus.

„Was hat es denn jetzt mit diesem Pawel auf sich, Susi? Wieso gibst du dich denn mit so einem widerlichen Typen ab? Was war denn mit deinen Augen? Was war das denn für eine Behandlung bei dir, dass du trotzdem wieder sehen kannst? Hast du was mit Alex? Was hat der Pawel denn gegen euch in der Hand? Was sind das denn für unterirdische Filme, die ihr zusammen dreht? Welche Rolle spielt Marga dabei? Wird uns Pawel suchen oder gar verfolgen? Was hat er denn wohl vor? Waru …“, an dieser Stelle wurde ich durch Susis hohle, warme Hand, die sie mir vorsichtig über meine Lippen legte, ganz zärtlich so unterbrochen, dass mein Redeschwall so plötzlich versiegte, wie ich angefangen hatte, loszusprudeln.

„Warte, Mara, sonst habe ich die Hälfte meiner Antworten auf deine vielen Fragen ja wieder vergessen, bevor du fertig bist mit Fragen. Außerdem sind das ganz unterschiedliche und zum Teil schon sehr alte Geschichten, die sich nicht so einfach in fünf oder zehn Minuten erzählen lassen. Aber ich verspreche dir, sie dir alle zu erzählen, ohne etwas auszulassen, sobald die Zeit dafür reif ist“, antwortete mir Susi beruhigend und zog mich so nahe an sich heran, dass ich ihr Herz pochen hören konnte. Ihr Herzschlag vermittelte mir, dass sie über den Dingen stand und absolut keine Angst vor Pawel zu haben schien, was zumindest dieses Problem für mich auch etwas erträglicher werden ließ.

„Und was ist mit Alex?“, fragte ich sie und spürte, wie sich in meinem Hals ein Kloß bildete.

„Er ist ein total netter Kerl, ein Typ, mit dem man Pferde stehlen kann und der auch Geheimnisse bewahren kann. Ich glaube, dass er dich noch mehr mag als du ihn, aber darüber solltest du besser mit ihm selbst statt mit mir reden“, sagte Susi und drückte mir dazu ermutigend meine Hand. Diese ließ sie dann aber wieder schnell los, ergriff damit erneut die Sektflasche und füllte unsere beiden Sektflöten wieder bis fast zum Rand auf, das hörte ich während des Einschenkens am schnell heller werdenden Gluckern.

„Oh Susi, echt? … und ich Dummerchen befürchtete schon, dass er dein heimlicher Liebhaber sein könnte, weil Pawel ja alles andere als der Typ Partner ist, den man sich als Frau wünschen würde. Und was läuft da noch mit Pawel und dir?“, fragte ich Susi dann überglücklich und neugierig, wie ich es eben immer bin, dann gleich weiter.

„Ach, Pawel. Der ist eigentlich ein armer Tropf, der nur noch nicht raffen will, dass er mich schon lange für immer verloren hat. Es gab aber einmal eine Zeit, zu der ich ihn über alles geliebt hatte, aber das ist schon lange vorbei“, gab Susi mir so melancholisch zur Antwort, dass diesmal ich mich ihr zudrehte und sie tröstend in meine Arme schloss.

 

Nebelritt

Marvin

 

„Oh Mara, entschuldige bitte, dass wir dir nicht gleich glauben wollten, aber wenn Mila jetzt nicht bald eintrifft, müssen wir wohl wirklich vom Schlimmsten ausgehen“, sagte Frau Tiezmann, die Klassenlehrerin, schluchzend und wollte mich tröstend umarmen.

„Das hilft Mila jetzt aber auch nicht mehr wirklich weiter, Frau Tiezmann“, sagte ich und ließ mich nur von ihr drücken, weil ich gerade noch merkte, dass ich mich mal wieder im Ton vergriffen hatte.

„Der Schulchor wartet jetzt schon fünf Minuten und die ganzen Gäste, die Eltern und unser Ortsvorsteher Herr Huber auch“, sagte die Direktorin des Guttenberg-Gymnasiums Frau Bachblüm, während sie aufgeregt auf Frau Tiezmann und mich zustürmte. Schon als ich draußen auf der Bank unter der alten Linde erfolglos auf Mila gewartet hatte, war mir klar, dass Mila heute nicht zur Buchpreisverleihung erscheinen würde, und ich befürchtete auch, genau zu wissen, warum.

„Ich geh sie suchen!“, sagte ich in einem sachlichen Tonfall und befreite mich aus Frau Tiezmanns Umarmung.

„Vielleicht ist sie ja nur noch schnell zur Toilette …“, hörte ich mich noch sagen, bevor ich mich, so schnell ich konnte, mit meinem Langstock durch einen der Gänge, die zwischen den Stuhlreihen freigelassen worden waren, in Richtung Toilette davon klackerte. So schnell ich konnte, das war so schnell, dass es üblicherweise nur wenige schafften, in diesem Tempo mit mir Schritt zu halten. Die Turnhalle, in der das Ganze stattfinden sollte, kannte ich mit all ihren Geräuschen und Echos vom Turnen und vom Ballspielen so gut, dass mir die Flucht auch ohne Stock mit einem Spurt zur Tür hätte gelingen können. Aber so war es noch besser, weil ich für das, was ich jetzt vorhatte, nicht noch mehr Aufmerksamkeit brauchen konnte. Die Toilette war natürlich menschenleer, also genauso, wie ich mir das gedacht hatte. Auch das Fenster, auf dessen Sims ich mit einem kurzen Schwung Fuß fasste, war, so wie ich das wegen der Hitze vermutet hatte, zu meinem Glück sperrangelweit offen. Das hatte ich sofort gehört, als ich die kleine diskrete Kammer, in der sich die Kloschüssel befand, erreicht hatte. Kurz nachdem ich, nach dem Sprung aus dem Fenster, Gras unter meinen Schuhsohlen gespürt hatte, spurte ich in Richtung zwei Uhr einhundertfünfzig Schritte mit maximaler Geschwindigkeit los. Fünfzehn Sekunden später federte ich durch und bremste so weit ab, dass ich meinen Stock wieder einsetzen konnte. Bei Einhundertachtzehn fand ich dann sofort den niedrigen, schmalen Bordstein, der die Rasenfläche von der Laufbahn abgrenzte. Die Sonne brannte mir, weil ich mich in nordöstliche Richtung davongemacht hatte, auf meine rechte Wange. Der Trubel und die anderen Menschen lagen jetzt schon so weit hinter mir, dass ich sogar schon die Vögel aus dem vor mir liegenden Hain zwitschern hörte. Durch diesen würde ich mich jetzt gleich vor den Blicken anderer geschützt so wegschleichen wollen, dass sie hoffentlich gar nicht auf die Idee kamen, mir noch weiter folgen zu wollen. Nachdem ich die Laufbahn überquert hatte, kletterte ich über das verschlossene Osttor, das nur für Sportfeste oder für größere Turniere geöffnet wurde, und verschwand wie geplant in dem Wäldchen, in dem ich kurz innehielt, um Tim eine WhatsApp zu schreiben. Seine Antwort kam nur wenige Sekunden später, während ich schon zügig auf die Haltestelle „Hainchen“ zumarschierte.

„Hey Tim? …“, fragte ich in den Hörer und war begeistert davon, dass Tim wie immer mitgedacht hatte.
„Prima, dass du gleich auf die Tonspur gewechselt bist. Mit ein bisschen Glück bekomme ich am Hainchen sogar gleich noch den Überlandbus, der um 10:23 Uhr am Marktplatz ankommt.“

„Ok! Gute Idee, ich höre dich ja, wenn du es tatsächlich noch schneller schaffst, und steige dann an der nächsten passenden Haltestelle zu dir um. Pass auf dich auf, Tim! Wir sehen uns gleich …“, sagte ich noch und hörte noch, bevor das Gespräch beendet war, das Zischen und das Klappern der vor mir aufschnappenden Bustür.

„Danke, geht schon“, sagte ich zu dem Fahrer, der noch neu in seinem Job zu sein schien. Die alten erfahrenen Fahrer wussten alle, dass welche wie ich keine Hilfe zum Busfahren brauchten, aber dieser Fahrer war nicht nur deshalb anders, weil er gebrochenes Deutsch sprach, das noch sehr russisch klang. Als ich merkte, dass er sich fremd, fast sogar etwas hilflos und unsicher fühlte, schenkte ich ihm noch ein weiteres Lächeln. Ein Lächeln von der warmen, von der herzlichen Sorte. Ein Lächeln, das Kraft und Auftrieb gab, und ich hörte an seiner Stimme, während ich zügig an ihm vorbei nach hinten bis zur letzten Bank im Bus durchging, dass ihm die Aufmunterung offensichtlich sehr gut getan zu haben schien. Er war bestimmt kein übler Russe, sondern einer von den vielen fleißigen Ukrainern, die hier Schutz vor dem Krieg suchten. Einer von denen, die für den Krieg gegen Taras Nowikows Schergen zu alt waren, um noch Soldat werden zu können. Einer von denen, die gerne hier arbeiteten, um sich so einerseits von ihren Sorgen abzulenken und andererseits ihrem Gastland nicht mehr als nötig auf der Tasche liegen wollten. Sorgen hatte ich auch, aber die waren ganz anders, denn ich war nicht zum Nichtstun verdammt, sondern ich hatte mich gerade als Akteurin ins Spiel gebracht. Während der Bus von Haltestelle zu Haltestelle immer weiter auf das Zentrum der Stadt zufuhr, hatte ich Zeit nachzudenken. Diese Zeit war wertvoll, aber begrenzt, weshalb ich mich auf das Wesentliche konzentrieren musste. Der Schlüssel, um Milas Entführung in letzter Sekunde zu vereiteln, lag sicher nicht in der Überwachung von Bahnhöfen, Autobahnraststätten und Flughäfen, da würde sich die Polizei sicher schon genug darum kümmern. Der Schlüssel lag darin, Mila zu kennen, sie so zu kennen, wie nur ich sie kannte, und genau deshalb musste ich so schnell wie möglich zu dem Haus, in dem sie bis gestern mit ihrer Familie wohnte. Mila würde sich nie entführen lassen, ohne Spuren zu hinterlassen, dessen war ich mir sicher, sie war nämlich noch nie ein Opfertyp gewesen.

„Brrrr … rrrrr …“, hörte ich ein Motorrad hinter dem Bus seine Geschwindigkeit drosseln und wusste sofort, dass das nur Tim sein konnte. Die Finger meiner rechten Hand zuckten zu der Haltestange und drückten den Halteknopf so fest, dass mir meine Knöchel schmerzten, aber der Busfahrer bremste den Bus schon kurz darauf sanft an. Zeitgleich hörte ich von vorne schon leise den Blinker tackern und kurz danach kam das Fahrzeug an der Haltestelle vor unserem kleinen Rathaus zum Stehen. Während sich vor mir bereits zischend die Tür öffnete, ließ ich meinen zusammengeklappten Langstock noch schnell mit einem nach hinten gerichteten, graziös ausholenden Schwung in der Seitentasche meines schwarzen Lederrucksacks verschwinden. Als Tim über den Randstein holperte und mir einen Enduro-Helm in die Hand drückte, hatte ich schon wieder beide Hände für den bevorstehenden Ritt auf dem Motorrad frei, weshalb wir sofort ohne die geringste Verzögerung weiter durchstarten konnten.

„Zu Mila, oder?“, zischte er mir durch sein halboffenes Visier an der nächsten Ampel nach hinten zu, drehte seinen Kopf dann aber ohne eine Antwort abzuwarten wieder nach vorne und trat metallisch klirrend auf den ersten Gang. Ich nickte so heftig, dass die kleine Sonnenblende meines Helms kurz wie der Schnabel einer Ente hinten so auf Tims Helm hämmerte, als ob ich dort etwas aufpicken wollte. Einen Augenblick später bellte zwischen unseren Beinen kraftvoll der heiße Motor von Tims Maschine auf und katapultierte uns so, als flögen wir schwerelos auf einer Kanonenkugel durch die Luft nach vorn. Tim legte den Feuerstuhl, mit dem wir zu einer Einheit verbunden waren, tief in eine enge Kurve und drehte dazu noch den Gashahn bis zum Anschlag auf. Auf dem Übergang zur Geraden hob sich sogar kurz das Vorderrad vom Asphalt ab. Unser Ritt fühlte sich so an, als säßen wir auf einem wilden Pferd, das vor Angst hoch aufstieg, um rasant die Flucht vor heran nahenden Menschen zu ergreifen. Angst hatte ich keine, wovor auch? Mir war jedes Mittel recht, das uns half, uns schnellstmöglich an Milas Fersen klemmen zu können, bevor es zu spät war. Oder war es etwa schon zu spät? Ein übler Gedanke überfiel mich, der mich an die Geräusche und das Kettengerassel aus meinem Traum erinnerte. Aber ich wollte die Hoffnung, während ich mich fest um Tims Taille herum an ihm festhielt, noch nicht aufgegeben. Um in den wilden Kurven sowohl den Bewegungen der Maschine als auch denen seines Körpers geschmeidig folgen zu können, musste ich so fest klammern, dass sich meine plötzlich wieder aufwallende Angst um Mila sofort auch auf Tim übertrug. Als er deshalb von mir völlig unerwartet das Gas zurückdrehte, tauchte unser Gefährt vorne so tief ein, als wollte es sich müde und träge vor der letzten Kurve verneigen. Die letzte Kurve, durch die wir noch hindurchmussten, um endlich die Straße zu erreichen, in der das Haus stand, das Mila dort mit ihrer Familie bewohnte.

„Hey Tim, was ist los? Ist dein Tank leer?“, blaffte ich ihn an, sprang vom Sozius des langsam auf die Kurve zu rollenden Motorrades und fing mich federnd ab. Laut und schnell, mit meiner Zunge schnalzend, lief ich auf die Echos zu, die mir verrieten, wo sich die Autos befanden, die hier immer irgendwie an den Straßenrändern geparkt waren. Noch bevor Tim reagieren konnte, strich ich mit dem Handrücken meiner rechten Hand an den geparkten Autos entlang und bewegte mich auf der Straße joggend schneller auf Milas Haus zu, als er das erwartet hatte. Kurz bevor ich das verrostete Gartentürchen, das auch heute wie immer schief in seinen Angeln hing und weit offen stand, erreicht hatte, hörte ich Tims sich schrill heulend nähernde Enduro hinter mir heranbrausen. Dem dumpfen Schnappen, gefolgt von einem leisen Schrappen des Seitenständers auf brüchigem Asphalt und dem absterbenden Motor, der noch im Stillstand vor Hitze klirrte und leise knackte, folgten schnelle Schritte.

„Tim, nein! In die Garage, zuerst in die Garage!“, schrie ich ihm zu, als ich hörte, dass er sich auf dem Türrahmen in der abgeblätterten Farbe, die wie so oft zuvor verräterisch knisterte, wenn man dort nach dem Schlüssel tastete, zu schaffen machte. Der Schlüssel, der früher immer dort lag, war jetzt nicht mehr wichtig, dessen war ich mir, obwohl es reine Intuition war, ziemlich sicher. Kurz darauf war ich schon dabei, das morsche Holztor, das wie immer, wenn man es öffnete, knarzte und kreischte, aufzuziehen. Als ich Tims keuchenden Atem wieder dicht hinter mir in meinem Nacken spürte, stand ich schon bewegungslos, aber konzentriert witternd in der Öffnung und spreizte reflexartig meine Arme weit zur Seite ab, als mir klar wurde, was Tim vorhatte.

„Nein, Tim, warte! Erst mal riechen und hören, du könntest mit deinem ungestümen Tatendrang die feinsten Spuren, die uns vielleicht noch mehr als das Offensichtliche helfen können, vernichten?“, sagte ich so leise, dass Tim jetzt noch mehr irritiert war.

„Was willst du hier denn noch hören? Siehst du denn nicht, dass sie längst über alle Berge sind? Hier ist doch nichts mehr, das Auto ist weg. Dann brach seine Stimme jäh und betroffen ab, bis er sich kurz darauf wieder gesammelt hatte und mit einem Kloß im Hals niedergeschlagen fortfuhr. Basta, das war’s dann wohl für uns, der Rest ist Sache der Polizei“, sagte Tim dann kleinlaut resignierend und gab mir damit deutlich zu erkennen, wie unkonzentriert er in seiner Aufregung gerade unterwegs war. Ich drehte mich ganz langsam zu ihm hin, um ihn zu trösten. Die Zeit drängte zwar, aber mir war klar, dass er jetzt Trost brauchte. Ohne Trost keine Zuversicht, und in dem Zustand, in dem er gerade war, war er mir und vor allem Mila im Moment zu nichts mehr nütze. Meine rechte Hand glitt langsam seinen linken Arm hinauf, umrundete seine breite Schulter und strich ihm sanft über seinen Nacken hinweg bis zu seinem Hinterkopf. Mit meiner Linken hatte ich ihn so ähnlich von vorne nach hinten umschlungen, wie ich es wenige Minuten vorher mit meinen beiden Armen von hinten getan hatte, um während der rasanten Fahrt nicht vom Motorrad geschleudert zu werden. Tims Kopf lag ein Stückchen über mir in meiner rechten Hand. Wie beabsichtigt hatte ich ihn jetzt exakt so zu fassen bekommen, dass er mir nicht mehr entwischen konnte. Tim war so sehr von seiner Angst getrieben, dass er überhaupt nicht realisierte, dass ich ihn in dieser Situation auf diese Weise einfach wieder einfangen musste. Ganz vorsichtig zog ich mir tröstend, aber vor allem beruhigend sein Gesicht zu mir herunter und presste es mit meiner an seinem Hinterkopf befindlichen Hand so an meine Schulter, dass er sich wieder zuversichtlich geborgen fühlen konnte. Es dauerte schier unerträglich lange Sekunden, bis er sich endlich wieder zu entspannen begann.

„Alles gut, Tim, und nein, ich sehe auch kein Auto, wie auch, ohne richtige Augen? Aber was ist mit dem alten Moped?“, fragte ich ihn sanft, ohne dass ich ihn merken ließ, wie sehr ich mich von der wertvollen Zeit, die gnadenlos weiter verrann, getrieben fühlte. Im Gegensatz zu ihm fühlte ich mich nur von den sich immer wilder überstürzenden Ereignissen und zum Glück nicht von meiner Angst um Mila getrieben.

„Oh Mara, das wollte ich nicht, sorry. Aber wenn es so hart auf hart wie eben zugeht und du so tough aufdrehst, übersieht man halt einfach, dass du blind bist. Welches Moped hier ist doch gar kein Moped, haben wir im Moment keine anderen Probleme“, antwortete mir Tim schluchzend.

„Tim, wenn da kein Moped ist, muss es davon Spuren geben. Wir dürfen sie nicht verwischen, aber sie müssen da sein, weil die alte Scheune, die Milas Brüder immer als Autogarage benutzt haben, einen Lehmboden hat, der wie Kreide malt, wenn man genau hinsieht. Du musst auf die Spuren vom Moped gucken und dann müssen wir ihnen vorsichtig folgen. Mila ist nicht im Auto, glaub’s mir einfach“, flüsterte ich ihm ganz ruhig ins Ohr.

„Ja, da sind Spuren, Mara. Ganz hell und unscheinbar, aber jetzt sehe ich sie. Sie gehen in einem weiten Bogen nach links hinaus auf die Straße und verlieren sich dort“, sagte er und fragte mich dann, wieso das denn wichtig sei.

„Das ist wichtig, weil Mila sich nicht entführen lassen würde und ich weiß jetzt auch, wie sie geflohen ist“, antwortete ich ihm mit einem wissenden Lachen und zog ihn hinter mir her zurück zu seinem Motorrad.

„Kennst du den Fußweg, der oberhalb vom Tennisplatz zu der Straße führt, in der ich mit meiner Mutter wohne?“, fragte ich ihn und konzentrierte mich darauf, meine Stimme offen, erfreut und unaufgeregt sachlich klingen zu lassen.

„Klar, das ist doch der Weg, den ihr immer geht, um euch abzuholen, wenn ihr zusammen loszieht“, antwortete mir Tim mit einem fragenden Unterton.

„Prima, dann fahren wir jetzt zusammen zu Mila, ich bin mir sicher, dass sie bei uns zu Hause schon auf uns wartet“, sagte ich mit einem Grinsen und knuffte ihn ungeduldig.

„Zu dir? Auf dem Fußweg?", hörte ich Tim noch kurz nach einer letzten Bestätigung fragen, bevor das Knattern des Motors wieder unsere Stimmen fraß, und nickte ihm aufmunternd zu, während ich die Schnalle des Endurohelms wieder über meinem Hals in der Schlossfalle des Kinnriemens einrasten ließ.

 

Hilfsbereit

Dr. Elke Krassmann

 

„Chelke?“, flüsterte Wissi, dessen Name in die deutsche Sprache übersetzt Wissewald war. Sein Kopf befand sich in dem schmalen Spalt zwischen dem Türblatt und dem Türrahmen einer Schlafzimmertür, die er leise geöffnet hatte.

„Elke, … Wissi!“ korrigierte Elke Krassmann verschlafen, aber mit einem gutmütigen Klang in ihrer Stimme liebevoll die richtige Aussprache ihres Vornamens und schlug in Zeitlupe ihre beiden Augen auf. Dann streckte sie dem stämmigen Mann, der sie gerade etwas holprig geweckt hatte, ihre Arme entgegen und schürzte ihre schläfrigen, noch unbemalten Lippen zu einem Kuss.

„Oh tut mir so leid für mein noch kein gutes Deutsch zu sprechen“, antwortete der Mann seiner vom Schlaf noch etwas benommenen Gastgeberin und ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass er sich weiter um die Verbesserung seiner Deutschkenntnisse bemühen wolle.

„Kaffee ist auch schon fertig, Frau Doktor“, donnerte sein Bass über die erwachende Elke hinweg, „… und Tisch ist auch schon mit frische Bdreehtchen gedäckt“ fuhr der Geflüchtete mit dem ukrainischen Pass, der bei Elke Krassmann Asyl gefunden hatte, fort.

„Komm her, Wissi, ich will dich zum Frühstück und keine faden Brötchen“, sagte die grauhaarige ältere Dame und wälzte sich wenige Sekunden später mit ihrem neuen Partner, in den sie sich auf ihre alten Tage vor Kurzem doch noch verliebt hatte, wild im Bett.

„Wissi, …, eigentlich ist Vsevolod. Frau Dr. auch kann nicht richtig sagen“, bemerkte ihr Liebhaber und fuhr damit fort, seiner Gespielin, begleitet von Küssen und zarten Bissen, charmant, aber stolz die slawischen Wurzeln seines Namens zu erklären. Ein Name, der sowohl in der Ukraine als auch in Russland sehr geläufig und in beiden Ländern weit verbreitet war.

„Musst du wissen, Chelke: Die Bedeutung von mein Name ist ‚Vse‘ bedeuten ‚alle‘ und ‚Volodeti‘ ist stehen fir ‚Herrschaft‘. Das ist Grund, warum ich bin so stark.“

„Ja, ein Herrscher ohne Reich bist du, mein starker Bär“, antwortete die für ihren Pragmatismus und ihre schroffe Art bekannte Ärztin für Augenheilkunde. Sie war gut situiert, seit vielen Jahren an der Charité beschäftigt, aber so derb wie sie war, immer Single geblieben. Ohne ihre Worte weiter zu reflektieren, krallte sie sich noch doller an ihrem Lover fest. Weil sie sich, selbst in dieser eigentlich von Leidenschaft geprägten Situation, als eine Frau sah, die sich wenig für überflüssiges Geschwafel interessierte, war ihr der auf andere Menschen verschlagen wirkende Russe, trotz der frostigen Kälte, die ihn umgab, sympathisch. Ihre trockene Art hatte sie schon früh zur Einzelgängerin mit Ecken und Kanten werden lassen, weshalb sie auch nie eine eigene Familie gegründet hatte.

„Autsch …“, schrie Elke eine halbe Stunde später auf, als der heiße Wasserstrahl der Dusche den knochigen Körper der Dreiundsechzigjährigen mit voller Wucht traf. Durch die Dampfschwaden sah sie, wie Wissi das verschwitzte Bettzeug zusammen mit ihrem zerknitterten Nachthemd in die Waschmaschine stopfte und dann, so nackt wie er war, zu ihr in die Kabine mit unter die Dusche schlüpfte. Unergründlich fragte sie sich, woher er, der drei Jahre älter als sie war, die Energie für seine noch immer stattliche Manneskraft schöpfte. Nein, vom Duft der frischen Brötchen und dem Geruch des Kaffees, den er für sie gekocht hatte, als sie noch schlief, wollte sie sich jetzt bestimmt noch nicht aus der Duschkabine locken lassen. Was für ein Bär von Mann, dachte sie, während sie ihn vorsichtig weiter liebkoste und ihm die Seife aus seiner buschigen Brustbehaarung ausspülte.
Mitleidig lächelnd dachte sie an die Weicheier von Männern, die sie sonst so umgaben. Die Studierenden und die jungen Assistenzärzte, die ihre Arbeit, die sie heute wieder vor sich hatte, teilweise sogar als skrupellose Metzgerei bezeichneten. Es waren aber nicht nur die Männer, die schwächelten, auch die meisten deren Kommilitoninnen, die als Frauen ja eigentlich mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen stehen sollten, waren nicht besser. Wenn es bei den Erkrankten mal wieder um Leben und Tod ging, waren sie eigentlich alle fast zu nichts zu gebrauchen. Nicht mal die toughen jungen Frauen waren für bestimmte Eingriffe besser als die jungen Männer zur Assistenz im OP zu gebrauchen. Nur wenn man Körperteile, die bösartig geworden waren, rechtzeitig entfernte, konnte man zuverlässig Leben retten, aber das wollten immer weniger junge Ärzte wahrhaben und schon gar nicht eigenverantwortlich Hand anlegen, bevor es zu spät war. Das konnten sie alle nicht.

„Los komm, Wissi, ich muss mich beeilen, nicht dass du umsonst das schöne Frühstück für uns vorbereitet hast“. Mit einem metallischen Zischen fegte Elke die Schiebetüren der Duschkabine krachend in die Ecke und zog ihr Mannsbild hinter sich her, bis sie zusammen den Handtuchhalter erreicht hatten. Wissis Haar, das, obwohl er etwas älter als Elke war und im Vergleich zu Elkes strahlend weißer Kurzhaarfrisur noch von tiefschwarzen Strähnen durchwoben war, triefte noch einige Minuten vor sich hin, bis die Frau, nachdem sie selbst trocken war, ihr Handtuch nahm und auch ihn abfrottiert hatte. Der Deckel der Thermoskanne schnellte, begleitet von einem „Plopp“, das sich wie ein leiser Knall aus einer frisch entkorkten Champagnerflasche anhörte, nach hinten und schlug mit einem metallisch hellen Klirren gegen den Henkel in Elkes Hand, die den dampfenden Kaffee in zwei Becher schüttete. Dazu mischte sich das bröselnde Knirschen des welligen langen Brotmessers, das Wissi durch die Kruste der frischen Brötchen trieb. Elkes Mundwinkel zuckten voller Verlangen nach diesem Mann, denn schon der Blick auf seine kraftvollen großen Hände ließ Elkes Herz wieder vor Erregung schneller schlagen. Seine kompromisslose Entschlossenheit, die er, schon wenn er nur Brötchen zerteilte, körpersprachlich zum Ausdruck brachte, ließ Elke wollüstig erschaudern. Zum Glück war wenigstens Wissi kein Weichei. Wissi griff zu seinem Frühstücksei, köpfte es, stach die Spitze seines Messers tief in das wachsweiche Eiweiß und kratzte sich den aufgestochenen Dotter des glibberigen Eigelbs auf seine mit Butter bestrichene Brötchenhälfte heraus.

„Du schneiden heute wieder vielen Leuten ihre Augen raus, oder?“, sagte der Bär mit derben Worten, ohne dabei mit einer Wimper zu zucken. Dabei sah er Elke tief in ihre grünen Augen und lächelte sie machohaft an. In seiner mächtigen Faust zermalmte er dabei genüsslich grinsend die ausgeschabte Eierschale, ließ die zerriebenen Kalkreste von seiner Handfläche in den Tischabfallbehälter rieseln und wartete lauernd, ob Elke auf seine sadistisch betonte Anspielung eingehen würde.

„Ach Wissi, du Armer. Du bist offensichtlich noch viel zu sehr von den Kriegsgeschehnissen traumatisiert, um richtig verstehen zu können, dass ich das nur tun muss, um den kranken Menschen zu helfen. Das hat überhaupt nichts mit den Gräueltaten zu tun, mit denen russische Terroristen versuchen, eure Bevölkerung zu demoralisieren.“

„Russischer Präsident Taras Nowikow sagt auch, dass nur bisschen helfen muss“, brummte er in einer Art, die Zweifel über seine Integrität hätten aufkommen lassen müssen.

„Oh Wissi, wir müssen später weiterreden, sonst komme ich wirklich noch zu spät. Aber glaub mir, dass wir hier weder im Mittelalter noch in einem Kriegsgebiet sind. Die traurige wissenschaftliche Wahrheit ist eben, dass gegen Augenkrebs noch immer nur frühzeitige Enukleationen sicher helfen. Die sehkraft-erhaltenden Alternativen wie Bestrahlungen und Chemotherapien muss ich gerade bei jungen Menschen wegen des Risikos nachfolgender Metastasen leider als verantwortungslose Augenwischerei vieler junger KollegInnen kategorisch ablehnen."

„Weiß ich doch, Chelke, hier nur, wenn Frau hat Krebs, scheene tote Augen aus Glas fier junke Frau machen ist gut. Scheene blinde Augen fir scheene Blinde machst du doch immer gut."

„Nichts weißt du, Wissi, zumindest nichts davon“, gab ihm die Professorin zwar noch verhalten verständnisvoll, aber mit dem Ton, mit dem sie des Öfteren auch ihre Studierenden belehrte, zur Antwort. Das war diese Art von Ton, die keine Widerrede zuließ.

„Im Leben geht es darum, dass man immer verantwortungsvoll helfen muss, und ich hoffe und wünsche mir für dich und für mich, dass du das auch irgendwann wieder zu schätzen lernen wirst“, wonach sie zu ihrem Autoschlüssel griff, Wissi einen letzten, diesmal eher flüchtigen Kuss gab und ihn dann alleine in ihrer Wohnung zurückließ.

 

Nebeltochter

Marvin

 

Am Ende des Fußwegs erreichten wir die Grasböschung, die zu unserem Moor hinunterführte, und Tim schaltete schnell hintereinander Gang für Gang herunter. Der Motor heulte dabei immer wieder neu wie eine Sirene auf und verlangsamte so kurz vor den Pfosten, die den Fußweg für Autos unpassierbar machten, unsere Fahrt. Zunächst musste er sich darauf konzentrieren, seine schwere Enduro, ohne dass wir uns dabei mit den Pfählen verhakten, zwischen diesen durchzuschlängeln. Vielleicht war er deshalb nicht ganz so aufmerksam wie ich oder es lag daran, dass ich einfach die bessere Wahrnehmung für das hatte, was uns im Moment weiterbringen konnte. Aber egal warum, war es so, dass bei mir schon nach dem ersten Windhauch, der uns angereichert mit einer Spur von Benzin und Öl umfächelte, sämtliche Alarmglocken schrillten und mich sofort laut aufschreien ließen.

„Stopp, Tim! Stopp, … stopp! Siehst du das Moped hier irgendwo?“, schrie ich und trommelte ihm dabei mit meinen Fäusten so fest ich konnte auf seinen Rücken.

„Nein, nicht das Moped, aber das sieht hier trotzdem alles verdammt nicht gut aus …“, hörte ich Tims düstere und gleichzeitig alarmierende Antwort. Seine Stimme klang auch deshalb nicht gut, weil sein Geschrei, abgedämpft durch sein Visier und zusätzlich vom Wind verzerrt, meine Trommelfelle nur als gespenstisch unnatürlich klingendes Kauderwelsch erreichte.

„Da sind Bremsspuren von der alten schwarzen S-Klasse und Schleuderspuren von dem Moped gehen in Verschürfungen über, die sich im Asphalt verewigt haben. Alle Spuren verlaufen in Richtung des Hangs der im weiteren Verlauf in unser Moor übergeht. Die beiden Vehikel sind auch noch da, aber sie versinken mehr und mehr in dem schwarzen Wasser, das sich über dem Sediment und dem breigen Morast kräuselt", stieß Tim in die aus nordöstlicher Richtung wehende Briese hervor. „Nur von den Schmugglern, die Mila so wie das hier aussieht ganz offensichtlich gerammt haben, ist weit und breit nichts zu sehen. Aber auch von Mila fehlt jede Spur“, schrie Tim weiter, während ich schon wieder von seinem Motorrad absprang. Aber diesmal war Tim so aufgeregt, dass er fast zeitgleich mit mir seinen etwas tieferen Sitz auf der Sitzbank verließ und ich ihn gerade noch am Arm erwischte, den ich in der momentanen Situation bis auf Weiteres noch dringend zu meiner Orientierung brauchte. Während er schon im Begriff war, über das glitschige Gras die Böschung hinab auf die in den Fluten versinkenden Fahrzeuge zuzustürmen, schlitterte ich fast hilflos hinter ihm her. Hinter uns hörte ich, dass seine Maschine umgekippt sein musste und gerade mit einem dumpfen, metallisch klirrenden Geräusch auf den Straßenbelag schepperte. Dass Tim seine Maschine in der Hektik offensichtlich nicht sicher abgestellt hatte kam mir in dem Moment gerade recht, weil ich mir jetzt die Richtung, aus der das Geräusch kam einprägen konnte. In Verbindung mit der Windrichtung hatte ich jetzt wieder zwei Fixpunkte, die mir halfen, mich schon wieder besser ohne fremde Hilfe orientieren zu können. Plötzlich spürte ich unter meinen Fußsohlen etwas im Matsch. Etwas Winziges, etwas ganz Unscheinbares, ließ mich spontan wie ein gefällter Baum auf meine Knie fallen. Der Sturz bremste mich so heftig ab, dass ich das Übergewicht bekam und mit meinem Gesicht voran in das verschlammte Gras patschte. Dort blieb ich aber weder liegen noch rappelte ich mich gleich wieder auf, denn ich robbte auf allen Vieren sofort, ohne weitere Zeit zu verlieren, zurück auf die Stelle zu, die mich vor einem Augenblick hatte stutzig werden lassen. Während ich mit meinen nackten Fingern wie mit einem Kamm zwischen mit Schlamm verklebten Grashalmen nach dem Gegenstand suchte, hörte ich unweit vom Ufer entfernt patschende Geräusche und dann noch das Bersten einer Autoglasscheibe. Dazu mischte sich das Singen alter Spiralfedern, die schrill kreischten, während Tim sich offensichtlich gerade damit abmühte, den verklemmten Kofferraum des versinkenden Wagens zu öffnen. Das singende Klagen und das grelle Schreien der alten Federn klang so furchterregend, als sängen sie ein letztes trauriges Lied von Leid und Tod. Der Wind pfiff leise auf- und abschwellend um den jetzt kraftlos in der Luft wippenden Kofferraumdeckel herum. Im Takt der Böen schlug er aber immer wieder gegen die lädierte Karosserie des langsam versinkenden Autowracks. Das langsame, aber sich nun regelmäßig wiederholende, schwingende Dröhnen, das von jedem Schlag des wieder neu zum Vibrieren angeregten Blechs herrührte, hallte unheilverkündend durch die Luft. Das neue Geräusch mischte sich zu dem Abgesang der weinenden Federn und klang so, als schlüge der Wind einen dumpfen Gong. Die alten Federn wurden vom Wind immer wieder neu bis fast zum Zerreißen gedehnt und wie eine Spieluhr aufgezogen. Aber die Melodie, die das versinkende Auto noch spielte, wurde schnell schwächer und ging, leiser und leiser werdend, in ein Glucksen und Blubbern über. Begleitet vom Schluchzen des Moors war deutlich zu hören, dass das Vehikel immer tiefer im Moor versank.

„Mara, was machst du da draußen?“, hörte ich Tim aus dem Moor rufen und war froh, dass seine Stimme mir verriet, dass er nicht auch vom Versinken bedroht war.

„Der Mercedes ist leer und das Moped sogar schon ganz versunken. Die Stelle, wo es nach dem Unfall im Moor gelandet war, kann man nur noch an einem schillernden Ölfilm erkennen und nirgends ist eine Spur von Mila“, schrie er mir verzweifelt weiter zu. Den Ölfilm, von dem Tim mir später noch genauer erzählte, beschrieb er mir wie einen Regenbogen. Keinen schönen Regenbogen wie die Regenbogen, die sich als Symbol für Freiheit und Gendertoleranz etabliert hatten. Tim erklärte mir, dass es auch hässliche Regenbogen gab, die sogar nach Tankstelle stanken, was mich überraschte, weil ich das, was ich da hörte, so nicht kannte. Ab und zu gab es so etwas Neues, eine Erfahrung, die ich schon früh mit Dingen gemacht hatte, die man nicht gut anfassen konnte, und auch dass manche von ihnen mir schier unbegreiflich erschienen. Diese stinkenden Regenbogen, die das Moor damals noch unheilvoller als sonst aussehen ließen, konnte ich mir dagegen sofort sehr gut vorstellen. Wie ein gruseliges Flirren hatte Tim mir später das Aussehen dieses Ölfilms auf dem Wasser beschrieben. Das bunte Flirren, von dem Tim mir im Zusammenhang mit diesen hässlichen Regenbogen erzählte, stelle ich mir seit dieser Erfahrung am Moor wie klirrendes Licht vor, weil Licht in meiner Vorstellung so etwas wie eine Melodie für Taube ist. Aber als ich im Schlamm der Böschung nach Milas Spuren grub, wusste ich noch nichts von diesem Regenbogensabbel, aus dem Tim mir aus der Ferne seine neusten Erkenntnisse zugerufen hatte.

„Mara, was machst du denn da?“, rief Tim jetzt, ohne so laut wie vorher schreien zu müssen, aus nächster Nähe unten vom Wasser her zu mir herauf. Ich hörte, dass er von quatschenden und schmatzenden Geräuschen begleitet auf die Böschung zu watschelte, auf der ich noch immer kniend, jetzt aber nicht mehr im Schlamm wühlend verharrte.

„Tim, du musst nur wie ich Milas Spur nach oben folgen“, rief ich ihm zu, rappelte mich auf und wuselte aufgeregt vor Neugier, aber ohne jegliche Angst um Mila noch vor Tim wieder die Böschung hinauf. Dort klopfte ich auf dem Asphalt den Schlamm aus dem kleinen Gegenstand, den ich gefunden und aus dem regennassen Bewuchs der Böschung ausgegraben hatte.

„Komm Tim, wir sollten keine Zeit verlieren, Mila war vor zehn Minuten noch hier!“, schrie ich von der Stelle, an der vorhin sein Motorrad umgefallen war, dass ich dort gerade schon begonnen hatte, wieder hochzuwuchten. Einen Moment später war auch Tim noch vor Anstrengung keuchend und tropfnass wieder bei mir angekommen und half mir dabei, die schwere Maschine vollends hochzustemmen.

„Vor zehn Minuten?“, fragte er ungläubig, und ich spüre förmlich, wie er mich entgeistert anstarrte.

„Ja, vor zehn Minuten. Das hier ist ihre Uhr und die Fußstapfen, die ich dort fand, sind zu klein für Männerfüße. Hinzu kommt, dass Rauschgiftschmuggler keine Pumps wie Mädchen tragen. Pumps, wie Mila sie heute anziehen wollte, um sich mit mir in unserer Schule mit schicken Schuhen an ihren Füßen ihren Buchpreis abzuholen. Die Spitzen der Abdrücke zeigten übrigens genauso wie deine eben sicher auch nach oben, muss ich noch mehr sagen?“ wobei ich Tim nur schief angrinste und abwartete.

„Aber sie ist doch immer noch weg, oder? Wie kommst du denn darauf, dass sie vor zehn Minuten noch hier gewesen sein soll?“, stammelte Tim kleinlaut. Dabei rutschte er vor mir auf die Sitzbank seiner Enduro und ließ den Motor an, der sofort wieder bullig und kraftvoll dröhnte und dazu bissig aus dem Auspuff bellte.

„Na komm Tim, jetzt ist es ja wirklich nicht mehr schwer zu erraten, wo sie hier in der Gegend hin geflüchtet sein könnte“, sagte ich mit einem entspannten Lachen und knubbelte ihn mit meinem Daumen frech in seine Seite. Ihre Uhr hat mir verraten, dass sie vor etwas mehr als zehn Minuten noch hier gewesen sein muss. Das weiß ich übrigens auch nur deshalb, weil ich die Position der verbogenen Uhrzeiger über dem verschlammten Ziffernblatt noch gut genug ertasten konnte. Das war einfach Glück und keine Hellseherei.

„Oh klar, wie doof von mir. Aber etwas anderes ist mir auch noch unklar. Wie kamst du denn da vorhin in der Garage schon so schnell darauf, dass Mila und nicht ihr Bruder sich das Moped geschnappt hatte, Mara?“, rief er erfreut, klackte den ersten Gang ein und brauste in einem weiten Bogen los. Am Ende des Bogens legte er die schwere Maschine auf die andere Seite und kurvte noch tiefer liegend als vorher im Bogen um die Ecke in die Straße hinein, in der meine Mutter und ich wohnten. Das Abspringen im letzten Ausrollen machte mir nicht nur, weil ich immer gern meine Nase vorne hatte, von Mal zu Mal mehr Spaß. Natürlich schaffte ich das jetzt, mit fortschreitender Übung auch wieder vor Tim, bevor der sein Motorrad zum Stehen bringen konnte. Als ich hörte, dass er die Maschine ordentlich auf dem Hauptständer aufbockte und sie nicht nur schnoddrig auf dem Seitenständer abstellte, war mir klar, dass unsere Angst um Mila mittlerweile auch von Tim wieder recht gut abgefallen war.

„Ja, genau das fehlende Moped war’s, das mich auf die ganzen Zusammenhänge gebracht hat“, sagte ich grinsend zu Tim und befreite mich von dem Helm, den Tim mir zu meinem Schutz für unsere rasante Fahrt überlassen hatte. Hier kannte ich zwar jeden Kiesel so gut, dass ich den Weg auch ohne Stock und ohne zu schnalzen alleine hätte gehen können, aber ich griff dennoch nach Tims Ellenbogen. Natürlich hätte ich gerade hier auch genauso gut alleine vorausrennen können. Aber meine Intuition sagte mir, dass das für das, was als Nächstes vor uns lag, keine gute Idee gewesen wäre, und ich beantwortete während des Gehens noch flott Tims letzte Frage.

„Mila hatte mir gesteckt, dass sie auf der Autobahn mit deiner Mühle gefahren war, Tim. Von dem Moped, das Milas Brüder oft benutzten, um das ganze giftige Zeug, von dessen Verkauf sich ihre Familie ernährte, unauffällig in der Stadt zu verticken, wusste ich auch. Und ich wusste auch, wo es normalerweise abgestellt war, da in der alten Scheune, also dort, wo auch die alte S-Klasse immer versteckt wurde. Der Rest war nicht mehr schwer, weil mir klar war, dass Mila den Spieß schneller umdrehen würde, als die Gangster ihrer Familie sich das vorstellen konnten. Selbstverteidigung und Kämpfen hatten wir schließlich im Sportverein genauso intensiv mit Marc geübt wie Überlebensstrategien zu entwickeln, die man brauchte, wenn es um den Erhalt der persönlichen Freiheit ging.“

„Aber blind auf dem Moped? Das hätte auch kräftig schiefgehen können“, brummelte Tim.

„Quatsch, Mila ist doch gar nicht richtig blind. Unsere Freundin hatte sich bestimmt schon vorher genau überlegt, wie es für sie am einfachsten gehen würde, ihre ganze Brut in die Pfanne zu hauen, falls die sich noch einmal trauen würden, sich gegen sie zu stellen. Das bisschen Risiko, das dann am Ende bei so etwas bleibt, gehört dann halt genauso dazu wie bei dir, wenn du dich mit deinem Motorrad so saugeil wie vorhin in enge Kurven legst. Ganz ohne Glück geht’s auch nicht“, sagte ich noch recht zuversichtlich im Treppenhaus, bis ich die ersten Wortfetzen aus unserer Wohnung vernahm, die mich im selben Moment schaudern ließen.

„Mara, was ist denn? Wieso zitterst du plötzlich? Ist dir nicht gut?“, hörte ich Tims Stimme wie durch Watte und dann flog schon die Tür zu unserer Wohnung vor uns auf.

„Marvin, mein armer Schatz, komm her, mir tut das alles so leid, aber du warst doch mein guter Junge!“, hörte ich meine Mutter wie am Vorabend weinerlich keifen. Zum Glück stand Tim so vor mir, dass ich es gerade noch schaffte, mich mit ihm als Prellbock hinter seinem breiten Rücken vor ihrer erdrückenden Zuneigung in Sicherheit zu bringen. Aber dann hörte ich Mila und wollte meinen eigenen Ohren nicht mehr trauen.

„Christine, vergiss es einfach, ich hab dir doch erklärt, dass das alles längst vorbei ist“, sagte Mila und führte meine Mutter behutsam zurück ins Wohnzimmer. Dort schob Mila sie in den Sessel, in dem sie an ihren guten Abenden oft vor unserem Fernseher saß und während des Zuhörens in einem ihrer vielen Braille-Bücher schmökerte oder sich mit irgendwelchen Handarbeiten beschäftigte. Manchmal saß sie aber auch nur so dort herum. Oder auch dann, wenn sie sich wieder eine ihrer Hörbuchschnulzen in ihren Kopf hineinzog.

„Was gibt’s denn da noch zu erklären?“, fragte ich bockig und grätschte mich mit der Lehne nach vorne unzüchtig provokativ auf einen umgedrehten Esszimmerstuhl. Ich wusste natürlich, dass sie gar nicht sehen konnte, wie ich da saß, aber selbst das war mir dabei einerseits egal und andererseits sogar recht. So war es nämlich schon seit mehr als zwei Jahren: Sie lebte in ihrer Welt und ich in meiner.

„Hm …?“, sagte Mila, schmiegte sich mit ihrer sauengen Jeans von hinten unter meinem Nacken an meinen Rücken und fing damit an, sich ihre so sexy verpackte Pussy da hinten neckisch an mir zu reiben. Mir blieb fast mein Atem stehen, als sie mir ihre Hände unter meinen Achseln hindurchschob und Tim fragte, ob er schon vergessen hätte, dass er sein Motorrad schon heute Morgen vor seiner Fahrt zur Arbeit eigentlich tanken wollte.

„Klar, ich muss ja auch wieder zurück zur Arbeit“, sagte Tim etwas verdattert und tappte brav in Richtung Tür los. Durch das offene Fenster hörten wir eine sich nähernde Polizeisirene, die dann unweit von uns, das musste ungefähr dort gewesen sein, wo es die Böschung zum Moor hinunterging, unverhofft erstarb.

„Danke, Tim!“, rief ich ihm nach, und Mila rief danach auch noch etwas. „Wir sehen uns heute Abend im Clubhaus. Ich freue mich auf dich und danke Tim, dass du immer da bist, wenn wir mal etwas Unterstützung brauchen.“

„Unterstützung? Braucht ihr die wirklich oder wolltest du Taxi für umme sagen?“, stichelte Tim mit einem Grinsen in seiner Stimme, und dann war er weg.

„Hey Mila, komm, lass uns besser raufgehen unter die Ziegel“, sagte ich zwar voller Erwartung und Vorfreude, aber es war auch ein scheuer Unterton dabei. Ein scheuer Unterton deshalb, weil mir das vor meiner verklemmten Mutter, obwohl sie auch stockblind war, alles unendlich peinlich vorkam. Nein, Mara, oder willst du, dass das nie aufhört?“, sagte Mila und zog mir, ohne dass ich viel dagegen hätte tun können, vorsichtig, aber zügig meine Bluse über meinen Kopf und entblößte mir danach meinen Oberkörper. Plötzlich saß ich auf einmal fast splitternackt und oben ohne auf meinem Stuhl in unserem Wohnzimmer und war total perplex.

„Mila, nein, bitte nicht hier“, zischte ich sie giftig an. „Was hast du denn vor? Was soll das alles?“

„Mara, wenn du nicht endlich einmal ganz ehrlich und offen zu deiner Mutter bist, machst du alles nur noch schlimmer. Vertrau mir einfach, okay?" Während Mila so altklug zu mir sprach, kitzelte sie mich mit ihren zarten Däumchen ganz leicht unter meinen außergewöhnlich weichen, herausgewölbten Brustwarzen. Mein Busen, der sich in den vergangenen zwei Jahren durch die Hormone in einen hübschen kleinen Naturbusen verwandelt hatte, lag die ganze Zeit auf ihren Handflächen. Total verwirrt von dem, was meine Freundin gerade in unserem Wohnzimmer mit mir und meiner Mutter inszenierte, versuchte ich, meine Fassung nicht vollends zu verlieren, was mir noch nie so schwerfiel wie in diesem Moment.

„Komm doch mal bitte zu uns her, Christine“, hörte ich Mila dann sagen und wollte wie aus einem Affekt heraus erschreckt aufspringen, nachdem ich gehört hatte, was meine Freundin hier wirklich vorhatte. Aber es ging nicht, weil Mila mir vorher in weiser Voraussicht ihr Kinn geschickt über meinen Kopf geschoben hatte. Das hatte sie so clever gemacht, dass sie mich auf diese Art so in meiner Position fixieren konnte, dass ich alles, was gleich unweigerlich weiter passieren würde, so aushalten musste, wie Mila sich das ausgedacht hatte.

„Bitte nicht, Mama“, fing ich an zu weinen, aber da war es schon passiert. Meine linke Brust lag noch immer auf Milas Hand, als sie mir Sekunden später mit ihrer Rechten die kalte Hand meiner Mutter von oben auf meine Weiblichkeit legte. Ich erstarrte vor Scham und heulte schreiend und laut schluchzend los, während Ergüsse von Tränen aus meinen Augen herausbrachen und meine Tränen von oben wie Bäche auf die Hand meiner Mutter trieften.

„Oh Gott, Marvin, wie konntest du nur! Ich möchte sofort wissen, wer dir das angetan hat, ein Junge mit einem künstlichen Busen, das ist eine Straftat“, aber dann brach ihre Stimme und der Heulschreikrampf, der sie heimsuchte, schrillte noch kurz durch den Raum, bevor ihre Stimme so schnell verklang, wie ihre Schreie aus ihr herausgebrochen waren. Im selben Moment glitt die Hand meiner Mutter wie in Zeitlupe kalt, nass und schlaff über meine feuchte Haut, wischte mir noch flüchtig über meine aufgereckte Knospe und rutschte danach wieder von meinem Körper.

„Das hast du nun davon“, schrie ich Mila voller Zorn an und sprang wütend auf.

„Nein, du hast da jetzt ganz viel davon, Mara!“, sagte Mila keuchend, während sie meine bewusstlose Mutter zurück zu ihrem Sessel schleifte. Mila hatte damit gerechnet, dass sie sie auffangen musste, und sich so positioniert, dass sie Christine, also meine Mutter, noch bevor sie vollends weggesackt war, im Rautekgriff sicher auffangen konnte.

„Zick nicht, Mara, bitte nicht jetzt, du musst ihr ihre Beine nur auf die Sitzfläche hochlegen, dann kommt sie bestimmt gleich wieder zu sich“, hörte ich Mila sagen und verstand, dass sie meine Mutter bereits auf ihrem Rücken auf den Teppich gelegt hatte, der vor ihrem Lieblingssessel in unserem Wohnzimmer auf dem Boden lag.

„Was für eine irre Nummer, Mila“, brummelte ich, während ich mich um die Beine meiner Mutter kümmerte und von Sekunde zu Sekunde mehr verstand, was Mila da gerade so Geniales für mich getan hatte. Dann stand ich auf, tastete nach meiner Bluse, streifte sie mir ohne BH über meinen nackten Oberkörper, nahm Mila dankbar in meine Arme und drückte sie ganz fest.

„Danke Mila, danke!“, sagte ich und spürte einen neuen Schwall Tränen in mir aufkommen, aber diesmal waren es Freudentränen, weil ich jetzt auch froh darüber war, dass das dumme Versteckspiel endlich ein gutes Ende gefunden hatte. Ein gutes Ende für mich und einen neuen Anfang für meine Mutter und mich.

„Mama, entschuldige, es war auch meine Schuld“, sagte ich einfühlsam und streichelte sie, während sie langsam wieder zu sich kam. Zuerst wollte sie uns nicht abnehmen, dass ich wirklich keine Silikontitten hatte, sondern dass mir mittlerweile zwei wunderschöne eigene Naturbrüste gewachsen waren, auf die ich genauso stolz war wie jedes andere Mädchen in meinem Alter. Dann halfen wir meiner Mutter auf und ich half ihr zurück in ihren Sessel, während Mila sich in unserer Küche um eine große Kanne Johanniskrauttee kümmerte, der bekanntlich wahre Wunder wirkt, wenn es darum geht, in Wallung geratene Nerven zu beruhigen.

„Komm her, Mara“, sagte meine Mama nach weiteren zwanzig Minuten und nahm mich zum ersten Mal in meinem Leben ohne jegliche Aggression als liebende Mutter einer glücklichen Tochter in ihren Arm.

 

Erleuchtung

Mara

 

„Lieb von dir, Mara, aber so ist das ja gar nicht für mich“, sagte Susi, während Alex im Führerhaus saß und uns mit einer Stretchlimousine in Richtung Schattenglut durch Berlin steuerte.
„Dennoch ist es ein mega schönes Gefühl, von einer so schönen und toughen Frau wie dir tröstend in die Arme genommen zu werden", ergänzte Susi und fuhr fort.

„Aber wegen Pawel brauche ich wirklich keinen Trost. Beifall würde viel besser dafür passen, dass ich ihn das Fürchten vor mir gelehrt habe“, sagte Susi und kuschelte sich wie ein Kätzchen an meinen Hals. Ihre Wärme tat mir gut und ich genoss den schönen Augenblick. Susis weiche Haut hätte mich bestimmt noch länger wohlig erregt, wenn sich mein Körper von dem Schreck, der mich plötzlich durchzuckte, nicht urplötzlich versteift hätte. Das geschah so schnell, dass ich den Reflex, der mich in diesem Moment durchfuhr, nicht mehr hätte beeinflussen können.

„Oh Susi, was ist denn mit dir passiert, hast du denn gar keine Haare?“, stammelte ich total entsetzt und verstand erst Sekunden danach, was ich der tapferen Frau, die ich gerade umarmte, mit dieser unüberlegten Frage angetan haben könnte.
„Nein, aber dafür kann ich seit mehr als acht Jahren wieder Farben sehen, Mara. Dennoch vermisse ich meine rote, schwere Lockenmähne noch immer sehr, aber ich … man ließ mir keine andere Wahl“, sagte Susi, ohne dass ich den Hauch einer schmerzlichen Stimmung hätte aus ihrer Sprachmelodie heraushören können.

„Aber was haben deine Haare denn mit deinen Augen zu tun? Selbst dann, wenn dich das gleiche Schicksal wie mich getroffen haben sollte, hätten dir doch auch die höchst dosiertesten Strahlentherapien dein Augenlicht nicht mehr zurückgeben können? Oder hatte dein amputierter Arm nie etwas mit deinen kranken Augen zu tun? In diesem Fall läge ich mit meinen Schlussfolgerungen natürlich total daneben“, sprudelte plötzlich alles Mögliche völlig durcheinander aus mir heraus.

„Ja und nein, aber ich verstehe, dass du es so sehen musst“, sagte Susi und verfiel in einen Vortrag, in dem mir ihre Geschichte im Nachhinein wie der Monolog einer sich neunmalklug darstellenden Irren vorkam.

„So wie du unsere Krankheit in deiner Welt an deinem eigenen Körper erleben musstest, ist deine Sichtweise für mich absolut nachvollziehbar“, antwortete Susi plötzlich sehr überheblich. Ohne eine Pause zu machen, sprach sie sofort in gleichbleibendem Ton ohne Punkt und Komma weiter.

„Deine Schlussfolgerungen sind bis auf wenige Ergänzungen absolut zutreffend. Als ich vorhin beim Drehen im Studio zum ersten Mal deine beiden Glasprothesen gesehen habe, ging es mir in diesem Moment kein bisschen anders, als dir das gerade mit meinem haarlosen Kopf passiert ist. Vielleicht war es sogar gut, dass meine Perücke gerade in dem Moment, als du mich so unvoreingenommen gestreichelt hast, ein Eigenleben entwickelt hat und mir wie zufällig von meinem Schädel gerutscht ist. Als ich sah, dass du doppelt enukleiert bist, meinte ich, mich in meiner schwersten Zeit mit zwei gläsernen Augen in einem meiner schlimmsten Albträume selbst im Spiegel zu sehen. Das Schlimmste für mich war, dass ich vor Beginn meiner Behandlung für einige Wochen schon so stockblind wie du geworden war“, hörte ich Susis Stimme sagen, bevor sich ihre Tränendrüsen wie Schleusentore öffneten und sie sich plötzlich weinerlich vom Schmerz ihrer Erinnerung an mich klammerte. Susis Stimme war auf einmal nur noch ein dünnes Zittern und Beben und ich spürte, dass ihr eine Menge Tränen wie Bäche über ihre Wangen rannen. Sie klammerte sich wie ein Trost suchendes Kind an mich und mir blieb nichts anderes übrig, als auf sie einzugehen und sie mir minutenlang zum Ausweinen an meine Schulter zu drücken. Erst als sich unsere Lippen wiederfanden, traute sie sich, mich, wenn auch scheu, erneut zu küssen. Susi war im Gegensatz zu mir dann aber doch wieder schnell entspannt und bemerkte zunächst überhaupt nicht, dass sich bei mir inzwischen ein Stimmungswechsel anbahnte. Die neue Grübelei, die mich ergriffen hatte, kam für mich total überraschend. Urplötzlich war ich in dem Moment, in dem mir bewusst wurde, dass das, was Susi mir gerade erzählte, gar nicht plausibel war, alles andere als weiter voll entspannt.

„Du willst mir also sagen, dass du, so wie du mir meine Blindheit an meinen beiden Glasaugen ansehen kannst, auch selbst mal mit zwei Glasprothesen im Kopf ein bisschen blind gewesen sein willst. Auch blind wegen eines beidseitigen Augenkrebses? Genauso blind, wie ich seit der Entfernung meiner beiden Augäpfel blind bin? Vollblind. Genauso soll das bei dir also auch gewesen sein?", fragte ich sie noch etwas nachdenklich zweifelnd, bevor ich sie dann richtig vehement anging.

„Dabei kommt mir nur ein bisschen komisch vor, dass du im Unterschied zu mir mittlerweile wieder so gut sehen kannst, dass du heute Morgen als Kamerafrau arbeiten konntest?“, fragte ich schnippisch. Dass das, was ich sagte, einen etwas höhnischen Beiklang hatte, war mir in dem Moment so egal, dass ich sofort weitersprach, ohne Susi eine Gelegenheit zur Widerrede zu geben.

„Nur willst du, weil sie dir, im Gegensatz zu mir, deine beiden Augen nicht rechtzeitig dauerhaft herausgenommen haben sollen, auch desgleichen Krebses wegen dazu noch einen Arm verloren haben?“, komplettierte ich für Susi meine sarkastisch formulierten Fangfragen. So misstrauisch und so sauer, wie ich mittlerweile geworden war, fand ich es nicht einmal mehr besonders boshaft von mir, Susi mit meinem Fachwissen gleich weiter fies auf die Probe zu stellen.

„Ja, fast genauso war es bei mir am Anfang auch gelaufen“, schniefte Susi und wischte sich mit ihrem linken Arm die letzten Tränen so gut es ging aus dem noch verweinten Gesicht, während ich sie jäh von mir wegstieß. Ihre Geschichte erschien mir plötzlich überhaupt nicht mehr glaubhaft und ich wollte herausfinden, warum sie dieses dumme Lügenmärchen, das sie mir gerade versucht hatte aufzutischen, erfunden hatte. Schließlich wusste ich ganz genau, dass die Krebszellen nur über die Sehnerven in den Körper gelangen konnten. Deshalb war es ja gerade nötig, zu stark befallene Netzhäute schnell, also früh genug, zu entfernen, um solche Metastasen wie bei Susis Arm noch rechtzeitig verhindern zu können.  Dass das Heilen der Netzhäute durch Bestrahlen nur solange funktionierte, wie der Krebs seine Aussaat noch nicht fruchtbar in die Glaskörper der Augen gestreut hatte, war mir vor allem aus Gesprächen mit meiner Mutter schon seit Jahren bekannt. Das ging, wenn die Therapie mit zu viel Verspätung begann, leider nicht mehr mit guten Prognosen, weil die Sehnerven dann schon mit bösartigem Zellgut verseucht waren. Dann half nur noch Augen raus. Die letzte Alternative, die es dazu noch gab, war nur die, scheibchenweise Glied für Glied und Organ nach Organ langsam sterben zu müssen. Deshalb war es aus meiner Sicht im Vergleich die deutlich bessere Option blind und dafür gesund weiter mein spannendes Leben zu leben. Aber genau das hätte bei Susi auch so passiert sein müssen. Die Metastasen in ihrem Arm passten egal wie ich das Blatt auch wendete nicht zu ihrem erfolgreich austherapierten Visus, das war und blieb mir ein Rätsel. In dem Stadium, das Susi mir gerade am Beschreiben war, konnte eine finale Heilung nur noch durch das komplette Herausnehmen beider kranker Augen geklappt haben. Dessen war ich mir schon deshalb absolut sicher, weil mich meine Ärzte genau aus diesem Grund so früh total blind machen mussten. Susi konnte mir viel erzählen, aber wann einem Menschen wegen eines bilateralen Retinoblastoms, sein letztes Auge herausgeschnitten werden musste, wusste ich aus eigener Erfahrung, sicher um einiges besser als diese Geschichtenerfinderin. Ich wusste auch ganz sicher, dass eine Verspätung in der Kette vom Erkennen weiß schimmernder Pupillen auf Fotos bis zum Start der Therapie auch heute noch zu unausweichlichen Konsequenzen führte. Erkrankungen wie meine führten aus diesem Grund, als einziger sicherer Weg zur Vermeidung von Schlimmerem, zwangsläufig weltweit für viele Betroffene Jahr für Jahr zum Verlust einer großen Zahl kranker Augen. Ich hatte keine Ahnung, ob Susi überhaupt wusste, dass sogar die toten Stümpfe der abgeschnittenen Sehnerven, die sich nach dem Herausschneiden der Augäpfel noch an den entfernten Augen befanden, immer erst noch histologisch untersucht werden mussten. Nur ein entsprechendes Ergebnis dieser Untersuchungen konnte die Gewissheit schaffen, dass der Krebs nach den Enukleationen auch wirklich für immer wegbleiben würde. Susi hatte den Fehler gemacht, mir weismachen zu wollen, dass sie von ihrem Krebs zunächst auf beiden Augen fast so blind wie ich gewesen sein wollte. Entweder hatte sie nicht gewusst, dass das nur bei einem bilateralen Problem so passieren kann, oder sie hatte keine Ahnung davon, wie schnell sich der Krebs in die Sehnerven erkrankter Augen hineinfrisst. Natürlich wusste ich, dass es auch Retinoblastom-Erkrankungen wie bei dem Showmaster Frank Elstner oder dem Columbo-Protagonisten Peter Falk gab, die als kleine Kinder nur an einem einfachen Retinoblastom und nicht an der bilateralen Variante erkrankt waren. Solche Leute hatten im Vergleich zu mir eben einfach ein bisschen mehr Glück als ich. Wegen ihres gesunden Auges konnten sie, im Gegensatz zu dem, was Susi mir gerade vorgelogen hatte, im gesamten Verlauf der Krankheit zu keinem Zeitpunkt ein bisschen blind gewesen sein. Das frühe Enukleieren zur sicheren Prophylaxe vor Metastasen war für Leute, die nicht bilateral befallen waren, logischerweise genauso wichtig wie für mich. Allerdings mit dem kleinen Unterschied, dass ihnen nur ein Auge herausgemacht werden musste. Menschen wie mir sind unsere zwei Augäpfel meistens schon sehr früh komplett entfernt worden, weil sich die bilaterale Form oft rasend schnell in beiden Augen breitmachte. Nur ist es in der Regel so, dass beide Augen vom Krebs schon vor der Operation fast blind oder davon sogar schon total unbrauchbar, so vollblind wie die späteren Glas- oder Acrylprothesen geworden waren. Susis wahre Geschichte hätte deshalb nur ohne ihre herbeigelogene temporäre Blindheit wahr sein können, und genau das machte mich so stinksauer.

„Aber wieso kannst du dann jetzt wieder sehen? Das, was du hier erzählst, kann doch gar nicht sein“, sagte ich mürrisch zu Susi. Ihre ganze Geschichte kam mir auf einmal so erstunken und erlogen vor, dass ich mich von ihr nur noch verarscht und total fies hinters Licht geführt fühlte.

„Nein, Mara, so war es ja auch gar nicht“, wehrte Susi ab.

„Dann sag mir doch einfach, wie es wirklich war, anstatt mir hier utopische Geschichten zu erzählen“, blaffte ich Susi noch heftiger als vorher an.

„Damals musste ich noch davon ausgehen, dass Pawel mir kurz bevor die Berliner Götter in Weiß mich mit ihren prophylaktischen Retinoblastom-Enukleationen so blind wie dich machen wollten, gerade noch mein letztes Auge gerettet hatte. So wie es damals aus der Sicht der Ärzte in Berlin schien, war es vielleicht gerade noch nicht zu spät dafür, um meinen Körper mit der Enukleation meines letzten Auges und der Amputation meines rechten Arms noch vor weiteren Metastasen zu schützen. Vielleicht verstehst du jetzt besser, warum ich das Ekel, zu dem er mittlerweile geworden ist, mit anderen Augen als du sehe“, schrie Susi ebenfalls voll verärgert über meine aggressive Konversation mit ihr zurück.

„Pah, sag aber jetzt bitte nicht, dass ich dir glauben soll, dass dieser fette Prolet in Wahrheit ein Experte der Augenmedizin sein soll. Einer, der mehr als Frau Professor Krassmann von der Berliner Charité auf dem Kasten haben soll?“, erwiderte ich total abgenervt. Dabei rückte ich, weil ich ihre Nähe nicht länger ertragen wollte, noch ein weiteres Stück von Susi weg. In diesem Augenblick war ich nämlich felsenfest davon überzeugt, dass sie wirklich nur eine Lügnerin und keine Betroffene wie ich sein konnte. Eine Lügnerin, die mich, wenn ich ihre Worte nicht vorsichtig und kritisch prüfte, eh nur weiter verscheißern würde. Mich anlügen und mich für dumm verkaufen, das kannte ich schon zur Genüge. Susi war schließlich nicht der erste Mensch, der, weil mich viele oft nur als blindes Dummerchen wahrnahmen, versuchte, mit mir ungestraft solche fiesen Spielchen zu treiben. Das hatte ich nun davon, dass ich zugelassen hatte, dass diese Filmgang mir meine schützende Augenbinde abgeschwatzt hatte, die mich davor schützte, als richtige Blinde enttarnt zu werden.

„Mara, du tust mir Unrecht, aber wenn du es so willst, können wir dich an der Schattenglut auch nur aussteigen lassen. Dann trennen sich unsere Wege dort eben wieder. Dann ist es eben so, wie das öfter im Leben ist, wenn die Menschen es nicht schaffen, sich zuzuhören und Vertrauen zueinander aufzubauen“, sagte Susi und fragte mich, ob sie mir nicht nochmal nachschenken solle. Mit diesem abrupten Ende konnte ich schon wegen Alex nicht zufrieden sein und nickte deshalb stumm, um mir wenigstens mein Glas noch einmal auffüllen zu lassen. Etwas Bedenkzeit konnte ja nicht schaden und außerdem hatte Susi auch recht damit, dass ich mir ihre Geschichte auch höflich bis zum Ende anhören könnte, aber Geduld war noch nie eine besondere Stärke von mir.

„Na gut, ich kann mir deine Geschichte ja auch noch wie in der Märchenstunde bis zum Ende geben, deshalb muss ich sie dir ja noch lange nicht glauben“, brummte ich schmollend vor mich hin und nippte erneut an meinem Sektglas.

„Das klingt jetzt irgendwie nach letzter Chance, aber von mir aus“, antwortet mir Susi wieder mit diesem arroganten Unterton, der sich wie ein schräges Grinsen anhörte.

„Pawel ist natürlich kein Augenmediziner und ja, er ist ein ungehobelter Russe, aber als wir noch Kinder waren, war er nicht besser und auch nicht schlechter dran als ich. Wir lebten beide im Reuterkiez in der Nähe der Hermannstraße in Berlin. Mein Vater war schon früh tot und meine Mutter war schon bevor ich in die Schule kam total dem Alkohol verfallen. Pawel wurde nicht nur zuhause oft verprügelt und suchte schon früh meine Nähe. Die vier Jahre, die ich jünger bin als er, störten uns damals, obwohl der Altersunterschied in diesem Alter oft blöde Fragen aufwarf, kein bisschen, denn wir verstanden uns einfach beide trotzdem voll gut. Andere Freunde als mich hatte er nicht und ich auch keine anderen als ihn. Pawel wurde schon als er zwölf Jahre alt war zum ersten Mal mit dem Zug alleine in seine alte Heimat nach Luhansk geschickt. Dort musste er Ware für die Geschäfte, mit denen sich seine Familie mehr schlecht als recht über Wasser hielt, auf dem Schwarzmarkt übernehmen und als Kurier verschieben. Lange bevor ich krank wurde, hatte er in seiner Heimat bereits mit einigen Russen gedealt. Als es bei mir in der Schule dann immer schlechter lief, hat er mir sogar eine spezielle Medizin aus seiner Heimat besorgt, die mir schnell half, wieder besser zu werden. Das Zeug kam aus einem Labor der russischen Armee und wurde dort erprobt, um die Leistungsfähigkeit von Soldaten zu steigern, aber hier konnte Pawel damals damit auch so schon gutes Geld verdienen. Mir hat er es aber immer einfach so gegeben und ich war ihm lange Zeit auch echt dankbar dafür. Später wurde zuerst mein rechtes Auge krank und ich sah von einer Woche zur folgenden immer mehr wie ein Monster aus. Alle fingen an, mich zu meiden, bis auf Pawel. Danach fingen in der Schule auch die ersten Probleme mit meinem linken Auge an, weil ich dort beim Lesen an der Tafel immer schlechter klarkam. Zu diesem Zeitpunkt erzählte Pawel mir zum ersten Mal von einem geheimnisvollen Sanatorium in seiner Heimat. Eine Art Sanatorium, in dem etwas Spezielles für Leute mit Sehschwächen entwickelt werden würde. Deshalb wusste er auch von speziellen Therapien, die in diesem Labor unter höchster Geheimhaltung für das russische Militär erprobt wurden, und dass sie dort sogar etwas für Erblindende übrig hätten. Kurz danach überstürzten sich dann allerdings die Ereignisse, nachdem ich mir im Schulsport meinen rechten Arm gebrochen hatte. Nach dem Unfall sollte ich nämlich, so wie du, auch auf der Station von Frau Professor Krassmann behandelt werden.“ An dieser Stelle unterbrach Susi ihre Geschichte, hielt inne, griff dann erneut nach der Champagnerflasche und fragte mich, ob ich auch nachgeschenkt haben wolle.

„Das hört sich aus meiner Perspektive alles immer noch nicht viel glaubwürdiger als vorher an, weil mir für alles, was du sagst, bisher jegliche Beweise fehlen“, sagte ich noch mit Spuren von Aggression in meiner Stimme, aber streckte Susi trotzdem meine Sektflöte entgegen. Die ihrige hatte sie, während sie mir ihre komische Geschichte erzählt hatte, auch schon wieder komplett ausgetrunken und füllte beide Gläser nach, bevor sie den Faden wieder aufgriff und mit der Erzählung ihrer Geschichte noch abenteuerlicher fortfuhr.

„Mit Pawels Hilfe gelang es mir gerade noch im letzten Moment, kurz vor der operativen Entfernung meiner beiden Augäpfel durch Frau Professor Krassman, die Flucht aus Berlin zu ergreifen. Statt des Operationstermins bei ihr flohen wir in die von den Russen terrorisierte Region der östlichen Ukraine in die Nähe von Luhansk, unweit der von den Russen geraubten Halbinsel Krim. Mit einem von Pawel gefälschten Arztbrief, der wie eine Empfehlung von Frau Krassmann an die Augenklinik von Luhansk aussah, wollte ich noch rechtzeitig dort unterkommen, bevor jede Hilfe für mein Augenlicht so verspätet kam, dass wirklich nicht mal mehr ein Sehrest zu retten gewesen wäre. Pawel fuhr noch in derselben Nacht mit dem Zug mit mir dorthin los“, erzählte Susi weiter.
„Mir schier endlos vorkommende zwei Tage später holten uns dann zwei russische Offiziere mit einer schwarzen Wolga-Limousine in einem lottrigen Hotel ab, in dem wir ein Dach über unseren Köpfen gefunden hatten. Den Wagen konnte ich zu diesem Zeitpunkt aber nur noch als eine Art neblige Gewitterwolke wahrnehmen, in die man sich als Mensch wie in ein Auto hineinsetzen konnte. Schon bei der Ankunft im Sanatorium konnte ich mich abgesehen von den täglich mehr und mehr schlechter gewordenen Resten meines Sehvermögens wegen immer schneller schwindender Lichtwahrnehmungen nur noch so wie du ausschließlich an Geräuschen und taktilen Merkmalen orientieren. Dort lernte ich recht schnell, mich auch so hilflos, wie ich zu dem Zeitpunkt geworden war, in meiner neuen Umgebung zu orientieren. Außer mir gab es dort auch viele andere Blinde, von denen einige das Krankenhaus vor ihrer vollständigen Erblindung noch sehr viel besser als ich gesehen hatten. Diese Patienten konnten den Vollblinden noch gut die Umgebung erklären und übten mit allen so lange, bis sie sich auch wieder selbständig bewegen konnten. Schon nach den ersten zwei Tagen wurde, wie die Russen mir sagten, aus Gründen, die sich aus unserer Verspätung ergeben hätten, klar, dass mir auch die Leute aus Luhansk weder meinen rechten Arm noch mein rechtes Auge lassen wollten. Sowohl die Amputation meines Armes als auch die Entfernung meines rechten Auges liefen dann ziemlich russisch ab und wurden am selben Tag sofort erledigt. Dann wurde ich bis Oberkante Unterkiefer mit hochkonzentriertem Jod vollgepumpt und täglich mit irgendwelchem extrem giftigen Zeug bestrahlt. Mein letztes Auge brannte danach Tag und Nacht wie Feuer und ich war in dieser ganzen Zeit, ob du es mir glauben magst oder auch nicht, genauso stockblind wie du. Aber dann sah ich nach wenigen Wochen plötzlich wieder ersten noch tiefschwarzen Nebel, der sich danach von Tag zu Tag immer weiter aufhellte. Die Russen behandelten mich viel besser, als ich das nach meinen ersten Reiseerfahrungen von ihnen erwartet hätte, und gaben mir unerwartet sogar noch etwas Geld – oder besser gesagt Sold – dafür, dass ich mich dort so von ihnen behandeln ließ. Das lag daran, dass das Ganze eine militärisch motivierte Geheimsache war. Davon, dass ich für die Russen nur eine von vielen anderen Probandinnen war, die dort wie Versuchskaninchen für die Entwicklung von Kampfdrogen und Biowaffen behandelt wurden, ahnte ich zu diesem Zeitpunkt kein bisschen. Die wirklichen Zusammenhänge konnte ich zu diesem sehr frühen Zeitpunkt auch unmöglich erkennen“, sagte Susi, und mir blieb vor Schreck erstarrt die Spucke weg.

 

Nebelmoor

Marvin

 

„Etwas frische Luft könnte uns Dreien jetzt allen nicht schaden. Außerdem wäre es vielleicht etwas cleverer, wenn wir auf die Polizisten da draußen selbst zugehen würden, bevor sie hier anklopfen. Nicht, dass die Polizei uns am Ende möglicherweise verdächtigt, an dem, was da draußen gerade abgeht, in irgendeiner Art beteiligt gewesen zu sein“, sagte ich zu Mila. Sie hatte meine Mama und mich inzwischen bis auf die Sache mit dem Moorunfall total geschickt auf den Boden der gegenwärtigen Geschehnisse zurückgebracht. Nur was die Vorgeschichte anging, die dann zu ihrer Flucht führte, hatte sie wohl auch meiner Mutter noch nicht viel erzählt, dafür war die Zeit vermutlich viel zu knapp gewesen. Was die restliche Moorgeschichte betraf, von der ich mehr wusste, als Mila ahnen konnte, hatte sie meine Mutter bisher sicher auch noch voll im Dunkeln gelassen.

„Polizei? … Hat sich hier denn jemand etwas vorzuwerfen?“, fragte meine Mutter in einem Ton, der aufs Erste so klang, als ob sie plötzlich wieder zurück in ihre alte Rolle als strenge Erzieherin wechseln wolle.

„Mara! … Mila! … Egal, was es ist, ich werde, auch wenn ihr etwas ausgefressen habt oder falls ihr euch für eine Dummheit entschuldigen müsst, zu euch stehen. Zu dir Mara, meiner Tochter, und zu dir Mila, der besten Freundin meiner Tochter, die jetzt auch meine Freundin geworden ist“, sagte Christine mit wacher, gütiger Stimme, in der als Unterton aber auch ehrliche Furcht und Angst mitschwang. In diesem Moment wurde mir klar, dass sie nicht mal den Hauch einer Ahnung von dem zu haben schien, was sich heute schon wirklich alles ereignet hatte. Aber nein, nicht nur von heute. Sie konnte ja auch fast keine Ahnung von all dem haben, was ich in den zurückliegenden Jahren alles ohne sie erlebt hatte, und noch weniger davon, wie ich mich in der vergangenen Zeit aufgrund dieser neuen Erfahrungen entwickelt hatte.
Oh Mama, ich muss dir noch so viel erzählen, aber es wird weder eine Beichte noch eine Entschuldigung daraus werden, das verspreche ich dir, und ausgefressen habe ich auch nichts wirklich Schlimmes. Aber dafür haben wir im Moment noch keine Zeit, lass uns jetzt lieber ganz schnell losziehen, es kann nämlich wirklich nicht mehr lange dauern, bis hier der erste unnötig um uns besorgte Suchtrupp aufkreuzt. Mila und ich werden nämlich seit einer guten Stunde in der Schule vermisst.

„In der Schule vermisst? Am letzten Schultag? Sollte das so etwas wie ein Scherz, also eine Art Schülerstreich werden, oder was habt ihr beiden euch denn sonst dabei gedacht?“, fragte meine Mutter. Ihr gelöstes Lachen deutete darauf hin, dass sie immer noch dachte, dass Mila und ich, so wie sie, vom Märchenbuch der heilen Welt träumten und dass wir darin auch so angepasst wie meine Mutter lebten.

„Nein Mami, das war kein Spaß, das war bitterer Ernst, aber das Wenige, das du davon sofort wissen musst, können wir dir auch draußen beim Gehen erzählen“, sagte ich, während ich schon aufstand. Ich zog sie einfach hinter mir her, mit mir ins Bad. Dort wusch ich mir schnell mein Gesicht, brachte meine Schminke wieder notdürftig in Ordnung und danach sprang ich noch schneller in saubere Klamotten. Mila tat, ohne Worte darüber zu verlieren, das Gleiche. Das Plätschern und Wischen im Waschbecken neben mir war begleitet vom perlenden Zischen des Wasserhahns. Daran hatte ich gehört und mitverfolgt, dass das Procedere bei Mila auch so blitzschnell wie bei mir vonstattengegangen war und wir jetzt beide wieder salonfähig aussahen. Mila kannte schließlich die meisten meiner Sachen fast so gut wie ich und kam auch ohne darüber zu reden und ohne meine Hilfe so gut klar wie ich.

„Nein Mama, den darfst du heute hierlassen, vertrau uns einfach und lass dich einfach mal von uns beiden überraschen“, sagte ich und nahm ihr behutsam ihren Langstock wieder ab. Ohne ihn zusammenzufalten, stellte ich ihn einfach wieder dorthin zurück in die Ecke neben unserer Abschlusstür, wo sie sich ihr nützlichstes Hilfsmittel wie immer routinemäßig gegriffen hatte, bevor sie sich vor die Tür traute. Dort hatten unsere Stöcke schon immer ihren Platz, dass es auch ohne ging, wurde hier bisher weder diskutiert noch ausprobiert.

„Ohne Stock und ihr auch ohne Stöcke, wie soll das denn gehen?“, schrie sie entsetzt auf, aber ich zog sie einfach hinter mir her auf die Treppe. Mila, die zügig hinter uns her trampelte, hatte der Abschlusstür noch schnell einen etwas zu heftigen Schubs gegeben, weshalb diese etwas unsanft zuknallte, bevor wir das Freie erreicht hatten.
„Muss das wirklich sein? Ich war noch nie eine Draufgängerin ohne Sicherheit … oh Gott, das macht mir Angst“, aber Mila und ich hatten sie schon rechts und links zwischen uns genommen. Wir hatten sie so sicher zwischen uns eingehängt, dass wir während des Gehens gleich beruhigend unsere Handflächen auf ihre Handrücken legen konnten. Nachdem die Hände meiner Mutter auf unseren Unterarmen einen guten Platz gefunden hatten, war auch für sie alles wieder halbwegs in Ordnung, aber dass ihr doch noch etwas mulmig war, konnte sie doch nicht ganz vor uns verbergen.

„Mama, es hat doch auch Vorteile, wenn man beim Gehen beide Hände frei hat, oder?“, sagte ich und tätschelte ihr noch kurz ihre Hand. Nach dem siebzehnten Schritt fing ich an, wie selbstverständlich nach dem Gartentürchen zu greifen, das natürlich genau dort war, wo es immer war. Mila und ich schwenkten mit ihr nach links und ich schnalzte erst zweimal und dann gleich noch dreimal hinterher mit meiner Zunge, bis ich wusste, wo heute parkende Autos standen, an denen man sich wie immer prima orientieren konnte.

„Wie, ihr könnt Echoortung?“, fragte meine Mutter so ungläubig, als ob das, was ich da gerade tat, an Zauberei grenzte.

„Mit ein bisschen Übung“, sagt Mara immer, kann das jeder, Christine. Auch du! Aber so gut wie Mara kann’s sonst fast keiner“, sagte Mila und nahm mir damit die Antwort vorweg, was mich am meisten deshalb etwas fuchste, weil ich Lobhudelei eben voll nicht abkann.

„Nur wer’s nicht mal selbst ausprobiert, kann’s nicht“, blaffte ich sie zickig an und ergänzte noch eine kleine Retourkutsche. „Das liegt nämlich nur daran, dass Mila gar nicht so richtig blind ist, also nicht so blind wie du, Mama, und nicht so blind wie ich es bin. Deshalb kann Mila im Gegensatz zu uns beiden auch Motorrad und Moped fahren. Aber Fahrrad geht mit Schnalzen, das kannst du auch lernen, Mama. Du musst nur vorher die Angst besiegen."

„Ich bin auch voll blind, Mara. Mein Sehrest ist so winzig, dass ich auch immer den Stock brauche, wenn ich alleine unterwegs bin. Das ist einfach nicht fair von dir, dass du mich immer dann, wenn dir etwas an mir nicht passt, so behandelst, als ob ich eine sei, die sich als Blinde nur Vorteile verschaffen will. Das ist voll fies von dir“, zickte Mila zurück. Mila tat das immer so, wenn ich sie mal wieder mit ihrem Sehrest aufbockte. Aber gerade weil ich wusste, dass sie auf meine kleinen Sticheleien über das bisschen Sehrest, das sie noch hatte, so heftig reagierte, ärgerte ich sie damit immer wieder gern. Das tat ich aber eigentlich nur dann, wenn ich mich gerade mal wieder so wie eben voll von ihr angepisst fühlte. Ihre Fähigkeit, noch sehen zu können, wie Licht wirklich ist, also dass sie das sogar nach ihrer vollständigen Erblindung immer noch konnte, gönnte ich ihr ja auch wirklich, ohne dabei nur einen Hauch von Neid zu verspüren. Nur dass Mila ihr Sehvermögen mit der Begrifflichkeit „winziger Sehrest“ immer dann als nutzlose Kleinigkeit herunterzuspielen versuchte, wenn ich sie mal wieder damit ärgerte, dass sie ja deshalb gar nicht richtig blind sei, konnte ich einfach nicht verstehen. Das fand ich nämlich voll albern und auch richtig humorlos, weil es so grundlos war, darüber nicht auch lachen zu können, wenn sich so wie eben gerade eine Situationskomik daraus entwickeln ließ. Aber das war ja auch der Zweck der Übung, weil ich es auf den Tod nicht ausstehen konnte, für Zeug, das jeder lernen kann, gelobt zu werden. Das sollte sich Mila eben einfach mal merken, dann wär ja alles so gut, dass ich sie nicht mehr zurückärgern müsste.

„Von mir aus dann halt gesetzlich blind, weil vollblind ist man nämlich nur, wenn man das Licht so wie ich wirklich ganz aus hat“, sagte ich mit einem schiefen Grinsen in meiner Stimme und knuffte meine Freundin, die meine schroffe Art und meinen sarkastischen Humor ja sonst eigentlich auch mochte.

„Müsst ihr euch denn wirklich über so etwas streiten, Mara? Mir tut Mila genauso leid wie du. Ich freue mich einfach darüber, dass sie trotzdem noch sehen kann, wie Licht wirklich ist. Aber vielleicht ist ihre Blindheit für sie ja so sogar noch schlimmer. Vielleicht ist es ja besser, wenn man das Sehen gar nicht kennt, wenn man eh blind leben muss“, sagte meine Mutter in einem Ton, der mich erst recht auf die Palme brachte.

„Mir tust eigentlich hier nur du leid, weil nur du immer so eine weinerliche Wissenschaft daraus machst, wenn jemand ein Handicap hat. Es reicht doch völlig aus, wenn jeder so vor seiner eigenen Tür kehrt, dass er damit, so wie er eben ist, selbst glücklich damit klarkommt“, antwortete ich ihr bissiger, als ich das eigentlich wollte. Aber vielleicht war es auch gut so, weil ich ihre Mitleidsbekundungen wirklich nicht weiter ertragen wollte.

„Ach übrigens, ich bin auch noch nie mit einem Moped gefahren und auch nur einmal auf der Autobahn mit Tims Motorrad“, sagte Mila plötzlich. Offensichtlich hoffte sie darauf, dass sie mit dem Themenwechsel zurück zu den Ereignissen des heutigen Tages nicht nur den kleinen Disput mit mir, der eh zu nichts führen würde, befrieden könnte. Ihr Versuch, die wichtigeren Dinge in den Vordergrund zu schieben, war aber nämlich ganz deutlich damit geprägt, dass sie gerade beabsichtigte, uns keinen wirklich klaren Wein einschenken zu wollen.

„Ach nee?“, sagte ich ganz verdutzt.

„Nicht ach nee, sondern ja doch“, sagte Mila trocken und erklärte uns, dass sie ja ursprünglich viel mehr Zeit für ein entspanntes Vieraugengespräch mit meiner Mutter eingeplant gehabt hätte. In diesem Zusammenhang wollte sie uns glauben machen, dass es ja schon deshalb, weil ich zu dieser Zeit eigentlich viel länger hätte in der Schule bleiben müssen, der optimale Zeitpunkt war. Ihre Story gipfelte zum Schluss darin, dass ich dann, dadurch, dass ich so plötzlich und unerwartet und auch noch zusammen mit Tim viel zu früh dazu hineingeplatzt war, alles total durcheinandergewirbelt hätte. Ganz versöhnlich erzählte sie dann noch mit einem gewinnenden Grinsen in ihrer Stimme, dass das Durcheinanderwirbeln eben meinem Wesen entspräche, ich schon deshalb nie langweilig sei und man mich auch schon deshalb so gern mögen würde – schon wieder Lobhudelei. Ich war total fassungslos.

„Und ich bin doch nur aus der Schule abgehauen, um Mila zu suchen, weil ich heute Nacht schon geträumt hatte, was ihr Schlimmes hätte zustoßen sollen“ ergänzte ich süßlich heuchelnd. Natürlich war ich Mila trotz meiner Wut und trotz ihrer komischen Lügerei dankbar für alles Gute, was sie heute schon für mich getan hatte. Auch dass sie unserem Gespräch mit ihrer abstrusen Story eine neue Richtung, besser gesagt einen neuen oder, noch besser ausgedrückt, einen harmonischeren Verlauf als vorher gegeben hatte, war auch nicht schlecht. Außerdem hatte sie mich jetzt aber vor allem total neugierig auf ihre Lügengeschichte gemacht. Inzwischen waren wir dort, wo unsere Straße endete, noch einmal an der Ecke nach links abgebogen und befanden uns nun auf der Höhe einer kleinen Blumenfläche. Wir gingen gerade in der Nähe derselben Stelle, an der sich Tim mit mir vor einer guten halben Stunde und seinem Motorrad mit einem Affenzahn in den weiten Bogen gelegt hatte. Natürlich bewegten wir uns nicht auf der Straße, sondern gingen zügig den Gehweg entlang. Vielleicht waren wir noch gar nicht richtig in Sichtweite der Böschung, die zum Moorufer hinunterführte, als der Wind schon ein wirres Potpourri von Stimmen zu unseren Ohren trug. Diese Stimmen, die uns jetzt auch ohne zu schnalzen schon die grobe Richtung zu unserem Ziel anzeigten, deuteten aber schon hier auf eine Art Tumult oder einen Menschenauflauf an der Uferstraße hin. Nur weil wir ohne unsere Stöcke unterwegs waren, schnalzte ich trotzdem immer mal wieder zwischendurch, um sicherzustellen, dass wir uns auch dort befanden, wo ich uns vom Mitzählen unserer Schritte recht treffsicher wähnte. – Wenn ich nur wüsste, warum Mila so sehr gelogen hatte, dass sich davon alle Balken bogen.

„Mila, mein Schatz, ich komme gerade nicht an mein Handy, wärst du mal bitte so nett, für uns auf deine Uhr zu schauen?“, sagte ich und bemühte mich dabei, meine Frage so belanglos wie möglich klingen zu lassen.

„Mila …? … auf ihre Uhr schauen?“, brummelte meine naive Mutter wieder dazwischen und fing damit an, nach ihrer sprechenden Uhr zu fummeln, die sie immer an ihrem Handgelenk trug.

„Klar kann Mila das. Sie kann das natürlich nur gut, wenn die Uhr so klein wie ihre ist, das ist wegen ihres Tunnelblicks. Mama, das verstehst du jetzt so schnell bestimmt nicht, aber du kannst das niedliche Ührchen an ihrem Handgelenk bestimmt auch selbst tasten, wenn du es mir so nicht glauben willst. Und ob du es mir jetzt glaubst oder auch nicht: Diese kleine Uhr hat wirklich nur eine ganz normale Krone, an der Mila die Zeit und das Datum einstellen kann. Du wirst dort wirklich kein weiteres Knöpfchen für eine Sprachfunktion, so wie bei dir, finden“, sagte ich und war gespannt darauf, wie Mila sich jetzt gleich aus dem Konstrukt ihrer Lügengeschichte herauswinden würde.

„Oje, meine Uhr … sie ist weg, ich muss sie verlegt haben oder irgendw …“, weiter kam Mila nicht mehr, weil sie jetzt mitten im Satz von einer fremden Stimme unterbrochen wurde.

„Halt, meine Damen, hier dürfen sie nicht mehr weiter. Sehen sie denn nicht, dass wir hier ein Absperrband über den Weg gespannt haben? Sie müssen heute bitte ausnahmsweise den Gehweg auf der anderen Straßeseite benutzen, die Uferstraße ist bis auf Weiteres gesperrt. Hier dürfen im Moment nur wir und die Rettungs- und Bergungskräfte durch“, sagte die tiefe Stimme eines Mannes, der in etwa zwei Meter Abstand links vor uns zu stehen schien.

„Wir hätten doch unsere Stöcke …“, setzte meine Mama an, anstatt ihre Klappe zu halten. Sie hätte Mila und mich später doch einfach auch mal nur dafür loben können, dass wir sie mitgenommen hatten, um ihr zu demonstrieren, wie gut wir beide auch ohne die weißen langen Verräter unterwegs sein konnten. Mit dem bisschen Schnalzen hatten wir es nur mit unserer Echoortung geschafft, bis hierherzukommen, ohne uns einem Fremden als Blinde zu erkennen zu geben, und sie hätte das mit dem Geplapper über unsere Stöcke gerade fast alles vermasselt. Den tieferen Sinn unserer kleinen Demonstration, mit der Mila und ich ihr zeigen wollten, wie gut Echoortung dort, wo man sich eh schon gut auskennt, mit ein bisschen Übung funktionieren kann, hatte meine Mutter überhaupt nicht verstanden. Soviel war schon mal klar. Dabei ging es ja gerade darum, gegenüber Fremden nicht immer gleich ausplaudern zu müssen, dass man blind unterwegs ist. Zum Glück konnte meine Mami den Satz, den sie gerade begonnen hatte, nicht mehr vollenden, weil ich ihr vorher noch so tough ins Wort gefallen war, dass sie zum Glück gleich wieder verstummte.

„Oh Herr Wachtmeister, keine Sorge, dürfen wir sie trotzdem fragen, was hier geborgen werden muss?“, fuhr ich fort und bemühte mich dabei, meine Augen auf die Stelle seines Kopfes auszurichten, wo sich seine Nasenwurzel befinden musste.
„Leider nein, es wurde eine Informationssperre verhängt, weil eine Straftat vermutet wird, mehr darf ich ihnen dazu leider nicht sagen“, antwortete er zwar freundlich, aber dennoch kompromisslos.

„Hat das Verbrechen, dem sie auf die Spur kommen wollen, denn etwas mit den vermissten Schülerinnen zu tun? Ich meine, mit den beiden Mädchen, die heute Morgen schon im Guttenberg-Gymnasium anlässlich der Buchpreisverleihung gesucht wurden?“, fragte ich gerade heraus, weil ich überhaupt keinen Bock darauf hatte, hier mit dem Türsteher unsere wertvolle Zeit zu verplempern.

„Wie? Wollen Sie mir damit sagen, dass sie wissen, wo sich die zwei blinden Mädchen gerade aufhalten?“, brach es aus ihm heraus.

„Und wenn? … Was hat das denn dann damit zu tun, dass die zwei Blinde sind?“, fragte ich schnippisch.

„Mara, bitte, der Herr ist doch von der Polizei!“, platzte Mama wieder als die totale Spaßbremse mit ihrer naiven Art dazwischen.

„Wenn sie etwas wissen, müssen sie uns das jetzt unverzüglich sagen. Aber wenn sie nichts zur Aufklärung beitragen können, muss ich sie wiederholt bitten, den Tatort jetzt auf der Stelle zu verlassen“, antwortete der Polizist, der jetzt schon sehr verärgert klang.

„Aber wir wollen doch gar nichts verschweigen, Herr Wachmeister. Das hier ist meine Freundin Mara mit ihrer Mutter und ich heiße Mila. Wir beide sind zwar nicht mehr in der Schule, aber das war doch nur ein kleiner Schülerstreich und kann doch keine Straftat sein“, sagte Mila ganz freundlich und versuchte mit all ihrem Charme in letzter Sekunde die Stimmung zu retten. Mit meinen provokanten Sticheleien, die hier im Moment weder angebracht waren noch im Gewand einer sarkastischen Selbstironie als lustiger Gag rüberkamen, hatte ich uns völlig unnötig in eine noch brenzeligere Situation als vorher gebracht. Als mir das bewusst wurde, war es aber schon zu spät. Deshalb hoffte ich, dass es Mila gelingen würde, zu retten, was noch zu retten war.

„Ach so ist das“, sagte der Wachtmeister dann zu meiner Mutter und lachte gekünstelt. „Dann haben sie uns also die beiden Ausreißerinnen hierhergeführt, um die beiden Gören vor noch größerem Schaden zu bewahren. So etwas ist mir ja in meiner ganzen Dienstzeit noch nicht passiert. Zwei Blinde, die sich einen Jux mit mir machen, indem sie den Anschein erwecken, sehen zu können. Das ist zwar mehr makaber als lustig, aber verboten ist das natürlich nicht.

„Klaus, kommst du mal bitte zu mir zum Absperrband? Hier sind die zwei Ausreißerinnen, die im Guttenberg-Gymnasium gesucht wurden, mit einer ihrer Mütter aufgetaucht, die die beiden blinden Mädchen im Schlepptau hatte. Das Ganze stellt sich hier zwischenzeitlich so dar, als ob es gar keine Entführung gegeben hätte“, hörten wir den Polizisten in ein Walkie-Talkie sprechen. Dann bat er uns darum, bis auf Weiteres mit ihm, jetzt allerdings hinter dem Absperrband, auf seinen Kollegen zu warten.

„Guten Tag, mein Name ist Fred Birnbaum, Kriminalhauptkommissar …“, hörten wir kurz darauf eine weitere Stimme, die auch fest, aber weniger nach Amtsdeutsch und viel sympathischer klang als die des wachsamen Wachtmeisters.

„Mama, mach schon, wie lange soll der Mann dir denn noch seine Hand hinstrecken, der ist doch auch Polizist, da musst du dich doch auch gut beneh …“, weiter kam ich nicht, weil mir Milas spitzer Ellenbogen, den sie mir auf meiner rechten Seite unterhalb meines Brustansatzes zwischen meine Rippen in meinen Oberkörper gerammt hatte, auf einen Schlag fast meine ganze restliche Luft aus meinen Lungen heraustrieb.

„Christine Müller“, hörte ich meine Mutter kurz darauf kleinlaut sagen und wollte mir gar nicht vorstellen, wie sie dabei hektisch mit ihrer rechten Hand vor den beiden Männern in der Luft herumgefuchtelt hatte. Oje, wie voll peinlich war das denn schon wieder mit ihr? Nicht einmal die einfachsten Dinge konnte sie.

„Wenn ihr nicht schon vor dem ersten Satz, den ihr sagt, einen hilflosen Eindruck von euch vermitteln wollt ...“, hörte ich Marcs Stimme so deutlich, als stünde er hier bei uns, aus der Erinnerung heraus in meinem Kopf dröhnen. Einen der ersten Tricks, den er Mila und mir im Sportverein beigebracht hatte, betraf die Begrüßung. „Ihr müsst nur schnell genug sein. Schneller als alle anderen müsst ihr sein. Zügig und schnell müsst ihr eurem Gegenüber eure rechte Hand selbstbewusst hinstrecken. Dann müsst ihr erwartungsvoll und freundlich lächeln. Und abwarten müsst ihr dann noch gut können, das ist schon alles. Wenn es mehrere Leute sind, die es zu begrüßen gilt, dann sucht ihr euch den Wichtigsten von allen aus. Außer er steht da mit einer Frau, dann nehmt ihr euch besser die Frau zuerst vor. Die üblichen Floskeln müsst ihr gleich zu einem Satz formen, der einen unvergesslichen Eindruck von euch hinterlässt. Der erste Eindruck, den ihr von euch vermittelt, ist der wichtigste. Ihr müsst euer Gegenüber fesseln, ihr müsst ihn von euch überzeugen und für euch gewinnen. Die Floskeln müsst ihr dazu nutzen, eure Gegenüber in ganz kurze Gespräche zu lenken, Nähe zu suchen, um Distanz zu reduzieren, um Vertrauen aufzubauen und eure Gegenüber mit eurer Offenheit so zu beschäftigen, dass sie unsicher werden und euch aber trotzdem empathisch wahrnehmen. Ihr müsst dafür sorgen, dass sie dieses erste Gespräch mit euch nie vergessen werden. Ihr müsst euch ihre Stimmen einprägen und in eurem Kopf mit dem Händedruck, den ihr fühlt, verschmelzen. Währenddessen habt ihr, ohne dass ihr während der Begrüßung schon eure Blindheit offenzulegen müsst, genug Zeit, die eine Hand, also die Hand, die eure schon gefunden hat, mit euren beiden Händen herzlich zu umschließen. Danach könnt ihr mit dem ganzen Paket, das sich geformt aus Händen zwischen euch und den anderen Menschen befindet, agieren. Ihr braucht es dann nämlich einfach auf den nächsten Menschen, den ihr danach begrüßen wollt, zuzuschieben und eure Hand in die nächste zur Begrüßung bereits auf euch wartende Hand weiterreichen zu lassen. So lasst ihr euch dann einfach vom Ersten zum Nächsten weiter durchreichen, bis ihr euch mit allen bekannt gemacht habt.

„Wie, sie sind auch blind?“, platzte die erste wirklich misstrauische Frage wie aus einer Pistole geschossen aus dem Wachtmeister heraus, der noch immer mit meiner Mutter im Gespräch war. Oje, dachte ich schon zu dem Zeitpunkt, an dem meine Mutter die Begrüßung mit dem Herrn, auf dessen Fragen wir gerne verzichtet hätten, völlig verpatzt hatte. Mila und ich mussten uns jetzt schnell etwas einfallen lassen, um zu retten, was noch zu retten war. Spätestens jetzt war schließlich sonnenklar, dass der Polizist nun alle Details zu unserer Geschichte noch viel genauer als vorher hinterfragen würde. So dusslig konnte nur meine Mutter sein, und prompt hörte ich, dass er die Frage, die er meiner Mutter gestellt hatte, sogar noch kritischer nachschärfte. „Ich dachte, sie seien diejenige gewesen, die, die beiden blinden Ausreißerinnen zu uns hierhergeführt hat?“

„Nein, das war Mara und ich bin Mila …“, hörte ich meine Freundin plötzlich wie eine Versicherungsvertreterin, die kurz vor einem großen Deal steht, kraftvoll, aber mit einem hellen, freundlichen Klang, der Eis hätte schmelzen können, das Gespräch übernehmen. Am Trippeln meiner Mutter nahm ich wahr, dass Mila gerade dabei war, sich ganz dezent nach vorne an meiner Mutter vorbeizuschieben, weil sie den weiteren Ablauf der Begrüßung und insbesondere die Vorstellung ihrer Person auf ihre eigene Art gestalten wollte.
„Mila Hoxha, Herr Kommissar …“, sagte sie, und dann hörte ich, dass sie sich die beiden schon einen Augenblick später mit herzlichem Händeschütteln begrüßten.

„Ich kann ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich Christine, also Maras Mutter, dafür bin, dass sie uns hierher begleitet hat und dass sie uns dabei helfen will, unseren dummen Schülerstreich wieder ungeschehen werden zu lassen. Also so ungeschehen, wie das eben noch geht, nachdem man eingesehen hat, dass man einen Fehler begangen hat“, sagte Mila.

„Meiner Freundin Mara muss ich aber auch sehr dankbar sein, weil sie es war, die uns beide zu ihnen hierhergeführt hat, nachdem wir durch das offene Fenster ihre Sirenen gehört hatten. Wir wollten gerade bei ihrer Dienststelle anrufen, aber sie kamen uns ja schneller als die Feuerwehr zuvor, was ja auch kein Wunder ist, sie sind ja schließlich die Polizei. Unser Freund und Helfer, wie man so sagt, oder?“

„Und ich bin Mara“, sagte ich und schob mich vorsichtig vor Mila, die mir gleich die Hand des Kommissars so warmherzig weiterreichte, dass er uns schon deshalb eigentlich spontan in sein Herz geschlossen haben müsste. „Mara Müller, die Tochter meiner Mama Christine Müller. Jetzt kennen wir uns wenigstens schon mal so, dass wir auch eine Vorstellung von Ihnen haben, Herr Kommissar. Vielen Dank dafür, und sie müssen mir glauben, dass mir das alles auch unendlich leid tut. Eigentlich bin ich ja an dem allem schuld, weil ich kein Lob vertragen kann und dann schnell zum Tollpatsch werde. Bestimmt können sie sich das überhaupt nicht richtig vorstellen, wie sehr mich diese Buchpreisverleihung, vor der ich dann auch noch weggelaufen bin, belastet hat.

„Nun mal langsam und der Reihe nach bitte. Aber wegen eines Schülerstreiches werden wir bestimmt nicht mit dem großen Besteck weiter gegen zwei so nette Schülerinnen ermitteln. Soviel kann ich ihnen schon vorweg versichern, zumal sie ja ihren Fehler auch schon eingesehen und sich dafür auch schon glaubhaft bei mir entschuldigt haben. Wir sind eigentlich auch gar nicht ihretwegen hier, sondern wegen einer Sache, die eine viel größere Dimension hat“, sagte der Kommissar. Dann erzählte er uns sogar noch kurz davon, dass er sich in unserem Alter auch mal selbst einen Schülerstreich erlaubt hatte. Seine alte Geschichte sei dann so ausgegangen, dass er zur Strafe in den Ferien bei der Feuerwehr ganz alleine achtzig Paar Stiefel hatte putzen müssen, aber danach sei dann auch alles wieder gut gewesen. Das war richtig clever von dem Mann. Jedoch war Mila und mir natürlich sofort klar, dass er uns mit seiner alten Geschichte vor allem unsere Angst nehmen wollte, die wir bei Licht betrachtet eigentlich überhaupt nicht hatten, aber das wusste der Kommissar ja nicht, dass dem so war. Aber wir wussten, dass er sich auf diese Tour nur unser Vertrauen erschleichen wollte, weil er sich davon erhoffte, dann mehr Informationen aus uns herauskitzeln zu können. Das war uns beiden sofort sonnenklar. Deshalb wussten wir auch, dass wir uns während der weiteren Befragung gut vor ihm in Acht nehmen mussten. Doch dann war alles viel schneller vorbei, als wir uns das vorher hätten wünschen können. Der Kommissar deutete an, dass es um Rauschgiftschmuggel ging und die Polizei momentan wegen eines ungeklärten Unfalls an der Moorböschung von einer Art Bandenkrieg ausgehen musste. Nur als Mila auf ihren albanischen Namen Hoxha angesprochen wurde, spürte ich, dass mein Pulsschlag sich im selben Moment kurz beschleunigte. Aber Mila brachte so überzeugend rüber, dass es in ihrer Familie nur fleißig arbeitende Männer, ihre Mutter, den Hund und ein paar Katzen sowie einen uralten Lada gab. Außerdem sei ja außer ihr im Moment auch gar kein anderes Mitglied ihrer Familie mehr da, das an dem Unfall hätte beteiligt sein können. Alle außer ihr seien schon vor zwei Wochen in die Sommerferien nach Tirana gefahren, um den Verwandten dort in der Sommerhitze bei der Feldarbeit und beim Schafehüten zu helfen.

 

Vergangenheit

Dr. Elke Krassmann 

 

„Susanne Strassfeld wartet noch mit ihrer Mutter, Frau Professor. Dann wären wir für heute durch. Soll ich die beiden gleich reinholen?“, fragte Lena Trautmann, eine junge Assistenzärztin der Charité in Berlin, ihre Chefin. Frau Professor Krassmann – noch Mitte fünfzig – nahm ihre Brille ab, rieb sich ihre müden Augen und überflog dann gähnend die letzte Akte des heutigen Tages am Bildschirm ihres Computers.

„So spät noch eine neue Patientin?“, aber dann stutzte sie.

„Wie Lena? Ein bilaterales Retinoblastom, das erst im Alter von sechzehn Jahren ausgebrochen sein soll, das kommt mir aber sehr ungewöhnlich vor.“

„Ja, Frau Professor, sehr ungewöhnlich. Normalerweise fällt die Erkrankung so einer Patientin bereits viel früher durch weißlich schimmernde Pupillen auf späten Säuglings- oder frühen Kleinkindbildern auf. Aber die Mutter hat steif und fest behauptet, dass Susanne erst vor wenigen Wochen begonnen hat, darüber zu klagen, dass sie in der Schule Probleme damit habe, den Tafelanschrieb scharf sehen zu können. Aber auch das wirft Fragen auf, weil ihr rechtes Auge offensichtlich schon total kollabiert ist. Das sieht überhaupt nicht danach aus, als ob die Kleine nicht schon viel früher in einer augenärztlichen Praxis hätte vorgestellt werden müssen“, berichtete die Assistenzärztin, bevor sie an dieser Stelle von ihrer Professorin mit einem Handzeichen unterbrochen wurde.

„Ein Fall für eine Meldung an das Jugendamt?“, fragte die Chefin knapp dazwischen.

„Das wollten wir nicht alleine entscheiden. Da ist auch noch ein Junge dabei, der sich angeblich auch um das Mädchen kümmert.“

„Ein Junge? Hat unsere Patientin Geschwister?“, fragte die Professorin weiter nach.

„Nein, das nicht. Der Junge ist der Patientin, so wie wir das verstanden haben, wohl eher aus anderen Gründen wohlgesonnen. Er scheint ein Jugendlicher aus ihrer Nachbarschaft zu sein und wirkt ein paar Jahre älter als Susanne“, antwortete die Assistenzärztin ihrer Professorin.

„Gibt es noch weitere Dinge, die ich wissen sollte, bevor wir Susanne hereinholen?“, fragte die Professorin ungeduldig weiter.

„Nun ja, da war ja noch die Frage wegen des späten Ausbruches der Krankheit offen. Diese Angaben der Betroffenen haben wir auch schon anhand von alten Fotos so gut es ging gegengeprüft. Leider waren nur wenige Fotos von Susanne vorhanden. Die Familie scheint in schwierigen sozialen Verhältnissen zu leben. Es ist wirklich alles sehr merkwürdig, und wenn Susanne sich im Sportunterricht in der vergangenen Woche nicht ihren rechten Arm gebrochen hätte, wäre das Problem möglicherweise erst noch später erkannt worden“, erklärte die gut vorbereitete Assistentin ihrer Chefin.

„Also auch schon ein Verdacht auf Metastasen, Lena? … Deshalb auch die Dringlichkeit! Ich verstehe …“, sagte die Professorin müde, stützte ihre Ellenbogen auf die Schreibtischplatte und stieß einen kräftigen Atemstoß in ihre Handflächen, in die sie einen Augenblick vorher ihren Kopf hatte fallen lassen.

„Lena! … Haben wir denn wenigstens schon einen histologischen Befund von Susannes Arm?“, fragte Elke Krassmann mit erschöpft klingender Stimme weiter, in der eine gehörige Portion Machtlosigkeit mitklang.

„Nein, Frau Professor, die Mutter verdrängt die Fakten und hat alle weiteren Untersuchungen abgelehnt. Wir können von Glück sagen, dass die beiden wenigstens zu diesem Termin noch erschienen sind. Vermutlich sind sie auch nur deshalb hier, weil sie sich eine etwas fragwürdige Überweisung in eine russische Spezialklinik von ihnen erhoffen, die hier allerdings so gut wie unbekannt ist, das haben wir auch schon überprüft.“

„In eine russische Spezialklinik? Das wird ja immer mysteriöser. So wie sich das anhört, scheint das ja mehr ein Fall für die Agenten des Geheimdienstes zu werden als für das Jugendamt“, sagte die müde Professorin. Vermutlich wollte sie ihre Assistenzärztin und sich mit dem makaberen Scherz zu später Stunde noch etwas aufmuntern.

„Na dann holen sie die beiden halt mal rein. Dann werden wir ja gleich sehen, ob wir in dieser verfahrenen Situation noch helfen können“, sagte die Professorin, richtete sich auf und setzte sich die abgenommene Brille wieder auf ihre Nase.

„Ah, der junge Mann, der nicht zur Familie gehört, ist auch gleich mit hereingekommen?“, sagte die Professorin, als sie sah, dass außer ihrer Patientin und deren Mutter auch noch ein dicklicher Junge den Raum mit betreten hatte.

„Das ist Pawel, er hilft mir immer, wenn meine Mutter … äh … mal nicht so gut kann …“, antwortete Susanne mit einer frischen, klaren und für ihr Alter schon sehr gefestigt klingenden Stimme. Ihre Mutter sah dagegen erbärmlich, wackelig und grau aus. Im Gegensatz zu Susanne, die flotte, enge Jeans und ein ordentliches T-Shirt trug, sah ihre Mutter in ihrem viel zu großen Jogginganzug wie eine Vogelscheuche aus. Darüber hinaus stank die alt, grau und apathisch wirkende Frau Strassfeld auch noch sehr streng nach billigem Korn und abgestandenem Bier. Im Gegensatz zu ihrer Mutter machte Susanne dafür aber einen unerwartet guten ersten Eindruck. Sie war eine aufgeweckte junge Teenagerin, der man ihre sozial angespannten Verhältnisse, aus denen sie unbestreitbar kommen musste, weder ansah noch sonst wie anmerkte. Bis auf ihr rechtes Auge, das schon bei oberflächlichem Hinsehen ziemlich krank aussah, und ihren Gipsverband sah sie wie viele andere in ihrem Alter aus und war offensichtlich ein hübsches, sportliches und lebensfrohes Mädchen.

„Dann wird Pawel, bis wir hier fertig sind, besser draußen auf dich warten“, sagte Frau Prof. Krassmann sehr freundlich und gab Lena einen kleinen Wink.

„Wenn Pawel nicht bleiben darf, gehe ich auch gleich wieder“, antwortete Susanne schnell und machte dazu ein so bockiges Gesicht, dass allen Anwesenden schnell klar war, wie ernst sie es damit meinte.

„Ist er dein Freund?“, fragte die Professorin ihre kleine Patientin und bedeutete Lena mit einem schnellen Blick, der von einem fast unmerklichen Kopfschütteln begleitet war, abzuwarten.

„Zumindest nicht so, wie sie vielleicht gerade denken, Frau Doktor, aber Pawel ist der Einzige, der sich gut um mich kümmert, wenn ich mal wirklich Hilfe brauche.“

„Also gut, dann erzähle mir doch erstmal, was dir mit deinem Arm passiert ist?“, stieg Elke in die Anamnese ein.

„Hm, das war ein ganz komischer Unfall in der Turnstunde. Da ist mir bei einem Schwung am Barren ganz plötzlich einfach so wie aus heiterem Himmel mein Oberarmknochen mit einem dumpf berstenden ‚Knacks‘ weggeknickt. Das tat dann im selben Moment auch schon höllisch weh, aber ich hatte trotzdem noch Glück im Unglück, dass ich mich trotz der Schmerzen gerade noch abfangen und auf meinen Beinen halten konnte. Das wird aber schon wieder werden, mein Arm ist mir ja dann gleich nach dem Zwischenfall sofort vom Unfallarzt ordentlich eingegipst worden und tut mir seither nicht mal mehr wirklich weh. Wir sind eigentlich nur wegen meines linken Auges zu ihnen hierhergekommen …“

„Und was ist mit deinem rechten Auge? Tut dir das nicht auch höllisch weh?“, fragte die Ärztin ihre pubertierende Patientin vorsichtig weiter.

„Es ist wohl eine Art Krebs, für den ich eine Bestrahlung brauche, die man hier nicht gut machen kann“, sagte Susanne und sah die Professorin dabei mit ihrem linken Auge fest und entschlossen an.

„Wir können hier auch Bestrahlungen machen, Susanne, aber vorher möchte ich dich selbst erst noch einmal genau untersuchen, dass du davon nicht noch kränker wirst, als du es jetzt schon bist“, sagte Frau Krassmann sehr einfühlsam, um das Vertrauen ihrer Patientin zu gewinnen.

„Was wollen sie denn da noch viel untersuchen, Frau Professor? Ihre Spezialisten haben bei mir ein bilaterales Retinoblastom diagnostiziert und im Internet steht genau, dass die Symptome passen. Aber im Internet steht auch, welche Therapien dagegen empfohlen werden. Deshalb haben sie mich ja auch bestimmt nach meinem gebrochenen Arm gefragt, aber mir geht es wirklich nur um mein linkes Auge, der Rest ist mir im Moment total egal.“

„Susanne, ich weiß, wie schwer das für dich im Moment alles ist, aber es geht hier nicht mehr nur um deine Augen. Sondern jetzt geht es um deine Beine, deine Organe und um alles andere in deinem Körper, was im Moment hoffentlich noch nicht zu sehr von diesem Krebs befallen ist. Was soll das denn für eine Bestrahlung sein, an die du dich wie an einen rettenden Strohhalm klammerst? Wir können hier viel für dich tun, aber das ergibt alles nur einen Sinn, wenn du es selbst auch willst. Solange du dich gegen unseren Behandlungsvorschlag sträubst, können wir dir hier in dem Stadium, in dem du dich leider schon befindest, wirklich nicht mehr viel helfen“, sagte Elke Krassmann zu ihr und sah sie dabei ernst an. Eine so klare Antwort auf ihre taffe Frage hatte Susanne keineswegs erwartet, aber die deutlichen Worte taten ihr offenbar viel besser als das ganze Gerede um den heißen Brei herum.

„Pawels Cousin arbeitet in einer Forschungsanstalt in Russland, genauer gesagt in Luhansk, das ist eigentlich noch in der Ukraine, und dort gibt es ein Forschungsprogramm, das jungen Menschen, die wie ich an Augenkrebs erkrankt sind, viel besser mit neuen alternativen Therapien als den hier etablierten helfen soll. Sie arbeiten dort mit ganz neuen Technologien, die es hier noch nicht gibt. Deshalb will ich so schnell wie möglich mit ihrer oder auch ohne ihre Hilfe dorthin. Ich habe auch keine Zeit mehr für lange zusätzliche Untersuchungen. Seit einer Woche sehe ich nur noch Schwarz-Weiß und es wird von Tag zu Tag alles immer nebliger, wenn sie verstehen, was ich ihnen damit sagen will“, sagte Susanne. Sie sah die Professorin und ihre Assistentin mit ihren tränenden Augen flehentlich um Unterstützung bittend an.

„Und wohin soll ich dich überweisen?“, fragte die Professorin ihre tapfere junge Patientin diesmal etwas strenger und mit einem unwirsch klingenden Unterton in ihrer Stimme. Für Susanne klang sie in diesem Moment eher wie eine ungeduldige Mathematiklehrerin als eine Ärztin.

„Das klingt für mich mehr nach einer Legende als nach einer wissenschaftlich untermauerten Therapie, die wirklich seriös ist, Susanne“, fuhr die Professorin weiter fort. „Wenn du möchtest, schaue ich mir dein linkes Auge auch gerne noch einmal selbst an. Aber die Aufnahmen deiner Retina, die meine Kollegin in deiner Akte abgelegt hat, lassen, so wie du es schon selbst gesagt hast, eigentlich nur noch eine Therapie zu. Du wirst schon bald scheibchenweise weniger werden, wenn du uns jetzt nicht glaubst. Dieses Martyrium können wir dir hier in der Tat nur noch mit zwei schnellen Enukleationen deiner beiden Augen und einer zügigen Amputation deines rechten Armes ersparen. Begleitend müssten wir zusätzlich alles, was die moderne Medizin an Chemotherapien und Bestrahlungen zu bieten hat, einsetzen. Dein Leben mit guten Prognosen neu auf die Beine zu stellen, wird bestimmt nicht einfach werden. Dafür bist du einfach zu spät zu uns gekommen“, seufzte die Ärztin mitfühlend und streckte ihren Arm nach der unverbundenen Hand ihrer tapferen Patientin aus.

„Ich weiß, dass sie hier nicht mehr für mich tun können. Meine erste Anlaufstelle in Luhansk könnte die Corvis-Augenklinik sein, die ist auch hier bekannt. Ich hoffe, dass man mir dort schnell weiterhelfen kann. Außerdem wird Pawel mich begleiten. Er spricht ja nicht nur die dort üblichen Sprachen, sondern hat auch schon Kontakte zu den Leuten, die mir dort vielleicht doch noch rechtzeitig mehr als nur weiterhelfen können. Ich muss es nur schaffen, jetzt noch schnell genug dorthin zu kommen“, sagte Susanne.

„Es wäre verantwortungslos, dich auch noch darin zu bestärken, auf Wunder zu hoffen“, sagte die Professorin kopfschüttelnd. Dabei sah sie Susanne eindringlich, aber auch erkennbar resignierend an.

„Keine Überweisung?“, fragte Susanne.

„Nein, wozu auch? Die würde dir dort eh nichts nützen. Dort laufen die Dinge nicht wie hier. Dort wo du von einem Wunder träumst, herrschen Korruption und die Bevölkerung wird von russischen Separatisten terrorisiert. Das ist kein Ort zum Gesundwerden, dort werden Gesunde krank und nicht umgekehrt“, sagt die Professorin, stand auf und tätschelte ihrer Patientin, begleitet von einer großmütigen Geste, mit distanzierter Freundlichkeit zum Abschied noch einmal deren gesunde Hand.

„Haben wir denen damit wirklich geholfen, Frau Professor?“, fragte Lena, die von dem, was sie gehört und gesehen hatte, noch total geschockt war.

„Liebe Lena, wer so viel zu spät und in diesem Umfang wie Susanne metastasiert vorstellig wird, dem ist auch anders nicht mehr besser zu helfen. Außerdem kenne ich den Therapieansatz der Kollegen aus der Corvisklinik für solche Fälle“, sagte Elke und griff mit ihren beiden Händen nach Lena.

„Das Morphium, das sie ihr dort geben würden, könnte ihr vielleicht schneller und ohne lange physische und seelische Schmerzen helfen als die Chemotherapie, die wir ihr hier anbieten konnten. Aber dieser Ansatz steht hier nicht zur Debatte“, sagte die Professorin. Dabei strich sie ihrer Assistenzärztin, die sie jetzt mehr verblüfft als verständnislos anstarrte, kurz wissend über deren Handrücken. Kurz darauf verließ Krassmann die Klinik, während Lena noch am Fenster stand und die kühle Abendluft in sich aufsog. In ihre Gedanken versunken, starrte sie minutenlang in den schwarzen Himmel, der übersät war mit hellleuchtenden Sternen, die auf sie wie die bösartigen Zellen auf den Netzhäuten ihrer tapferen Patientin wirkten.

„Aber warum?“, fragte sich die Assistenzärztin, wischte sich über ihre geröteten Augen und dachte die Frage zu Ende. „Sie ist doch schon viel zu alt für diese Symptome.“ Während Lena weiter grübelte, verschloss sie die letzten Türen, schritt tief in ihre Gedanken versunken über den nächtlichen Parkplatz und stieg in ihren zitronengelben VW-Beetle ein, um nach diesem ungewöhnlichen Tag auch nachhause zu fahren und sich zu erholen.

Nebelgrab

Marvin

 

Den Tag, der sich zu Milas und meinem Höllentag entwickeln sollte, begann ich zunächst allein mit meiner Mutter als dumpfen, schweren Sommertag. Die Luft war trotz der Nacht früh morgens noch warm, schwül und stickig. Am Himmel schienen schwere, nasse Wolken zu hängen, deren Feuchte meine Mami und ich während unseres gemeinsamen Frühstücks ganz deutlich riechen konnten. Wir konnten aber auch deutlich hören, dass die Wolken schwer sein mussten, weil die Windchen, die an Tagen wie diesem wehten, bereits die sturmähnlichen Böen ankündigten, zu denen sie vor den Gewittern, nach denen sich alle schon sehnten, anschwellen würden. Mama und ich saßen auf dem kleinen Balkon, der nur über die Küche unserer Wohnung zugänglich war. Bei gutem Wetter war er der beste Ort, um begleitet von der Morgensonne in einen neuen Tag zu starten. Aber heute war kein gutes Wetter. Die Windchen zogen über die Gärten und strichen als leichte Lüftchen, die sich nicht lau, sondern eher wie ein Hauch aus einem alten Föhn anfühlten, über unsere Haut. Christine trank Tee, Johanniskrauttee und ich nippelte an einem doppelten Espresso herum, den ich so sehr gesüßt hatte, dass sich ein Teil des Zuckers in der wenigen Flüssigkeit überhaupt nicht mehr auflösen konnte. Die zu Boden gesunkenen Zuckerkristalle, die sich unten in meiner Tasse gesammelt hatten, waren aber auch von Vorteil. Ich liebte es nämlich, dass ich so einfach weiteren Espresso nachzapfen konnte, ohne immer wieder neu Zucker löffeln zu müssen. Auf diese Weise konnte ich so lange einfach immer wieder neu auf den alten Kaffee nachtanken, bis ich genug davon hatte.

„Zu viel starker Kaffee ist ungesund, Marv … entschuldige … Mara“, hörte ich meine Mutter in diesem weinerlich vorwurfsvollen Ton sagen, der mich immer ganz schnell voll blöd zu ihr werden ließ.

„Angst ist auch ungesund, ganz wenig davon kann sogar schon absolut tödlich wirken. Das ist nämlich so, weil Angst wie Gift wirkt, aber mein Zucker schmeckt süß, süß wie das Leben“, antwortete ich ihr darauf recht kurz angebunden, ohne dabei auf ihren dummen Versprecher näher einzugehen.
„Das Leben ist aber nicht so süß, wie du dir das vorstellst. Für welche wie uns wird es nämlich, auch wenn du das noch nicht einsehen willst, immer wieder zur reinen Hölle“, antwortete sie mir bitter und trank noch einen weiteren Schluck Tee. Bevor ich ihr auf den Schwachsinn, den sie da gerade von sich gegeben hatte, antworten wollte, holte ich tief Luft und biss in mein Croissant. Eine Spur der übergroßen Portion Nutella, die ich auf der Stelle, die ich gerade abgebissen hatte, aufgetürmt hatte, klebte süß an meinen Lippen. Während des Kauens dachte ich darüber nach, dass die Art und Weise, wie ich sie gerade angegangen hatte, vielleicht doch impulsiver und viel schroffer war, als sie das möglicherweise verdient hatte.

„Mama, bitte! Ich kann weder etwas dafür, dass du blind bist, noch kann ich es ändern, aber das ist auch überhaupt nicht dein wirkliches Problem und meines erst recht nicht. Dein Problem ist nur deine Angst, die dich isoliert hat. Sie hat dich einsam gemacht. Nur diese Angst, sie ist es, die sich in deinen Körper eingeschlichen und sich in deinem Gehirn wie Rauschgift ausgebreitet, verwurzelt und festgesetzt hat. Das hat dich verbittert gemacht und nicht deine Augen. Deine Augen sind so schön wie meine, aber im Gegensatz zu dir bin ich voll zufrieden damit, dass sie nur gut aussehen. Dass ich damit nichts sehen kann, ist halt einfach so und basta, das war’s! Aber im Gegensatz zu dir komme ich auch so, wie sie sind , gut klar, oft sogar besser als Sehende. Für Angst habe ich gar keinen Platz in meinem Hirn, weil ich noch ganz viele Sachen vorhabe zu machen, die mir mein Leben zu bieten hat. Genau das ist auch der Grund, weshalb ich nicht verstehe, warum du aus deinem Leben nicht auch etwas Gutes, etwas Schönes für dich machst“, sagte ich vielleicht etwas zu barsch zu ihr. Danach nippte ich wieder an meinem Espresso und wartete geduldig auf ihre Antwort.

„Ach Marvin, du hast gut reden in deinem jugendlichen Leichtsinn. Meine größten Sorgen mache ich mir noch immer um dich, deine Seele und dein gestörtes Verhältnis zu deinem Körper.

„Warum kannst du mich denn nicht endlich einfach nur in Ruhe lassen?“, schrie ich sie an und stapfte wütend auf den Boden. Dann sprang ich auf und lief polternd die alte Treppe zum Spitzboden hinauf. Oben angekommen verriegelte ich die klapprige Tür in der Hoffnung, dass sie mich wenigstens hier oben in Ruhe lassen würde, sofort von innen. Kaum, dass ich in den alten Federbetten unter den heute nur lauwarmen Ziegeln lag, rief ich Mila an, die sofort vorbeikommen wollte, weil sie schon vorher eine helfende Idee gehabt habe, die jedoch als Überraschung geplant wäre. Aber auch Milas Besuch sollte zunächst so schlecht, nein, sogar noch viel schlechter als der ganze beschissene Tag begonnen hatte, weitergehen.

„Wie Mila? Du willst mir echt nicht sagen, was da im Moor wirklich passiert ist? Hast du denn kein Vertrauen mehr zu mir? Schon deshalb, weil ich diejenige bin, die deine Uhr dort am Tatort gefunden hat, habe ich es erst recht nicht verdient, dass du mir plötzlich misstraust. Siehst du denn überhaupt nicht, dass ich mein Vertrauen und meine Loyalität dir gegenüber gerade in besonderem Umfang unter Beweis gestellt habe? Was glaubst du denn, wie es dir ergangen wäre, wenn ich deine Uhr nicht gerade noch rechtzeitig, bevor die Bluthunde von der Polizei gekommen sind, dort ausgebuddelt und mitgenommen hätte. Aber zum Dank dafür hast du jetzt plötzlich Geheimnisse vor mir, das fühlt sich echt prima an“, brüllte ich, obwohl mir die Tränen und mein Schluchzen fast meine Stimme nahmen.

„Nein, Mara, so ist das doch gar nicht. Das ist kein Misstrauen, wie kommst du denn auf so eine schwachsinnige Idee, es ist etwas ganz anderes", antwortete mir Mila genauso erregt und ihre Stimme hörte sich dabei nicht so enttäuscht wie meine, aber dafür total verzweifelt an.

„Sogar deine Lügengeschichte habe ich mitgetragen und ich weiß auch, dass du es warst, die an dem Morgen mit dem Moped in den Unfall verwickelt war. Das ist einfach nicht fair von dir, dass du mir plötzlich nicht mehr traust“, sagte ich und rollte mich mit Tränen in den Augen unter den Ziegeln wie ein Embryo zusammen. Die Lust auf den Sex mit Mila, auf den ich mich so sehr gefreut hatte, war mir inzwischen gehörig vergangen.

„Mara, nein, so ist das nicht. Nochmal, wie kommst du denn auf Misstrauen? Es ist einfach nur besser, wenn du nicht mehr davon erfährst, als du eh schon mitbekommen hast. Tim wollte es genauso wenig verstehen wie du, aber er hat mir am Ende wenigstens geglaubt, dass ich zu eurem Schutz schweigen werde, und genau dasselbe erwarte ich auch von dir“, sagte Mila und nahm mich tröstend in ihren Arm.

„Sind wir wirklich in Gefahr?“, fragte ich schluchzend zurück und erwiderte ihre zurückhaltenden Zärtlichkeiten auch wieder ganz vorsichtig. Schweigend streichelten wir uns. Das Streicheln fühlte sich aber ganz anders an als früher. Es war ein anderes Streicheln als das Streicheln, das mich bisher innerlich immer so aufwallend hat aufglühen lassen, bevor wir hier oben dann den besten Sex der Welt zusammen erlebt hatten. Mila war inzwischen sogar noch stärker als ich geworden. Und das, obwohl ich, was meine Selbständigkeit und mein Selbstwertgefühl anging, auch noch gehörig weiter zugelegt hatte. Irgendwann nickte ich schier unmerklich und stumm mit meinem Kopf, der mittlerweile ganz ruhig auf Milas von meinen Tränen noch nasser Haut zwischen ihren schönen Brüsten lag. Damit gab ich ihr zu verstehen, dass ich ihr Geheimnis tolerierte. Warum sie mir das Wenige, das ich vom ganzen Geschehen noch nicht wusste, partout nicht sagen wollte, verstand ich vor allem deshalb nicht, weil ich ja eh schon fast alles wusste. Aber mir war klar geworden, dass Mila dieses Mosaiksteinchen als ein streng gehütetes Geheimnis für sich behalten und ohne Not und Zwang wohl nie mit mir, Tim oder mit irgendeinem anderen Menschen teilen würde.

„Danke, Mara! Du darfst mir glauben, dass mir diese Geheimniskrämerei auch nicht leichter als dir fällt. Aber du musst mir einfach glauben, dass es so besser für uns alle ist“, und dann gab sie mir einen Kuss, der nach ewiger Freundschaft, aber auch ein bisschen nach Abschied schmeckte. Uns war beiden klar, was das bedeutete.

„Mara, Mila, wolltet ihr nicht schon längst im Bad sein?“, hörten wir meine Mutter von unten aus der Wohnung zu uns nach oben hochrufen und schlüpften kurz danach durch das immer schriller quietschende Türchen auf den Spitzboden hinaus.

„Da seid ihr ja schon“, sagte Christine erstaunt, als sie uns kurz darauf die knarrenden Stufen in unsere Wohnung hinab poltern hörte. Sie wunderte sich regelrecht darüber, wie schnell wir diesmal ohne vorher noch ein bisschen herumzuzicken auf ihre wie immer unnötige Ermahnung reagiert hatten.

„Wollten wir nicht schon in zwanzig Minuten los?“, fragte sie und fügte noch Weiteres hinzu. Aus ihrer Stimme konnten wir heraushören, dass sie Milas Einladung in das alte, klapprige Häuschen, in dem Mila viele Jahre zusammen mit ihrer Familie gelebt hatte, noch immer als etwas abenteuerlich oder sogar beängstigend empfand. Auch ich konnte die Ressentiments meiner Mutter diesmal etwas besser als sonst nachvollziehen, weil Mila nicht mal mir erzählen wollte, um welche Überraschungen es sich konkret handelte. Das Einzige, was ich aus ihr herauskitzeln konnte, war, dass sie sich zur Bereicherung meines Verhältnisses zu meiner Mutter eine Art „Höllenparty“, die sie dort heute für uns drei ausrichten wollte, überlegt hatte. Eine Höllenparty und ein weiteres Geheimnis. Mila hatte sich quasi über Nacht so extrem verändert, dass mittlerweile selbst ich nicht mehr schlau aus ihr wurde und deshalb das, was sie dachte und auch das, was sie tat, nicht mehr so wie früher deuten konnte. Bis zu dem Tag, an dem sich alles neu gefügt hatte, war mir nicht die geringste Veränderung an ihr aufgefallen. Aber schon am Tag danach war klar, dass nicht nur Mila sich verändert hatte, sondern dass alles um sie herum mit in Bewegung geraten war.

„Plopp …!“ hallte eine halbe Stunde später der Sektkorken, den Mila zu unserer Begrüßung laut knallen ließ. Er zischte durch die flirrend heiße, aber noch immer dicke Luft des schwülen Sommertags, der trotz seiner Feuchte zu glühen schien, und das Echo hallte von den Wänden weit entfernter Häuser nur leise über den verwilderten Garten zurück. Es war ein abenteuerlicher Garten. Er kam mir oft wie eine Mischung aus Dornröschens Märchengarten und einer kolumbianischen Cannabisfarm vor. Die verbotenen Pflanzen befanden sich irgendwo ganz tief drinnen, umgeben von einer Art Urwald, bestehend aus einem nach außen duftenden Dickicht wilder, dorniger Büsche. Durch das vor Blicken schützende Gestrüpp gab es aber verborgene Wege. Man konnte sich auf fast ganz zugewachsenen Pfaden, die sich zwischen feindselig abschreckenden Dornen durch die wild verwucherte Feuchte wandten, tief ins Innere dieses Dickichts schleichen. Auf dem Weg dorthin fühlten wir uns von einer faul und modrig riechenden Schwere umgeben, die sich total gruselig anfühlte. Mila und ich liebten uns im Sommer oft auf einer der vielen Lichtungen zwischen berauschenden Gewächsen, die im Inneren des Wildwuchses bestens vor jeglichen Blicken Fremder geschützt gut in der wärmenden Sonne gediehen. Aber heute hatte Mila auf einer der bereits abgeernteten Lichtungen tief drin in dieser unheimlich anmutenden Wildnis ein kleines Buffet sowie Tische und Stühle aufgebaut. Meine Mutter und ich hatten, während sie uns zu dem Tisch mit dem Sektkübel, aus dem Mila die Flasche herausnahm, flauschige Decken durch unsere Fußsohlen hindurch entdeckt. Einige Eisstückchen waren während des schwungvollen Zurückstellens der Flasche aus dem Kübel herausgesprungen und mit leisen Geräuschen auf der Tischdecke gelandet, mit der Mila den Tisch festlich geschmückt hatte. Über dem weichen, vermoosten Gras, auf dem die Decken von Mila ausgelegt worden waren, luden sie schon beim darüber hinweglaufen zum Hinlegen für ein gemütliches Nickerchen in der Sonne ein. Aber dass das alles noch nicht die eigentliche Überraschung war, die Mila für meine Mutter und mich vorbereitet hatte, sollten wir erst später merken. Mila wollte uns zuerst in aller Ruhe mit dem erfrischend prickelnden Nass, das sie in dünne, hohe Sektflöten gegossen hatte, in der wärmenden Sonne willkommen heißen und uns ganz entspannt bei ihr ankommen lassen.

„Hier, Christine, für dich“, hörte ich Mila sagen und bediente mich selbst an dem Sekt, der für mich bestimmt war, ebenfalls von dem kleinen Tisch. Das war ganz einfach, weil sich das Glas, das Mila schon vorher für mich voll geschenkt hatte, ganz nahe bei der Sektflasche befinden musste. Durch ein prickelndes Blubbern verriet mir mein Glas, wo ich es ohne fremde Hilfe selbst finden konnte.

„Oje, so früh, schon so viel Alkohol und das auch noch in der prallen Sonne“, hörte ich meine Mutter, die sich gleich wieder als Spaßbremse outete, sagen.
„Ach je, Christine, trink einfach mit und gönn dir doch auch mal ein bisschen Entspannung, bevor du gleich wieder zu ängstlich bist“, sagte Mila und klirrte mit ihrem Glas aufmunternd gegen das Glas meiner Mutter.

„Sei doch nicht immer so ängstlich, Christina“, sagte Mila. „Das ist schnell gesagt, mir steckt noch immer das kalte Grausen von dem Marsch durch diese fauligen, stinkenden Pflanzen in meinen Knochen“, antwortete ihr meine Mutter darauf mit dünner Stimme.

„Kein Wunder, Mama, du hast eben noch nie an deiner Amygdala gearbeitet“, sagte ich grinsend und klirrte mit meinem Glas, zuerst mit ihr und dann mit Mila. Zu meinem Erstaunen hörte ich, dass meine Mami danach einen mehr als kräftigen Schluck aus ihrem Glas nahm und diesen sogleich hinunterschluckte. Mila reichte ein Tellerchen mit Spießchen herum, an deren Enden mit rohem Schinken umwickelte Feigenstückchen aufgepickt waren. Außer den Feigen gab es auch noch Spieße mit schwarzen Oliven und gebeiztem Lachs sowie welche mit grünen Oliven und Käse.

„Ihr dürft jetzt nicht gleich erschrecken“, sagte Mila, ließ uns ihre Hände um unsere Taillen herum auf unsere Rücken gleiten und führte uns zu einem anderen Tischchen, das etwas im Abseits stand.

„Ist das etwa eine Urne?“, schrie meine Mutter kurz darauf hysterisch auf, riss sich von uns los und rannte wie von einer Tarantel gestochen einfach irgendwohin los. Sie kam nur wenige Schritte weit, bis wir hörten, dass sie über etwas am Boden Liegendes gestolpert war und der Länge nach ins weiche, moosige Gras plumpste. Mila wuselte kurz zurück und huschte mit der Sektflasche in der Hand auf meine Mutter zu, während ich den Gegenstand, den meine Mutter eine Urne nannte, genauer inspizierte. Für eine futuristische Suppenschüssel war das Ding, dessen Keramikoberfläche spiegelglatt glasiert war, zu hoch. Ein Rumtopf fühlte sich auch anders an, aber dann fand ich im Inneren eine Kapsel. Die Kapsel war zum Glück leer, denn es war wirklich eine Urne. Eine Urne, die man nur dafür hergestellt hatte, um darin die Asche von verbrannten Menschen würdevoll zu bestatten.

„Oh Gott, Mila, das ist ja wirklich eine Urne!“, schrie auch ich nun auch völlig entsetzt auf und eilte ihr nach zu meiner armen Mutter. Sie lag, wie vom Schüttelfrost heimgesucht, mit Mila im Gras und klammerte sich wimmernd an meine Freundin, die inzwischen einen wohl wirklich sehr eigenartigen Humor entwickelt hatte.

„Ja, klar ist das eine Urne. Eine Urne, in der wir heute Marvin so bestatten werden, dass er hier verborgen vor der Welt seine ewige Ruhe finden wird. So können wir ihn in Frieden gehen lassen. Ohne uns und ohne dass wir ihn ganz vergessen müssen. Auf diese Weise werden wir uns und ihn für immer von ihm befreien. Dann können wir uns zukünftig unbelastet und unbeschwert daran erfreuen, dass Christine über ihn ihre Tochter Mara geboren hat“, sagte Mila und redete dabei so Trost und Friedens-spendend, wie es eine Pastorin nicht besser hätte tun können. Bevor ich etwas dazu antworten konnte, bemerkte ich den Gegenstand, über den meine Mutter gestolpert war, und erkannte den Stil einer Schaufel.

„Offensichtlich hast du mir ja auch schon mein Grab geschaufelt“, sagte ich keck, nachdem ich das Loch gefunden hatte, das Mila schon für die Bestattung meiner Urne vorbereitet hatte, und war über alles glücklich mit der Überraschung. Mara hatte sich das alles nur ausgedacht, um meiner Mutter für alle Zeiten klarzumachen, dass es ihren Marvin in Zukunft auch für sie nicht mehr geben würde. Dann hörte ich, dass meine Mutter den Sekt, den Mila ihr jetzt aus der Flasche einflößte, fast schon gierig schluckte, und legte mich zu den beiden mit ins Gras. Die Sonne brannte trotz der Schwüle wie aus einem Brennglas auf uns nieder, während Mila sowohl den Durst meiner Mutter als auch ihre Angst mit weiterem Champagner so lange ablöschte, bis sich ihre Aufregung wieder abgekühlt hatte. Nach einer Weile war sie so schläfrig geworden, dass sie sogar anfing, leise zu schnarchen.

„Hey Mila, was hast du denn jetzt noch vor?“, fragte ich meine Freundin, als sie anfing, mich wie früher an diesem Ort zärtlich zu entkleiden. „Meinst du wirklich, dass sie so tief schläft, dass wir das, was du hier gerade vorhast, wirklich wagen können?“, flüsterte ich. Danach sagte ich nichts mehr, weil Körpersprache das, was ich in diesem Moment zu sagen hatte, viel besser als verbale Sprache zum Ausdruck bringen konnte. Mila merkte sofort, was ich ihr mitteilen wollte, als ich meine Arme so zum Himmel reckte, dass sie mir mein Shirt ausziehen und mir meinen entblößten kleinen Busen nackt in die Sonne liebkosen konnte.

„Willst du wirklich weiter raten, was ich heute noch mit dir vorhabe?“, fragte Mila mich mit einem verschwörerischen Unterton in ihrer Stimme.

„Ohh, also noch nicht gleich Sex?“, fragte ich etwas enttäuscht zurück.

„Nein, keinen Sex. Als Nächstes feiern wir Geburtstag und danach brauchen wir für Marvins Bestattung noch seine Asche“, sagte Mila und stand auf. Gleich darauf kam Mila mit einem großen Paket, auf dem sich eine riesige Schleife befand, zu mir zurück. „Aufmachen darfst du es aber erst, nachdem Christine ihren kleinen Rausch ausgeschlafen hat“, hörte ich Mila dazu kichernd sagen.

„Wie, du willst tatsächlich mein altes ‚Ich‘, das es nie gab, verbrennen?“, fragte ich sie total perplex.

„Lass dich doch einfach überraschen, du Süße“, hörte ich sie sagen und spürte, dass sie mir dabei ganz zärtlich meine viel zu maskulinen Jeans mitsamt meines Schlüpfers abstreifte, sodass ich danach splitternackt neben ihr in der Sonne im Gras lag. Eng umschlungen dösten wir dann, begleitet vom leisen Schnarchen meiner Mutter, auch ein.

„Hey, was treibt ihr beiden denn da?“, fragte ich, als ich von einem Prasseln, das im ersten Moment wie Regen klang, aufwachte und meine Mutter mit Christine etwas tuscheln hörte, während sie zusammen an dem Erdloch herumwerkelten.

„Wir bereiten Marvins Einäscherung vor“, hörte ich dann plötzlich meine Mama sagen, die bei dem, was sie mit Mila gerade tat, weder ängstlich noch traurig klang.

„Wie bitte?“, fragte ich leicht verstört, richtete mich auf und wischte mir den Schlaf aus meinen Augen.

„Du hast schon richtig gehört“, antwortete mir Mila vergnügt und fügte hinzu, dass meine Mami jetzt auch an ihrer Amygdala arbeite, nachdem sie ihr, während ich noch schlief, erklärt hatte, was das ist und wozu es gut ist.

„Wir warten schon ganz gespannt auf mein Geburtstagskind, das jetzt endlich aus seinem Dornröschenschlaf aufgewacht zu sein scheint“, hörte ich meine Mami sagen und wollte kaum glauben, was sie während Milas Höllenevent in wenigen Stunden für eine Wandlung erfahren hatte. Kurz danach spürte ich, dass sie sich liebevoll an meinen nassgeschwitzten Körper kuschelte und inzwischen so splitternackt war wie ich.

Lichtblick

Susi

 

„Ratt ratt … ratt ratt … ratt ratt …“, summte Susanne leise mit dem Takt des Zuges mit, in dem sie auf der Fahrt nach Luhansk mit Pawel saß. Die Fahrgeräusche des Waggons hämmerten sich zusehends in ihren unruhigen Schlaf.

In der rabenschwarzen Nacht, die mir unendlich lang vorkam, hämmerte sich in unzähliger Wiederholung das rhythmische Geräusch von den rollenden Rädern des Nachtzuges derb in mein Gehirn. Der Wahn, der mir im Traum Hammerschläge suggerierte, mit denen mir mit derbem Donnern rostige Nägel durch meine zwei Augäpfel hindurch in meinen Schädel getrieben wurden, erschien mir schon fast real. Im Moment meines Erwachens glaubte ich einen kurzen Augenblick lang tatsächlich, dass die Russen das nur täten, um mich auf eine so schreckliche Art bis an das Ende meiner Tage zu blenden. Ich träumte, dass sie das aus purem Hass täten, weil sie alle Frauen in der Ukraine genauso wie dieses brave Land hassten. Die Russen, von denen ich träumte, nahm ich noch gemeiner als meine Krankheit wahr, die dabei war, mir auf widerliche Art mein Augenlicht zu stehlen. Aber das, was ich von den Russen träumte, war noch schlimmer, weil sie das alles absichtlich mit eiskalter Brutalität machten, um das unschuldige Volk zu zermürben und alle Menschen dort mit ihren Gräueltaten zu knechten. Schweißnass und von einem Schüttelfrost, der mich sowohl aus Angst vor dem, was ich noch vor mir hatte, heimsuchte als auch wegen der zugigen Kälte, die überall herrschte, schrak ich irgendwann endlich aus meinem Albtraum auf. Zum Glück spürte ich dann gleich wieder Pawels fürsorgliche Nähe und erinnerte mich daran, dass wir uns zwar schon im sogenannten Feindesland befanden, was aber mehr ein politisches als ein persönliches Problem für mich als Ausländerin sein sollte. Vor knapp dreißig Minuten hatten wir mit dem Zug eine Grenze passiert, die eigentlich gar keine war, zumindest völkerrechtlich betrachtet war sie das auf jeden Fall nicht. Mein Herz raste noch ein paar Sekunden ungebremst vor Angst weiter, obwohl Pawel mich beruhigend in seinem Arm hielt und behutsam streichelte. Dann schlug ich verschlafen meine Augen auf und war froh, dass ich Pawels Gesicht zwar verwaschen, aber dennoch deutlicher als während meines Albtraums so ähnlich wie auf einem alten, vergilbten Foto vor mir sehen konnte. Es war also noch nicht zu spät und wir waren schon fast am Ziel unserer gewagten Reise angekommen. Als mir bewusst wurde, dass wir uns schon kurz vor Luhansk, also schon mitten im russischen Separatistengebiet befanden, fiel mir zunächst ein Stein vom Herzen. Denn in diesem Moment verwandelte sich meine Angst um mein in Berlin schon rettungslos verloren geglaubtes Augenlicht von einer Sekunde auf die andere wieder in Hoffnung.

„Keine Angst, Susi“, hörte ich meinen großen Freund sagen und genoss es, wie zärtlich mein Pawel mir die Reste des kalten Angstschweißes von meiner Stirn tupfte. Wenige Minuten später holperte unser Zug in den Bahnhof der ostukrainischen Stadt ein. Plötzlich graute es mir trotz der Hilfe, die ich mir hier von Pawels Freunden erhoffte, jetzt aber dennoch vor dem Aussteigen. Nein, nicht nur wegen der Hilfe, es war ja viel, viel mehr als Hilfe, was Pawel hier für mich tat, es war Rettung. Rettung in letzter Sekunde, aber nur, wenn ich viel Glück haben sollte. Das, was man über die russischen Separatisten, die über die von Russland vor kurzem gekaperte Schwarzmeerinsel Krim hier wie Terroristen, die im Untergrund agierten, wusste, hörte sich nämlich trotz der Hoffnung, weiter unbeschwert sehen zu können, dennoch sehr beängstigend an.

„Vielleicht hätte ich mich doch besser in Berlin operieren lassen sollen?“, flüsterte ich zweifelnd und von neu aufflammender Angst vor den Gefahren, die hier überall auf uns lauerten, unsicher in Pawels rechtes Ohr.

„Aber Susi, nein! Die Chirurgin dort hätte dich doch auf der Stelle sofort restlos blind gemacht, hast du das etwa vor lauter Angst um dein Leben denn etwa schon wieder vergessen?“, antwortete ihr Pawel mit besorgter Stimme und wühlte in Susis Bauchtasche herum, wo sich ihr Spray befinden musste. Susis zunehmende Vergesslichkeit, ihre Angstattacken und ihre extremen Gefühlsschwankungen beunruhigten ihn zusehends, obwohl er die Ursache dafür schon lange sehr genau kannte.

„Pffffffssssst … pfffffsssssst …“, strömte das Aerosol, das Pawel mir schon vor einem halben Jahr von seinen russischen Freunden mitgebracht hatte, in meinen Rachen. Am Anfang hatte alle paar Tage ein winziger, ganz kurzer Sprühstoß von dem Zeug ausgereicht, um mich von den Konzentrationsstörungen zu befreien, die mir seit Anfang des neuen Schuljahres in der Schule so sehr zu schaffen gemacht hatten. Erst als dann Wochen später noch die nervliche Belastung durch meine neue mysteriöse Augenkrankheit hinzukam, wollte ich die Dosis dann immer schneller, sogar viel mehr als Pawel mir das geraten hatte, erhöhen. Aber Pawel tat trotzdem immer noch so, als ob er selbst auch total davon überzeugt sei, dass er mir, seinem Mädchen, mit dieser Medizin auch wirklich helfen würde.

„Vielleicht wäre ein Leben ohne richtige Augen ja doch das geringere Übel gewesen, als mich hier in der Fremde von einer Bombe zerfetzen zu lassen?“, blaffte ich, nachdem ich gerade wieder frisch inhaliert hatte, Pawel angriffslustig und mit neuer Energie vollgetankt trotzig an. Durch die Medizin war ich von einem Augenblick auf den anderen wieder stark geworden und weil es mir nun wieder ganz gut ging, fühlte ich mich auch wieder so furchtlos aggressiv, wie ich auftrat. Aber auch, dass diese Stadt hier seit jüngster Zeit nur noch von Angst und Schrecken regiert wurde, machte mir, so aufgeputscht, wie ich mich jetzt nach der Inhalation meiner Medizin wieder fühlte, genauso wenig wie meine drohende Erblindung aus. Auf Pawel war eben immer Verlass, egal ob es um eine gute Medizin oder ein Abenteuer in der Hölle ging. Während die Bremsen unseres Zuges schon laut kreischten und uns den Halt unseres Zuges im Bahnhof ankündigten, half Pawel mir zuerst damit, mir meinen großen schweren Rucksack aufzusetzen, bevor er sich um sein eigenes Gepäck kümmerte. Kurz darauf schleifte mich Pawel an meinem unverletzten Arm, so schnell er konnte hinter sich her durch das Gedränge hindurch, das draußen auf dem Bahnsteig herrschte. Überraschenderweise vermittelte er mir jetzt plötzlich von sich selbst dieses unsichere Gefühl, das ich dank der Medizin gerade wieder losgeworden war. Das kam bei ihm von einem Moment auf den anderen und ich spürte es ganz deutlich daran, dass er sich plötzlich total gehetzt verhielt. Im Gegensatz zu ihm fühlte ich mich jetzt aber nicht nur voll cool, sondern die abenteuerliche Stimmung putschte mich tief in meinem Inneren so auf, dass ich wieder diese besondere trotzig-sarkastische Kampflust in mir verspürte. Das Beste an der Wundermedizin, die Pawel in den letzten Monaten immer wieder für mich besorgte, war nämlich, dass sie mich in solchen Situationen so stark machte, dass ich mich unbesiegbar fühlte. Ich fühlte mich auch überhaupt nicht gehetzt, nur Pawel, den ich bisher immer nur ausgeglichen und souverän erlebt hatte, schien jetzt selbst auch etwas von dieser Medizin zu brauchen, die mir immer so gut half. Während ich so hinter ihm hersprang, behinderte mich zwar mein eingegipster Arm noch mehr als sonst, wenn ich nur mit normaler Gehgeschwindigkeit unterwegs war, aber auch das nahm ich jetzt nicht mehr so beschwerlich, wie es eigentlich sein sollte, wahr. Die skurrilen Eindrücke, die mir mein letztes funktionierendes Auge von der Realität der allgegenwärtigen Aufpasser vermittelte, waren alles andere als vertrauenerweckend. Aber wenn sie sich trauen würden, meinen Pawel und mich aufzuhalten, würden sie mit mir ihr blaues Wunder erleben. Dessen war ich mir im Moment absolut sicher und fest entschlossen, alles, was ich dazu beitragen konnte, zu tun, wenn es uns dabei half, uns weiter so wie geplant durchzuschlagen, um unser Ziel zu erreichen.

„Pawel! … Nein, was machst du denn?", schrie ich laut auf, schaffte es aber trotz blitzschneller Reaktion nicht mehr, einen Haken, um den vor mir Stürzenden zu schlagen, und stolperte selbst so schwer über Pawels Beine, dass ich ebenfalls ungebremst zu Boden ging. Zum Glück waren unsere Rucksäcke, die wir während des Stürzens beide verloren hatten, heil geblieben, sodass unsere darin verpackten Sachen nicht einzeln auf dem Bahnsteig herumlagen. Dummerweise war mir aber meine Bauchtasche aufgeplatzt. Alle meine wichtigen Kleinigkeiten wie Lippenstift, Tempos, meine Geldbörse sowie zwei Tampons, die ich zur Sicherheit immer mit dabei hatte, lagen um uns herum auf den schmierigen, übel riechenden Bodenplatten herum, an denen alles festzukleben schien. Das Licht war so schlecht, dass ich mit meinem halb kaputten Auge die Position der Kleinigkeiten nur noch schemenhaft erahnen konnte, aber das Allerwichtigste war es jetzt, ganz schnell die Sprühflasche mit der Medizin zu finden. Die Menschen, durch die wir uns vor Sekunden noch hindurchdrängeln mussten, waren auseinander gestoben. Aus der Ferne hörte ich schon die Stiefel von Soldaten auf uns zu trampeln. Die Soldaten hatte ich vorher noch in einer Ecke der Bahnhofshalle gelangweilt rauchend, erhellt von einem Lichtschein, der dort in der Ecke durch ein zerbrochenes Fenster hereinschien, stehen sehen. Zum Glück konnte ich im selben Moment, in dem dunklen, schmierigen Grau, das mich umgab, einen Schatten der Sprühflasche erhaschen. So schnell wie möglich und so gut, wie ich das mit meinen vom Sturz verschürften Fingern noch konnte, tastete ich nach der Medizin, die ich jetzt dringend für Pawel brauchte, bevor die herannahenden Soldaten uns erreichen würden. Als ich das längliche Döschen schon fast erwischt hatte, rollte es dann aber doch noch einmal klackernd über die Fugen der ekligen Bodenplatten noch weiter von mir weg. Das lag daran, weil ich es, bevor ich es richtig greifen konnte, nur mit meinem Handrücken berührt und dummerweise damit sogar noch weiter von mir weggeschubst hatte. Aber jetzt konnte ich wenigstens genau hören, welcher von den Schatten das wichtige Döschen war und wo es sich gerade befand. Weil ich wusste, dass ich es nur so lange hören konnte, wie es noch in Bewegung war, und weil ich mich auch wegen der auf uns zurennenden Soldaten sputen musste, hechtete ich mit einem gewagten Sprung auf das Geräusch zu. Einen Moment später bekam ich die Medizin dann endlich doch noch sicher zu fassen und hoffte, dass es noch nicht zu spät war.
„Susi, wo bist du?“, hörte ich Pawel hinter mir mit zitternder Stimme wimmern und stürmte mit der Medizin in der Hand auf ihn zu.

„Pffffffssssst … pfffffsssssst …… pfffffffffssssssssssst …“ strömte das Aerosol diesmal zum ersten Mal auch in Pawels Lungen. Aus der in mir aufkommenden Angst heraus, dass sich die Wirkung nicht rechtzeitig entfalten könnte, hatte ich den Sprühstoß viel höher als üblich dosiert, obwohl Pawel mich vom ersten Tag an sehr eindringlich vor solchen panikbedingten Überdosierungen gewarnt hatte. Als ich Sekundenbruchteile später sah, dass Pawel schon, bevor ich die Sprühflasche von seinen Lippen genommen hatte, seine souveränen und tapferen Lebensgeister schon wieder so verlässlich spürte, dass er sich tatkräftig und ohne fremde Hilfe wieder selbständig aufgerappelt hatte, bevor uns die so unheilvoll klingenden Soldaten erreichen konnten, wäre ich am liebsten spontan in Freudentränen ausgebrochen. Außerdem war ich auch auf mich selbst ein bisschen stolz darauf, dass ich in dieser brenzligen Situation in letzter Sekunde mit der Medizin für Pawel ganz offensichtlich die einzig richtige Entscheidung getroffen hatte.

 

Nebeltunte

Marvin

 

„Burger-Buffet!“, rief Kai erfreut, der sich wie fast immer als Erster dazu berufen fühlte, in den Raum posaunen zu müssen, was es an diesem Abend zu essen gab.

„Hab ich schon vor zehn Minuten gewusst“, brummelte ich halblaut vor mich hin.

„Das ist meistens so, wenn es in unserer Wohngemeinschaft mal wieder etwas Neues zu entdecken gibt“, flüsterte Tina, die neben mir stand, spontan zu mir zurück.

„Das war ja klar, dass Kai wieder die erste Geige spielen und sich entsprechend seiner ungehobelten Art egal womit auch immer unangebracht profilieren will“, rief Laura und stürmte ihm hinterher, rempelte an einen Stuhl, der im Weg stand, aber ließ sich von dem Missgeschick nicht nennenswert in ihrer Dynamik bremsen.

„Dass du dein Essen nicht wie die beiden Draufgänger antatschen musst, bevor du weißt, was auf deinem Teller ist, Marvin, spricht für dich und für gesellschaftsfähige Tischmanieren“, flüsterte Tina, deren Stimme sympathisch, ruhig und viel besonnener als die der anderen klang, zu mir, dem Neuen so zurück, dass ich ein kopfschüttelndes Grinsen heraushören konnte.

„Das klingt so, als ob du auch eine bessere Nase als die beiden Schreihälse und mehr Fingerspitzengefühl als sie hast, Tina. Ist der immer so stillos unterwegs, wie er sich anhört?", beantwortete ich ihre Frage mit einer Gegenfrage und tastete dabei vorsichtig nach ihrem Ellenbogen.

„Warte Marvin, wenn die sitzen, zeige ich dir, wo hier was ist. Dann ist da vorne Platz, und wenn sie den Mund voll haben, sind sie nicht nur gut beschäftigt, sondern halten dann auch ihre Klappen. Bei Typen wie Kai ist Hopfen und Malz verloren, da hilt nur fernhalten und ignorieren“, sagte Tina kichernd und zog mich kurz darauf sicher mit sich fort.

„Ich helfe dir auch gern“, sagte Samir, der mir als Assistent zugewiesen worden war und als Germanistikstudent aus Damaskus ein tolles Deutsch sprechen konnte, obwohl er ein sogenannter Flüchtling war.

„Nee, danke, Samir, ist nicht nötig, wir kommen auch so gut klar. Wenn ich Hilfe brauche, melde ich mich bei dir. Mir ist es im Moment wichtiger, hier alle selbst kennenzulernen“, sagte ich freundlich, aber so, dass klar war, dass ich schon eigene Vorstellungen hatte, wie ich hier ankommen wollte. Tina musste mir auch nicht wirklich viel helfen. Ich hörte ja, was sie, die genau vor mir stand, mit dem Burger auf ihrem Teller tat. Sogar die Flaschen mit den Saucen waren alle perfekt mit Braille beschriftet, nur für den Rückweg zum Tisch war ich dann doch dankbar für Tinas Arm und freute mich, dass sie mir direkt neben sich einen leeren Stuhl zeigte.

„Schau an, der Marvin, der Spitzbube, hat sich schon an unsere Kühle aus dem hohen Norden herangepirscht“, tönte Kai mit vollem Mund schräg über den Tisch.

„Klar, und später schließen wir die Tür von innen ab und du darfst bei Laura im Zimmer in meinem Bettchen schlafen. Dann darfst du ihr ein Schlafliedchen singen, während wir was für Große in eurem Zimmer machen“, sagte Tina so kühl und trocken, als würde sie gerade den Wetterbericht zitieren.

„Fick dich doch selbst, Tina!“, blaffte Kai streitbereit in die Runde und biss wieder in seinen Burger.

„Hey! So bitte nicht! Etwas mehr Stil beim Essen ist nicht zu viel verlangt“, schaltete sich Gotthold, der Sozialarbeiter, mit einer strengen Warnung an Kai und Tina ein. Mir graute jetzt noch mehr davor, dass ich später mit Kai zum Schlafen in eines der Jungenzimmer gehen musste.

„Ich glaube nicht, dass Tina diesen Streit gesucht hat“, sagte ich laut und deutlich in die fremde Runde und war gespannt auf die Reaktionen.

„Wenn ihr euch benehmt, ist alles ok“, sagte Gotthold mit einem weniger strengen Unterton und aß weiter, ohne das Ganze noch mehr zu eskalieren. Ich wollte es fast nicht glauben, dass keiner der kleinen Gruppe noch etwas Vernünftiges zu dem Vorfall sagte, aber es war tatsächlich so, dass das restliche Gespräch sich als Smalltalk über eine Vielzahl von Belanglosigkeiten entwickelte. Nach dem Essen zeigte Tina mir ein taktiles Modell vom Internat und erklärte mir, wo wir uns befanden und wo welche Gruppen ihre Zimmer hatten. Danach gingen wir in die Küche, um Tee zu kochen, und Tina erklärte mir auf einem taktilen Stadtplan die Stadt Marburg, in der ich mich jetzt bis auf Weiteres so schnell wie möglich selbst zurechtfinden wollte.

„Hast du von dem Flirt beim Essen noch einen Steifen?“, fragte mich Kai während des Zähneputzens streitlustig von der Seite und provozierte mich erneut mit seinem pubertären Machogehabe. Ohne meine Antwort noch groß überdacht zu haben, regelte ich das Ganze dann aber ganz spontan auf meine Art.

„Ich wüsste nicht, warum ich mich im Moment sonderlich erregt fühlen sollte. Warum fragst du?“ antwortete ich ihm und gab mich dabei total gelangweilt.

„Weil die Tina ’ne voll scharfe Braut ist, an die vor dir noch keiner so richtig herankam. Aber du stehst wohl mehr auf Tee trinken, was?“

„Klar, ich bin nämlich auch so ’ne langweilige Teetante wie Tina“, bemerkte ich schnippisch, packte mein Zeug und ließ ihn einfach stehen. Unser Jungenzimmer war schräg gegenüber vom Jungenbad und als Kai erschien, lag ich schon in meinem Bett. Unter meiner Decke, in die ich mich eingerollt und sie mir über den Kopf gezogen hatte hörte ich, dass er nicht alleine zurückgekommen war und die Meute, die ihn begleitete Bierflaschen klirren ließ. Dass sie über mich tuschelten, war mir egal und dass sich keiner von ihnen traute, mich vor dem kommenden Morgen noch einmal anzusprechen kam mir gerade recht.

„Alles richtig gemacht“, sagte meine innere Stimme zu mir und half mir einzuschlafen während ich mit ihr darüber sinnierte, dass Marburg, so wie befürchtet, bis auf Tina wohl tatsächlich der falsche Ort für uns war.

Untergrund

Pawel

 

„Славься Отечество наше свободное
Братских народов союз вековой
Предками данная мудрость народная!
Славься страна! Мы гордимся тоб …“, schrillte die Hymne der Russischen Föderation durch die Wohnung von Frau Professor Elke Krassmann aus einem iPhone, bevor Vsevolod Orlejev, der erfolglose Sohn eines für seine Skrupellosigkeit bekannten Offiziers der russischen Armee in einem Berliner Villenviertel, sein Handy abnahm.

„Da! …?“ fragte Wissiwald betont freundlich ein russisches „Ja bitte …?“ in sein Handy.

„Pawel hier! … Chef!“

„Oh Pawel, wie schön, dass sich mein Goldjunge auch mal wieder meldet. Brauchst du schon wieder frisches Geld?“

„Nein, eher das Gegenteil!“

„Oh, das höre ich gern. Dann willst du jetzt wohl nur noch wissen, auf welchem Weg du mir mein Geld wieder zukommen lassen sollst? Nenne mir eine Seele in dieser Scheißstadt, die dich kennt und dir abnehmen würde, dass du einer bist, der jemals seine Schulden zurückbezahlen würde?“, und dann lachte der Russe donnernd über seinen eigenen Witz.

„Nun ja, ich hatte da auch eher an einen Deal gedacht“, sagte Pawel vorsichtig.

„Oh Pawel, was für einen Deal? Hast du etwa schon wieder vergessen, dass ich nicht mit Unterwäsche handeln will?“

„Nein, das ist es doch gar nicht, das, was ich dir vorschlagen will. Es geht mehr um eine Art Kooperation, was meine neuen Werbefilme betrifft, von denen ich mir sicher bin, dass sie dir dieses Mal, abgesehen von den schicken Dessous, auch von der Handlung her wirklich gefallen würden.“

„Aber Pawel, wer will denn Werbefilme für Dessous kaufen, die im Vorabendfernsehen noch jugendfrei durch die Zensur gehen würden? Oder hast du diesmal wirklich einen echten harten Streifen hinbekommen, der ausnahmsweise mal sein Geld wert ist?“, verhöhnte ihn die Stimme, die gerade so vor Sarkasmus und Verachtung troff.

„Dein Vater würde uns beiden sofort seinen breitesten roten Teppich ausrollen, wenn er hätte sehen und vor allem auch noch hätte hören können, was hier heute in meinem Studio echt Cooles gelaufen ist.“

„Spiele nicht mit dem Feuer und lasse besser meinen Vater aus dem Spiel, wenn du nicht als Hackfleisch in seinem Hundezwinger Karriere machen willst. Du lebst hier doch wie eine Made im Speck von seinem Geld. Wenn der wüsste, was du hier alles so erfolglos treibst, wären deine Tage eh schon lange gezählt. Was hast du?“

„Diese Mara, also die, der wir den Trojaner untergeschoben haben, war heute hier und …“

„Die Blinde ohne Augen? … Ach ’ne? Du hast aber nicht vergessen, wer dir den Kontakt zu ihr besorgt hat, oder?“

„Nein, Wissi ganz bestimmt nicht, deshalb rufe ich dich ja auch an. Du weißt doch, dass ich dich nie bescheißen würde, oder?“

„Nein, das würdest du schon deshalb nicht tun, weil du weißt, dass ich dir dein faules Leben finanziere.“

„Aber damit bin ich jetzt fertig, da ist nämlich noch eine. Eine, von der du noch nichts weißt.“

„Noch eine ohne Augen? Oder verarschst du mich jetzt doch?“, fragte Wissi plötzlich sehr interessiert.

„Ich glaub schon, aber auf jeden Fall ist sie genauso stockblind wie die Schlampe, die du im Computer deiner Gönnerin aufgespürt hast“, antwortete Pawel aufgeregt.

„Oh Pawel, hör auf mit dem Quatsch. Worauf willst du denn hinaus? Es gibt doch Tausende von denen, deine Susi ist doch auch so ein Exemplar“, antwortete Wissi ihm ungehalten und wurde dann richtig laut.

„Aber bevor du mir antwortest, noch eins! Gnade dir Gott, wenn Elkes Name jemals irgendwo auftauchen sollte. Ich habe dir jetzt schon mehrfach gesagt, dass er auch am Telefon keinesfalls genannt werden darf, auch nicht als Umschreibung! Ich hoffe, dass ich mich jetzt ein für alle Mal so klar ausgedrückt habe, dass du endlich kapiert hast, dass diese Frau für dich nicht mehr zu existieren hat“, schrie ihn Vsevolod in einem schneidenden Befehlston, mit seiner jetzt messerscharf und sehr gefährlich klingenden Stimme an.

„Nein, sicher nicht, aber das, worauf ich gerade hinaus will, ist, dass wir deine Gönnerin in Zukunft gar nicht mehr brauchen werden, weil ich mittlerweile eine viel bessere Quelle für uns aufgetan habe“, sagte Pawel mit einem für ihn auffällig untypischen Selbstbewusstsein.

„Halte endlich deine vorlaute Fresse. Die Art und Weise, wie du heute mit mir sprichst, passt mir nicht“, schrie Wissi weiter und gab sich danach uninteressiert und kühl-arrogant, obwohl genau das Gegenteil der Fall war. „Neben deinen Versprechungen und den unzähligen Hirngespinsten, die du mir während deiner früheren Betteltelefonate immer wieder aufgetischt hast, ist bisher nicht viel von dir zurückgekommen, aber das weißt du ja selbst!“, knurrte Wissis inzwischen eher kratzig klingende Stimme weiter mürrisch aus Pawels Ohrmuschel.

„Wenn ich dir nicht nützlich wäre, würden wir doch bisher auch nicht so gut zusammengearbeitet haben, oder?“, antwortete Pawel. „Wahrscheinlich hast du dir mit den Sachen von mir inzwischen eh schon eine goldene Nase verdient“, schob Pawel dann noch mit einer etwas gekünstelt und beleidigend klingenden Unterstellung unüberlegt und bockig hinterher. Orlejev war inzwischen wirklich neugierig, aber auch misstrauisch geworden. So wie Pawel sich aufführte, war ihm vielleicht doch mehr gelungen, als Wissi ihm zugetraut hätte, weshalb er sich mehr mäßigte, als es ihm lieb war. Er brannte förmlich darauf, jetzt unbedingt sofort zu erfahren, was Pawel herausbekommen oder vielleicht darüber hinaus auch schon hinbekommen haben könnte, weshalb er ihm jetzt seinen Schneid nicht zu brutal abkaufen wollte.

„Keine fiesen Tricks mehr, okay?“, zischte Pawels Gesprächspartner deshalb nur noch knapp eine weitere, aber inzwischen nur noch mild formulierte Warnung in sein Telefon. „Merk dir gefälligst, was ich dir gesagt habe, und achte endlich auf die Wahl deiner Worte, wenn du mit mir sprichst!“, antwortete Wissi und richtete sich gerade auf, damit er sich besser auf das Telefonat konzentrieren konnte.

„Also Wissi, das Ganze ist …“, dann wurde Pawel jedoch sofort wieder unerwartet jäh erneut von Orlejev unterbrochen.

„Halte einfach deine Fresse und antworte mir nur auf meine Fragen, verstanden?“, knurrte Wissi ihn wieder mit einem einschüchternden Unterton so an, dass Pawel plötzlich am ganzen Körper Gänsehaut bekam.

„…“ Mehr als das Rauschen der Leitung war nicht zu hören und Wissi grinste selbstgefällig, weil er spürte, dass er Pawel jetzt genau dort hatte, wo er ihn haben wollte. Er hatte Angst. Angst vor ihm. Alles war jetzt wieder genau so, wie es sein musste.

„Ob du mich verstanden hast, habe ich dich gefragt, Pawel? Oder denkst du, dass ich dich durch das Telefon stumm nicken sehen kann, falls dir gerade mal wieder etwas die Sprache verschlagen haben sollte?“

„Ja, Wissi“, antwortete Pawel eingeschüchtert und hoffte, dass er nichts gefragt werden würde, das sich plötzlich doch nachteilig für ihn entwickeln könnte. Vielleicht hätte er sich besser einfach aus dem Staub machen sollen, aber dafür war es jetzt zu spät.

„Was für eine neue Quelle ist das, von der du da geredet hast?“, fragte Wissi scharf.

„Eine Frau, die andere Blinde, sie kommt aus Rumänien“, stammelte Pawel.

„Eine Blinde ist aber noch keine neue Quelle, wie kommst du auf Quelle?“ hakte Wissi gleich nach.

„Sie ist ja auch nicht die Quelle, sondern der Weg zur Quelle“, sagte Pawel.

„Dann noch mal … welche …! Neue …! Quelle?“ fragte Wissi mit einem gefährlichen Zischen in seiner Stimme.

„Das ist so ein Kunstschuppen hier in Berlin … Die haben alle was dort …“, presste Pawel ängstlich heraus und hätte sich schon jetzt dafür ohrfeigen können, dass er in seiner Euphorie gleich Wissi angerufen hatte, bevor er alles selbst sorgfältig ausgeleuchtet hatte.

„Ein Kunstschuppen, was du nicht sagst? Hat dieser Kunstschuppen denn auch einen Namen oder ist der so elitär, dass die Galerie inkognito, ohne Namen und ohne Adresse, nur in deiner durchgeknallten Fantasie existiert?“, fragte Wissi weiter und Pawel wusste, dass Ironie ein sicheres Zeichen dafür war, dass Wissi nun sehr bald richtig ungemütlich werden konnte. So war das nämlich immer, wenn ihm etwas zu lange dauerte, ihm etwas gegen den Strich ging oder ihn einfach nur das berühmte Haar in der Suppe störte.

„Das Ding heißt Schattenglut und ist in der Mommsenstraße 9, dort, wo sich auch so ein Restaurant mit dem Namen Marjelchen befindet“, antwortete er wie aus der Pistole geschossen.

„Schattenglut? … Hm, nie davon gehört …“, grübelte Wissi und fragte weiter.

„Wie sieht es dort aus? Was für Leute verkehren dort? Hast du schon mal welche von uns dort gesehen?“, wollte er dann von Pawel wissen.

„Ich habe eben erst die Protokolle des Trojaners ausgewertet …“, sagte Pawel und biss sich kurz darauf auf seine Lippen, aber da war es schon zu spät.

„Wo bist du?“, fragte Wissi scharf.

„Im Atelier, warum fragst du?“, versuchte er seinen Fehler so gut es noch ging zu überspielen.

„Also warst du selbst noch gar nicht dort, du Pfeife?“, fuhr Wissi ihn verärgert an.

„Nein, aber du solltest dir trotzdem zuerst mal den geilen Streifen, den wir hier im Kasten haben, ansehen, dass du überhaupt verstehst, wovon ich rede …“, aber bevor er den Satz beenden konnte, war er schon wieder von Wissi unterbrochen worden.

„Dann frag halt diese Mara, was dort für Leute verkehren? Und zwar sofort, bevor ich auf der Stelle vor Wut über deine dilettantische Arbeitsweise ganz aus meiner Haut fahren muss“, schrie Wissi jetzt voller Zorn in sein Telefon.

„Das geht gerade nicht …“, stotterte Pawel schwitzend.

„Dann mache es gehend und rufe mich wieder an, nachdem du deine Hausaufgaben ordentlich fertig gemacht hast, aber lass mich nicht zu lange warten, sonst lasse ich dich hier durch den nächstbesten Fleischwolf drehen, du nutzloses Stück faules Fleisch.“

„Tut … tut … tut …“, klang es aus Pawels Handy, nachdem sein Gesprächspartner grußlos aufgelegt hatte. Pawel ließ kraftlos und matt sein Handy sinken, verschmierte sich mit dem Ärmel seiner speckigen Lederjacke den kalten Angstschweiß auf seiner Stirn und murmelte vor sich hin.

„Puh, das ist ja ganz knapp gerade noch mal gut gegangen.“ Jetzt muss ich nur noch mein Auto und dieses undankbare Pack wiederfinden, dachte Pawel weiter. Ich muss sofort dafür sorgen, dass Wissi nicht mitbekommt, dass ich hier im Moment so gut wie gar nichts mehr wirklich im Griff habe, sonst wird das ziemlich übel für mich ausgehen, aber so weit werde ich es bestimmt nicht kommen lassen. Dann spulte er auf dem Schneidetisch schnell alle Dateien zurück und sah sich erneut noch einmal die krassen Hinrichtungsszenen bis zu der Stelle an, an der Mara, diese verlogene Schlange, ihr wahres Gesicht gezeigt hatte.

„Warte nur, bis ich dich selbst in meine Finger bekomme. Dann wirst du mich vor laufenden Kameras um Gnade dafür anflehen müssen, dass du es gewagt hast, dich hier getarnt als hilfloses Dummerchen bei mir einzuschleichen. Ich werde dich Kopf für Kopf dafür büßen lassen, dass du meine Leute zum Aufruhr gegen mich angestiftet hast. Hinzu kommt noch die Frechheit, dass du zur Krönung deiner Schandtaten auch noch versucht hast, mir meinen Wagen mitsamt meines Chauffeurs zu stehlen“, brabbelte er schmatzend von dem leisen Knirschen seiner abgekauten Fingernägel vor sich hin. Pawel wechselte noch schnell zu den Tondateien des Trojaners und kritzelte sich sowohl die Adresse von Maras Wohnung als auch die aktuellen Geodaten von Ronjas Handy auf einen schmierigen alten Fresszettel und stopfte ihn sich, bevor er das Atelier wieder wutschnaubend verließ, in die Tasche seiner Lederjacke. Auf dem Weg zu seinem Sportwagen pfiff er zähneknirschend vor sich hin. Dann musste er boshaft grinsen, als er daran dachte, dass Mara spätestens dann, wenn seine Rechnung, so wie er sich das gerade überlegt hatte, aufging, in Zukunft ohne Gage für ihn würde weiterarbeiten müssen. Spätestens wenn sie erführe, dass ihre Freundin Ronja hier bei ihm eingesperrt in einem kleinen Käfig und vor Angst wimmernd auf die Befreiung durch ihre aufmüpfige Freundin ausharren müsste, würde sie sich schon beeilen. Schließlich war es eine Bringschuld von ihr, ihm das Diebesgut, das sie ihm so hinterlistig entwendet hatte, wieder freiwillig zurückzubringen. Dann bräuchte er die Falle nur noch zuschnappen lassen und könnte sich zuerst mal genüsslich an dieser blinden Schlampe rächen, bevor er die verfilmte Dokumentation ihrer gerechten Bestrafung für gutes Geld teuer verkaufen würde. Nein, kein Theaterblut, diesmal würde er selbst Hand anlegen und von der Wiedergutmachung würde er zuerst Wissi ausbezahlen, um danach seinen Ruf in den speziellen Kreisen, in denen er schon jetzt als genialer Filmemacher und Held gelten wollte, allein weiter auszubauen.

 

Nebelreise

Mara

 

„Mara, vertrödel dich nicht! So eine Reise, wie du sie dir vorgenommen hast, muss, wenn man sicher ankommen will, bis ins letzte Detail vorbereitet sein“, sagte Maras Mutter, die sich aus Maras Sicht wie immer über alles zu viele Sorgen machte.

„Oh Mami, ich habe noch genug Zeit, der Termin bei den Psychologen ist doch erst um elf Uhr und jetzt ist es gerade mal kurz vor halb neun“, antwortete ich. Sie hörte, dass ich schon, bevor sie mich unnötigerweise gedrängelt hatte, auf dem Weg zu ihr war, und ließ sich, als ich sie erreicht hatte, liebevoll von mir in den Arm nehmen. Die Uhrzeit wusste ich deshalb gerade so genau, weil ich ihr eigentlich nur ihren sprechenden Reisewecker, den sie mir kommentarlos zwischen die Sachen in meinem Koffer geschmuggelt hatte, zurückbringen wollte. Eigentlich war das zunächst der einzige Grund, weswegen ich mich überhaupt zu ihr in die Küche aufgemacht hatte.

„Oh, da hab ich wohl gerade den richtigen Zeitpunkt erwischt“, sagte ich und tröstete sie. Meine Vorlieben für Abenteuer und dass ich zusammen mit meiner Freundin Mila im Sportverein alles mitnahm, hatten sie schon immer viel Nerven gekostet. Was Abenteuer anging, war ich schon immer tough drauf, vielleicht auch, weil ich im falschen Körper zur Welt kam. Ich fühlte mich schon, seit ich denken kann, immer als Mädchen, aber ich war mutiger als die meisten Jungs in unserer Clique. Vor einigen Wochen hatte mich das Reisefieber gepackt. Die Idee, alleine Nele, die Schwester meines Schwimmtrainers Marc, mit dem Zug in Berlin zu besuchen, ließ mich nicht mehr los. Seither hatte meine Mutter wieder besonders nahe am Wasser gebaut. Meiner ängstlichen Mami Trost zu spenden war kein Problem für mich, nur bremsen durfte sie mich nicht mehr, seit ich mich mit Milas Hilfe endlich aus ihrer Überfürsorglichkeit freigeschwommen hatte. Nur Mlia fehlte mir, nachdem sie nach einem letzten gemeinsamen Grillen mit meiner Mami und mir spurlos abgetaucht war.

„Sei doch nicht immer so ängstlich, Mama“, sagte ich und drückte sie ganz fest.

„Wieso willst du denn meinen Wecker nicht mitnehmen? Ohne geeignete Hilfsmittel machst du es dir doch nur zusätzlich schwer“, sagte sie und ich spürte einmal mehr, wie schwer es ihr fiel, sich von mir zu lösen.

„Weil ich das olle Ding nicht brauche und das alles mit meinem Handy viel einfacher hinbekomme“, gab ich ihr zur Antwort und war schon wieder genervt. Immer wenn sie das Bedürfnis hatte, mir unnötige Ratschläge mit auf meinen Weg geben zu müssen, war ich ganz schnell angefressen und reagierte dann auch oft pampiger, als ich das eigentlich wollte.

„Du und dein Handy …“, sagte sie, gab mir einen Kuss und sprach gleich weiter.

„Mir wäre viel wohler, wenn Nele dich wenigstens hier abgeholt hätte.“

„Oje Mama! Die Reise von unserer Haustür bis nach Marburg und zurück habe ich doch in den letzten Jahren auch immer gut hinbekommen und dort kam ich auch ohne deinen Wecker gut klar. So gut, dass ich nie zu spät zur Schule kam und sogar ein erstklassiges Abi hinbekommen habe, obwohl ich zwei Klassen übersprungen habe“, gab ich ihr zur Antwort und löste selbstbewusst die Umarmung.

„Berlin ist aber nicht Marburg. Du warst dort noch nie und selbst Sehende, die aus der Provinz kommen, haben oft Probleme, sich in dem riesigen Bahnhof zurechtzufinden“, rief sie mir besorgt nach.

„Ich fahre doch über Marburg und danach muss ich nur noch dreimal umsteigen. Wenn ich um 21:54 Uhr am Berliner Hauptbahnhof ankomme, holt mich Nele vielleicht sogar direkt am Bahnsteig ab“, sagte ich, ging in mein Zimmer und klappte meinen Rollkoffer zu.

„Und wenn ich dir eine Fahrkarte für den ICE spendieren würde. Da sitzt du viel bequemer als in den Nahverkehrszügen, die am Wochenende oft hoffnungslos überfüllt sind“, sagte meine Mutter, die mir nachgelaufen war.

„Als ob du schon einmal in den Öffentlichen hättest stehen müssen …“, blaffte ich zurück und zog meinen Koffer an ihr vorbei in die Diele, aber dann hatte ich eine Idee und zeigte mich gleich darauf wieder von meiner besten Seite.

„Du Mami, die siebeneinhalb Stunden Fahrzeit von Marburg nach Berlin kann ich auch noch gut für meine weitere Reisevorbereitung brauchen, das hatte ich eh schon so eingeplant. Wenn ich die einhundertsechzig Euro aber anstatt für die ICE-Fahrkarte als Zuschuss von dir zu meinem Taschengeld dazu bekommen könnte, wäre das natürlich riesig und echt lieb. Berlin ist nämlich alles andere als billig“, sagte ich, stellte meinen Koffer noch einmal hin und nahm sie zum Abschied erneut in den Arm.

„Dein Termin bei den Psychologen ist doch erst in über zwei Stunden?“, hörte ich meine Mutter mit tränenüberströmter Stimme sagen und nahm auch ein leises Schluchzen wahr. Weil wir beide blind sind, hatte bei uns zu Hause alles seinen genauen Platz und ihre Jacke hing an unserer Garderobe immer direkt neben meiner. In dem Moment, als ich mir meine Jacke vom Haken nahm, kam mir spontan eine coole Idee, mit der ich vorher selbst nie gerechnet hätte. Vielleicht lag es daran, dass ich mich in diesem Moment zum ersten Mal in meinem Leben richtig frei fühlte und sie mir im Vergleich zu mir total leidtat. Zur Linderung ihres Trennungsschmerzes schien mir diese Idee die beste Medizin für sie zu sein, die mir einfallen konnte.

„Das reicht noch für ein gemütliches Frühstück zu zweit“, sagte ich verschmitzt, griff noch einmal zu den Haken und drückte ihr einfach auch ihre Jacke zwischen ihre Hände.

„Das ist eine wirklich gute Idee. Vielleicht hilft mir das dabei, deine plötzliche Reiselust ein bisschen besser zu verstehen, oder mich wenigstens damit abzufinden, Mara“, sagt sie erfreut und wischte sich, bevor sie in ihre Jacke schlüpfte, noch schnell mit einer Hand über ihr verweintes Gesicht.

 

***

 

„Wo willst du denn hin, Mara? Hier geht es doch gar nicht zum Bahnhofscafé, das ist die falsche Richtung“, sagte meine Mutter entsetzt und atmete tief die noch nach Morgennebel schmeckende Herbstluft ein. In ihrer Stimme schwang schon wieder die Sorge mit, dass meine Reise ein schlimmes Ende finden könnte, wenn ich mich sogar schon hier verlaufen würde, wo wir beide alle wichtigen Wege gut kannten.

„Mama! … Als ob ich mich hier verlaufen würde“, lachte ich und sagte ihr, dass ich nur noch schnell zum Geldautomaten der Sparkasse wollte, wo ich schon länger mein Schülerkonto hatte. Dort angekommen stellte ich meinen Blindenstock neben meine Füße auf den Boden und klemmte ihn so unter meine Achsel, dass ich beide Hände freihatte. Die Buchse für das Headset hatte ich nullkommanichts gefunden und ließ meine Finger gut geübt über die Tasten wirbeln.

„O je Mara, warum machst du es dir denn nur immer so schwer. Um diese Zeit hätten wir uns doch drinnen einfacher von Herrn Braunstein bedienen lassen können. Der hätte uns auch kleine Scheine gegeben, mit denen man weniger Stress mit dem Wechselgeld hat“, sagte sie und ließ schon wieder ihre Uhr quäken, wodurch ich mich erneut von ihr gedrängelt fühlte.

„Hör doch endlich auf, mich dauernd mit deiner Uhr zu nerven, wir haben noch genug Zeit, und außerdem geht es am Automaten viel schneller als drinnen, mit dem unnötigen Gelaber und dem ganzen Drumherum sowie den schmierigen Höflichkeitsfloskeln. Kein Wunder, dass du für alles viel länger als ich brauchst, so technikfeindlich, wie du dich organisierst“, antworte ich ihr ungehalten. In Situationen wie diesen hatte ich schon länger keinen Bock mehr darauf, mich von ihr immer noch wie ein kleines Kind behandeln zu lassen, und wurde deshalb wieder patzig.

„Mit Technikfeindlichkeit hat das gar nichts zu tun, ich rede halt gern mit anderen Menschen“, sagte sie beleidigt, aber hielt dann wenigstens ihren Mund.

„Seit dem Software-Update helfen dir die Ansagen nicht nur bei der Anpassung der Stückelung. Der Automat kann jetzt sogar auch ganz einfach den Kontostand ansagen. Hier, hör dir’s doch wenigstens mal mit an“, sagte ich, stöpselte mir den In-Ear aus meinem linken Ohr und fummelte ihn in ihr rechtes hinein, bevor sie sich dagegen wehren konnte.

„Fremdbestimmung mag ich zwar genauso wenig wie du, meine Kleine, aber von mir aus. Es kann ja nicht schaden, mir das auch einmal mit anzuhören. Hast du überhaupt genug Geld für dein Berlin-Abenteuer gespart?“, fragte sie mich schräg und knuffte mich versöhnlich in meine Seite.
„Klar, aber die einhundertsechzig Euro, die der ICE kosten würde, könnte ich schon noch gut brauchen, obwohl ich auch ohne einen Zuschuss von dir nicht meine ganzen Ersparnisse für den Ausflug opfern wollte. Es sind immerhin schon fast achtzehnhundert Euro, die ich auf diesem Konto gespart habe“, sagte ich mit einem stolzen Grinsen in meiner Stimme, das ihr zu verstehen gab, dass ich ihr Friedensangebot angenommen hatte.

„Sechzehntausend, siebenhundert, dreiundsechzig Euro und vierunddreißig Cent“, plärrte uns der Automat kurz darauf völlig emotionslos in unsere Ohren und uns blieb beiden für einen Augenblick die Luft weg.

„Marvi …, sorry …! Mara, wo kommt denn plötzlich das ganze Geld her?“, stotterte meine Mutter, während ich noch sprachlos neben ihr stand und fieberhaft darüber nachdachte, was ich jetzt tun sollte.

„Keine Ahnung, Mama, woher soll ich das wissen? Vielleicht ein Fehler von der Bank …, oder von Papa fiel mir dann zum Glück danach noch als besseres Argument ein. Vielleicht ja für mein gutes Abi oder fürs Studieren in Berlin“, sagte ich gestresst. Dabei hätte ich mir am liebsten selbst dafür in den Hintern beißen wollen, dass ich ihr meinen Ohrstöpsel aufgedrängt und dann noch unüberlegt die Idee mit dem Fehler von der Bank herausgesprudelt hatte. Das, was nun unausweichlich kommen würde, konnte wirklich jede Menge Zeit kosten und bedeutete, so wie ich meine Mutter kannte, eine Menge Stress anstatt eines gemütlichen Abschiedsfrühstücks.

„Mara, wir müssen dieser eigenartigen Sache sofort mit Herrn Braunsteins Hilfe auf den Grund gehen!“, fuhr sie mich hysterisch an und suchte hektisch nach dem Griff der links von uns befindlichen Eingangstür zum Schalterraum. Zum Glück war ich schneller als sie und konnte sie daran hindern, so aufgeregt wie sie war, mit mir im Schlepptau unsere Sparkasse zu erstürmen.

„Mara, warum denn um Gottes willen nicht? Oder willst du etwa fremdes Geld behalten, das dir gar nicht gehört?“, fauchte sie weiter und versuchte sich von mir zu befreien. Schon weil ich wegen ihres Ausrutschers mit meinem früheren Namen Marvin, den ich wie die Hölle hasste, schon wieder richtig stinkig auf sie war, fiel es mir besonders schwer, mich zur Ruhe zu zwingen. Mich diszipliniert zusammenzureißen, schaffte ich wohl nur, weil ich auf keinen Fall zulassen wollte, dass sie Aufsehen erregte.

„Aber nein, Mama. Geld, das mir nicht gehört, würde ich nie anrühren. Aber wenn es von Papa ist, freue ich mich natürlich darüber“, sagte ich ganz sanft und bemühte mich darum, dass sich meine Umarmung für sie liebevoll und nicht fesselnd anfühlte, obwohl ich innerlich vor Wut kochte.

„Wie sollte denn Papa auf so eine Idee kommen, schließlich haben wir schon jahrelang keinen Mucks mehr von ihm gehört“, antwortete mir meine Mutter mit einem Kloß im Hals und einer weinerlichen Stimme. Jetzt heult sie wieder aus Selbstmitleid, obwohl sie selbst daran schuld ist, dass er sie verlassen hat, dachte ich bei mir und gab mir alle Mühe, ihr das jetzt nicht gleich aufs Brot zu schmieren.

„Von deinem Vater? Das kann ich mir nicht vorstellen, und wenn die Bank einen Fehler gemacht hat, sollten wir lieber doch gleich mit Herrn Braunstein reden“, sagte sie, und ich musste mir etwas Neues einfallen lassen, um Zeit zu gewinnen.

„Aber vorher muss ich noch meine Geldkarte aus dem Automaten nehmen“, antwortete ich ihr und zog sie mit mir von der Tür weg zurück in den „Do-it-yourself“-Bereich, der sich zum Glück noch außerhalb der Schalterhalle befand.

„Aber dann solltest Du unbedingt meinem Rat folgen. Wenn wir jetzt gleich zu Herrn …“, weiter kam sie nicht, weil ich ihr vorsichtig in das Wort ihres halbfertigen Satzes fiel.

„Wieso denn das? Mama. Ich kann doch auch selbst erstmal schauen, woher das Geld überhaupt kommt, und außerdem müssen wir eh noch schnell bei meinen Psychologen vorbeischauen. Und für das Café brauchen wir auch noch ein bisschen Zeit, wenn wir zum Abschied noch gemütlich über dies und das zusammen reden wollen."

„Aber Mara! … Und wenn es doch ein Fehler der Bank war und das viele Geld dir wirklich nicht gehört?“, antwortete sie mir verunsichert, weil sie mit Stress noch nie gut umgehen konnte.

„Wenn es ein Fehler der Bank war, werden sie das Geld eh wieder zurückbuchen. Spätestens danach ist dann auch ohne, dass der Braunstein seine wurstigen Finger drin hatte, auch alles wieder so, wie es sein soll“, sagte ich grinsend und tippte in den Automaten ein, dass ich zweihundert Euro von ihm haben wollte. Kurz darauf gab er mir, so wie ich es wollte, vier Fünfzigeuroscheine aus und piepste, um mich dazu aufzufordern, dass ich meine Karte wieder herausnehmen sollte.

„Mir ist nicht wohl bei der Sache“, pisste meine Mutter mich noch mehr an, aber ließ sich von mir, wenn auch widerwillig, wieder hinaus auf die Straße schieben.

„Weißt du was?“, stellte ich sie vor vollendete Tatsachen und fuhr gleich fort.

„Ich nehme dich jetzt bei den Psychologen einfach mit rein. Danach gehen wir wie geplant ins Café und nach dem Bestellen schaue ich mit meinem Handy erstmal, von wo das Geld überhaupt kam, dann wissen wir wenigstens, was wirklich passiert ist.“

„Aber wenn es fremdes Geld ist, gehen wir sofort zurück zu Herrn Braunstein“, murmelte sie und setzte den Weg mit mir grübelnd fort. Die nasskalte Stimmung und das Kondenswasser an den Außengriffen der Türen passten zur Witterung dieses trüben Tages. Es schien immer noch neblig zu sein und auch meine Kleidung fühlte sich klamm an. Meine Stimmung fühlte sich genauso übel wie das ungemütliche Wetter an und meine Reiselust drohte in Richtung Reisefrust zu kippen.

 

 

***

 

 

„Hallo Mara, wie immer pünktlich und diesmal in Begleitung?“, sagte eine freundliche Stimme, die nach einer quirligen jungen Dame klang, zur Begrüßung.

„Ja, Trixi, jetzt, wo alles fertig vorbereitet ist, dachte ich, sollte meine Mutter beim letzten Termin auch dabei sein“, und zog wie immer meine Jacke aus. Danach hängte ich sie an die Garderobe neben der Tür. So oft wie ich hier schon war, kannte ich mich gut genug aus, um dafür keine Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen.

„Komm, Mama, gib mir deine Jacke, ich zeige dir auch, wo ich sie hinhänge!“, sagte ich und half ihr.

„Frau Dr. Funke, ist schon frei. Möchtest du mit deiner Mutter gleich zu ihr durchgehen?“, fragte die Quirlige erneut freundlich, während sie, begleitet von einem emsigen Tackern, flink auf einer PC-Tastatur weiter tippte. Sie wusste, wie selbständig ich war, und respektierte, dass ich gerne alles, was ich ohne fremde Hilfe kann, alleine auf die Rolle bekommen wollte. Nicht nur deshalb mochte ich Trixi so sehr, sondern auch weil sie mich mal zur Seite genommen hatte und mir steckte, dass sie vieles, was ich damals noch vor mir hatte, schon hinter sich gebracht hatte. Sie war, so wie ich, auch im falschen Körper auf die Welt gekommen und lebt schon seit längerer Zeit als vollständig angeglichene Frau ein glückliches Leben.

„Danke, Trixi, dann gehen wir gleich durch. Es ist die dritte Tür auf der linken Seite, Mama“, sagte ich, während ich nach dem Weghängen unserer Jacken erneut nach meinem Langstock griff, den ich während des Ausziehens wie immer in der gleichen Ecke neben der Garderobe abgestellt hatte.

„Geh nur, ich nehme lieber deinen Arm. Das ist mir lieber, wenn ich mich wo nicht auskenne“, sagte meine Mom, und ich schüttelte stumm mit dem Kopf, weil sie im Alltag zu bequem war, ständig ihre Mobilität zu verbessern.

„Komm ruhig rein, Mara“, hörte ich Frau Dr. Funke kurz nach dem Anklopfen von innen durch die geschlossene Tür rufen.

„Hallo Frau Doktor, ich bin heute mit meiner Mutter hier“, sagte ich und begrüßte meine Therapeutin sehr herzlich.

„Hallo Frau Müller, schön, dass sie Mara bei unserem letzten Therapiegespräch begleiten. Keine leichte Entscheidung für ihre Tochter, aber aus unserer Sicht erfüllt sie alle Voraussetzungen für die Operation, die Entscheidung liegt jetzt bei ihr. Aber natürlich erst, wenn sie volljährig ist, außer sie stimmen vorher zu. So will es das Gesetz“, sagte meine Ärztin.

„Dass ich mich damit schwertue, ist ihnen ja bekannt“, sagte meine Mutter und ich schob ihr einen Stuhl links von mir vor Frau Funkes Schreibtisch hin, ohne mich weiter in das Gespräch einzumischen.

„Mara hat zu diesem Thema klare Linien, weshalb wir ihr das Gutachten zu ihrer Geschlechtsangleichung auch so, wie es ist, attestiert haben, aber ob das vor oder erst nach ihrem achtzehnten Geburtstag stattfinden kann, muss im Moment noch offen bleiben. Das liegt jetzt in ihrer beider Hände und nicht mehr bei uns", sagte meine Ärztin und wartete auf einen Kommentar meiner Mutter.

„Ich will ihr ja auch keine Steine in den Weg legen“, schluchzte meine Mutter und schwieg.

„Sie bedrückt vermutlich, dass die Operation unumkehrbar ist“, sagte meine Ärztin zu meiner Mutter und ich wollte schon dazwischengehen und sagen, dass es schließlich mein Körper ist, aber beherrschte mich dann doch. Das lauter werdende Schluchzen nervte mich total, obwohl mir klar war, dass Frau Dr. Funke den wunden Punkt meiner Mutter getroffen hatte, und ich spürte, dass sie stumm nickte. Dann hörte ich, dass die Ärztin nach den Händen meiner Mutter griff.

„Ihre Tochter ist nicht unsere erste Patientin, die auf diese Weise in ihrem richtigen Körper ankommen darf, und die letzte Entscheidung obliegt auch, wenn sie das nicht verantworten wollen, noch lange Zeit danach bei ihr, Frau Müller. Alleine bei ihr. Aber auch dann, wenn sie nicht mehr in der Verantwortung sind, wird ihre Tochter ihre Unterstützung noch brauchen", hörte ich meine Ärztin sagen und war ihr für diese Worte so dankbar wie für alles, was sie schon vorher für mich getan hatte.

„Die Reise in einen anderen Körper, auf die sich ihre Tochter begeben will, wird auch mit unserem Gutachten nicht einfach werden, aber es kann ihr dabei helfen, ihr Ziel glücklicher als ohne unsere Option zu erreichen“, hörte ich sie sagen. Zum Abschied selbst die Hände der Frau noch einmal zu spüren, die mich verstanden hatte und die meiner Mutter genau das Richtige auf unsere gemeinsame Reise mitgegeben hatte, tat auch mir richtig gut.

 

 

***

 

 

„Hast du nicht gehört, was im Überweisungstext steht, Mama, oder soll ich dir den Text noch einmal von meinem Handy vorlesen lassen? Die Überweisung kann gar kein Fehler der Bank gewesen sein, da steht doch alles, was wir herausfinden wollten. Es handelt sich um ein Stipendium, das mir gehört“, sagte ich voller Freude, nachdem ich mit meinem Smartphone die Buchungen auf meinem Konto aufgerufen hatte, um sie uns über die Sprachausgabe laut vorlesen zu lassen.

„Ein Stipendium? … Fünfzehntausend Euro? So viel Geld, einfach so?“, hörte ich meine Mutter zweifelnd fragen.

„Klar, Mama, ich habe mich an vielen solchen Ausschreibungen beteiligt, freu dich doch einfach mit mir“, beschwor ich sie und schlug, anstatt weiter in Richtung Bahnhofscafé zu gehen, einer spontanen Idee folgend plötzlich einen Haken. Das Klappern von kleinen schweren Kaffeetassen und das Zischen von heißem Dampf hatten mich an die kleine Bude, die sich im Bahnhof rechts vor uns befand, erinnert. Der Espresso, den sie dort aufbrühten, war nicht nur köstlich, sondern auch schön stark. Ich erinnerte mich daran, dass sich der Löffel beim Umrühren des Zuckers in dem letzten Espresso, den ich hier vor einiger Zeit trank, so anfühlte, als rührte ich in einem labberig dünn gekochten Pudding. Für einen Espresso empfand ich schon das Rührgefühl und den Duft der frisch gerösteten Kaffeebohnen, die hier verwendet wurden, genial. In der Hoffnung, meine Mutter vielleicht mit dem starken Getränk auf andere Gedanken zu bringen, bestellte ich zwei Espressos in Pappbechern. Meine spontane Idee behielt ich aber noch für mich.

„Von einer Stiftung zur Förderung der Inklusion, so viel Geld auf deinem Konto? Das kommt mir wirklich komisch vor", sagt meine Mutter immer noch zweifelnd, aber ich merkte, dass ich sie mit meiner Notlüge am richtigen Punkt erwischt hatte, und damit hatte ich mein Ziel erreicht. Ohne mir etwas anmerken zu lassen, grübelte ich von meinem schlechten Gewissen geplagt, wie die Stiftung zur Förderung der Inklusion auf mich und auf meine Bankverbindung gekommen sein könnte. In Wahrheit hatte ich noch nie etwas von dieser Institution gehört und um ein Stipendium hatte ich mich auch nirgendwo bemüht.

„Weißt du was? Ich kaufe uns zur Feier des Tages einfach zwei ICE-Tickets nach Berlin und wir frühstücken auf der Reise dorthin zusammen gemütlich im Speisewagen. Wir haben uns doch gerade so viel zu sagen, oder?", sagte ich und nahm sie in den Arm.

 

 

***

 

 

„Wie, ich soll mit dir nach Berlin? So eine Reise ohne sorgfältige Vorbereitung ist doch für Leute wie uns unmöglich und ganz ohne Koffer geht das auch nicht", antwortete sie mir total entsetzt.

„Einen Koffer zum Frühstücken, für eine Fahrt mit mir durch den herbstlichen Nebel, wozu das denn? Ich buche dir für deine Rückfahrt einfach ein Ticket mit dem Nightjet. Das ist ein voll cooler Nachtzug mit einem mega guten Service und in den Deluxe-Schlafwagenabteilen gibts sogar eine eigene Dusche gleich neben dem Bett. Morgen früh kommst du dann zum Tagesanbruch frisch geduscht und ausgeruht zuhause an. Und vorher hätten wir endlich mal wieder ungestört Zeit zum Reden“, antwortete ich ihr und riss sie vor Begeisterung über meine neue finanzielle Unabhängigkeit zusammen mit mir in einen Strudel von Gefühlen, denen sie nur schwer widerstehen konnte.

„Mit dem NJ 408, der um 21:51 Uhr in Berlin im Tiefbahnhof abfährt, kannst du dich im Schlafabteil genauso wohlig wie zu Hause in dein Bett kuscheln und kommst dann am nächsten Morgen um kurz vor halb sieben ausgeschlafen im Freiburger Hauptbahnhof an. Und von dort ist es ja nicht mehr weit bis zu uns nach Hause", sprühte ich euphorisch, während ich mir mit meinem Smartphone den Internetfahrplan der DB auf meine Ohren gab.

„Ist das nicht sündhaft teuer, so ein Schlafabteil mit einem richtigen Bett?“, fragte meine Mutter etwas perplex.

„Hey, Mama, nein! Das kostet gar nicht so viel, wie du denkst, und gerade jetzt, wo ich nicht mehr jeden Cent einzeln herumdrehen muss, möchte ich dir einfach ganz spontan etwas Gutes tun. Komm, sei kein Frosch und komm einfach mit“, sagte ich und knuffte sie aufmunternd.

„Freiburg? … und dann auch noch umsteigen nach Konstanz auf einem Bahnhof, den ich überhaupt nicht kenne?", sagte sie, aber ich spürte schon ein bisschen Reiselust in ihr aufkeimen und ich spürte auch, dass sie mal wieder traurig darüber war, dass sie vieles nicht so spontan wie Sehende machen konnte.

„Aber Mami, das ist doch kein Problem, ich buche dir das mit dem Mobilitätsservice der Bahn. Dann kann gar nichts schiefgehen“, sagte ich, griff zu meinem Handy und wählte die spezielle Nummer, über die Sehbehinderte sich beraten lassen und sich auch gleich passende Tickets reservieren konnten.

„Hallo …? Ja, ein Ticket für meine Mutter, sie ist blind, und ich möchte gerne im Schlafwagen des NJ 408 eine Fahrt von Berlin nach Konstanz für sie buchen“, sagte ich, nachdem ich die Stimme einer freundlichen Operatorin aus meinem Smartphone gehört hatte.

„Ja, ein Deluxe-Abteil, das passt. So eines mit eigener Dusche im Abteil und dann mit dem Mobilitätsservice weiter nach Konstanz", sagte ich.

„Nein, eine Kreditkarte habe ich nicht. Kann ich das Ticket denn nicht mit meiner V-Pay-Card bezahlen?", fragte ich.
Oh, das ist eine gute Idee, dann holen wir das reservierte Ticket nachher im Kundencenter in Berlin zusammen ab und bezahlen es vor Antritt ihrer Fahrt dort vor Ort", erwiderte ich erfreut und legte guter Dinge auf.

 

 

***

 

 

„Duftet das hier nicht herrlich, Mama?“, sagte ich, als wir im Speisewagen angekommen waren und uns ein netter Bahnangestellter, dem unsere beiden Blindenstöcke gleich aufgefallen waren, an den ersten großen Tisch, gleich neben der Tür zum Servicebereich, führte.

„Machen sie es sich erst mal schön gemütlich, und falls sie dann später etwas bestellen wollen oder im Verlauf der Reise sonst wie Hilfe brauchen, sagen sie mir bitte einfach Bescheid. Wenn ich nicht im Wagen unterwegs bin, finden sie mich gleich hier hinter dieser Tür oder vorne an der Theke des Bistros", sagte eine sympathische Stimme, die sich nach einem Jungen, der aus Bayern stammte, anhörte.

„Danke, sehr lieb von ihnen, aber ich würde gerne gleich bestellen. Meine Mutter und ich können schon gut was vertragen", sagte ich recht nett, obwohl es mich schon wieder genervt hatte, dass der Typ es uns nicht selbst überlassen wollte, ob wir jetzt gleich oder lieber später bestellen wollten.

„Oh, ja gerne, es gibt …", weiter kam er nicht.
„Zweimal das herzhafte Frühstück, und zwar einmal mit Käse und einmal mit Wurst und dann noch zwei Käseomeletts, die mit den Biobrötchen bitte", sagte ich und surfte in der barrierefreien Speisekarte auf meinem Handy weiter zu den Getränken.

„Vor den beiden Cappuccinos vom Frühstück hätten wir dann bitte gerne noch ein Rotkäppchen Piccolo mit zwei Sektgläsern, eine Flasche share sprudelnd und einen Orangensaft der Marke Rauch. Den O-Saft, dann bitte auch wieder mit zwei Gläsern", sagte ich und lächelte den Typen ein bisschen keck an.

„Möchten sie zweimal Konfitüre? Es gibt heute Kirsch, Aprikose und Brombeere zur Auswahl, oder soll ich ihnen statt der zweiten Marmelade lieber ein Nutella dazu machen?", fragte unser Kellner so charmant zurückhaltend wie ein englischer Butler zurück.

„Gern alle drei, also von allem, was sie haben etwas, das Nutella natürlich auch dazu und wenn sie haben auch noch ein Töpfchen Honig", antworte ich, schenkte ihm ein Lächeln und genoss es, dass er so schnell kapiert hatte, dass ich lieber selbstbestimmt unterwegs war.

„Danke!“, sagte ich, nahm zuerst die zwei Sektgläser und danach die eisgekühlte Piccoloflasche in Empfang. Die herbe Note der Kohlensäure wehte mir, nachdem ich den Schraubverschluss mit einem feinen Zischen geöffnet hatte, in meine Nase und beflügelte, begleitet von einem sprudelnden Prickeln, erwartungsvoll meine Laune, während ich das kühle Nass in unsere Gläser füllte.

„Hier Mama, aber warte noch einen Moment, wir wollen doch vor dem ersten Schluck noch auf unsere Reiselust anstoßen", sagte ich grinsend und klirrte mit meinem Glas gegen das ihre, das sich noch über dem Tisch befand, weil ich meine Hand zärtlich um ihr Handgelenk gelegt hatte, bevor ich sie gleich nach dem Anstoßen wieder freigab.

„Auf deine Reiselust", sagte sie lachend, und ich spürte, wie glücklich sie jetzt mit unserem Ausflug war, zu dem sie sich ohne mich nicht getraut hätte.

 

 

***

 

 

„Und was machen wir, wenn Nele es nicht geschafft hat? Wir sind doch, jetzt, wo wir den ICE genommen haben, viel zu früh da", sagte meine Mutter ängstlich, während sie mir und meinem Rollkoffer mit ihrer Hand an meinem Oberarm bis zur Tür des Speisewagens folgte.

„Nele? Mit ihr treffe ich mich später in dem Studentenwohnheim, in dem sie wohnt, aber vorher begleite ich dich noch zum Kundencenter und wir holen dort zusammen wie geplant dein Rückfahrtticket ab. Danach bringe ich dich zu deinem Abteil im Nachtjet. Dort bekommst du dann noch einen Abschiedskuss, bevor du dich ausschlafen und von meiner Reiselust erholen darfst", antwortete ich ihr völlig tiefenentspannt.

„Alleine ohne Nele?“, schrie sie auf und krampfte sich, weil sie plötzlich wieder Angst hatte, viel zu doll an meinem Oberarm fest. Wir standen schon zwischen anderen Reisenden, die hier auch aussteigen wollten, in einer langen Schlange und warteten auf das Piepsen der sich gleich öffnenden Türen. Kurz nachdem ich in die Schlange gefragt hatte, ob noch jemand außer uns zum Kundencenter musste, hatte sich auch gleich eine hilfsbereite Frauenstimme gemeldet, die vertrauenswürdig klang. Die Frau, die uns weiterhalf, hieß lustigerweise auch Nele. Sie musste weiter nach Stralsund und hatte während ihres kurzen Aufenthalts in Berlin noch genug Zeit, um mit mir nach dem Abschied von meiner Mutter noch bis zum Taxistand zu gehen.

Verdunklung

Pawel

 

„Wo warst du denn die ganze Zeit …? Warum schon wieder eine Verspätung? Ich halte das alles nicht mehr aus?“, sagte Susi, die Pawel schon an seinem Schritt auf den knarrenden Holzbohlen erkannt hatte, bevor er das muffig riechende Zimmer betrat.
„Susi, ich weiß doch auch, dass wir uns keine weitere Verspätung mehr leisten können, aber hier ist Krieg und ich tue, was ich kann“, sagte Pawel, der verdreckt vom Straßenstaub, mit einigen kleinen Blessuren in das schmuddelige Zimmer trat und die Zimmertüre gleich hinter sich abschloss.
„Ich hatte so viel Angst wie nie zuvor, so ganz alleine in diesem schrecklichen Land“, schluchzte Susi und schälte sich unter einer von Motten zerfressenen Wolldecke hervor.
„Ich habe uns etwas zum Essen mitgebracht“, antwortete Pawel ihr, nahm sie tröstend in den Arm und sprach weiter, „ … und gute Nachrichten habe ich auch dabei."
„Ich habe keinen Hunger. Welche guten Nachrichten? Ich glaube nicht mehr daran, für mich kommt eh jede Hilfe zu spät“, jammerte Susi und zog die Decke bei.
„Morgen früh werden wir abgeholt. Freust du dich denn nicht, dass es endlich weitergeht?“, sagte Pawel und raschelte mit Packpapier, unter dem der Duft von knusprig gebratenem Hühnchen hervorquoll und sich im Raum verteilte.
„Machst du Wein auf?“, fragte Susi, die leise Metall auf Glas kratzen hörte und an Pawels Bewegungen erahnte, was er tat.
Ja, ein Aju-Dag von 2007, ein ganz besonderer Rotwein, der als der Lieblingswein der Zarin galt und der dir mit einem Alkoholgehalt von sechzehn Prozent schnell dein Herz erwärmen wird. Er soll nach einem Hauch von Kakao und frischem Obst schmecken und zarte Töne von Rosenduft und Muskat in seinem Bukett haben.
„Bist du von allen guten Geistern verlassen? Wir sitzen hier im letzten Loch, ich werde von Tag zu Tag immer mehr blind und du machst auf heile Welt?“, fauchte Susi, schleuderte die Decke in den Raum und sprach gleich zornig weiter. „Wo hast du überhaupt die Sprüche und so einen Wein her? So habe ich dich noch nie reden hören.“
„Susi, ich hab dir doch gesagt, dass ich hier Leute von ganz oben kenne. Du darfst nicht so schnell aufgeben. In diesem Land nimmt man sich für gute Freunde eben Zeit, trinkt und trinkt … und dann kommt man zum Geschäft“, sagte Pawel und goss den Wein in die zwei Zahnputzgläser, von denen eines schon einen Sprung hatte.
„Und wo ist das alles her?“, fragte Susi noch immer misstrauisch, merkte aber, dass sich der Hunger jetzt doch wieder bei ihr bemerkbar machte.
„Hier iss erst“, sagte Pawel und führte Susis Hände zu dem Tisch, auf dem das aufgerissene Packpapier lag, aus dem die knusprigen Hähnchenstücke ihren Duft immer intensiver in das Zimmer strömen ließen. Während Susi erst zögerlich aß und dann kurz darauf ausgehungert zuschlug, erzählte er ihr von seinem Tag und dass er die Köstlichkeiten aus einer ukrainischen Gaststätte hatte, in der jetzt russische Offiziere hausten.

 


***



„ваши бумаги!“, hörte Susi eine Stimme im Befehlston in das Auto schreien, in dem sie mit Pawel seit Stunden auf einer Rückbank saß. Alles hier kam ihr unheimlich vor und ängstigte sie, während sie erfolglos das Gesicht des Soldaten zu erkennen versuchte, der vor dem heruntergekurbelten Fenster des Fahrers stand und unwirsch ihre Papiere verlangte. Die Polster klebten eklig. Speckig vom Dreck stanken sie nach altem Schweiß. Pawel sagte etwas in der gleichen Sprache und nahm kurz darauf irgendwelche Sachen entgegen, wonach das Auto auf einer holprigen Straße mit quietschenden Federn weiterrollte.
„Wir sind gleich da, Susi, keine Angst, jetzt wird alles ganz schnell ohne weitere Verspätungen weitergehen“, sagte Pawel.



***



„Komm Susi, wir sind da und dürfen gleich zur Direktorin des Sanatoriums durchgehen, Frau Dr. Konowalow, das heißt in unserer Sprache, dass sie aus einer Familie abstammt, die sich vor langer Zeit als gute Tierärzte verdient gemacht hat, erwartet uns schon“, sagte Pawel gut gelaunt und half Susi aus dem Wagen.

 

Nebelstimmen

Mara

 

„Das finde ich ja echt lustig, dass du genauso Nele heißt wie die Schwester von meinem Freund Marc. Das ist nämlich einer der Gründe, warum ich nach Berlin gefahren bin. Ich bin hier, um Nele zu besuchen, eine andere Nele eigentlich“, sagte ich mit einem netten Lächeln.

„Ja, Mara, Zufälle gibts … Gerade, weil Nele ja auch kein so weit verbreiteter Modename wie Lara, Lisa oder Lena ist“, antwortete Nele, um unseren netten Smalltalk weiter in Gang zu halten.

„Mara kommt zum Glück auch nicht so häufig vor. Schon die Vorstellung daran, dass ich jedes Mal, wenn ich irgendwo meinen Namen höre, immer erst herausfinden müsste, ob ich auch wirklich gemeint bin, finde ich mega nervig", sagte ich zu der Frau, mit der ich durch den Bahnhof Berlin-Mitte auf dem Weg zum Taxistand unterwegs war. Nele und ich hatten meiner Mutter kurz zuvor geholfen, den richtigen Platz in einem Nightjet-Zug nach Freiburg zu finden. Als wir meine Mutter dann nicht mehr auf der Pelle hatten, bot mir Nele, weil sie noch genug Zeit bis zu ihrer eigenen Weiterfahrt hatte, an, mich noch bis zum Taxistand zu begleiten. Dass ich mich schon auf das kleine Abenteuer gefreut hatte, den Weg zum Taxistand zunächst mit so wenig Hilfe von Dritten wie möglich alleine zu finden, behielt ich für mich. Nele war mir auf Anhieb sympathisch. Deshalb brachte ich es einfach nicht über mein Herz, ihr aus reiner Abenteuerlust mit der Ablehnung ihres gut gemeinten Angebotes vor den Kopf zu stoßen. Dennoch kam es mir ein bisschen so vor, dass Nele mir, genauso wenig wie ich meiner Mutter, die genauso stockblind wie ich ist, eine selbständige Tour durch einen noch fremden Bahnhof zugetraut hätte. Dass ich da ganz anderer Meinung war, tat aber in dem Moment nichts zur Sache, wenngleich es mich schon ein bisschen wurmte. Ohne unsere Hilfe hätte es meine Mutter sicher nie geschafft, alleine zu ihrem Zug zu finden. Bei mir ist das aber ganz anders, weil mein Vater mich schon total früh als sein blindes Kind richtig gut gecoacht hatte. Ihm habe ich es zu verdanken, dass ich meine autarke Mobilität mit selbstbewusstseinsfördernder Leidenschaft von Tag zu Tag immer weiter zu perfektionieren gelernt hatte. Deshalb bin ich viel selbständiger als meine Mutter und darum hätte ich Nele hier bestimmt auch nicht unbedingt als Begleiterin gebraucht. Nele kam mir aber von dem ersten Wort an, das ich aus ihrem Mund gehört hatte, so lieb vor, dass ich ihr Angebot, mich noch bis zum Taxistand begleiten zu wollen, nur deshalb nicht ablehnte. Dass es mir auch Spaß gemacht hätte, den Berliner Hauptbahnhof auf eigene Faust zu erforschen, behielt ich deshalb lieber für mich. Zeit für das kleine Abenteuer hätte ich allerdings noch genug gehabt und schließlich hatte ich ja Nele wegen meiner Mutter um Hilfe gebeten und sie hatte sich mir auch nicht aufgedrängt.

„Ich möchte mich dir aber nicht aufdrängen“, sagte meine Begleiterin, so als hätte sie meine Gedanken lesen können, mit einem warmherzigen Lächeln in ihrer Stimme. Die Geräusche des selbst am frühen Abend noch recht geschäftig wirkenden Bahnhofs waren so vielseitig wie die Gerüche eines arabischen Gewürzmarktes. Die Stimmung, die ich hier wahrnahm und voller Neugier mit meinen Ohren und meiner Nase regelrecht aufsog, war genau so, wie ich mir das von dieser freien und weltoffenen Stadt erträumt hatte. Dass die Kuppel, nein, wohl eher ein Kasten, vielleicht so ähnlich wie ein auf dem Kopf stehendes Aquarium aus schweren Glasplatten, bestand, wusste ich aus den Internetrecherchen, die ich zur Reisevorbereitung vorher angestellt hatte. Die sachlich-nüchterne Architektur stellte ich mir wie einen Eiszapfen vor, an dem ich mit meiner Zunge lecken könnte, um den Geschmack dieser atemberaubenden Großstadt auf diese Art schmecken zu können. Zum ersten Mal in meinem Leben roch ich den Duft der Stadt, von der ich mir erhoffte, dass sie für mich das Tor zur großen weiten Welt werden würde. Zu meiner Welt, meiner freien Welt, die ich in Freiheit erforschen und so darin leben wollte, wie ich mir das immer herbeigesehnt hatte.

„Einundzwanzig Uhr vierundvierzig“, quäkte es aus meinem Handy, nachdem ich die Zeitabfrage aktiviert hatte.

„Bis zum Taxistand dürften wir eigentlich nicht länger als fünf Minuten brauchen. Vielleicht reicht es ja noch für zwei Kaffee?“, schlug ich Nele vor. Dabei spürte ich dieses Kribbeln in meinem Bauch, das ich nur zu gut aus vielen schönen Stunden mit meiner besten Freundin Mila kannte, die vor einiger Zeit plötzlich spurlos aus meinem Leben verschwunden ist.

„Ich hab noch ’ne knappe Dreiviertelstunde“, sagte Nele und ich hörte, dass sie sich über meinen Vorschlag freute.

„Prima, dann sind wir hier im Erdgeschoss genau richtig und ich rieche auch schon den Duft von frisch gebackenen Sachen“, sagte ich und deutete auf eine Art Café, aus dem es besonders gut duftete. Dann schnalzte ich erst zwei und danach noch drei weitere Male mit meiner Zunge, während ich dabei meinen Kopf hin- und herdrehte.

„Da stehen doch Stühle und kleine Tische“, sagte ich und fand die Atmosphäre, die sich etwas nach Bistro anhörte und von den Architekten hier drinnen schön heimelig geschaffen worden zu sein schien, echt ansprechend.

„Ja, das stimmt, aber ich dachte, du bist blind?“, fragte mich Nele etwas irritiert, und das Kribbeln wurde mit jedem weiteren Satz, den sie mit ihrer jetzt schon betörend wirkenden Stimme zu mir sagte, mehr.

„Klicksonar macht’s möglich. Auf diese Art kann ich solche Gegenstände fast so gut hören, wie du sie sehen kannst, Nele“, gab ich ihr zur Antwort, faltete meinen Blindenstock zusammen, verstaute ihn in meinem Rucksack und fragte sie nach ihrem Arm.

„Wie kannst du nur …?“, schimpfte mich eine innere Stimme aus meinem tiefsten Inneren ganz entsetzt, aber meine autarke Mobilität war mir in diesem Moment total schnurz. Das Einzige, was ich wollte, war mehr Zeit mit Nele. Wenn jetzt Sommer wäre, dachte ich, könnte ich sogar ihre nackte Haut fühlen. Dass ich mich nur wegen meiner Sehnsucht, mehr von Neles Körper entdecken zu wollen, dazu herabgelassen hatte, mich von ihr führen zu lassen, wollte ich mir aber keinesfalls anmerken lassen. Selbst als sie mich spontan unterhakte, genoss ich ihre Nähe mehr, als dass ich sie, so wie ich das sonst in ähnlichen Situationen getan hätte, dafür anschnauzte. Mit einem Lächeln befreite ich mich aus ihrem Griff und legte meine Hand behutsam oberhalb von Neles Ellenbogen um den Ansatz ihres Oberarms.

„So macht man das eigentlich“, sagte ich und unterdrückte, so gut ich es hinbekam, ein erregtes Zittern in meiner Stimme, während ich ihr, an ihrem Arm geführt, zu einer freien Tischgruppe folgte.

„Na, ihr zwei? Wat darf’s 'n sein für die beden Hübschen?“, fragte uns kurz darauf die flott klingende Stimme eines älteren Herrn.

„Für mich einen Cappuccino und vielleicht ’ne Sahneschnitte mit Himbeeren oder so etwas in die Richtung“, preschte ich vor.

„… und für mich nur ’nen Kaffee ohne wat“, ergänzte Nele.

„Ne Joghurtsahne mit Blueberry, det würd ick der blonden Dame dann janz frech mal lecker empfehlen“, sagte der Kellner und verschwand, nachdem ich zu seinem Vorschlag dankend genickt hatte.

„Keine Lust auf Süß …?“, fragte ich Nele.

„Nee, besser nicht, für mich ist fast immer Fastenzeit“, antwortete sie mir in einem Ton, der nicht wirklich glücklich klang.

„Willst Kalorien sparen?“, hakte ich nach, weil ich schon an ihrem Arm gespürt hatte, dass sie wohl ein bisschen mollig geraten ist, aber ich dachte mir nichts Böses dabei.

„Ja, das auch, aber auch sonst kann ein bisschen Enthaltsamkeit nicht schaden. Das ist nicht nur gut für den Körper, sondern auch hilfreich für einen reinen Geist“, sagte Nele, und ich überlegte mir, ob es eine gute Idee war, mir vor ihren Augen jetzt gleich so ein leckeres Törtchen einzuverleiben. Nachdem ich schon so tollpatschig gefragt hatte, entschied ich mich dann aber wenigstens dafür, jetzt einfach alles so zu lassen, wie es war, und es nicht noch peinlicher werden zu lassen.

„Kein Problem, wenn du meinst, dass es so besser für dich ist …“, bemerkte ich vorsichtig vermittelnd, weil ich das Thema ja auch nicht ganz ersticken wollte, falls Nele mir vielleicht noch mehr zu dem sagen wollte, was sie möglicherweise bedrückte.

„Ach schon gut“, lenkte Nele weiter ab. Damit schien mir mein Ausrutscher verziehen und das peinliche Thema war zum Glück wieder erledigt.

„Was studierst du denn in Stralsund?“, frage ich weiter, um das Gespräch im Fluss zu halten.

„Ich lebe dort und meine Uni ist eigentlich in Marburg“, sagte Nele, ohne zu wissen, dass sie damit unschöne Erinnerungen bei mir weckte.

„Ausgerechnet in Marburg?“, fragte ich skeptisch.

„Einmal den Cappu und die Blueberryschnitte für die blonde Schnitte und hier der Schwarze für Dunkle“, sagte der ältere Herr, der mit unserer Bestellung angekommen war, und stellte die Sachen vor uns auf den Tisch.

„Danke, lieb von ihnen, das ging ja echt flott“, bedankte sich Nele so schnell und freundlich bei dem Schleimer, dass ich gar nicht mehr schnippisch auf den Macho-Spruch reagieren konnte und gleich darauf war er auch schon wieder weg. Die Nele ist ein echt lieber Mensch, ging es mir durch den Kopf, und ich spürte immer mehr dieses Kribbeln in mir. Ihr aber einfach so zu gestehen, dass ich schon richtig scharf auf sie geworden war, wollte ich auch nicht. Sie einfach zu fragen, schien mir zu direkt zu sein, zumal ich damit noch ein ganz anderes persönliches Problem hatte, für das ich mir in Berlin eine finale Lösung erhoffte. Während ich noch darüber grübelte, wie ich unser Gespräch über die Zuneigung, die ich für Nele empfand, irgendwie eleganter als mit einer tolpatschigen Frage in die richtige Richtung lenken könnte, gab mir Nele völlig unerwartet eine Steilvorlage.

„Berlin ist natürlich viel besser als Stralsund und auch viel cooler als Marburg, da bin ich voll bei dir. Eine wirklich tolle Stadt ist das hier. So offen und vielfältig … und so frei … Ich mag diese Stadt sehr gern“, sagte Nele und ich rührte Zucker in meinen Cappuccino.

„Das ist auch für mich ein weiterer Grund, warum ich nach Berlin gekommen bin und mich schon total darauf freue, diese wunderbare Stadt zu erleben“, antworte ich.

„Ich brauche Berlin, seine kulturelle Vielfalt und die Leichtigkeit, mit der hier alle miteinander umgehen, wie die Luft zum Atmen“, schwärmte Nele in vollen Zügen und ließ mich über den Klang ihrer Stimme tiefer in ihr Herz blicken.

„Kulturelle Vielfalt? … Das klingt gut … und was machst du dann hier so, wenn du in Berlin bist?“, fragte ich und streckte meine Hand nach dem Zucker aus. Die Richtung, wo der Zucker auf dem Tisch stand, hatte ich mir gemerkt, nachdem Nele das Glas wieder auf dem Tisch abgestellt hatte, aber das war nicht alles. Der Zuckerstreuer musste oben die kantige Rundung eines schräg zugeschnittenen Metallrohrs haben, das wusste ich auch. Weil ich diese niedlichen altmodischen Zuckerstreuer schon lange kenne, kenne ich natürlich auch deren Klang. Deshalb hatte ich, während Nele sich vor mir von dem Zucker nahm, an dem leisen Rasselgeräusch schon gehört, nach welchem Merkmal ich Ausschau halten musste. Als ich dann gleich beim ersten Versuch die Metallspitze in meiner Handfläche spürte, dachte ich – Prima! … Geht doch, jetzt kann sie mit eigenen Augen sehen, wie gut ich so einfache Sachen selbst auch ohne fremde Hilfe kann. Souverän ließ ich meine Hand über den Schraubverschluss hinab auf das Glas gleiten, nahm mir auch von dem Zucker und überlegte mir dabei, wie sich auch unser Gespräch in eine ebenfalls zuckersüße Richtung weiterentwickeln könnte. Nele hatte währenddessen schon damit angefangen, mir zu erzählen, was sie hier in Berlin gern unternahm und wie oft sie sich deshalb hier aufhielt.

„Ich spiele im Museumsdorf Düppel als Statistin in einer Aufführung von Frühlingserwachen mit. Wir treffen uns dort alle vierzehn Tage an den Wochenenden zum Proben“, sagte Nele stolz, „und das Beste ist, dass ich dann auch die Fahrt- und Übernachtungskosten abrechnen kann.“

Frühlingserwachen von Frank Wedekind?“, antwortete ich spontan voller Begeisterung.

„Du kennst es …“, sagte Nele und ich genoss die Freude in ihrer Stimme.

„Ja klar, ein Drama in drei Akten aus der Zeit der Aufklärung. Die Autoren aus dieser Zeit waren frühe Botschafter für Respekt, Wahrheit und Toleranz. Eine Art Vorboten der Inklusion“, antwortete ich und fragte sie, wo sie denn dann übernachtet, wenn sie ihre Wochenenden in Berlin verbringt.

„Nicht weit von hier, das Hostel heißt Space Night, es ist fast schon eine Institution in Berlin“, sagte Nele und fügte hinzu, „Das Schlafen dort fühlt sich an wie eine Reise zu den Sternen und ist gar nicht teuer.“

„Echt jetzt? Sternenfliegen? … mitten in Berlin …? … das will ich auch ausprobieren“, antworte ich und stellte mir sofort vor, mit Nele dort heute die Nacht zu verbringen.

„Ja, es wirkt wirklich futuristisch, es nennt sich auch Capsule Hostel, weil die Zimmer nur kleine, aber sehr bequeme Kapseln sind, wie die Schlafzellen der Astronauten im Weltall. Die Betten sind aber schön groß und richtig kuschelig. Besonders im Sommer ist das für kleines Geld richtig cool, weil alles prima klimatisiert ist“, erzählte Nele weiter und ich wurde immer kribbeliger.

„Wann ist denn die nächste Aufführung?“, fragte ich neugierig.

„Die Premiere soll im April 2023 stattfinden, wir sind quasi schon fast im Endspurt“, sagte Nele, und das erwartungsvolle Grinsen, das ich aus ihrer Stimme heraushörte, drang mir durch meine Ohren direkt in meinen Kopf. Wie ein Schwarm Schmetterlinge, die voller Frühlingsgefühle nach der Sonne strebten, erfüllten mich Neles Worte. Oje, jetzt tobten die Schmetterlinge nicht nur in meinem Bauch, sondern hatten mich von den Fußsohlen bis zu den Haarwurzeln erwischt und voll im Griff.

„Du Nele? Dein Zug morgen früh …? Hättest du Lust, mir das Space Night zu zeigen?", fragte ich vorsichtig.

„Klar Mara, kein Problem, wenn wir eine Kapsel zusammen nehmen, wird es sogar noch günstiger für jede von uns …, falls dich das nicht stört, meine ich …“, sagte Nele, „ich bin eh schon ziemlich müde.“

 

***

 

„Wow, da drin gibt es ja sogar einen Tisch“, sagte ich zu Nele, die gerade die Tür zu unserer Kapsel geöffnet und ich mich die Hände voraus hineingebeugt hatte. Noch bevor wir uns vor der Kapsel auszogen, trieb mich meine Neugier dazu, mir einen ersten Überblick über das aufregende Reich zu verschaffen, das ich mir gleich zusammen mit Nele die ganze Nacht teilen würde.

„Ja, das ist für den Preis echt okay, gerade mal dreißig Euro für jede von uns. Das war echt eine gute Idee von dir, Mara, dass wir uns hier erst mal ausschlafen und danach unsere Reisen am frühen Morgen frisch und fit fortsetzen“, sagte Nele, während wir schon damit begonnen hatten, uns vor unserer Kapsel auszuziehen.

„Hey, was heißt meine Idee. Ohne dich hätte ich diese coole Galaxie hier doch nie gefunden“, sagte ich grinsend und streifte mir meine Jeans ab.

„Galaxie klingt gut …, erinnert mich an Lunaria, sagte Nele“, während ich hörte, dass sie sich dabei ihr Oberteil abstreifte, und ich selbst stand inzwischen auch nur noch mit meinem aufgefütterten BH und meinem Slip an da.

„Lunaria? Echt jetzt, die Lunaria-Galaxie kennst du auch?“, fragte ich und überlegte, ob ich Nele dort vielleicht sogar vorher mal als Pseudonym getroffen und vielleicht sogar schon einmal mit ihr gechattet hatte. Kurz danach krochen wir in unsere Kapsel, schlossen die Tür und kuschelten uns in unsere Decken. Dass Nele viel kleiner als ich war, wusste ich ja schon, und dass sie so anders als Mila, nämlich viel weicher und etwas molliger war, wusste ich auch schon. Mein Problem war jetzt nur, dass Nele noch nicht wusste, wie ich wirklich bin, und es vermutlich auch noch nicht gesehen hatte.

„Hast du schön warm, Mara?“, fragte mich Nele mit ihrer warmen Stimme und ich spürte, wie sich meine winzigen Brustwarzen unter meinem BH aufzustellen versuchten. Gegen die strammen Polster, die mir meine eher dezente Oberweite vermittelten, hatten sie aber keine Chance und mein Verlangen, das drückende Ding abzulegen, stieg von Minute zu Minute mehr.

„Wenn du gleich schlafen willst, Nele? Dann machen wir besser das Licht aus, oder?", fragte ich vorsichtig.

„Schon passiert, hätte ja auch was sagen können, aber hier glimmen nur noch die bläulichen Schimmer der Knöpfe und Schalter. Für das Regulieren der Heizung brauche ich deshalb auch während der Nacht hier drin kein Licht. Soll ich dir den Drehschalter zeigen? Dann kannst du ja auch selbst nachregulieren, wenn ich gleich eingeschlafen bin. „Jetzt oder nie“, dachte ich mir in diesem Moment und tastete vorsichtig unter unserer Decke nach Neles Hand. Sie fühlte sich so weich und schön warm an, dass mir ein hitziger Schauer durch meinen Körper schoss.

„Oh Gott! … bitte nicht!", dachte ich im selben Moment. Denn ich spürte plötzlich eine Regung zwischen meinen Beinen, die mich so heftig ergriff, dass mir jetzt auch noch mein filigranes Spitzenhöschen zu eng wurde.

„Schlafen kann ich, glaub’ ich, obwohl ich wirklich schon müde bin, eh noch nicht gleich“, sagte Nele und drückte zärtlich meine Hand, was mich noch mehr aufwühlte, mir aber andererseits auch total gefiel.

„Du bist nicht nur mega lieb, sondern auch eine schön frauliche junge Frau“, sagte ich und streichelte Nele mit meinem Däumchen zärtlich ihren Handrücken, „ich mag dich.“

„Ich mag dich auch“, sagte Nele, mit einem Hauch von Kummer in ihrer Stimme, „vor allem aber mag ich dich nicht enttäuschen.“

„Wieso solltest gerade du mich enttäuschen? Ich habe noch selten einen herzlicheren Menschen als dich getroffen. Wenn jemand überhaupt einfühlsam ist, dann bist du es“, sagte ich und versuchte, meine Erregung in den Griff zu bekommen.

„Du würdest gern anders als nur so mit mir schlafen, oder, Mara?“, fragte Nele mit melancholisch klingender Stimme und fügte hinzu, „aber ich bin anders, als du denkst.“

„Oh Nele, ja! … So zärtlich, wie du das sagst, klingt das wie Musik in meinen Ohren, aber ich spüre, dass du es nicht so willst wie ich, oder?“, antwortete ich ihr ehrlich, ohne meine Zuneigung für sie zu verbergen.

„Nein, das ist es nicht …“, sagte Nele mit einem Kloß im Hals.

„Ich bin auch anders, Nele. Ich hab oben zu wenig und unten zu viel“, antwortete ich ihr leise und streichelte sie dabei vorsichtig an der Innenseite ihres Unterarms, „wovor hast du denn dann Angst?“

„Ich bin klein und dick und …, ach, ich weiß auch nicht. Auf jeden Fall klappt es bei mir mit dem Sex nicht so wie bei anderen Frauen“, sagte Nele und zog sich die Nase hoch, weil sie mit den Tränen kämpfte.

„Für mich bist du nicht dick, sondern eher mollig und schön fraulich vielleicht. Du bist weder zu dick noch so klein, wie du dich gerade selbst unnötigerweise machst, und das meine ich außer in Bezug auf deine Körpergröße besonders, was dein Selbstbewusstsein betrifft, metaphorisch. Für mich bist du einfach nur voll okay und richtig nett“, sagte ich und ließ meine Hand dabei über ihren Bauch gleiten. Nele war ganz anders als Mila, aber sie wirkte auf mich nicht weniger erotisch und der Babyspeck, der ihren Bauchnabel umhüllte, erinnerte mich an Beschreibungen von Bauchtänzerinnen. Das einzige, was Nele noch fehlte, waren die goldenen Kettchen, mit denen sich diese Prachtfrauen zierten, um ihre Fülle zu betonen.

„Für dich vielleicht Mara, aber du kannst mich ja auch nicht …“, dann brach sie ab und da war es wieder, dieses blöde Mitleid, das manchmal auch Menschen, die ich mochte, unerwartet verstummen ließ.

„Hey, was soll das, Nele? Ich weiß länger als du, dass ich blind bin, und ich hör’ deshalb auch nicht mitten im Satz auf zu reden, wenn ich gerade mal wieder daran denke“, sagte ich weich. Der Ton, den ich gerade traf, überraschte mich selbst, weil ich jede andere Person in der gleichen Situation wohl eher voll angeblafft hätte.

„Du hast gut reden, mit oben wenig und unten zu viel …“, sagte Nele, und schlang von hinten ihre Arme um mich. Zärtlich schmiegte sie sich an meinen Körper und näherte sich mit ihren weichen Händen, die sich auf meiner Haut schön warm anfühlten meinem kleinen Busen, um mich dort wohl gleich zu streicheln. So sehr ich mich nach diesem Moment der Nähe mit Nele gesehnt hatte, so perplex war ich von Neles Vorstoß und war deshalb im ersten Moment wie gelähmt. Während ich Neles überaus üppige Oberweite warm und weich wie zwei lauwarme Heizkissen auf der Haut meines Rückens fühlte, tobten in mir Leidenschaft und Zorn auf mich selbst um die Wette.

„Du hast da ja wirklich fast nichts im Vergleich zu mir…“, hauchte Nele scheu und schreckte zurück, nachdem sie gemerkt hatte, dass die kleinen Silikonpolster in meinem BH nur für eine gute Silhouette sorgten. Mit den Hormonen, die ich seit längerer Zeit nahm, konnte ich zwar gerade noch meine feminine Stimme retten, aber oben war ich bis auf zwei feste kleine Hügelchen zwar nicht ganz flach, aber viel mehr als normale Jungs in meinem Alter hatte ich da noch nicht. Nur meine Brustwarzen hatten sich inzwischen ein bisschen weiterentwickelt und stellten sich, obwohl sie auch noch winzig waren, nach einer sexuellen Stimulation schnell auf und wurden dann auch richtig hart. Ein schönes Gefühl eigentlich, aber genau das musste ich Nele jetzt irgendwie vermitteln. Wie dumm von mir, dass ich mein Problem nicht einfach früher angesprochen hatte, dann wäre alles sicher viel einfacher als jetzt gewesen.

„Nele, ich muss dir was sagen …“, stotterte ich herum, stemmte mich etwas hoch und streifte meinen BH ab, „… ich bin im falschen Körper auf die Welt gekommen."

„Na und, Mara? … Mein Körper passt mir auch nicht“, sagte Nele und streichelte mir dabei so zärtlich meine Brust, wie ich das noch vom Sex mit Mila in Erinnerung hatte.

„Du bist aber im Gegensatz zu mir wenigstens eine richtige Frau …“, erwiderte ich mit einem lustvollen Stöhnen, als ich Neles Zähne an meinen Brustwarzen spürte und ihr zärtliches Saugen mir fast meinen Atem stahl.

„Mag ja sein, aber ich kann damit nichts anfangen“, sagte Nele, rollte mich zärtlich auf meinen Rücken und zog mir liebevoll tastend und streichelnd mein Höschen aus. Ich spürte ihre Lippen auf meinem kleinen Freund und wie sie spielerisch meine Bällchen in ihrer hohlen Hand bewegte und mich mit ihren Berührungen fast in den Wahnsinn trieb.

„Stört es dich, wenn wir doch wieder das Licht anknipsen?“, fragte Nele vorsichtig und kitzelte mich währenddessen mit ihren Fingernägeln an den Innenseiten meiner Oberschenkel bis hoch in meinen Schritt und wieder langsam zurück.

„Mach nur, Nele, tu, was du willst, aber hör bitte nicht auf und lass dir Zeit bei allem, was du noch so Schönes mit mir vorhast …“, presste ich zwischen lustvollem Japsen nach Luft hervor. Das Klicken des Lichtschalters hörte ich genauso wenig wie mir auffiel, dass sich Nele im Licht anders als vorher bewegte. Mit Mila hatte ich immer wunderbar von Frau zu Frau gepettet und war froh, dass sie mich, so wie ich war, als Frau akzeptierte. Was Nele mit mir machte, wurde mir erst klar, als sie sich ganz zärtlich mit ihren weichen Schamlippen meinen steifen Freund stahl. Wie eine fleischfressende Pflanze schleimte sich ihre frauliche Vagina zuerst auf meiner Bauchdecke etwas bei mir ein. Ihr Duft breitete sich wie ein Parfüm auf mir aus und vernebelte mir meine Sinne. Erst dann lockte sie sich meinen steifen Kitzler, der noch wie ein männliches Glied war, mit sanftem Druck von oben in ihre heiße Höhle, die mich dann wie ein Vakuum in sich aufnahm.

„Nele, hör auf bitte, … hör auf, … hör auf“, jammerte ich gefühlte tausend Stunden später schweißnass und fest an Neles aufregendem Körper geklammert immer leiser. Vielleicht war es sogar eher ein Winseln, aber ein schönes Winseln, ein zuckersüßes Winseln.

„Du musst jetzt schlafen, Mara“, sagte Nele liebevoll und streichelte mich immer noch so zärtlich, dass ich ihre Zuneigung für mich, oder war es noch mehr, was Nele für mich empfand, mit jedem Härchen spüren konnte.

„Ist das Licht schon wieder aus?“, fragte ich mit schlaftrunkener Stimme und war einen Moment später dann doch wieder hellwach.

„Hey Süße, leg dich wieder hin und träume süß. Was ist denn schon dabei, wenn ich vor dem Einschlafen noch ein paar Seiten lesen will?“, fragte Nele mich ganz entspannt in ruhigem Ton.

„Bist du denn nicht auch todmüde nach so viel Sex?“, fragte ich, einerseits vollkommen verwirrt und andererseits, weil ich besorgt darüber war, dass ich in meiner Rage Neles Befriedigung vernachlässigt haben könnte.

„Wovon denn? Ich hab dir doch gesagt, dass mich Sex nicht wirklich berührt“, aber lass das mein Problem sein. Du deine Probleme und ich meine, ok?“, sagte Nele in einem so warmherzigen und glaubhaften Ton, dass ich die Welt nicht mehr verstand.

„Wie, das ging dir alles voll an deinem Hintern vorbei, was da eben mit uns war?“, fragte ich völlig entsetzt.

„Nein, gar nicht, Mara, ich hab dich nicht nur gern, sondern auch schon richtig lieb. Nur Leidenschaft beim Sex ist bei mir so wenig drin wie bei dir das Suchen von Sternschnuppen an einem klaren Sommernachthimmel. Meine Mutter schleifte mich deshalb, als ich fünfzehn war, zu unserem Hausarzt, nachdem sie die Mutter meines ersten Freundes damit beschimpft hatte, dass ich frigide sei. Die Psychologin, zu der ich dann von unserem Hausarzt überwiesen wurde, hat dann festgestellt, dass meine sexuelle Ausrichtung mit dem Fachbegriff Asexualität bezeichnet wird. Das bedeutet, dass ich alles kann, weil ich biologisch und psychisch voll okay bin, nur hab ich halt eben kein Verlangen nach Sex oder, anders ausgedrückt, kein Interesse daran. Aber ich mag dich trotzdem sehr und genau deshalb habe ich auch mit dir geschlafen. Vielleicht hätte ich dir auch vorher sagen sollen, was ich damit gemeint habe, dass ich dich nicht enttäuschen will.

„Jetzt nimmst du mich am besten von hinten in deine Arme und träumst von unserer schönen Nacht. Ich lese noch ein paar Seiten und wenn mir meine Augen zufallen, lösche ich das Licht. Glaub mir einfach, dass ich mich nicht weniger als du darüber freue, dass du da bist und wir hier heute noch bis zum nächsten Morgen weiter zusammen schlafen", sagte Nele einfühlsam. „Dann versuche ich jetzt mal einzuschlafen“, murmelte ich und kuschelte mich an den weichen Körper von Nele, der sich unter der Decke so schön wohlig warm anfühlte.

„Vielleicht verstehe ich das alles in meinen Träumen besser“, brabbelte ich noch kurz weiter, bevor ich in das Land der Träume glitt. Dabei kam mir eine alte, halb vergessene Frage in den Sinn, deren Antwort mir inzwischen schon lange egal geworden war. „Als ich klein war, hatte ich mich, wenn ich wach war, oft gefragt, wie Licht ist, und selbst in meinen Träumen nie eine Antwort darauf gefunden. Vielleicht ist das bei dir, Nele, mit dem Sex ja ähnlich. Ich vermisse das Licht ja so wenig wie du die Lust beim Sex, weil ich meine Welt nur so kenne, wie sie schon immer für mich ist. Was mir mächtig stinkt, ist nur mein falscher Körper, und das, obwohl ich so ja eigentlich auch schon alles machen und haben kann, was mir lustvolle Gefühle bereitet. Nur das mit dem Licht ist bei mir vielleicht inzwischen so ähnlich geworden wie das bei dir mit dem Sex ist", sagte ich müde und rollte mich so hinter Nele zusammen, dass ich sie beim Einschlafen mit meinen Armen umschlingen konnte. Das tat mir dann irgendwie noch richtig gut.

 

***

 

„Vor uns kommt jetzt gleich die Tür raus zum Europaplatz und dort geht’s dann kurz links bis an die Gebäudeecke und dann musst du nochmal links in die Invalidenstraße", sagte Nele. Die Luft roch feucht, sie war, so früh wie ich mit Nele wieder am Bahnhof angekommen war, noch kalt von der Nacht und dunkel war es draußen bestimmt auch noch. Nele musste sich gewaltig sputen, wenn sie ihren Zug noch erreichen wollte, der gleich, also genauer gesagt in fünf Minuten, auf Gleis 6 über Angermünde nach Stralsund abfahren würde. Dass mir das für die Verabschiedung so sogar lieber war, hatte meine neue Freundin inzwischen kapiert und außerdem war es drinnen, trotz der herbstlichen Luft, die schon von draußen hereinzog, etwas kuscheliger.

„Da ist er ja, der Berliner Humor“, antwortete ich, bückte mich ein letztes Mal zu meiner anderen Nele hinunter und drückte sie zum Abschied ganz doll.

„Berliner Humor?“, fragte sie etwas verdattert.

„Ja klar, eine Blinde, die zur Invalidenstraße muss“, kicherte ich und knuffte sie.

„Darüber kann ich nicht wirklich lachen“, sagte Nele und knuffte mich ebenfalls.

„Sorry, Süße, bisschen Selbstironie schadet in solchen Fällen kein bisschen. Ganz im Gegenteil, die macht nämlich richtig locker und ist ’ne prima Medizin gegen Mitleid und Bevormundung. Schwarzer Humor passt doch wie ’ne Faust aufs Auge zu mir, oder?“, legte ich nach und versprach ihr, sie irgendwann auch einmal in Stralsund zu besuchen.

„Du bist wirklich ein etwas gewöhnungsbedürftiges Exemplar, aber auf deinen Besuch freue ich mich jetzt schon“, sagte sie, während ich mich von ihr löste. Nachdem die Tür vor mir geöffnet war, ließ ich meinen Stock aufklackern und folgte dem kalten Luftzug, der vom Europaplatz in die Bahnhofshalle herein zischte. Dann war ich alleine und drehte mich in Richtung Westnordwest. Mit meinem Navigationsgurt und dem Stock, mit dem ich hervorragend der gläsernen Fassade des protzigen Bahnhofsgebäudes, das sich links von mir befand, folgen konnte, war ich in Verbindung mit den Großstadtgeräuschen bestens orientiert. Außerdem hatte ich in meiner Linken zusätzlich noch mein Handy, das mich über Lautsprecher mit ergänzenden Weginformationen versorgte. Deshalb machte ich mir nicht einmal die Mühe, mit meinem Stock den Rillen des auf dem Boden befindlichen Leitsystems, das es hier auch irgendwo geben musste, zu folgen. An der Gebäudeecke angekommen blieb ich stehen, stellte den Stock senkrecht vor mich auf den Boden und lauschte. Berlin hatte wie erwartet eine aufregende Geräuschkulisse, in der es viel zu entdecken gab. Da waren nahe und ferne Stimmen, Geräusche an- und abfahrender Autos und das Schlagen von Fahrzeugtüren, das leise Poltern von Rollkoffern und dazwischen die typischen Geräusche eines viel frequentierten Taxistandes.

„Wo soll’s denn hingehen?“, fragte mich der Fahrer des Taxis, in das ich nach meiner Ankunft in der Invalidenstraße einsteigen wollte.

„In die Silbersteinstraße 131, dort ist ein Studentenwohnheim. Kennen sie das …?", fragte ich den Mann, dessen Stimme ich gleich genauso sympathisch empfand wie seine Berliner Schnauze.

 

Vergiftung

Susi

 

„Ah Pawel und Susi, besser spät als nie …“, hörte Susi eine weibliche Stimme sagen.

„Guten Tag, Uljana“, antwortete Pawel und eilte mit Susi auf die Frau zu. Kurz bevor sie die Chefin der Einrichtung erreicht hatten, befreite sich Pawel von Susi, die er untergehakt in den Raum geleitet hatte, und begrüßte seine Bekannte zu Susis Überraschung mit einer herzlichen Umarmung.

„Das ist Susi“, sagte er dann und schob sie nach vorne auf die fremde Frau zu.

„Guten Tag, Frau Doktor“, sagte Susi etwas perplex und war sich unsicher, wie sie sich in der eigenartig vertraulichen Stimmung, die sie so nicht erwartet hatte, verhalten sollte.

„Den Doktor darfst du gerne weglassen, Susi. Wir sind eine geheime Einrichtung der russischen Armee, weshalb hier bei der Anrede die militärischen Dienstgrade akademischen Gepflogenheiten vorgezogen werden“, sagte Uljana und Susi hörte einen freundlichen Unterton aus ihrer Stimme heraus. Dann spürte sie eine gepflegte Hand, die sich etwas kühl anfühlte, an ihrem Unterarm entlanggleiten, die danach ihre linke Hand ergriff und sie mit beiden Händen umschloss, um auch sie herzlich willkommen zu heißen.

„Hier drüben habe ich russischen Tee und etwas Gebäck zur Begrüßung vorbereiten lassen. Nach der langen Reise werdet ihr eine kleine Stärkung sicher gut vertragen können“, sagte Uljana freundlich und Pawel half Susi, einen Platz zu finden.

„Pawel, du möchtest uns sicher allen Tee einschenken“, hörte Susi die Chefin sagen, hoffte, dass sie schnell zum Thema kommen würde, weil die Verspätung sie schon fast an den Rand der Verzweiflung gebracht hatte.

„Pawel, du hilfst Susi sicher gerne mit den Sachen auf dem Tisch und versorgst sie gut, während ich mich mit ihr über die Aufnahmebedingungen in unserer Rehabilitationsklinik unterhalte. Ich drucke nur noch kurz die nötigen Formulare aus, bevor wir uns über Susis neue Perspektiven unterhalten“, sagte Uljana, stand auf und drückte auf ihrem Computer ein paar Tasten, worauf kurze Zeit später ein Drucker fast so laut wie ein Maschinengewehr losbrüllte.

 

 

***

 

„Augenkrebs? Retinoblastom? … Das haben sie im Westen bei dir diagnostiziert? … Dann läuft ja alles nach Plan“, sagte die Chefin zu der entsetzten Susi, die ihr gerade von dem Termin bei Frau Dr. Krassmann berichtet hatte.

„Nach Plan? Was soll das denn", schrie Susi, weil sie plötzlich gar nichts mehr verstand, verwirrt auf. „Was denn für ein Plan? Ich dachte, sie haben hier eine Therapie, um mir wenigstens noch rechtzeitig mein besseres Auge retten zu können, bevor ich total erblinde. Ich hatte solche Angst wegen unserer Verspätung. Soll das etwa heißen, dass die ganzen Strapazen, die Pawel und ich auf uns genommen haben, umsonst waren und sie mir mein Augenlicht auch nicht mehr retten können. Ich will doch nicht für immer blind bleiben müssen", jammerte Susi.

„Na und? Besser blind als tot“, sagte Uljana so trocken, dass Susi ihr Gebäckstückchen fast vor Schreck aus der Hand fiel.

„Wie können sie so etwas Schlimmes nur so sagen?“, schluchzte Susi, die fast an dem Kloß in ihrem Hals erstickte.

„Weil ich weiß, wovon ich rede“, sagte Uljana. „Mir ging es genauso, aber ich habe deshalb nie aufgegeben.

„Wie, sie sind auch blind?“, fragte Susi und rang um ihre Fassung.

„Ja, es war ein Unfall während meines Examens, nur dass ich damals noch keine Therapie gegen die Vergiftung zur Verfügung hatte. Insofern hast du trotz deiner Verspätung vielleicht doch noch mehr Glück als ich. Aber vorher musst du hier unterschreiben“, erklärte ihr die Direktorin ohne jegliche Gefühlsregung.

„Eine Vergiftung? Etwas unterschreiben?“, fragte Susi in panischer Angst davor, für immer blind bleiben zu müssen, während Uljana ihr drei Bögen Papier unter ihre linke Hand schob, die schweißnass auf dem Tisch lag. Susi fühlte viele Pünktchen und bekam einen weiteren Schreck, nachdem ihr klar geworden war, dass das Dokument in Punktschrift ausgedruckt worden war.

„Nichts Schlimmes, Susi. Du wirst nur für die Zeit deines Aufenthalts hier wissenschaftliche Mitarbeiterin der russischen Armee sein. Sobald du mit erfolgreich austherapierten Augen wieder ordentlich sehen kannst, ist der Vertrag erfüllt und du kannst gehen, wohin du willst. Ist das nicht ein faires Angebot?“, fragte Uljana und drückte Susi einen Stift zum Unterschreiben in die Hand.

„Pawel begann, ihr den Text flüssig vorzulesen, und spürte, dass, kurz bevor er zum Ende kam, Susis linke Hand zuerst über seinen Arm und danach über den Bogen steifes Papier strich, dessen Text er gerade vorlas.

„Wie Pawel, du kannst das lesen?“, stutzte Susi und fragte sich noch mehr, was hier tatsächlich los war.

„Nein, kann er natürlich nicht, aber wir arbeiten hier mit speziellen Druckern, die Punkt- und Schwarzschrift zeilengleich übereinander drucken können, das erleichtert den wenigen sehenden Kolleginnen, die uns hier unterstützen, die tägliche Arbeit mit blinden Armeeangehörigen sehr", erklärte Uljana.

„Und wenn es doch ein bilaterales Retinoblastom ist, das mich blind gemacht hat? Dann würde ihre Therapie vielleicht gar nicht anschlagen und ich müsste elend an Metastasen zugrunde gehen, oder?“, fragte Susi, die jetzt sehr misstrauisch geworden war.

„Kein Grund zur Sorge, Susi, das Euphotox-Spray, das Pawel dir gab, ist nicht so gefährlich, wie es scheint. Du musst nur unterschreiben, dann hast du jetzt noch gute Chancen auf eine vollständige Genesung.

„Entschuldige Uljana, in den letzten drei Wochen gab ich ihr auch etwas von dem Termitox, weil das Euphotox nicht mehr wirkte“, sagte Pawel kleinlaut dazwischen.

„Termitox? Wo hattest du das denn her?“, fauchte Uljana ihn gefährlich an.

„Von Wissi, aber er hat mir dazu gesagt, dass sie nicht viel davon nehmen darf“, nuschelte Pawel.

„Damit habt ihr Idioten uns nicht nur die Versuchsreihe zur Therapieentwicklung, die wir so dringend für unsere Spezialtruppen gebraucht hätten, verdorben. Wenn ihr Pech habt, habt ihr dazu nämlich auch noch Susis Leben auf dem Gewissen und völlig unnötig leichtfertig aufs Spiel gesetzt“, schrie Uljana vor Zorn und ging zum Telefon.


***

 

„Was ist denn, Anna?“, fragte Uljana, die ungeduldig an ihrem Schreibtisch saß, weil sie viel früher mit diesem Anruf gerechnet hatte, und lauschte gespannt, was die Chirurgin ihr zu berichten hatte.

„Susis Vergiftung gibt uns mehr Fragen auf, als wir das im Vorfeld dachten, und außerdem ist da noch ein neues Phänomen, das wir vorher noch nie beobachten konnten. Ihre linke Körperhälfte ist unerklärlicherweise viel weniger vergiftet als ihre rechte und wir haben keine Ahnung, warum“, berichtete Anna ihrer Chefin.

„Und wie gehen wir damit um, Anna?“

„Wie immer, sie kommt zu den anderen ins Trainingsprogramm, während ich die entnommenen Proben untersuche, bis wir Klarheit haben“, antwortete die Chirurgin.

„Proben? Nicht nur ein Auge?“, fragte Uljana stirnrunzelnd.

„Natürlich auch ein Auge, aber ihren rechten Arm habe ich auch gleich im Labor behalten“, sagte Anna und wartete auf ein Lob.

„Du weißt, wie sehr die Zeit drängt und dass unsere Truppe die neue Medizin zur Steigerung ihrer Tapferkeit von Tag zu Tag mehr braucht. Sei bloß nicht zögerlich“, sagte die Chefin in ihre Sprechmuschel.

„Keine Sorge, Uljana. Falls nötig werde ich ihren Körper bis auf ihren letzten Knochen im Dienste der Wissenschaft und für den Sieg Russlands ausbeuten und so schnell wie möglich herausfinden, wie wir unsere Kampfdrogen zügig mit wirksamen Gegenmitteln ausliefern können", sagte die Chirurgin und wartete kurz, bis die Direktorin das Gespräch beendet hatte.

Nebelfreunde

Mara

 

„Det is die Silbersteinstraße“, sagte der Taxifahrer mit seinem für diese Stadt typischen Berliner Dialekt, während er das Taxi, in dem ich saß, nach der Fahrt um die letzte Kurve vor unserem Ziel verlangsamte. Den Typ, der mich fuhr, fand ich echt nett und seine offene Art brachte uns gleich zu Beginn unserer Fahrt ins Gespräch. Nachdem ich meine erste Nacht in Berlin spontan mit einer Frau verbracht hatte, war ich am Morgen vor dem Bahnhof Berlin-Mitte in das Taxi eingestiegen, in dem ich nach einer längeren Fahrt durch die Stadt noch immer saß. Es befand sich mittlerweile schon kurz vor dem eigentlichen Ziel meiner Reise, einem Studentenwohnheim in der Silbersteinstraße. Sowohl interessiert fragend als auch höflich und kurzweilig von der Stadt und von sich selbst plaudernd, hatte mein Taxifahrer schnell eine lockere Unterhaltung entwickelt. Obwohl ich, seit ich denken kann, mit meinen beiden kosmetischen Augenprothesen stockblind unterwegs bin, ermöglichte er es mir mit seiner Offenheit, mir während unseres Gespräches schnell ein eigenes Bild von ihm zu machen. Die Hilfe, die er mir anbot, um mich in das Gebäude zu bringen, wollte ich schon deshalb gerne annehmen, weil ich ihn nett fand. Einerseits hatte er schnell mein Vertrauen gewonnen und andererseits wollte ich ihn mit meiner Vorliebe für selbständige Abenteuer nicht frustrieren. Hinzu kam, dass ich froh darüber war, dass er mich zuerst höflich fragte, ob ich die von ihm angebotene Hilfe überhaupt haben und entsprechend meiner eigenen Entscheidung in Anspruch nehmen wolle.

„Ja, gerne“, sagte ich und öffnete, nachdem das Taxi zum Stehen gekommen war, vorsichtig meine Tür. Vorsichtig deshalb, weil ich in der Großstadt, in der es auf der rechten Seite oft Fahrradwege gab, mit meinem Tatendrang keine Radfahrenden gefährden wollte, die hier, wie ich aus meinen Recherchen über Berlin wusste, am Morgen oft zahlreich unterwegs sein könnten. Nach dem Aussteigen sog ich mit einem tiefen Atemzug Luft durch meine Nase. Der Geruch des sonnigen Herbstmorgens, dessen Sonne mir die Haut auf meinem Gesicht und auf meinen Händen wohlig wärmte, war überwältigend. Es war der Duft von Freiheit, Unabhängigkeit und Selbstverwirklichung, den ich in diesem Moment genussvoll auf mich wirken ließ und der zuckersüß schmeckte. Ich war angekommen. Angekommen bei Nele, mit der ich meine neue Wahlheimat Berlin erkunden wollte. Nach wenigen Stufen erreichten wir die Haustür, die sich mit einem saugenden Zischen öffnete, bevor ich am Arm des Taxifahrers in das Gebäude eintrat.

„Riecht nach Frühstück“, sagte ich, „lecker!“

„Det is det Treppenhaus und drei Stufen hoch geht's weiter rein, wa! …“, sagte mir der Taxifahrer.

„Danke, ab hier komme ich gut alleine klar“, antwortete ich ihm und verabschiedete mich von dem Fahrer, den ich noch im Auto für die Fahrt hierher bezahlt hatte.

„Ok, denn mal jute Zeit hier und wenn sie mal wieder wohin wollen …“, sagte er und schob mir unaufdringlich seine Karte an meinen Handrücken, die ich dankend annahm und gleich in meiner Jeans verschwinden ließ. Die meisten Stimmen, die ich vor mir hörte, schallten etwas dumpf aus dem Raum heraus, der eine Art Aufenthaltsraum sein musste. Aus dem Raum drangen auch Untertöne, die ich als leises Geklapper von Besteck auf Tellern und von Löffeln wahrnahm, die ab und zu am Rand von Tassen klingelten. Nur links von mir waren zwei Stimmen, die nicht weit von mir murmelten, ohne dass die Sprechenden schon Notiz von mir genommen hatten, weil sie sich offensichtlich von mir abgewandt unterhielten und deshalb gegen eine dort befindliche Wand sprachen.

„Hey, bist Du Mara?“, hörte ich kurz darauf aus der gleichen Richtung Rufe zu mir herüberschallen. Mit meinem Rücken an der gegenüberliegenden Wand angelehnt, hatte ich meinen Blindenstock vor mir senkrecht auf dem Boden abgestellt. Eigentlich wollte ich mich so ungestört und in Ruhe auf die Geräusche konzentrieren, die mir alles über die Umgebung verraten konnten, was ich wissen musste, um mich hier zu orientieren und mich danach ohne fremde Hilfe zur nächsten Etappe weiterzubewegen. Nur die zwei Stimmen, die plötzlich fragend meinen Namen zu mir sagten, hatten mich dabei ungebeten gestört.

„Ja, sieht man mir wohl an“, antwortete ich viel zu schroff.

„Ja klar, wir sind Sophie und Jona … Nele hatte dich eigentlich für gestern Abend angekündigt, aber du bist ja gleich nach deiner Ankunft irgendwo versackt", sagte die gleiche männliche Stimme, die mich kurz vorher mit meinem Namen angesprochen hatte, und ergänzte: „ … hattest du denn schon ein Frühstück?"

„Nein, aber ich höre ja, wo es hier etwas zum Frühstücken gibt“, sagte ich noch immer etwas reserviert, aber schon etwas freundlicher, weil ich die Stimme jetzt schon viel sympathischer fand und auch nicht gleich mehr als nötig zicken wollte.

„Wir studieren gerade den Speiseplan für die kommende Woche und wollten danach auch gleich frühstücken gehen“, antwortete Jona total nett.

„Wisst ihr, wo Nele ist?“, fragte ich.

„Sie ist schon los zur Uni, aber ihre letzte Vorlesung endet um zwölf Uhr und danach will sie gleich, ohne einen Haken durch die Mensa zu schlagen, wieder hierher zurückkommen. Sie war ein bisschen enttäuscht gestern Abend, als sie deine WhatsApp bekam. Aber sie muss nächste Woche in Entwicklungspsychologie eine Klausur schreiben …“, ergänzte Jona freundlich und ich fand ihn von Satz zu Satz netter.

„Frühstück klingt gut. Daran hab ich in der Tat auch gerade gedacht“, sagte ich und ging mit meinem Stock vor mir voraus auf die Tür zu, aus der das Geklapper kam, wo ich im Türrahmen stehen blieb, um mir einen Überblick zu verschaffen.

„Wäre aber auch kein Problem, wenn du erstmal für dich alleine hier ankommen magst“, hörte ich Sophie hinter mir sagen, die mir mit Jona gefolgt war und geduldig mit ihm hinter mir vor dem Türrahmen wartete, bis ich mir überlegt hatte, was ich als Nächstes machen wollte. Sophies Stimme empfand ich auf Anhieb recht sympathisch und mir gefiel auch, dass die beiden mich nicht zu etwas drängten und mich auch nicht mit nervender Fürsorglichkeit zu betüdeln versuchten.

„Da vorne rechts ist die Ausgabe, richtig?“, fragte ich, mit meinem Kopf über die Schulter nach hinten gewandt.

„Ja, und schräg links von hier ist der Tisch, an dem wir, wenn welche von uns erst später zur Uni müssen, oft mit unserer Clique gemütlich beim Frühstück zusammen sitzen. Nele frühstückt auch immer an diesem Tisch“, antwortete Sophie mir entspannt und wartete mit Jona weiter geduldig ab, bis ich wusste, was ich vorhatte. Nur, dass das Geklapper plötzlich verstummt war, nervte mich gewaltig. Aber das kannte ich ja …

Die Blinde …, voll die Attraktion des Tages, dachte ich und fühlte mich von einem Moment auf den anderen total angepisst.

Na prima, das fängt ja gut an, dachte ich weiter und grübelte kurz darüber, was ich aus der Situation machen wollte. Ich kam mir mal wieder wie ins Mittelalter zurückversetzt vor. Dort hatten welche wie ich auch oft nur die Wahl zwischen Betteln gehen oder sich auf dem Jahrmarkt mit der Darbietung von zweifelhaften Kunststückchen, für die es mit etwas Glück ein paar selbstverdiente Almosen gab, über Wasser zu halten.

„Nele hat dich als ihren Gast angemeldet. Essensmarken gibt es hier nämlich nicht“, sagte Sophie und schob sich sachte mit Jona an mir vorbei.

„Frühstücken mit euch und Neles Clique ist auch okay für mich, wenn das passt“, sagte ich einlenkend.

„Na prima, willst du ’nen Arm? … An unserem Tisch sind noch einige Stühle frei“, sagte Sophie und blieb kurz vor mir so stehen, dass ich gleich darauf ihren Ellenbogen zu fassen bekam.

„Voll gern“, antwortete ich ihr. Nachdem ich gehört hatte, dass das Geklapper nach und nach wieder einsetzte, entspannte ich mich recht schnell wieder, während Sophie mich zu dem Tisch führte und fühlte mich auch gleich wieder wohler.

„Hi, ich bin Mara“, sagte ich in die Runde und orientierte mich an der Lehne des Stuhls, die Sophie mir gezeigt hatte, während ich meinen Rucksack von meiner Schulter gleiten ließ und mich setzte. „Ich bin Neles Freundin“, stellte ich mich vor, nachdem ich Platz genommen hatte.

„Hi Mara, ich bin Leon“, hörte ich eine so weich und einfühlsam klingende Männerstimme, dass ich sofort neugierig auf den Menschen wurde, zu dem sie gehörte. Sie kam von der anderen Seite des Tisches, direkt gegenüber von mir, und ich spürte ein leichtes Kribbeln, das mich, warum auch immer, im selben Moment an meine Freundin Mila erinnerte.

„Einen Kaffee für dich?", fragte Sophie, „…, zum Ankommen, oder kommst du lieber gleich mit zum Buffet?“, hörte ich Sophie mich unaufdringlich fragen.

„Gibt's auch Espresso?“, fragte ich zurück, „… gern mit viel Zucker drin?“

„Klar, bring ich dir gerne mit“, sagte Sophie und verschwand mit Jona.

„Keine Vorlesung, Leon?“, fragte ich und griff das Gespräch auf.

„Nee, erst heute Nachmittag …“, war die Antwort.

„Was studierst du?“, fragte ich.

„Theologie …“, hörte ich von gegenüber.

„Glaubst du?", fragte ich.

„Jeder glaubt was … und ja, ich kann’s …, also an Gott glauben, meine ich, aber der ist ja auch für die da, die es nicht können. Und du?"

„Ich kann’s nicht, aber ich hab auch nichts dagegen“, sagte ich und verstaute meinen Stock, den ich, während ich sprach, zusammenklappte, in meinem Rucksack. An Lehnen oder Tischen angelehnte Blindenstücke hatten richtig viel Talent, immer im falschen Moment von einer Kante zu rutschen, dann umzufallen und auf diese Weise unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Noch mehr hasste ich es, wenn mein Verräter irgendwo neben mir auf dem Tisch lag und für Sehende den Anschein erweckte, dass ich dauernd alles anfassen wollen würde.

„Willst Psychologie oder Sozialpädagogik machen, hat Nele mal erzählt, oder?“, fragte Leon weiter.

„Na prima, da hat sie ja wohl schon richtig viel über mich ausgeplaudert“, bemerkte ich zickig.

„Was heißt ausgeplaudert? Sie hat uns nur ein bisschen was über dich erzählt, weil sie sich auf deinen Besuch hier schon mega gefreut hat. Ist das schlimm?", fragte Leon und brachte mich mit seiner ausgleichenden Bemerkung gleich wieder runter.

„Nee, eigentlich nicht schlimm … Ich kann halt nur Gerede über mich nicht so gut ab“, antwortete ich ihm nachdenklich und spürte, dass mich der Klang seiner Stimme und wie er das gerade zu mir gesagt hatte, total von der Konzentration auf meine Umgebung ablenkten.

„Blinden sagt man nach, dass sie misstrauisch seien“, sagte Leon, total offen, ohne jede Aggression in seiner Stimme, und schaffte es, mich damit zu verblüffen. Im ersten Moment war ich mir gar nicht im Klaren darüber, ob ich sauer werden oder ob ich sein unbeschönigt wirkendes Wesen in Verbindung mit der Direktheit, mit der er mit mir kommunizierte, lieber gernhaben wollte.

„Berlinern sagt man nach, dass sie ein bisschen direkt unterwegs sind, oder?“, antwortete ich ihm schnippisch.

„Oh ja, damit hatte ich, als ich hier neu ankam, auch meine Probleme. Aber es wird von Tag zu Tag besser, und nur um den heißen Brei herumzureden, bringt ja für einen angehenden Seelsorger auch nichts“, sagte Leon und biss in ein knuspriges Brötchen. „Hier, Mara, dein Espresso“, hörte ich in dem Moment Sophie sagen und fühlte mich richtig gut angekommen.
„Danke, Sophie, coole Clique …“, antwortete ich und spitzte dabei meine Ohren, um abzuspeichern, wo sie meine Tasse vor mir abstellte, aber richtig konzentrieren konnte ich mich nicht mehr darauf.

„Er ist ein Mann“, hörte ich meine innere Stimme. „Mara, was soll das? Pass lieber auf, was du machst …"

„Ja, besonders Leon, der kann prima zuhören und hat für gelegentliche Problemchen immer das passende Wort“, sagte Sophie, während sie sich mit Jona wieder zu uns setzte.
Problemchen? … leicht gesagt, dachte ich … ob Nele hier auch schon verraten hat, dass ich noch immer in einem falschen Körper lebe?

„Hhm …“, sagte ich und wartete, ob Leon etwas dazu sagen würde, während ich nach meinem Espresso greifen wollte, aber dann war es schon passiert. Scheppernd kippte mein Tässchen, nachdem ich es mit meinem Handrücken am Rand gestreift hatte, um und zerschellte gleich darauf mit einem schrillen Klirren auf den Fliesen des Fußbodens. Die Stille, die den Raum gleich nach meinem Missgeschick erfüllte, gab mir den Rest.
„Ich hab's noch gesagt“, sagte meine innere Stimme zu mir, „das hast du nun davon. Natürlich starren sie jetzt alle auf das blinde Huhn, das nicht mal mit einem Espresso klarkommt, ohne etwas zu zerdeppern. Das kommt nur davon, dass du dich nicht darauf konzentriert hast, was du machen wolltest. Und alles nur wegen Leon …, war's das wirklich wert?"
„Nein, es war wegen Mila“, wehrte ich mich mit einer Mischung aus Zorn und Frust gegen meine innere Stimme und kämpfte mit den Tränen.
„Quatsch, es war nicht wegen Mila. Die Schmetterlinge in unserem Bauch spürte ich so deutlich wie du. Fang jetzt bloß nicht an zu flennen, sondern steh halt einfach zu deinen Gefühlen, nachdem du uns schon so blamieren musstest."

„Woran hast du denn gerade gedacht, Mara?“, fragte Leon ganz ruhig. „Da war doch was …, das hab ich dir angesehen …, etwas, das dich bedrückt, oder?“

„Ach, schon gut … so etwas passiert Blinden halt manchmal“, sagte ich kleinlaut und hörte, dass Sophie und Jona ohne Hektik zu verbreiten aufgestanden waren. Das Geklapper und Gemurmel setzte gleich danach genauso wie beim ersten Mal so schnell wieder ein, dass ich mich schneller als ich dachte wieder fing. Einen Augenblick später, als er weiterfragte, realisierte ich, dass ich mit Leon ganz alleine am Tisch saß und er diesen Moment geschickt dafür nutzen wollte, um mir etwas zu signalisieren.

„Das nehme ich dir nicht ab“, sagte Leon zwar weich, aber in einem Ton, der mir klarmachte, dass ich erst gar nicht versuchen brauchte, ihm etwas vorzumachen.

„Jetzt red schon“, drängte mich meine innere Stimme. Reden tut gut, auch mit jemandem über Mila zu reden, tut uns gut. Dass du mit Leon jetzt und hier vor allen anderen nicht gleich über die Schmetterlinge in unserem Bauch reden magst, verstehe ich ja noch, aber …

„Hier ist ein neuer Espresso für dich, Mara“, sagte Sophie und stellte ihn an die gleiche Stelle wie den ersten vor mir auf den Tisch, den Jona vorher ohne Worte mit einem Lappen abgewischt und danach die Scherben zusammengekehrt hatte. Die zweite Chance verpatzte ich nicht und das Vertrauen, das ich daraus gewonnen hatte, wie souverän hier alle mit mir und meinem Patzer umgegangen waren, fühlte sich echt gut an. Es half mir dabei, über viele Dinge zu reden, die ich bisher alleine mit mir herumgeschleppt hatte. Die Zeit bis nach zwölf Uhr verging wie im Flug und es tat mir wirklich gut, meinen neuen Freunden von Mila, meiner ersten und besten Freundin, zu erzählen. Als ich ihnen davon erzählte, unter welchen mysteriösen Umständen sie dann plötzlich wie vom Erdboden verschluckt völlig unverhofft aus meinem Leben verschwand, stockte allen der Atem. Dass mir und meiner Mutter wegen des Augenkrebsgens, den sie mir vererbt hatte, schon im Kleinkindalter beide Augen entfernt werden mussten, machte die Zuhörenden mehr als nötig betroffen. Ich musste ihnen erst erklären, dass meine immer noch nicht stattgefundene geschlechtsangleichende Operation, bei der meine Mutter mich noch bis vor Kurzem nicht unterstützen wollte, für mich ein viel größeres Problem als meine Blindheit ist.

 

***

 

 „Hey Mara!“, hörte ich Nele plötzlich rufen und voller Freude von der Tür auf mich zustürmen.

„Hi, Nele, ich freu’ mich auch mega …“, rief ich ebenfalls, schnellte von meinem Stuhl hoch und schaffte gerade noch die Drehung, bevor wir einander stürmisch in unsere Arme flogen. „… Tut mir leid wegen gestern, aber du weißt ja, wie sehr ich spontane Abenteuer liebe", flüsterte ich ihr ins Ohr und genoss den frischen Duft ihrer Haare.

„Kein Problem, hast mir ja noch rechtzeitig geschrieben. Dass ich mich um dich, genauso wenig wie um meinen blinden Bruder Marc, sorgen muss, weiß ich doch längst zu gut. Hat dich mal wieder der Hafer gepikst?", fragte Nele und drückte mich dabei weiter ganz doll.

„Und wie …“, platzte es aus mir heraus.

„Sorry, dass ich dich nicht gleich nach deiner Ankunft hier selbst begrüßen konnte, aber wie ich sehe, fühlst du dich in unserer Clique auch ohne mich schon recht wohl“, sagte Nele.

Dabei blickte sie mit einer gespielt streng hochgezogenen Augenbraue über meine Schulter hinweg und streifte Leon mit einem schnellen Blick. Ihre Mimik und das, was sie gerade mit Blicken zum Ausdruck gebracht hatte, zu deuten, gelang mir, weil sie ihre Schläfe währenddessen noch immer an meine Wange gepresst hatte und ich auf ihrem Gesicht fühlen konnte, wie sie ihm nonverbal kommuniziert hatte. Es verriet mir, dass sie schon eine Vorahnung davon hatte, was sich hier während ihrer Abwesenheit bereits zwischen uns entwickelt haben könnte.

„Wenn meine Freundin Mara ihre autarke Mobilität spontan unter Beweis stellt, haben nämlich nur diejenigen schlechte Karten, die sie mitleidig bremsen oder aufhalten wollen.“

„Glaub ja nicht, dass ich das nicht mitbekomme, wenn jemand hinter meinem Rücken Grimassen zieht“, bemerkte ich spitz und knuffte Nele dabei frech.

„Seelsorge kommt halt gut an“, sagte Leon.

„Puh …, und das nicht nur bei Mara. Eigentlich müsste ich nämlich noch ein bisschen büffeln, aber spätestens um neunzehn Uhr will ich durch sein und dann endlich auch selbst etwas mit Mara unternehmen", sagte Nele mit einem fragenden Unterton in ihrer Stimme, der verriet, dass es ihr etwas peinlich war, mich gleich wieder alleine lassen zu müssen.

Dafür, dass Nele wegen ihrer anstehenden Prüfung etwas knapp mit ihrer Zeit dran ist, hab ich ja vollstes Verständnis, dachte ich. Voll angefressen fühlte ich mich plötzlich aber wegen etwas ganz anderem.

„Seelsorge?“, fragte mich meine innere Stimme. „Leon, als Aufpasser, als Anstandsboy oder als …?“, weiter kam sie nicht, weil ich ihr, in mich selbst grimmig zurückbrummend, schroff ins Wort fiel.

„Wenn ich einen Führhund haben wollte, hätte ich doch längst einen …“, aber bevor ich Nele zickig anblaffen konnte, hörte ich wieder Leons Stimme.

„Also, wenn du magst, Mara …, ich muss nicht büffeln …“, sagte Leon weich und unaufdringlich, „ … und ich würde auch gerne noch etwas mehr Zeit mit dir verbringen."

Ja, gern. Das Umfeld hier ein bisschen zu erkunden, hatte ich mir eigentlich schon für heute Vormittag vorgenommen. Da hab ich jetzt voll Bock drauf und ein bisschen Bewegung kann nach so einem ausgiebigen Frühstück auch nicht schaden. Wenn du mich dabei begleiten magst, nehm ich dich gerne mit“, sagte ich keck und löste mich aus Neles Umarmung.

„Prima, dann nehm ich mir noch ’nen starken Kaffee mit und verschwinde gleich zu meinen Büchern“, sagte Nele und rief uns über ihre Schulter noch zu: „Um neunzehn Uhr, dann wieder hier, ok? … und dann zusammen kochen, oder wo essen gehen?"

„Ja klar, und jetzt troll dich und sei schön fleißig“, foppte ich Nele und wandte mich wieder Leon zu.

 

***

 

„Na, was ist? … Von mir aus kann’s losgehen, Leon“, sagte ich und ließ unternehmungslustig meinen Stock aufklackern. Diesen hatte ich schon kurz vorher aus meinem Rucksack herausgefummelt, den ich mir während des Aufstehens, ungeduldig und total neugierig auf die anstehende Tour, voll Freude auf meinen Rücken schwang.

„Geh nur, Mara“, sagte Leon, und ich hörte, dass er mir mit einer ausholenden Geste wie ein Gentleman die Tür zum Treppenhaus wies, in dem rechts der Speiseplan hing. Den Weg zum Bürgersteig zurück kannte ich ja schon. Zumindest bis zu der Stelle, an der ich aus dem Taxi ausgestiegen war.

„Zum Aldi einen Rotwein kaufen und dann hinter der Bambachstraße gemütlich ins Grüne, ok?“, sagte ich ganz lässig im Vorbeigehen und protzte damit, dass ich die Umgebung im Rahmen meiner Reisevorbereitung gut gecheckt und mir Wichtiges eingeprägt hatte. Dass Leon mich einfach so, ohne dazwischenzufunken, an sich vorbeizischen ließ, bockte mich voll. Gleich nachdem ich mit der Kugel an meiner Stockspitze den Bordstein gefunden hatte, drehte ich mich nach links und gab so etwa vierzig Schritte richtig Gas. Erst als ich eine Lücke zwischen den parkenden Autos hörte, die mir gut genug für die Überquerung der Silbersteinstraße schien, wartete ich auf Leon.

„Ausgetobt?“, fragte er nur und legte mir seinen Arm so zärtlich um meine Schulter, dass mir fast die Luft wegblieb. Aber dann verblüffte er mich erst recht, als ich spürte, wie seine Hand sich oberhalb meines Ellenbogens um meinen Oberarm schmiegte und mich dort so elektrisierte, dass mein ganzer Körper in Wallung geriet.

„Komm, führ mich rüber, Mara. Ich lass’ auch meine Augen zu“, sagte Leon nur.

„Bitte jetzt nicht blöd anfauchen …“, mahnte mich meine innere Stimme streng.

„Ich hab doch gesagt, dass ich dich gerne mitnehme, Leon“, sagte ich grinsend, hauchte ihm einen flüchtigen Kuss auf seine Wange und marschierte, als weit und breit kein Auto in Hörweite war, los. Leon ließ sich von mir das Gemüse am Eingang erklären und versuchte sich ungeschickt, aber total putzig, mit geschlossenen Augen mit den Tütchen, die dort für frisches Gemüse auf kleinen Ständern auf die Hände von Kunden warteten. Die Waagen fand er natürlich nicht ohne meine Hilfe und kämpfte einen weiteren aussichtslosen Kampf mit den Tasten, auf denen die Symbole und die Nummern für die Gemüsesorten aufgedruckt waren.

„Gut gemacht, Leon, aber jetzt ist es Zeit für einen weiteren Rollentausch“, gab ich dann, für Leon vielleicht etwas überraschend, aber überglücklich von mir und kuschelte mich an seine Schulter.

„Echt jetzt? …“, fragte er mit einem sich fast unsicher anhörenden Grinsen in seiner Stimme zurück, während er mir dabei zusah, wie ich meinen Stock wieder in meinen Rucksack stopfte.

„Die Waagen sind leider nicht barrierefrei. Wenn ich alleine einkaufen bin, muss ich mir hier auch von jemandem helfen lassen, aber dafür hab ich heute ja dich schon dabei."

„Also nur für die Waagen …?“, hörte ich Leon mit gespielter Enttäuschung fragen.

„Nee, auch für den Rotwein“, antwortete ich grinsend, um den beginnenden Flirt im Fluss zu halten, und hakte mich bei ihm wie bei einer meiner Freundinnen unter.

„Zur Bambachstraße, dann auch ohne weiteren Rollentausch …?“, fragte Leon mit einem prickelnden Vibrieren in seiner für einen Mann untypisch weich und warm klingenden Stimme. Dabei befreite er sich zartfühlend aus meinem Arm, um mir gleich danach den seinen so über meinen Rücken um mich herum zu legen, dass er mich beim Gehen mit seiner Hand oberhalb meiner Hüfte streicheln konnte. Von der schon etwas erogenen Zone, an der er mich dort berührte, schlichen sich mir in wiederkehrenden Wellen wohlige Schauer durch meinen ganzen Körper. Meine Muskulatur reagierte nicht nur an dieser Stelle lustvoll auf den Mann an meiner Seite, dessen Körper sich aufregend sportlich, also total sexy und so gut trainiert wie mein eigener Body anfühlte. Meinen Begleiter, dessen Bariton in meinen Ohren wie eine zauberhafte Melodie mit meinen Gefühlen spielte, stellte ich mir mit breiten Schultern und mit einem sexy Dreitagebart vor. Nur Sekunden später wurde mir plötzlich klar, warum ich, seit ich diese Stimme zum ersten Mal gehört hatte, wieder dauernd an Mila denken musste. Leons Stimme war es, die mich an sie erinnert hatte. Sie klang fast so rauchig, warm und weich wie ihre. Im selben Moment erinnerte mich mein kleines Problem, das in der engen Jeans, die ich trug, trotz der Hormone, die ich nahm, daran, dass ich auch dort schon merklich auf Leons Zärtlichkeiten reagierte, und brachte mich erneut zum Grübeln.

„Du solltest ihm reinen Wein einschenken, mit ihm vorher über unsere sexuelle Orientierung reden …“, mahnte mich meine innere Stimme. „Auf dem Weg zur Baumbachstraße hätten wir dazu eine prima Gelegenheit“, und ich spürte, wie sich mein Körper sofort unangenehm versteifte.

„Hey Mara, was ist denn …?“, fragte Leon, kurz bevor wir die Kassen erreichten, und nahm mit einem leisen Klirren die Rotweinflasche aus dem Drahtkorb des Einkaufswagens heraus, um sie gleich danach auf das Band zu legen. Zu dem Rotwein, von dem er mir vor dem Weinregal keine Details verriet, weil er mich mit dem Inhalt überraschen wollte, waren zwischen den Gängen im Vorbeigehen noch ein Beutel Chips und eine Dose Nüsse hinzugekommen. Ob er etwa ahnte, dass ich solche Überraschungen eigentlich nicht leiden konnte, wusste ich nicht, aber ich schüttelte nur stumm den Kopf und hoffte, dass er nichts von dem ahnte, was mich gerade wirklich fast gänzlich blockierte.

 

***

 

Nachdem wir die Bambachstraße verlassen und den Kinderspielplatz, der sich dort befand, überquert hatten, waren wir noch etwas über vermoostes Gras weitergegangen. Hoch über uns säuselte in den Kronen alter Bäume, die dem Ort, an den Leon uns gebracht hatte, eine besonders romantische Atmosphäre verlieh, friedlich der Wind. Auf einer Art Lichtung hatten wir hinter einem Buschwerk eine gemütliche Holzbank gefunden. Während Leon mit seinem Taschenmesser die Rotweinflasche öffnete, erklärte er mir, dass die Büsche uns perfekten Sichtschutz böten. Ein idealer Ort, an dem wir ungestört reden konnten, verrieten mir die Umgebungsgeräusche, die nach Natur pur und nach behaglicher Einsamkeit klangen. Sogar die Geräusche der Großstadt, die mich immer noch faszinierten, verloren sich im Hintergrund dieser Idylle. Wir saßen einander ein Bein links und das andere rechts der Bank im Reitersitz gegenüber und ich hörte, wie sich der Wein in die Pappbecher ergoss. Das leise Gluckern wurde, als ich die Chipstüte aufriss und mit der Öffnung nach oben zwischen meinen gespreizten Beinen abstellte, kurz von dem Zischen der Naht und dem Knistern des Plastiks übertönt. Danach saßen wir beide noch eine kleine Weile still da und ich ahnte, dass Leons Augen mit neugierigen Blicken mein in der Herbstsonne strahlendes Gesicht abtasteten, und schenkte ihm vorsichtig ein etwas scheues Lächeln. Außer den Chips standen jetzt nur noch die beiden Becher und die Dose mit den Nüssen, die ich nach der Chipstüte auch noch geöffnet hatte, zwischen uns. Die Flasche hatte Leon nach dem Ausschenken in dem weichen Gras, das die Bank umgab, abgestellt und so schon etwas außerhalb unserer Reichweite in Sicherheit gebracht.

„Ohh, wie schön herb der duftet …“, sagte ich und streckte Leon, dem ich mittlerweile etwas weiter auf die Pelle gerückt war, meinen Pappbecher zum Anstoßen entgegen. „Ein Italiener, oder?“

„Montepulciano, 2019, … aus der Toscana“, gab mir Leon, nachdem wir getrunken hatten, zur Antwort und beugte sich vor, um mir seine Arme um meinen Nacken zu legen.

„Aaahh, das tut mega gut, und der Wein ist auch genau mein Geschmack“, sagte ich und legte meinen Kopf in den Nacken. Die erdigen Aromen des Weins entfalteten sich auf meiner Zunge und der Wind säuselte wie Musik in meinen Ohren, als ich kurz darauf zum ersten Mal Leons Lippen und ein zärtliches Knabbern an meinem Hals spürte.

„Du Leon, …“, sagte ich und stockte dann wieder.

„Pssst …, keine Angst“, hörte ich ihn leise flüstern, während er mich zwar zärtlich, aber doch so fest zu sich zog, dass mein aufgepolsterter Sport-BH sich verräterisch gegen seine Brust presste.

„Du hättest Zeit genug gehabt“, sagte meine innere Stimme zu mir und mir schwanden fast die Sinne. Leons Lippen waren viel weicher und heißer als seine Fingerkuppen, die unter meinem Oberteil, über dem Verschluss meines BHs, auf der nackten Haut meines Rückens kreisten. Nach einem leidenschaftlich langen Kuss mit viel Zunge schaffte ich es gerade noch, mit einem gewagt großen Schluck meinen Becher auf einen Zug auszutrinken. Danach ließ ich den Becher einfach neben mir ins Gras fallen, bevor mir, getrieben von unbändiger Lust, alle Sicherungen durchbrannten und ich mich nach vorn auf Leons Körper warf. Er kippte sofort nach hinten um und die Chips, die ich unter mir begrub, knirschten bröselig zu dem kurzen dumpfen Plumpsen der Nussdose, die irgendwo im Gras landete. Uns wild durch unsere Jeans aneinanderreibend, tobten wir eng umschlungen, begleitet vom Schmatzen unzähliger ekstatischer Küsse, hin und her drehend auf der Bank. Wir vergaßen Zeit und Raum und ich kam erst wieder zu klaren Gedanken, nachdem sich mein kleiner Kerl in meine Jeans ergossen hatte. Als ich noch überglücklich nach Luft ringend in Leons Armen lag, stellte ich mit Vergnügen fest, dass auch seine Jeans im Schritt genauso durchgeweicht wie meine war.

„ … und jetzt mag ich dich auch mal ansehen", sagte ich neugierig und rappelte mich auf, um meinen Prinzen splitternackt auszuziehen. Dass er keinen Dreitagebart hatte, war mir schon vorher nicht entgangen. Im Eifer des Gefechtes war ich jedoch viel zu abgelenkt davon, mich darüber zu wundern, dass sich sein Gesicht genauso zart, weich und glatt wie die Gesichter von Mila und mir anfühlte. Leons Männlichkeit ragte noch immer imposant auf und ich fragte mich für einen kurzen Moment, ob er vielleicht noch immer nicht genug hatte. Aber dann, als ich entdeckte, dass er sich zwischen seinen Beinen, direkt unter seinem prachtvollen Luststab, nicht wie ein Mann, sondern so ähnlich wie eine blankrasierte Frau anfühlte, stutzte ich. Nein, nicht wie eine Frau, da war alles einfach stramm und glatt, aber so weich wie sein Gesicht und Stoppeln vom Rasieren wuchsen an seiner intiemsten Stelle genausowenig wie auf seinen Wangen, oder auf seinem markanten Kinn.

„Bist du etwa schon weiter als ich, weil dir da deine Nüsse komplett fehlen?“, stotterte ich und fragte mich, was mit Leon passiert sein konnte.

„Nicht erschrecken, Mara, als ich fünfzehn Jahre alt war, musste ich auch einen Krebs besiegen, nur etwas weiter unten als du“, sagte Leon total ruhig und fügte hinzu: „Die Ärztin sagte damals zu meinen Eltern und zu mir nur recht kühl, 'Sex ist nicht alles'. Dass es so auch noch geht, verstand ich erst einige Zeit später, aber da war ich meine erste Freundin schon los", erzählte mir Leon und gab mir einen ganz lieben Kuss.

„Die verdient kein Mitgefühl“, platzte es zornig aus mir heraus, und ich streichelte dabei voller Zuneigung meinen Prinzen. „Nur schade, dass sie nicht weiß, um was für einen coolen Mann sich die blöde Kuh gebracht hat“, ergänzte ich dann noch mit ehrlich gemeinter Gehässigkeit.

„Mara, du bist die tollste Frau, die ich kenne“, sagte Leon und küsste mich erneut sehr zärtlich, bevor wir damit begannen, uns wieder anzuziehen.

„Jetzt aber flott, wir sind schon viel zu spät dran. Nele macht sich vielleicht schon Sorgen um dich …", hörte ich Leon sagen, während wir schon hastig in unsere Klamotten sprangen.

„Bestimmt nicht, vorher sorgt sie sich eher um dich …“, scherzte ich neckisch und knuffte Leon frech in seine Rippen.

„Weißt du, Leon, dass das bei dir, so wie du bist, noch so gut funktioniert, ist für mich auch aus einem ganz anderen Grund ’ne total neue, sogar ’ne echt coole Erfahrung“, sagte ich, während wir uns mit schnellen Schritten auf dem Rückweg befanden.

„Wie meinst du das denn jetzt?“, fragte Leon mit einem skeptischen Unterton in seiner Stimme und legte noch einen Zahn zu.

„Na ja, wenn ich die Geschlechtsangleichung meines Körpers machen lasse, muss das bei mir ja dann auch so ähnlich wie bei dir passieren und eine Psychologin hat meiner Mutter mit dem Gefasel von Verlust der Libido mächtig Angst gemacht. Das war vielleicht später auch der wahre Grund, warum meine Mutter sich, als schon klar war, dass ich ihr Mädchen bin und nie ihr Sohn war, so lange quer gestellt hat", sagte ich, während wir inzwischen schon wieder durch die Bambachstraße weiter zurückhetzten.

„Na dann ist ja alles gut“, sagte er und schnaufte aus.

„Was hast du denn gedacht, wie ich das sonst gemeint haben könnte?“, hakte ich nach, weil mich seine komische Reaktion im Nachhinein jetzt doch irritierte, oder anders ausgedrückt, mir Zweifel über den wahren Grund seiner ausweichenden Floskel gekommen waren, und blieb unverhofft stehen. Irgendwie hatte ich plötzlich das Gefühl, Leon unbeabsichtigt zu nahegetreten zu sein oder ihn gar ohne böse Absicht irgendwie gekränkt zu haben.

„Na komm schon, was ist?“, sagte ich, zog ihn dicht an mich heran und schlang zärtlich meine Arme um seinen Oberkörper.

„Hm, ich dachte, es hätte ja auch so sein können, dass du nach der Erfahrung mit mir, wie du den schönen Sex, den wir gerade zusammen hatten, etwas nüchtern beschrieben hast, etwas anderes gemeint haben könntest. Zum Beispiel, dass du dabei eine Art Fetisch für Männer wie mich in dir entdeckt haben könntest", sagte Leon recht trocken, während er meine Umarmung innig erwiderte.

„Wie? Willst du mir etwa sagen, dass du meinst, dass es Frauen gibt, die darauf stehen?", blaffte ich ihn an, schob ihn rüde von mir weg und war richtig sauer darüber, dass er mir zutraute, solche widerwärtigen Gefühle entwickeln zu können.

„Hey, hey, Mara! Komm mal wieder runter und sei nicht so empfindlich. Ob es Frauen gibt, die sowas mehr anmacht als wenn noch alles dran ist, kann ich dir nicht sagen, aber bei Männern sind es mehr, als du dir das im Moment vorstellen willst. Darf ich …?", sagte Leon und nahm mich vorsichtig wieder in seine Arme.

„Macht dir das denn gar nichts aus, Leon? Mich hatte eigentlich nur der skeptische Unterton in deiner Stimme dafür sensibilisiert, dass ich dich mit meinem Satz unabsichtlich verletzt haben könnte", antwortete ich, legte meine Arme erneut um ihn und drückte meinen Kopf gegen seinen Hals, während ich versuchte, meine Gedanken neu zu sortieren.

„Ach Quatsch, Mara. Meine Klöten sind ja nicht erst seit gestern weg. Ich hab mich damit so arrangiert wie du auch, und das Beste, was ich daraus machen konnte, macht mir richtig Spaß."

„Aber ich hab doch Skepsis in deiner Stimme gehört?“, flüsterte ich zweifelnd weiter.

„Du bist sehr feinfühlig, Mara. Unseren schönen Sex als Erfahrung zu bezeichnen, fand ich halt nicht so gut, aber verletzt hast du mich damit kein bisschen. Was ich dir eigentlich sagen wollte, ist, dass Anderssein nicht nur schön, sondern auch sexy sein kann, richtig sexy, so ähnlich wie ein Magnet", sagte Leon und streichelte mir dabei zärtlich mein Haar.

„Mit Magnet meinst du Fetisch, oder?“, fragte ich leise.

„Ja und nein, Mara. Wir können es auch Bedürfnisse und deren Befriedigung nennen", flüsterte Leon in mein Ohr und knabberte dabei an meinem Ohrläppchen.

„Der Sex mit dir war wirklich schön, Leon. Komm, wir müssen weiter", sagte ich und hakte mich bei ihm unter. Während wir weiter hasteten, sagte Leon in einem Ton, als würde er mit mir gerade über das Wetter reden: „Jetzt fehlt dir nur noch der Vergleich."

„Du wärst nicht enttäuscht?“, fragte ich verdutzt.

„Nein, warum denn? So wie ich bin, muss ja nicht jedem sein Ding sein. Mir reichen diejenigen, die es, so wie ich bin, anturnt, absolut aus", sagte er so selbstsicher und so weich, dass ich sein souveränes Grinsen deutlich hören konnte.

„Der Vergleich fällt mir aber, so wie ich bin, nicht in den Schoß“, sagte ich nachdenklich und ließ während des Weiterlaufens meine Gedanken fliegen.

„Trau dich nur. Wenn du es zulässt, wirst du dein Liebesleben genauso autark in den Griff bekommen, wie du es auch geschafft hast, dich ohne andere in deiner Welt zu orientieren", sagte Leon und machte an einer Hausecke eine Drehung.

„Ich meinte damit, dass ich 'ne Blinde bin“, versuchte ich klarzustellen.

„Mach’s wie ich“, sagte Leon und knuffte mich frech.

„Wie, du meinst, das gibt's auch als Fetisch?“, blaffte ich ihn unüberlegt und ein bisschen zu heftig an.

„Bei Männern weiß ich’s aus eigener Erfahrung und bei Frauen weiß ich’s nicht wirklich“, sagte Leon und ich war kurz davor, ihm eine zu scheuern, aber wollte mich dann doch lieber beherrschen.

„Dich geilts also auf, dass ich blind bin?“, sagte ich trocken und wollte meine Botschaft so cool und lässig verpacken, wie Leon das tat, wenn er darüber sprach, dass er nichts gegen Leute hatte, die es anmachte, dass er kastriert werden musste.

„Das wäre eine zu starke Vereinfachung, aber so wie du guckst, turnt mich schon richtig cool mit an“, antwortete mir Leon grundehrlich und ich glaubte, ihn dafür am liebsten auf der Stelle erwürgen zu wollen.

„Ich kann aber doch gar nicht gucken“, entgegnete ich ihm mit einem schelmischen Unterton in meiner Stimme und legte dazu das schrägste Grinsen in mein Gesicht, das ich mir gerade noch so abringen konnte, während ich die Coole übte.

„Ich schon und du könntest mir ja auch einfach glauben, dass es mega sexy aussieht, wenn du so tust, als ob du es könntest, und mir jetzt einfach einen Kuss gibst“, sagte Leon, der so plötzlich wie ich vorher auch einfach völlig überraschend stehengeblieben war. Sein Atem fächelte über mein Gesicht und ich hätte ihn vor Freude mit Haut und Haaren fressen können. Der Mann, in dessen Arme ich mich erneut warf, hatte eine knallharte, direkte Seite und eine zartfühlende, die ihm treffsicher suggeriert hatte, dass er besser mir die Initiative für das Versöhnungsangebot unserer Zungen überlassen hatte.

„Red doch da mal mit Nele drüber, eine zweite Meinung kann bestimmt nicht schaden“, sagte Leon. „Du musst schon ein bisschen aufpassen, dass es bei dir danach nicht so wie bei den Haremswächtern der barbarischen Araber endet. Die haben ja nur deshalb unten alles radikal abgemacht bekommen, weil es ohne die Bällchen bis aufs Junge machen auch unten ohne noch prima geht. Bei mir ist es ja wegen des Krebses nur so ähnlich wie bei den Singknaben der mittelalterlichen Katholiken, und weil ich schon fünfzehn Jahre alt war, passt ja sogar meine Stimme noch ganz gut zu mir. Denk doch nochmal in Ruhe darüber nach, ob du vielleicht nicht einfach die tolle Frau bleiben willst, die du jetzt schon bist", sagte Leon und machte mich schon wieder richtig nachdenklich.

 

***

 

„Sorry, ist bisschen später geworden“, sagte ich zu Nele und den anderen, als ich mit Leon zehn Minuten zu spät bei ihm untergehakt im Speisesaal ankam und wir auf den Tisch zustürmten, an dem Nele mit Jona saß. Nele und Jona hatten dort bereits seit einer Viertelstunde auf uns beide gewartet und Nele hatte ihre ganze Überzeugungskraft dafür aufwenden müssen, um Jona klarzumachen, dass ich nicht der Typ Frau war, um die sich jemand sorgen musste. Schon gar nicht, wenn ich nur ein bisschen zu spät kam.

„Ohh, was ist das denn, Mara … ohne Stock? … geht was?", fragte Nele verschmitzt. „So kenne ich dich ja gar nicht“, sagte Nele, als sie sah, dass meine künstlichen Augen wie Sterne leuchteten und ich mich ganz ohne Stock führen ließ, wobei ich prompt etwas errötete.

„War halt ein netter Nachmittag unter Freunden“, sagte Leon und lächelte Nele entspannt zu.

„… sagt der verheiratete Theologe", antwortete Nele spitz, während ich mich versteifte und mich abrupt von Leons Arm befreite.

„Verheiratet …, Leon …?“, platzte es aus mir stocksauer heraus.

„Ja, mit seinem Freund …“, sagte Nele, die sich plötzlich noch mehr darüber wunderte, was das, was sie sah, zu bedeuten haben konnte, während ich mir den Stuhl zurückzog, dessen Lehne vorher schon sanft meinen Oberschenkel berührt hatte.

„Ja und …“, sagte Leon völlig entspannt, „… Freundschaft ist doch kein Ehebruch, oder etwa doch?"

„Hmm …“, sagte ich stirnrunzelnd, „Sex ist eben nicht alles, oder doch?“, und setzte mich nachdenklich neben Nele an den Tisch.

„Was ist denn so plötzlich in euch gefahren?“, fragte Nele. „Hab ich was Falsches gesagt?“

„Nee, falsch war’s wohl nicht“, sagte ich kühl. „Ist wohl eher sowas wie ausgleichende Gerechtigkeit, dass du nicht nur dazu neigst, ausschließlich Dinge über mich etwas unpassend auszuplaudern, Nele.“

 

Schneeblind

Susi

 

„Bist du fertig für unsere nächste Tour, Susi?“, fragte Mirjam, der ich als Trainee für mein Mobilitätstraining zugeteilt worden war. In der geheimen Anlage des russischen Militärs, die in der östlichen Ukraine als Sanatorium getarnt betrieben wurde, kannte sie sich, als meine Mobilitätstrainerin, prima aus. So gut wie sie hier als Blinde überall zurechtkam, hatte ich sie schon einige Male im Verdacht, dass sie noch mehr sehen konnte, als sie zugab. Aber jedes Mal, wenn ich sie darauf ansprach, wich sie mir, genauso wie auf meine anderen neugierigen Fragen zu dem, was hier wirklich passierte, geschickt aus.

„Ja klar, ich weiß ja, wie pünktlich du immer bist, Mirj“, antwortete ich ihr, viel besser gelaunt als an den vorausgegangenen Tagen. Zum ersten Mal seit Wochen hatte ich wieder tief durchgeschlafen und fühlte mich topfit. Meine Kopfschmerzen waren schon kurz nachdem mir Anna, die Chirurgin dieser Anstalt, mein stärker vergiftetes Auge entfernt hatte, fast ganz weg und an die Bestrahlungen, die mir immer noch zäh und langweilig vorkamen, hatte ich mich inzwischen auch gewöhnt.

„Es hat die ganze Nacht heftig geschneit“, sagte Mirjam zu mir in zwar freundlichem, aber Distanz wahrendem, kühlem Ton. Das Englisch, das sie sprach, war so perfekt, dass es ihre ukrainische Herkunft fast nicht mehr verriet. Meine toughe Trainerin warf tief in meinem Inneren immer wieder neue Fragen auf, aber je neugieriger ich wurde, desto verschlossener verhielt sie sich mir gegenüber.

„Unser Training wird heute mit russischem Tee und zwei Zigaretten auf der Terrasse vor der Kantine beginnen", offenbarte mir meine Trainerin und erklärte mir, dass das Thema der Lektion Orientierung im Neuschnee sei.



***

 

„Ich ein Rätsel für dich? Das viel größere Rätsel bist immer noch du für uns“, sagte Mirjam und blies ihren tiefen Lungenzug in die klirrende Kälte.

„Ich ein Rätsel für euch?“, fragte ich total perplex und zog erneut an meiner Zigarette.

„Wundert dich das wirklich? Du tauchst hier auf, keine von uns weiß, woher du kommst und was du hier verloren hast. Es hat sich längst herumgesprochen, dass sie versuchen, dir dein letztes Auge mit irgendwelchen Bestrahlungen zu retten, das macht dich nicht nur rätselhaft, sondern sehr verdächtig.

„Verdächtig? Verdächtig, wofür?“, fragte ich total entsetzt und sprach gleich weiter.

„Ich wurde in dem Glauben an ein Sanatorium hierhergebracht und habe erst, nachdem ich hier eingetroffen war, erfahren, dass die Russen diese Anlage für irgendetwas Geheimes nutzen. Von allem, was hier wirklich läuft, habe ich keine Ahnung, und ich weiß auch nicht, was das alles zu bedeuten hat“, verteidigte ich mich so gut ich konnte, während mir meine Finger wie Espenlaub zitterten.

„Zuerst hielten wir dich für eine russische Kollaborateurin“, hauchte mir Mirj leise ins Ohr und mir wurde plötzlich schwindelig. So schwindelig, dass ich spontan meinen Arm ausstreckte, um irgendwo Halt zu finden, und ich spürte, wie mir meine Knie weich wurden.

„Nun ja, wir wissen natürlich auch, dass Anna, diese russische Teufelin, dir außer deinem einen Auge auch deinen rechten Arm amputiert hat. Das spricht zumindest mal dafür, dass sie dich auch nicht weniger als uns verschonen wollen“, antwortete Mirjam mir und stützte mich. Ihre Hand fühlte sich trotz der dick gefütterten Lederhandschuhe, die sie trug, jetzt eher besorgt als feindselig an.

„Oje, als ob ich etwas mit den terroristischen Russen zu tun hätte, die euer Land völkerrechtlich verwerflich so brutal überfallen haben“, sagte ich und brach vor Verzweiflung in Tränen aus.

„Warum bist du wirklich hier, Susi?“, fragte mich Mirj leise flüsternd in mein Ohr. Mich fröstelte nicht nur, weil die Kälte für mich von Minute zu Minute mehr zur Qual wurde.

„Mein Freund Pawel wurde von den Russen dazu missbraucht, mich in Berlin mit einem Spray zu vergiften. Er sagte, es sei Medizin gegen meine Antriebslosigkeit und gegen Konzentrationsstörungen. Das Spray hat bei mir dann eine Augenkrankheit ausgelöst, die unsere Ärzte als Krebs diagnostiziert hatten“, schluchzte ich.

„Das hört sich zwar mysteriös, aber dennoch glaubhaft an, was du da erzählst“, sagte Mirjam nachdenklich und schnippte ihre bis zum doppelt eingekniffenen Pappröhrchen aufgerauchte Papirossa in den Schnee.


***


Zum Abendessen gab es Brotsuppe, die offensichtlich allen außer mir geschmeckt hatte. Mir war’s eh zum Kotzen, und das nicht nur, weil ich von Pawel, der mir das hier alles eingebrockt hatte, schon wochenlang nichts mehr hörte. Das einzige, das mir an diesem Tag Hoffnung machte, war die heutige Untersuchung bei Anna. Alle drei Tage leuchtete die Chirurgin mir mit einer Taschenlampe in mein Auge, aber ich sah schon seit Wochen keinen Lichtschimmer mehr. Deshalb kam sie mir bisher dennoch nicht wie eine russische Teufelin, sondern eher wie eine um die Entgiftung meines Körpers engagierte Ärztin vor. Vor dem Schneegeflüster mit Mirjam dachte ich, dass Anna nicht weniger als die beiden Ärztinnen in Berlin um meine Gesundheit bemüht war. Aber nach dem morgendlichen Gespräch hatte ich inzwischen doch etwas Zweifel daran, wem ich noch trauen konnte und wem nicht. Ausgerechnet heute, an diesem eh schon komischen Tag, quetschte Anna mir dann gleich zur Begrüßung einen klobigen Fremdkörper in meine entleerte Augenhöhle. Sie erklärte mir, dass die Acrylplombe die Reste meiner empfindlichen Schleimhäute besser vor der bitteren Kälte, die draußen herrschte, schützen würde. Das kam mir im Vergleich zu den realitätsnahen kosmetischen Glasaugen, die ich in Deutschland hätte bekommen sollen, plötzlich wie ein böses Omen vor. Schon wieder eine Quälerei, dachte ich, nachdem ich bereits beim Rauchen am Morgen um eine schmerzliche Erfahrung mit dem ukrainischen Frost reicher geworden war. Nur einen Augenblick später hätte ich Anna dann vor Freude um den Hals fallen können. Zuerst hielt ich die glimmende Scheibe, die wie ein dunkelrot schimmernder Glutball in einer pechschwarzen Nacht aussah, nur für eine optische Täuschung. Wie ein am Himmel ähnlich einer Morgensonne schwelender Vollmond sah das Licht der Lampe aus. Es erinnerte mich an das Leuchten von flüssigem Metall, das mich aus pechschwarzer Nacht wie das Licht eines Leuchtturms anstrahlte, um mir meinen Weg zu weisen. Aber spätestens als Anna mir sagte, dass mein krankes Auge schon wieder dem Licht folgen wollte, zweifelte ich nicht mehr an ihr. Jetzt, wo ich anfing, wieder sehen zu können, fühlte ich mich hier innerhalb von Sekunden wie in einer anderen Welt und musste mich erneut fragen, ob Anna für mich nicht doch eine Wunderheilerin war.



***



Verwirrt von den Geschehnissen des heutigen Tages verschwand ich gleich nach dem Abendessen auf mein Zimmer, um meine Gedanken für mich alleine zu ordnen.

„Wenn wir nur wüssten, was mit Pawel los ist?“, fragte mich meine innere Stimme wiederholt. Warum hatte er mich durch die Wirren eines hier gerade erst beginnenden Krieges zu diesem Ort gebracht? An den Ort, an dem ich seit heute wieder sehen konnte. Wenn die Ursache für mein Erblinden tatsächlich kein Krebs, sondern nachweislich eine Vergiftung mit synthetischen Drogen oder einer Art neuer russischer Biowaffe war, hätte Pawel mich damit fast für immer geblendet. Auch wenn er missbraucht wurde, hatte er Mitschuld an meinem Problem. Mein Problem, für das ich nun wieder Hoffnung hatte, dachte ich, als ich zur Schreibtischlampe griff und in die Lichtquelle blickte. Die glührote Scheibe tauchte im selben Moment wieder genau an der Stelle auf, an der sich meine Hand befand, in welcher der heiß und hell strahlende Schirm meiner Schreibtischlampe lag. Nach den vielen Wochen, in denen ich Licht nur noch als Wärmestrahlung wahrnehmen konnte, fühlte sich das schwelende Glühen der grellen Lampe noch besser als ein Kinofilm auf der Leinwand an. Als ich meine Hand schwenkte, spürte ich, dass mein Auge tatsächlich schon wieder dem Licht folgen konnte. Einen Augenblick später hörte ich draußen auf dem Gang den Takt eines Stocks, den ich mittlerweile aus den Geräuschen von allen anderen Blindenstöcken sofort heraushören konnte. Stirnrunzelnd und etwas irritiert drückte ich mit meinem Kinn auf den Knopf der sprechenden Uhr, die hier alle bekommen hatten.

„Einundzwanzig Uhr achtzehn“, krächzte es mir von meinem linken Handgelenk entgegen und im selben Moment klopfte es auch schon an meiner Tür.

„Zieh dir schnell warme Sachen an, wir machen noch eine Tour“, sagte Mirjam, schlüpfte durch die geöffnete Tür zu mir herein und schloss sie danach sofort wieder mit einem leisen Klicken.

„Eine Tour? Jetzt? … Es ist doch schon stockdunkel und die Nacht ist eiskalt", sagte ich etwas ängstlich und machte zunächst keine Anstalten, Mirjams Aufforderung zu folgen.

„Stell dich nicht so an, für uns ist eh immer Nacht, aber das, was ich dir zeigen will, geht nur im Schutz der richtigen Nacht", sagte Mirj so verschwörerisch, dass meine Neugier erwachte.

„Was hast du denn vor?“, fragte ich zurück und schlüpfte in den dick wattierten Kampfanzug, der hier für alle, also auch an mich, ausgegeben worden war.

„Zuerst so wie heute Morgen auch. Erstmal nur raus und noch eine rauchen", sagte Mirjam ganz entspannt in einem Ton zu mir, der plötzlich überhaupt nicht mehr so distanziert klang, wie ich es von ihr in ihrer Rolle als Trainerin bisher gewohnt war.

„Und nach dem Rauchen?", fragte ich neugierig, während ich den Reißverschluss etwas hochzog und den Overall, den ich mir dann doch schnell überstreifen wollte, nur bis knapp über meinen Bauchnabel zuzog, weil es im Haus eigentlich viel zu warm für diese Montur war.

„Dann gibt es Nachtisch und Früchte aus Nachbars Garten“, sagte Mirj und ich hörte zum ersten Mal ein verschmitztes Grinsen aus ihrer Stimme heraus.



***

 


Die Kantine war ausgefüllt von dem Gemurmel der Frauen, die sich hier um diese Zeit mit taktilen Würfel- und Brettspielen ihre Langeweile vertrieben. Ab und zu wehte ein eisiger Luftstrom durch den Raum, wenn welche, die zum Rauchen auf der Terrasse waren, hereinkamen oder deshalb hinausschlüpften. Mirj und ich fielen in dem bunten Treiben kein bisschen auf. Wir schlenderten zusammen durch den Raum und ich orientierte mich selbständig an dem frostigen Luftzug, der uns den Weg zur Außentür verriet. Wir gingen recht zügig und ließen dabei so wie alle hier unsere Stöcke vor uns hin und her pendeln, um nicht mit jemandem zusammenzuprallen und gegen keinen der unordentlich im Raum verteilten Stühle zu stoßen. Ich gab mir alle Mühe, um nicht mit einem tolpatschigen Fehler die Aufmerksamkeit anderer auf uns zu ziehen. Auf der Terrasse herrschte wildes Schneetreiben und der Wind blies Mirj und mir frostigen Neuschnee in unsere Gesichter. Dort wo die zugeschnürten Kapuzen offen waren, stachen uns herbeipfeifende Eiskristalle wie spitze Nadeln in unsere Haut. Bevor ich das Päckchen mit den Papirossas aus meiner Tasche nestelte, hatte ich mir meinen Overall bis zur Unterlippe zugezogen. Dick in warmer Winterkleidung eingepackt, waren wir sonst gut vor der uns umgebenden Kälte geschützt. Noch bevor ich mit meinen Lippen zwei Glimmstängel aus dem Papppäckchen ziehen konnte, spürte ich plötzlich Mirjs Finger auf meinem eiskalten Gesicht. In meinem Bauch entfaltete sich ein wohliges Kribbeln, während sie mir meine Lippen dick mit einem Fettstift bestrich. Das erinnerte mich an das Lipgloss, welches ich in Berlin immer gerne nahm, bevor ich mit Pawel loszog. Die Erinnerung daran fühlte sich wie aus einem anderen Leben an.

„Du setzt besser das noch auf. Es war gar nicht einfach, das hier für dich aufzutreiben“, sagte Mirj und drückte mir eine aus dicker Wolle gestrickte Augenklappe in meine Hand, an der zwei gehäkelte Kordeln herabbaumelten.

„Danke, aber für die Schleife an meinem Hinterkopf brauche ich deine Hilfe“, sagte ich bedrückt. Der kurze Armstummel, der mir nach Annas Amputation noch an meiner rechten Schulter verblieben war, schränkte mich mittlerweile mehr als mein fehlendes Augenlicht ein. Wie ich hier geworden war, frustrierte mich besonders bei so selbstverständlichen Tätigkeiten, weil ich dann daran erinnert wurde, wie sehr ich manchmal auf fremde Hilfe angewiesen war. Das nagte gewaltig an meinem Selbstbewusstsein und auch Mirj merkte sofort, dass ich plötzlich sehr ängstlich klang.

„Kein Problem, nur Kneifen gilt nicht“, sagte Mirj und knuffte mich aufmunternd zwischen meine Rippen.

„Kneifen ist ein gutes Stichwort“, antwortete ich und biss mit meinen Schneidezähnen in die beiden Pappröhrchen unserer zwei Herzegowina-Flors jeweils zwei tiefe Kerben. Das russische Kraut, das hier alle rauchten, klemmte einen Augenblick später zwischen meinen frisch gefetteten Lippen und ich fummelte in der Tasche meines Kampfanzugs nach meinem Feuerzeug. Als es aufflammte, sah ich plötzlich wieder diesen glutroten Mond, der so unnatürlich wie in einem Fantasy-Roman aussah, nur, dass er diesmal die Form einer Sichel hatte. Als mir klar wurde, dass ich in der Dunkelheit das Leuchten der lodernden Flamme sah, machte mein Herz einen weiteren Freudensprung. Kurz darauf sog ich den würzigen Rauch tief in meine Lunge und das Nikotin, das durch meinen Hals strömte, half mir dabei, den letzten Rest meiner Angst zu überwinden. Mirij und ich rauchten schweigsam und ließen die winterliche Stille, die uns zwischen den Böen des fauchenden Schneesturms umgab, auf uns wirken. Sie gaukelte mir eine eigenartig friedliche Stimmung vor.

„Früchte aus Nachbars Garten“, hat Mirj gesagt. „Aber wo kann es hier in dieser unwirtlichen Einöde Früchte geben? … und was hat sie wirklich mit mir vor?", fragte ich mich leise, aber als sie mir nach dem Rauchen mein Auge mit dem Kälteschutz zuband, hatte ich plötzlich Zweifel daran, ob ich ihr trauen konnte.

Ohne Mirj zurück auf mein Zimmer …? Dafür war es jetzt zu spät. Vorsichtig schob ich mir, ohne Mirjams Aufmerksamkeit dafür zu erregen, die wärmende Augenklappe von links nach rechts über die Acrylplombe. Mein gutes Auge brauchte Licht und frische Luft, aber dass ich damit schon wieder ein bisschen sehen konnte, wollte ich ihr, ich weiß nicht warum, noch nicht oder vielleicht auch niemals verraten.

 

***

 

„Mirjam, das kann nicht dein Ernst sein“, sagte ich, während ich in meinem Kälteschutzanzug fast verglühte. Wir hatten uns eine gefühlte Ewigkeit durch Berge von Neuschnee hindurchgekämpft und ich fühlte mich wie eine sibirische Wühlmaus, die in klirrender Kälte aus ihrem warmen Bau herausgescheucht worden war.

„Susi, hab keine Angst, dir kann nichts passieren, ich mache das nicht zum ersten Mal und die anderen, denen man hier trauen kann, machen das nicht anders als wir", beruhigte mich Mirj.

„Nein, das ist Selbstmord. Uljana hat Pawel und mich eindringlich davor gewarnt, dass hier gleich hinter dem Stacheldraht alles mit Sprengfallen vermint ist“, schrie ich entsetzt. Mirj hatte sich vor mir schon durch das Loch des rostigen Stachelzauns, an dessen Stacheln ich kleine Eiszapfen ertasten konnte, hindurchgeschlängelt und wartete dort im Minenfeld auf mich.

„Wie? Du sprichst von der rechten Hand unseres schlimmsten Peinigers und nennst sie auch noch wie eine gute Freundin, Uljana?“, zischte mich Mirjam feindselig an.

„Komm zurück auf meine Seite, dann erkläre ich dir alles, es ist absolut nicht so, wie du denkst“, entgegnete ich der aufgebrachten Mirjam, die sich aus meiner Sicht in akuter Lebensgefahr befand.

„Nach dem, was ich da gerade von dir gehört habe, dürfte ich dir eigentlich nicht mehr trauen. Und dann hättest du es nicht besser verdient, als hier alleine zurückgelassen zu werden“, fauchte Mirijam.

„Wie, du willst mich hier in dieser klirrenden Kälte den Naturgewalten überlassen? Und was heißt es schon, jemandem vertrauen zu können? Ich weiß zwar nicht, was die Russen hier für ein übles Spiel spielen, aber dass ich mich in dir getäuscht habe, weiß ich jetzt wenigstens schon mal", schleuderte ich ihr wutentbrannt entgegen. Ohne zu zögern drehte ich mich um und ergriff Hals über Kopf die Flucht zurück.


***

 

Einige Minuten später lag ich keuchend vor Anstrengung, tief eingesunken im Neuschnee, auf dem Rücken und sortierte meine Gedanken. Innerlich glühte ich, angefacht vom Adrenalin und von meiner Wut auf Mirjam. Am meisten brannte aber die Wut auf mich selbst, so wie die Glut, die ich seit heute wieder sehen konnte in mir. Die russischen Klamotten, die ich trug, schützten mich zwar vor der Kälte, aber nicht vor meiner neuen Feindin, der ich zutraute, dass sie mich für immer mundtot machen würde, wenn sie mich erwischte. Daran, dass sie mich verfolgen würde, hatte ich, nach alldem, was ich heute alles gelernt hatte, wenig Zweifel. Oder täuschte ich mich doch in ihr? Schließlich hatte ich ihr mit der Nennung von Uljanas Vornamen auch einen guten Grund dafür geliefert, dass sie jetzt an meiner Integrität zweifelte. Wie dumm von mir. Auch meine Panik vor dem Minenfeld war dumm, weil die Tretminen unter der meterdicken Schneedecke, die sie überbrückten, im Moment wohl wirklich keinem Menschen gefährlich werden konnten.

 

***

 

„Du musst etwas unternehmen, wenn du deine Haut noch retten willst“, sagte meine innere Stimme zu mir. Deshalb rappelte ich mich gleich wieder auf, als mir klar geworden war, dass ich in einem Kampf auf Leben und Tod keine Chance gegen Mirjam hätte. Die Spur, die ich während meiner Flucht im Schnee hinterlassen hatte, verschneite von Minute zu Minute mehr. Wenn Mirjam ihr dann nicht mehr folgen könnte, hätte ich selbst auch eine Chance mehr verspielt. Die Spur war mein einziger Weg zurück, wenn auch mit dürftiger Orientierung. Das war aber immer noch besser, als der Kälte zum Opfer zu fallen. Hier musste ich jedenfalls schnellstens wieder wegkommen, bevor es auch dafür zu spät war.

 

***

 

„Dann habe ich dir vielleicht doch zu schnell misstraut“, sagte Mirjam nachdenklich, nachdem ich ihr davon berichtet hatte, dass ich gleich nach unserer Ankunft auch geschockt davon war, wie vertraulich sich Uljana und Pawel begrüßt hatten. Nachdem ich ihr danach von Uljanas Wutausbruch wegen des Termitoxsprays, das mir Pawel unabgesprochen verabreicht hatte, und der geplatzten Versuchsreihe erzählt hatte, nahm sie mich in den Arm und entschuldigte sich für das Misstrauen, das sie vorschnell gegen mich gehegt hatte.

„Kein Problem, Mirj. Dass ich wegen des Minenfeldes so dusselig reagiert hatte, war auch keine Glanzleistung“, entgegnete ich. Während ich in ihren Armen lag, genoss ich, bevor es weiterging, erleichtert die Wärme ihres Atems. Einige Minuten später stießen wir auf eine vereiste Steinmauer, die wie das Bollwerk einer mittelalterlichen Burg aus dem Schnee aufragte. Mirj schlich an der Wand entlang und ich hörte, dass sie mit ihren Handschuhen auf dem Eis herumkratzte, als würde sie dort etwas Bestimmtes, eine verborgene Tür vielleicht, oder Trittstufen suchen.

„Hier ist es! Das ist die richtige Stelle", sagte sie plötzlich und forderte mich auf, ihr beim Graben im Schnee zu helfen. Nach wenigen Minuten hatten wir uns so tief eingegraben, dass ich den gefrorenen Boden eines Ackers oder einer Viehweide ertasten konnte und stellte fest, dass dort etwas mit Holzbohlen abgedeckt worden war. Nachdem Mirj drei der Bohlen aus dem Eis gebrochen hatte, tat sich ein Spalt auf, der gerade so groß war, dass wir nacheinander in einen unterirdischen Gang kriechen konnten, der mich an eine Eishöhle aus der Steinzeit erinnerte. Eine Minute später wurde ich, nachdem wir unter der Mauer hindurchgekrochen waren, eines Besseren belehrt, als wir uns dort wieder so aus dem Schnee herausbuddeln mussten, wie wir uns vorher in ihn hineingegraben hatten.

 

***

 

Nach einer weiteren anstrengenden Viertelstunde erreichten wir ein Gebäude, dessen Fassade, je näher wir ihm kamen, immer mehr Wärme abstrahlte. Soviel Wärme, dass der Schnee auf der Treppe, die mich Mirj hinaufführte, bei jedem weiteren Schritt nur noch matschig schmatzend zwischen dem Stollenprofil unserer schweren Stiefel herausquatschte.

„Wir sind da!“, sagte Mirj und blieb vor einer spiegelglatten senkrechten Fläche stehen, die mir wohlig warm mein durchgefrorenes Gesicht erwärmte. Während Mirj etwas aus ihrer Overalltasche herauskramte, streifte ich meine Kapuze ab und einen Augenblick später hörte ich das leise Summen eines Elektromotors. Im selben Moment strömte tropisch heiße Luft aus einem Raum heraus und wehte mir wie ein Föhn durch mein kurzgeschorenes Stoppelhaar. Vom Schneebuddeln unter der Mauer war doch noch mehr Schnee, als ich dachte, unter meiner Kapuze, und mein Kopf fühlte sich wie eine durchgefrorene Eiskugel an. Durchsetzt von gefrorenem Tauwasser und zahlreichen Eisklümpchen zwischen den Stoppeln hatten sich meine Haare Sekunden vorher noch so ähnlich wie nasses Stroh, das verklumpt war, angefühlt. Wie durch ein Wunder dampften sie schon, als sich die Tür mit dem gleichen leisen Summen, mit dem sie sich vorher für uns geöffnet hatte, nach unserem Eintreten wieder hinter uns schloss. Meine Haare hatten sich sekundenschnell in ein feuchtwarmes Etwas verwandelt und fühlten sich plötzlich wieder kuschelig weich an. Das Tollste war aber, dass ich das Licht, das plötzlich überall gleißend hell im Raum aufgeflammt war, wieder sehen konnte. Das tropische Klima, das hier in diesem hallenartig klingenden Paradies herrschte, ließ, begleitet von Geräuschen umherfliegender Vögel und ihrem unbekümmerten Zwitschern, mein Herz aufblühen. Alles hier erfüllte mich mit unerwarteter Freude. Die Umgebung erinnerte mich an das Tropical Island, das sich nahe bei Berlin befand. Dort hatte ich schon als Kind in abenteuerlich schummrigen Grotten und jaulend vor Spaß auf den Rutschen meinen ersten Spaß am Schwimmen und Baden erfahren. Später war ich dann noch einige Male mit Pawel dort, aber dann standen die Rutschen nicht mehr ganz so hoch im Kurs, weil die Grotten uns zum Austausch erster jugendlicher Zärtlichkeiten mehr angezogen hatten.

„Schnell raus aus den Wärmeschutzanzügen, bevor uns die Hitze wie in einer Bratfolie durchgart“, hörte ich Mirj grinsend sagen und begann mich auch gleich auszupacken. Mirj war viel schneller als ich ausgezogen. Alles mit einem Arm zu bewerkstelligen kostete Zeit, aber Mirj eilte schon herbei, als ich noch mit meinen Schnürstiefeln beschäftigt war.

„Warte, ich helfe Dir“, hörte ich sie sagen, als sie schon an meinem linken Ärmel zog, in dem noch mein ganzer Arm steckte. Auf die Schnelle hatte ich das Oberteil nur auf meiner amputierten Körperseite heruntergestreift, um mich danach zuerst um meine Stiefel zu kümmern. Mirj schob mir meinen Overall bis zu meinen Hüftknochen hinunter und ich stand nur noch mit einem viel zu weiten Armeeshirt bekleidet vor ihr. Darunter trug ich einen mir viel zu großen, altmodischen Stäbchen-BH, der für Frauen zur Grundausstattung des russischen Militärs gehörte. Es war die kleinste Größe, die es gab, und ich trug ihn nur, weil er dick wattiert war. Als Kälteschutz halt. Das, was ich von Mirj nur schemenhaft wie dunkle Schatten auf etwas hellerem weißen Grund, der wie Schnee oder weißer Nebel aussah, schon wieder sehen konnte, war nicht viel, aber es war genug, um zu erahnen, wie fraulich sie aussah. Sie drückte mich sanft nach hinten, wo mich eine mit weichem Leder bezogene Liege, die so groß wie ein riesiges Queensize-Bett sein musste, auffing. Ihre schweren, vollen Brüste streiften meinen nackten Bauch und ich spürte schon wieder dieses lustvolle Kribbeln, als ich realisierte, dass Mirj schon splitternackt war.

„Hier, Mirj“, sagte ich, weil ich vermutete, sie dachte, ich sei schon so nackig wie sie, und erinnerte sie an die gehäkelte Piratenklappe, die sie mir zum Schutz meines Auges gegeben hatte. Das war das letzte Kleidungsstück, das ich ablegen konnte. Dann wollte ich sie eigentlich neckisch knuffen, um mit ihr in der erholsamen Schwüle, die nach der Kälte so richtig guttat, wild auf dem Bett herumzutollen. Ein plötzliches, dunkel klingendes Grollen unterbrach mich jedoch jäh, bevor ich meinen Gefühlen freien Lauf lassen konnte.

„Hey, was ist denn jetzt los?“, schrie ich zu Tode erschrocken und sprang auf. Das, was ich sah, ließ mich befürchten, dass das Glashaus, in dem wir uns befanden, von den Schneemassen über uns eingedrückt und schon einen Augenblick später wie ein Kartenhaus in sich zusammenstürzen würde. Dann drang auch noch tosendes Brausen von herabstürzenden Urgewalten der Natur zu meinen Ohren und ich sah nicht weit vor uns blasse Schatten, die wie Unmengen von herabstürzendem Schnee aussahen. Sie stürzten wie eine Lawine, die alles unter sich begraben wollte, von oben herab, und vor unseren Füßen stob weißer Schnee hoch. Alles um uns herum schien uns auffressen und unter eisiger Kälte begraben und ersticken zu wollen. Das einzige, was mich irritierte, war, dass das, was mich da ergriff, sich nicht wie Schnee, sondern eher wie heißer Wasserdampf anfühlte.

„Was ist denn in dich gefahren?“, fragte Mirj, lachte, stürmte auf mich zu und fesselte mich mit einer innigen Umarmung so an ihren Körper, dass ich mich nicht mehr bewegen konnte. Mein Herz raste wie wild und ich verstand die Welt, in der ich mich hier befand, immer weniger. Nichts passte mehr zu meinen Wahrnehmungen und mein wieder erwachendes Sehen schien mich noch mehr zu verwirren als die Dunkelheit, in der ich mich gerade begonnen hatte, zurechtzufinden.
„Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist“, log ich Mirj an und hasste mich im selben Moment für meine Unehrlichkeit, die nichts anderes als Feigheit war.

„Ach das? Das war nur der Geysir. Den hat sich der irre Kommandant hier einbauen lassen. Vor uns ist sein künstlicher Thermalsee. Wir befinden uns hier in der Mitte seines persönlichen Lustschlosses", sagte Mirj und begann mich zärtlich zu streicheln.

„Ein Thermalsee? Hier …? Was für ein Lustschloss und wer ist dieser Kommandant?“, stammelte ich und genoss die Wärme, die Zuneigung und auch den Trost, während Mirjs Erregung mich überflutete. Ihre feurige Hitze riss mich so mit, dass die Schmetterlinge in meinem Bauch wild flatterten und ich mich mit ihr am liebsten sofort, so eng umschlungen wie wir dastanden, in den Thermalsee geworfen hätte.

„Und jetzt, komm mit, oder hast Du die Früchte vergessen, die ich dir aus Nachbars Garten versprochen habe?“, sagte Mirj und riss mich leichtfüßig davon trabend mit sich mit. Sie kannte die Umgebung hier sogar so gut, dass sie sich auch ohne ihren Langstock mit mir im Schlepptau sicher orientieren konnte. Schon nach wenigen Metern spürte ich gewachsenes Gras unter meinen Fußsohlen und es roch mit jedem weiteren Schritt intensiver nach exotischen Früchten.

„Hier, fühl mal …, kommst du selbst darauf, was das ist?“, hörte ich mich Mirj fragen, die meine Hand zu einem Ast führte.

„Eine Mango?“, fragte ich etwas ungläubig.

„Ja, genau! Ganz frisch vom Baum. Sie ist reif, außen schön weich und innen drin saftig und zuckersüß …, so wie du, oder täusche ich mich?“, hauchte sie mir ins Ohr und biss mir zärtlich in mein Ohrläppchen.



***



Selbst das Gras, auf dem ich lag, fühlte sich an meinem Rücken nicht kalt, sondern tropisch feucht und wohlig warm an. Als Mirj mir meinen schweißnassen Bauch streichelte und ich ihre Berührung mit einem lustvollen Stöhnen quittierte, bewegte sie ihre Hand immer tiefer in Richtung meiner Scham und glitt über den feuchten Schleim, der immer lustvoller aus mir herausquoll. Zuerst öffnete ich meine Schenkel nur zögerlich, aber dann immer mehr, bis ich weit aufgespreizt neben ihr im sich immer heller lichtenden Nebel lag. Der fruchtige Geruch der Mango, die sie über mir wie eine Zitrone ausquetschte, machte mich fast noch wuschiger als der Duft, der mir aus ihren tropfnass gewordenen Schamlippen in meine Nase strömte. Dann spürte ich Mirjs Zunge, sie fühlte sich etwas rau an und kitzelte mich zärtlich an den Innenseiten meiner Schenkel. Ein bisschen kühl kam sie mir dennoch vor, während sie sich Millimeter für Millimeter immer schneller kreisend meinem Lustzäpfchen näherte. Aber dann hörte ich ein metallisches Klicken, das mich unsanft aus meinen süßen Träumen zurück in die Gegenwart katapultierte. Mit einer Mischung aus Neugier und Schreck kniff ich mein immer besser sehendes Auge zusammen und starrte sie damit an. Es ließ mich den schemenhaften Hauch eines russischen Offiziersmessers wie eine silberne Sichel aufblitzen sehen und so erschaudern, dass ich eine Gänsehaut bekam, als ob ich plötzlich fröre. Mir blieb fast mein wild pochendes Herz stehen, bevor ich kurz nach dem Schreck wieder entspannt durchatmen konnte, nachdem ich kapierte, was Mirj damit anstellen wollte. Eigentlich hatte ich mich schon auf ein zartfühlendes Eindringen ihrer schlanken Finger in mich eingestellt, aber die saftigen Spalten, die sie in langen Streifen von einer klebrig süßen Mango abgeschnitten hatte, waren eine viel bessere Idee. Wir knieten so eng beisammen, dass Mirjs schwere Brüste meine kleinen Nippelchen immer wieder sanft berührten, während wir uns einander abwechselnd die frischen Fruchtspalten in unsere schon sehnsüchtig zuckenden Lustspalten hinein streichelten. Wieder auf dem Rücken im Gras liegend sah ich die Schatten von Mirjs Schenkeln, die sich über meinem Gesicht langsam schlossen und sich das Licht zu einem dünnen Nebelstrahl verjüngte. Schon, dass Mirj so über mich gegrätscht, ihr Becken auf mein Gesicht gesenkt hat, raubte mir fast meinen Verstand und ich konnte es fast nicht mehr erwarten, endlich ihre geöffneten Schamlippen mit meiner Zunge begrüßen zu dürfen. Als es endlich so weit war und ich den süßen Saft schmeckte, der aus ihr in meinen Mund sickerte, stieß ich ihr einen kehlig klingenden Schrei in ihre feurig erglühte Grotte. Das Schmatzen, das an meine Ohren drang, als Mirj damit begann, die Fruchtstreifen wieder nacheinander aus mir herauszulutschen, um sie mit ihren Lippen dann von meinem Kitzler zu knabbern, heizte mich an, das Gleiche mit ihr zu tun.

„Uns einander als Nachtisch die Früchte aus Nachbars Garten auf diese Art gegenseitig zu kredenzen, war eine total pfiffige Idee von dir, Mirj", flüsterte ich, nachdem ich den fruchtigsten Orgasmus meines Lebens erlebt hatte, und genoss jeden weiteren Atemzug, den uns die unerwartete Umgebung hier spendete.

„Was war das denn vorhin mit der Lawine, Süße? Hast du mir etwas verschwiegen", fragte Mirj, während sie mir weiter zärtlich meinen Bauch streichelte, aber schon durchblicken ließ, dass sie mehr von meinem neuen Geheimnis ahnte, als ich erhofft hatte.

„Bestimmt nicht mehr als du mir", antwortete ich ihr gereizt, weil ich ihre Frage als Bestätigung dafür interpretierte, dass alle anderen in diesem eigenartigen Umfeld auch nicht so blind waren, wie sie sich mir gegenüber immer gaben.

 

***

 

Kurz bevor wir vom Rückweg, den wir aufgrund der jüngsten Verstimmung schweigend hinter uns gelassen hatten, total erschöpft den Stacheldrahtzaun erreichten, fasste ich mir dann doch ein Herz.

„Okay, ich kann seit heute wieder ein bisschen sehen, aber nur Nebelfetzen und Schatten. Selbst schneeblind wäre für das bisschen geprahlt", keuchte ich in die Kälte und folgte weiter Mirjs Spur.

„Du brauchst mir nichts beichten, was ich mir selbst schon zusammenreimen konnte, aber nimm dich vor Anna in Acht", brummte Mirij mir leise zu, bevor sie vor mir durch den Zaun schlüpfte.

„Wieso sollte ich Anna misstrauen? Sie ist doch diejenige, die mir das Licht zurückgegeben hat", murrte ich, während ich Mirj durch das Drahtloch folgte.

„Pssst, nicht so laut. Pass einfach mehr auf dich und auf dein Auge auf. Ich habe eh schon viel zu viel gesagt. Mit dir über diese und andere Dinge, die hier ständig passieren, zu reden, ist streng verboten", flüsterte Mirijam noch in einem sorgenvollen Ton zu mir und stapfte danach wortlos davon.

 

 

Nebelstadt

Mara

 

„Kaum zu glauben, dass auf einen so sonnigen Nachmittag, der fast wie ein verspäteter Sommertag wirkte, eine so nasskalte Herbstnacht folgen kann“, sagte Nele kühl. Sie stand fröstelnd neben mir auf dem kleinen Balkon des Berliner Studentenwohnheims, in dem ich heute bei ihr übernachten wollte, und bibberte so sehr unter ihrem wollenen Poncho, dass ich sie dann doch noch spontan in den Arm nahm. Früher nahm ich Nele gern und unvoreingenommen in den Arm. Unzählige Male zuvor freute ich mich darauf, ihr nahe zu sein, diese Nähe zu spüren und zu genießen, aber der heutige Tag, oder viel mehr der heutige Abend, hatte völlig unerwartet einen Keil zwischen uns getrieben.

„Ja, das war ein komischer Tag, erst Sonne im Herzen und dann ein Temperatursturz, der es in sich hatte“, sinnierte ich halblaut vor mich hin und wartete auf Neles Reaktion. Die trostlos beißende Kälte dieser besonderen Nacht passte zu der kriselnden Stimmung, die zwischen Nele und mir aufgekommen war. Nur die vielfältigen Klänge der in meinen Ohren auch in der Nacht bunt, strahlend und prickelnd klingenden Großstadtgeräusche hellten mein Gemüt noch etwas auf.

„Ausgerechnet Leon", sagte Nele und sprach gleich mit kraftloser Stimme weiter. „Eigentlich hätte ich gerade bei dir, Mara, meinen Hut dafür verwettet, dass du nicht an deinem ersten Tag in Berlin wie eine Fünfzehnjährige im Schullandheim mit Männergeschichten anfängst", schloss sie frostig und ließ unverhohlen durchblicken, dass ihr das, was sich heute in ihrer Clique zwischen mir und Leon abgespielt hatte, schwer missfiel.

„Höre ich da Eifersucht oder Neid heraus und meinst du echt, dass eine blinde Siebzehnjährige, wie ich, in Berlin eine, wie dich, als Aufpasserin braucht?“, entgegnete ich Marcs Schwester. 

Meine Stimme klang zwar mehr nach Frust als nach Zorn, aber trotzdem nicht gut. Marc, der bis zu einem Motorradunfall, durch den er so wie ich auch vollblind wurde, früher als Bundeswehrsoldat bei der Marine beschäftigt war, ist in unserem Sportverein zu Hause nicht nur als Trainer unserer Inklusionssportgruppe tätig. Darüber hinaus ist er auch, obwohl er älter ist, einer meiner besten Freunde aus unserer Clique geworden, und er ist auch derjenige, der mir unzählige neue Tricks und Kniffe beigebracht hat, die mir inzwischen ein autarkes und selbstbestimmtes Leben ermöglichen. Dass ausgerechnet Nele plötzlich den Anschein erweckte, mir Vorschriften machen zu wollen, stieß mir mega sauer auf. Leider war es offensichtlich so, dass sowohl Nele als auch ich uns meinen ersten Besuch hier bei ihr in Berlin ganz anders vorgestellt hatten. Deshalb hatte ich mir inzwischen auch längst vorgenommen, mich am nächsten Tag mit der Suche nach einer eigenen Bleibe auf den Weg in die Stadt zu machen. Das wollte ich Nele heute Abend aber lieber noch nicht verraten.

Erst macht sie voll auf Tratschtante und plappert Dinge über andere wie Leon und mich aus, und dann setzt sie noch die Rollen der Moralapostel und die der Aufpasser obendrauf – geht’s noch, dachte ich und spürte Zorn in mir aufwallen.

Dabei hatte ich mich so sehr auf den Besuch bei Nele gefreut und war heilfroh, dass ich meine überfürsorgliche Mutter nicht mehr an der Backe hatte. Aber so wie es schien, war das Vertrauen, auf das ich bei Nele gebaut hatte, schwer gebröckelt, und Unterstützung für wichtige Angelegenheiten wollte ich unter diesen Bedingungen eher keine mehr von ihr annehmen. Auf der anderen Seite hatte ich schon früh gelernt, dass mir mein Trotz bisher nur begrenzt dabei half, sicher und verlässlich dort anzukommen, wo ich hin wollte. In einer fremden Umgebung half mir mein Trotz bisher eigentlich noch nie weiter, aber Kooperationen schon. Mein Problem dabei ist immer die Kunst, die solche Kooperationen als Kompromisse begleiten müssen, die darin besteht, Hilfe, wenn überhaupt nötig, nur so anzunehmen, dass daraus keine Abhängigkeiten entstehen konnten. Aus bereits gemachten Erfahrungen hatte ich gelernt, dass es für mich immer am einfachsten funktionierte, wenn ich mich bei den wichtigen Sachen, die ich machen wollte, alleine durchgebissen hatte. Mein eigentliches Problem, das erahnte ich schon, war wohl, dass mich all das, das ich mithilfe von anderen machen musste, immer so ankotzte, dass ich dann unkontrolliert pampig wurde. Mich nervte daran total, dass ich in meinem tiefsten Inneren felsenfest davon überzeugt war, immer wenn ich Hilfe in Anspruch nahm, besonders sorgfältig darauf aufpassen zu müssen, dass meine autarke Eigenständigkeit gerade dann auch gut abgesichert blieb. Die Gefahr, mich von anderen abhängig werden zu lassen, schwebte wie das Schwert des Damokles stets über mir und führte oft dazu, dass ich Leute, die mir ungefragt helfen wollten, dann manchmal mehr als nötig blöd dastehen ließ. Ich war mir dessen zwar bewusst, aber wenn es wieder so weit war, konnte ich meist nicht anders, als wieder schnippisch blöd zu werden und mehr als nötig auszuteilen.

„Steht dein Angebot mit unserem gemeinsamen Tag morgen an der Uni noch?“, fragte ich in die dunkle Kälte des in der Großstadt trotz später Stunde zwar fernen, aber quicklebendigen Nachtlebens, dessen Geräusche mich richtig anfixten.

„Glaubst du echt, ich würde dich wegen der dummen Sache mit Leon jetzt hängenlassen, Mara?“, hörte ich Nele sagen und spürte den Nebel ihres Atems. Ein Nebel, der sich in der Stimmung, in der ich war, ein bisschen so anfühlte wie an einem schwülwarmen Tag herabfallendes Herbstlaub, das sich auf mein Gesicht legte, mir meinen Atem raubte und mich unter sich begrub.

„Weiß nicht … Ich will eigentlich nur wissen, ob du es jetzt noch willst oder ob es für dich inzwischen mehr eine Art Verpflichtung geworden ist", sagte ich in das Gesicht, das vor mir Wärme abstrahlte.

„Klar, will ich", sagte Nele und schlang ihre Arme um mich.

„Das mit Leon war echt komisch. Auf dem Rückweg sagte er mir, dass er meint, er sei sowas wie ein Fetischist …“, brummelte ich vor mich hin und genoss es, Neles kalte Wange wieder an meinem Hals zu spüren, unter dessen Haut meine Schlagader noch hitzig pochte.

„Mara! … Leon und ein Fetischist … Wie kommst du denn darauf?", fragte Nele indigniert.

„Das kommt ja von ihm selbst und gar nicht von mir", entgegnete ich Nele etwas nachdenklich.

„Ach nee? Hat er gesagt, wie er darauf gekommen ist, dass er plötzlich einen Fetisch haben will? Aus meiner Sicht passt das kein bisschen in sein Profil", sagte Nele, die als angehende Psychologin sicher besser als ich wusste, wovon sie gerade sprach.

„Ja, hat er, aber bevor ich dir das sagen will, würde ich gern von dir, Nele, wissen, ob du auch einen Fetisch hast. Musst aber auch nichts sagen, wenn dir meine Frage zu indiskret ist …"

„Oh Gott, Mara, … Du stellst Fragen …", sagte Nele und schlang ihre Arme noch fester um mich, und ich fragte mich, ob sie mir Halt geben wollte oder ob sie selbst mehr Halt suchte.

„Ja, Fragen, die mich echt aufwühlen seit heute", fügte ich ganz ehrlich hinzu.

„Hm. Einen richtigen Fetisch hab ich nicht, bei mir sind das eher Neigungen und Sachen, die ich eben voll gern hab und andere halt nicht so", sagte Nele nachdenklich und ich spürte, dass sie bereit war, mir weiter zuzuhören.

„Hast du auch mal mit ihm …", fragte ich neugierig weiter und war gespannt darauf, wie Nele jetzt reagieren würde.

„Nein. Hast du? … so richtig meine ich?", kam prompt ihre Antwort, aber ohne jegliche Aggression in Neles Stimme.

„Ja, hab ich, das erste Mal mit einem Mann, und es war richtig schön. So richtig natürlich nicht ganz, weil …, also meinetwegen, es lag keinesfalls an ihm, wenn du das damit gemeint hast", sagte ich nachdenklich.

„Und was war das mit dem Fetisch? Oder möchtest du es lieber für dich behalten, Mara?“, hakte Nele, ohne mich zu drängen, vorsichtig nach.

„Leon sprach für mich in mehrerlei Hinsicht in Rätseln, die mich mehr beschäftigen, als sie mich verletzt haben könnten. Da war ein Satz, der mir immer wieder durch den Kopf geht, Nele. Dieser eine Satz hat für mich die Frage aufgeworfen, ob es bei blinden Menschen wie mir überhaupt so etwas wie einen Fetisch geben kann?“, antwortete ich ihr in der Hoffnung, dass sie kapierte, dass ich Leon deshalb nicht böse, sondern eher dankbar für seine Offenheit bezüglich dieses Themas war.

„Leon spricht selten in Rätseln. Diese Seite von ihm kenne ich nicht. Wie kamt ihr denn darauf?", fragte mich Nele mit einer Stimme, die in sich selbst ruhte.

„Klartext war’s schon, aber für mich halt trotzdem ein Rätsel, als er mir sein Faible für mich so locker beschrieb und seine Haltung selbst als Fetisch-Outing beschrieb", antwortete ich und setzte mich auf Neles Bettkante.

„Verstehe ich das richtig, dass es ihn anturnt, dass du blind bist? … und das hat er dir einfach so vor den Latz geknallt?", zischte Nele plötzlich alles andere als entspannt.

„Nein, nicht vor den Latz geknallt. Er hat sich in meiner Wahrnehmung damit auch gar nicht wirklich geoutet. Ich hatte eher den Eindruck, dass es eine Art Kompliment sein sollte und er sich bei dem Versuch, mir seine Gefühle zu offenbaren, mehr als aus meiner Sicht nötig selbst im Weg stand. Aus seiner Sicht gesehen hörte sich das für mich so an, dass ich mit meinen beiden Glasaugen für seinen Geschmack einfach nur total sexy für ihn gucke", erklärte ich Nele und bemühte mich darum, dass Leon in unserem Gespräch nicht schlechter weggkam, als er es verdient hatte.

„Das hier hat eine ganz andere Dimension, als ich das vorhin vermutet habe, und ich könnte mir inzwischen dafür in meinen eigenen Hintern beißen, dass ich den Braten nicht früher gerochen habe. Ich hoffe, dass ich das wiedergutmachen kann und dass du nicht nachtragend geworden bist, hoffe ich noch mehr", hörte ich Nele jetzt richtig besorgt sagen.

„Ist richtig ungemütlich geworden hier draußen in der Herbstkälte, was?“, bemerkte ich vorsichtig und versuchte Nele etwas von ihren Grübeleien, die ich deutlich spürte, abzulenken.

„Ja, komm, wir gehen wieder rein“, sagte Nele und schlüpfte vor mir durch die Tür zurück in ihr Zimmer.

„Willst du auch einen Vodka? Diese Geschichte haut mich jetzt echt um", sagte Nele, die sich schon an einem Schrank zu schaffen machte, und dann hörte ich das Klirren kleiner Gläser und ein leises, gurgelndes Glucksen.

 

***

 

„Hi Mara, gut geschlafen?", hörte ich gleich nachdem ich den Speisesaal betreten hatte Sophies Stimme total nett in meine Richtung fragen und dazu auch gleich das Rücken eines Stuhls aus der gleichen Richtung.

„Ja, danke, wie ein Stein. Kein Wunder nach den Vodkas, die sich Nele und ich gestern noch ohne euch reingeschüttet hatten, bevor wir dann auch endlich in die Kiste gingen", sagte ich und schlug einen Haken in Richtung Buffet.

„Hey, lass nur …, Espresso mit viel Zucker, oder?", sagte Sophie, die mich schnell eingeholt hatte und kurz darauf viel zu dicht neben mir stand. Um nicht gleich pampig zu werden, weil sie mir ungebeten auf die Pelle gerückt war, atmete ich ganz langsam mit geschürzten Lippen aus.

„Nee, danke, Sophie, heute ziehe ich mir lieber einen Cappuccino. Das bekomme ich selbst gerade noch alleine hin, aber trotzdem danke für deine Mühe", wies ich sie vorsichtig zurück und orientierte mich weiter am Buffet. Dessen Aufstellung hatte ich mir schon, als alle noch schliefen, in Ruhe zur Vorbereitung angesehen. Zu etwas früherer Stunde war ich heute, während Nele unter der Dusche stand, schon einmal alleine kurz in den noch leeren Speisesaal gehuscht, um mich in Ruhe und ungestört mit allem, was es hier im Raum gab, etwas genauer vertraut zu machen. Die Knöpfe des Kaffeevollautomaten hatte ich mir schon am Vortag eingeprägt. Käse und Wurst standen unter getrennten Glasglocken bereit und die Butterstückchen waren einzeln verpackt. Irgendwie schien mir hier alles schon fast zu perfekt für welche wie mich zu sein. Es freute mich ungemein, dass ich mich am ganzen Angebot ohne fremde Hilfe unbeschwert austoben konnte, ohne dabei in Gefahr zu geraten, versehentlich irgendetwas Unverpacktes anzutatschen, das andere danach auch noch mit Appetit essen wollten.

„Nele und ich gehen heute zuerst zur Uni“, sagte ich, nachdem ich vier Minuten später, ein Tablett auf meiner Linken balancierend und mit meinem Stock in meiner Rechten wie von Geisterhand gelenkt, auf Anhieb meinen Platz am Tisch gefunden hatte. Auf dem Tablett stand eine große Tasse mit meinem Cappuccino und daneben befand sich auf einem Teller ein knuspriges Brötchen mit Käse und Schinken. Weil ich ohne fremde Hilfe und ohne Malheur den Tisch der Clique erreicht hatte und das anerkennende Erstaunen in der Luft knistern hören konnte, war ich richtig gut drauf. Die Orientierung über die Stimmen, die ich inzwischen ja schon recht gut von allen in Neles Clique kannte, hatte locker gereicht, um sicher an dem freien Stuhl anzukommen, auf dem ich gestern schon den ganzen Vormittag mit meinen neuen Freunden verbracht hatte.

„Guten Morgen, Mara. Habt ihr für den Nachmittag auch schon etwas vor?", hörte ich Leon sagen, der offensichtlich auch wieder auf dem gleichen Platz wie am Vortag saß.

„Aber ja, nach der Uni wollen wir noch raus ins Grüne, zum Schlachtensee, und vorher vielleicht noch ein bisschen durch das Museumsdorf Düppel schlendern. Dort könnten wir dann auch was zu futtern und nach netten Kleinigkeiten Ausschau halten. Bisschen shoppen halt. Leider ist es zum Schwimmen im See schon zu kalt, aber wenn der Bootsverleih am See noch offen hat, genießen wir die letzte Herbstsonne vielleicht dann sogar noch auf dem Wasser", antwortete ich ihm entspannt und nippte, gleich nachdem ich saß, an meiner Tasse.

 

***

 

„Du hättest mir aber schon mal vorher sagen können, dass wir in die Georgenstraße müssen“, bemerkte ich etwas angefressen. Währenddessen ging ich mit meinem Stock neben Nele her und war froh darüber, dass ich wenigstens bis zur U-Bahn-Station Herrmannstraße noch alleine gehen konnte.
„Ja, hätte ich, aber vielleicht übertreibst du es ja manchmal auch ein bisschen mit deinem Selbermachkomplex, Mara? Du könntest wirklich mehr als ich Marcs Schwester sein", entgegnete mir Nele und knuffte mich flapsig in meine Rippen.
„Übertreiben? … ganz bestimmt nicht. Solange ich Berlin nicht so gut wie meine Westentasche kenne, kann ich mir da wirklich keine Kompromisse erlauben, Nele!"
„Wir können ja in der Bahn noch ein bisschen mit deinem Handy planen. So wie ich dich kenne, wird es sowieso wieder darauf hinauslaufen, dass ich nach dem Aussteigen hinter dir herlaufe und nicht du hinter mir“, sagte meine Begleiterin, und mit diesem Vorschlag konnte ich prima leben. Die U8 Richtung Wittenau zu finden, schaffte ich mit Stock und Navi auf meinem iPhone auf Anhieb, ohne dass Nele einen Piep machen durfte. Bevor wir den Alex erreichten, hatte ich auch schon die Verbindung mit dem 150er von der Osloer Straße bis zum Karower Damm in Pankow gefunden. Da war dann auch schon die Georgenstraße und von dort waren es nur noch drei Minuten zu Fuß bis zur Uni, an der dort das Institut für Rehabilitationswissenschaften untergebracht war, in dem sich die Sehwerkstatt, die wir besuchen wollten, befand.
„Endstation für mich“, brummelte ich und tastete nach Neles Ellenbogen. Im Inneren von unbekannten Gebäuden ging es ohne Assistenz so gut wie nie weiter. Die Navigationssysteme, wie sie am Markt für Blinde als Apps für iPhones zur Verfügung standen, konnten dort drinnen bis auf seltene Ausnahmen wie wenige Theater, oder einige Arenen leider nicht mehr weiterhelfen.
„Ach nee? … schon müde", zog Nele mich auf, und ich drückte ihr dafür die übelste Grimasse hin, die ich drauf hatte.
„Schau mal, das wird dir gefallen, Mara“, sagte Nele grinsend und führte meine Hand zu einem taktilen Modell, auf dem alle Gänge des Gebäudes ertastbar waren und die Räume in Braille beschriftet waren.
„Wow, wie irre ist das denn!“, schrie ich leise vor Begeisterung auf und schob dann noch ein bisschen Kritik an Neles Adresse hinterher.
„Wenn du mir rechtzeitig gesagt hättest, wo wir hinwollen, hätte ich die Informationen zu dem coolen Ding im Internet auch ohne deine Hilfe gefunden.“
„Siehst du, wie du schon wieder übertreibst, Mara“, kicherte Nele und ich musste laut mitlachen, bevor ich mit meinem Stock entlang des Leitsystems lostrabte und ihr über die Schulter zurief: „Kannst ja mal probieren, wie es so für dich läuft ohne mich, wir sehen uns dann in der Sehwerkstatt.“

 


***

 

„ … können sie lassen, mit den Dingern kann ich nichts anfangen, aber Braille ist voll ok", beendete ich meinen Satz, als ich hörte, dass Nele auch angekommen war. Dem dampfenden Kaffeeduft, der sich um sie herum im Raum verbreitete, entnahm ich, dass sie noch einen Abstecher in die Cafeteria gemacht hatte.
„Das ist Herr Rathling, einer der Assistenten, der sich hier gleich Zeit für mich genommen hat“, sagte ich zu Nele und stellte sie Herrn Rathling als meine Assistentin vor.
„Wenn du dich noch ein bisschen hier umsch …", sagte ich noch zu Nele, bis mir der anlaufende Braille-Drucker so gründlich das Wort abschnitt, dass eine weitere Unterhaltung unmöglich war.

„krrr … rrii … iikr … grrrrrriiii … kkrrrrr …“
„So, das war’s schon, hier ist dein Vorlesungsverzeichnis, Mara. Wenn du Scanner zum Lesen von Büchern oder Unterstützung für Bilder, Grafiken, Handschriften, Tabellen oder für Fotos auf deinem iPhone brauchst, bist du hier jederzeit gerne gesehen", sagte der Assistent zu mir und Nele wartete geduldig im Hintergrund.
„Ich habe übrigens zwei Kaffee dabei und könnte noch einen dritten holen, wenn Interesse besteht“, sagte Nele dann plötzlich und schob sich neben mich.
„Danke, danke, aber nicht für mich, wir haben hier auch eine Kaffeemaschine, eine sprechende sogar. Außerdem sind wir, also ich meine genaugenommen Mara und ich, fürs Erste jetzt auch fertig“, sagte der freundliche Mann zu Nele.
„Danke, Herr Rathling, das Angebot nehme ich gerne an und mit dem Vorlesungsverzeichnis haben sie mir ja auch schon super weiterhelfen können. Damit werde ich mich heute Nachmittag im Grünen intensiv beschäftigen und dabei die Herbstsonne genießen", sagte ich und winkte ihm während meines Aufstehens noch einmal etwas scheu nett zu, bevor ich mich mit meinem Stock wieder in Richtung Tür aufmachte.

 

***

 

„Da bist du ja", begrüßte mich Nele, die noch schnell unsere geleerten Kaffeebecher zum Abräumband in der Cafeteria gebracht hatte und danach im Freien auf der Treppe vor dem Gebäude wieder zu mir stieß. Noch mit meinem Handy in der Hand hatte ich mir unsere nächste Etappe schon eingeprägt.

„Ja, ich hab auch schon ’ne Route nach Zehlendorf gefunden. Wir müssen dreimal umsteigen, zuerst vom 154er in die S8 bis zur Schönhauser Allee. Von dort dann weiter mit der Ringbahn zum Hohenzollerndamm und zum Schluss noch mit dem 115er, aus dem wir dann in der Ludwigsfelder Straße aussteigen müssen", erklärte ich Nele voller Elan.

„Wow, am zweiten Tag schon allein quer durch ganz Berlin und ich auf der ganzen Strecke nur als dein passiver Schatten? Ist das nicht ein bisschen viel?", entgegnete Nele und ich spürte, dass sie sich von mir etwas auf das Abstellgleis manövriert fühlte.

„Hey Freundin, der erste Tag! … Den mit dem Taxi und die Kuscheltour mit Leon streichen wir lieber", da hab ich ja selbst so gut wie nichts Neues üben können", korrigierte ich sie, erwischte sie an ihrer Hand und zog sie einfach mit mir fort.

 

***

 

„Schon krass, die Öffentlichen in Berlin", sagte ich begeistert, als der Bus ein paar Minuten später in Richtung Havel mit uns losbrauste.

„Ja, und nicht nur für Blinde“, antwortete Nele darauf und erzählte mir damit nichts Neues. Dass die meisten sehenden Berliner wegen der guten ÖPNV-Infrastruktur und wegen der wenigen Parkplätze auch kein Auto brauchten und hier immer mehr junge Leute nicht mal mehr einen Führerschein machten, hatte ich schon während meiner Reisevorbereitung selbst recherchiert.

„Blankenburg", krächzte der Lautsprecher und ich sprang auf. Flugs zog ich Nele mit zur Tür, die schon, bevor unser bremsender Bus an der Haltestelle stillstand, anfing zu zischen. Den Bahnsteig der S8 fand ich prompt mit meinem Navi, und welches die Treppe Richtung Grünau war, konnte ich aus dem Gemurmel der vielen Leute, die hier unterwegs waren, so herausfiltern, dass ich Nele nicht einmal danach fragen musste.

„Du bist ein echtes Phänomen, Mara", sagte Nele, als die S8 Fahrt aufnahm.

„Ach Quatsch, Recherchen zur Reisevorbereitung kann jeder, der Rest ist halt dann Intuition", lachte ich und kramte das Vorlesungsverzeichnis aus meinem Rucksack heraus, in dem ich während des Smalltalks mit Nele, neugierig wie ich war, etwas schmökern wollte.

„Die schönen Wiesen und Weiden entlang der Havel hatte ich während meines ersten Sommers in Berlin noch genauso wenig entdeckt wie die coole Liegewiese im Paul-List-Park und den Bootsverleih, den es dort in der Nähe gibt", sagte Nele.

„Danke Nele, schönes Kompliment. Ich freu mich immer, wenn blinde Hühner die Körner vor den …", sagte ich und stockte.

„Was hat dir denn jetzt so plötzlich die Sprache verschlagen", fragte Nele verdutzt.

„Schönhauser Allee", quäkte es aus dem Lautsprecher, und mir glitten, als der Zug sofort danach anfing zu bremsen, im gleichen Moment, in dem ich überhastet nach Neles Hand greifen wollte, auch schon all die dünnen Pappblätter meines Vorlesungsverzeichnisses aus der Hand.

„Verfickte Scheiße“, zischte ich voll angekotzt und stürzte, weil ich wegen des Bremsens mein Gleichgewicht verloren hatte. Bei dem Versuch, mein Zeug wieder aufzuheben, purzelte ich zu dem ganzen Elend hinzu auch noch zwischen die Beine von fremden Leuten, die hier auch aussteigen wollten, was mich dann erst richtig anpisste.

 

***

 

„Oh Mara, das tut mir leid", wimmerte Nele total überfordert, und ich hielt krampfhaft die Blätter fest, die mir alle möglichen Leute aufgehoben und wieder in meine Hände geschoben hatten.

„Braucht's aber gar nicht. Siehst du hier irgendwo ’ne Bank zum Hinsetzen?", fragte ich Nele, so als ob nichts passiert wäre, raffte das Verzeichnis zusammen mit meinem inzwischen wieder zusammengeklappten Stock in meine linke Hand und griff mir Neles Ellenbogen.

„Danke, Nele, wie gut, dass auf Bahnsteigen immer irgendwo Bänke rumstehen, wa?“, sagte ich grinsend und war gespannt, wie mein erstes Berliner „wa" so ankam.

„Was war denn überhaupt los?", fragte Nele noch immer völlig betröppelt.

„Warte, ich lese es dir gleich vor, wenn ich es wiedergefunden habe", antwortete ich meiner Begleiterin und suchte mit meinen Fingerkuppen erneut die Textstelle, die mich so aufgeschreckt hatte.

„Wie, das Vorlesungsverzeichnis ist so spannend, dass dir plötzlich alles um dich herum völlig egal ist?", fragte Nele mich in einem Ton, der zum Ausdruck brachte, dass ich aus ihrer Sicht im Moment vielleicht etwas überdreht unterwegs sei.

„Hey, bring uns einfach in die Ringbahn zum Hohenzollerndamm und lass mich einfach machen, was mir wichtig ist, okay", blaffte ich Nele an und dachte, während ich hinter ihr her trottete, angestrengt weiter nach. Lesen und geführt werden verträgt sich genauso wenig wie sehend durch die Stadt zu laufen und dabei lesen zu wollen, dachte ich und musste bei diesem Gedanken, den ich situationskomisch fand, innerlich grinsen.

 

***

 

„Ich hab die Stelle wiedergefunden", sagte ich zu Nele, kurz nachdem die Ringbahn angefahren war.

„Jetzt bin ich aber gespannt", kam von Nele wie aus der Pistole geschossen voll neugierig zurück.

„Hier gibt es eine Vorlesung mit dem Titel 'Traumata contra Fetisch', schon mal davon gehört?", fragte ich ungeduldig.

„Nee, nicht direkt. Kommt das von der Grießhaupt? … Prof. Dr. Grießhaupt, wenn ja, solltest du wissen, dass die Frau in Fachkreisen als sehr umstritten gilt", warnte mich Nele.

„Klingt aber gar nicht langweilig. Die Vorlesung ist morgen für 13:00 Uhr im Wolfgang-Köhler-Haus in der Rudower Chaussee 18 angesetzt. Kommst du mit? Wenn nicht, probiere ich es auch gern allein", dazu feixte ich Nele über mein ganzes Gesicht grinsend an, das vor Aufregung bestimmt sogar ein bisschen gerötet aussah.

 

***

 

„Besser, du gehst allein", sagte Nele langsam.

„Hast du keine Angst um mich?", fragte ich überrascht zurück.

 „Doch, aber nicht, weil du dich verlaufen könntest, sondern wegen dem, was hinter der Sache mit Leon stecken könnte", antwortete mir Nele und schlug vor, bis auf Weiteres das Thema zu wechseln.

 

***

 

„Echt toll, hier am Havelufer“, sagte ich und atmete die frische Waldluft ein, während ich mit meinem Stock dem Wanderweg folgte, der sich entlang des Ufers durch das Mischgebiet von Wiesen, Feldern und Wäldchen schlängelte.

„Ja, sehr idyllisch, und bis zu dem Bootsverleih ist es auch nicht mehr weit“, sagt Nele. Sie schien echt froh darüber gewesen zu sein, dass sich über so vieles neu Erlebtes das andere Thema mit Leon und der Vorlesung der schrägen Professorin von selbst erledigt zu haben schien. Als ich kurz darauf mit meinem Stock ein altes Tor entdeckte, das sich, nachdem ich es neugierig mit meinen Händen inspiziert hatte, schon sehr angerostet anfühlte und an dem mit Draht provisorisch ein Schild befestigt war, blieb ich stehen.

„Nele, was steht da drauf?“, fragte ich meine Freundin so sachlich und trocken wie eine fremde Assistentin.

„Hey, … war das gerade nicht ein bisschen zu schrullig?“, warnte mich meine innere Stimme, die offensichtlich gerade dabei war, mir gegenüber die behütende Rolle meiner Mutter zu übernehmen.

„Ich war halt abgelenkt von der Idylle der Feldmark, die mich gerade mega inspiriert“, blaffte ich zu mir selbst und erschrak, als ich mir darüber bewusst wurde, dass ich am helllichten Tag Selbstgespräche wie eine Irre mit mir führte.

„Renovierungsbedürftige Wohnung in ruhiger Lage zu vermieten oder zu verkaufen. Anfragen an Immobilien Mayer Zehlendorf", sagte Nele, und ich hörte das Stirnrunzeln, das ihre Information begleitete, deutlich aus ihrer Stimme heraus.

„Sorry Nele, das war grad nicht so gemeint, wie sich das für dich im ersten Moment angehört haben mag, aber dieser Ort wirkt auf mich wie ein Märchenschloss und ich fühlte mich gerade ein bisschen wie verzaubert“, sagte ich etwas kleinlaut.

„Hm, dass du manchmal ein bisschen schroff bist, weiß ich ja, aber Selbstgespräche … bist du dir wirklich sicher, dass alles ok ist mit dir?“, äußerte sich Nele sichtlich besorgt.

„Klar, blind und jetzt auch noch ein Fall für die Klapse, oder was?“, brach völlig unkontrolliert meine Wut auf mich selbst aus mir heraus und traf die arme Nele mit voller Wucht. Ohne einen Kommentar dazu abzugeben, setzte ich mir auf meinem iPhone einen Merker auf den aktuellen Standort und hängte den Sprachkommentar ‚Nähe Terrassenstraße‘ dazu.

„Klapse wohl nicht, aber wenn du so weitermachst, darfst du dich nicht darüber wundern, wenn du hier, so wie du mit den Leuten um dich herum umgehst, keinen Fuß auf den Boden bekommst“, sagte Nele recht kühl. Danach blieb sie eine gefühlte Ewigkeit, die sich von Sekunde zu Sekunde unangenehmer für mich anfühlte, wortlos neben mir vor dem jetzt auch etwas modrig riechenden Grundstück stehen.

„Du Nele, eigentlich hätte ich jetzt viel mehr Bock auf Party als auf Bootfahren. Und du? …", fragte ich sie dann so zuversichtlich, wie ich es hinbekam, klappte meinen Stock zusammen und hakte mich bei meiner Freundin Nele einfach zwanglos unter. Etwas Besseres wollte mir nicht einfallen, um die peinliche Situation zu beenden, die ich aus Angst, nicht ernst genommen oder von jemandem zu abhängig zu werden, gerade selbst mit meiner selbstherrlichen Tollpatschigkeit unnötigerweise geschaffen hatte.

„Na ja, also ich find’s hier zwischen den Bäumen oder auf den Wegen durch die Felder und die Wiesen, die trotz der aufkommenden Kälte noch so schön frisch duften, auch ganz schön“, sagte Nele.

„Ich ja auch, aber nicht heute, ok?“, fasste ich nach und ruckelte dabei aufmunternd an Neles Arm, während ich sie schon vorsichtig drehte und in Richtung Haltestelle drängte.

„Okay, dann, ich hab eine Idee. Bring uns in die Auguststraße, das ist in Berlin-Mitte, von der Oranienburger Straße noch kurz zu Fuß bis zum Rosenthaler Platz, dann sind wir da", sagte Nele und blieb nach einem aufmunternd frechen Rippenstoß bei mir, der so fest war, dass er fast schon ein bisschen weh tat, einfach weiter neben mir stehen.

 

 

***

 

„Echt jetzt, das ist ein Ballhaus?", fragte ich voller Neugier und spitzte meine Ohren. Trotz der herbstlichen Kälte war, als wir ankamen, sogar im Freien des gut besuchten Inpoints noch reger Betrieb.

„Ja, hier geht es für Leute, die lieber das Tanzbein oder sonst was schwingen, anstatt die Nacht im Bett zu verschlafen, seit über hundert Jahren voll ab", sagte Nele und schlug vor, dass wir uns lieber drinnen, wo es wärmer war, ein gemütliches Plätzchen suchen sollten.

„Wow, wie gut das riecht. Zum Glück ging es total schnell mit dem Essen, ich hab nämlich mächtig Hunger. Dir auch einen guten Appetit, Nele!", sagte ich und erkundete mit Messer und Gabel, wo sich die riesige Portion Sauerkraut mit der herzhaft duftenden heißen Blutwurstkrone auf meinem Teller befand. Der live gespielte Swing beflügelte mich total und die Klänge aus Saxophon, Trompete und Klavier waren genau die richtige Musik, um meinen ersten Tag mit Nele in Berlin richtig ausklingen zu lassen.

„Danke für die Einladung, Mara. Jetzt hab ich ein richtig schlechtes Gewissen, mich von Dir hier sogar noch zum Essen einladen zu lassen", sagte Nele und machte sich, so hungrig wie ich, über ihr veganes Schnitzel mit warmem Kartoffelgurkensalat und die Preiselbeeren auf ihrem Teller her.

„Kein Problem, lass es dir einfach schmecken und keine Sorge wegen des Essens. Ich hab da so ’ne Art Stipendium bekommen", sagte ich lässig und sprach sie dann, das Thema wechselnd, nochmal auf diese Professorin, diese Frau Dr. Grießhirn, oder wie die auch sonst heißt, an.

 

Cyborgs

Am 4.12.2022 wurde vom "Stern" die Kolumne:

Perlen der Kreml-Propaganda

veröffentlicht.

 

"Von Invaliden zu Cyborgs"
– jetzt lässt Putin Prothesen zu "coolen Gadgets" erklären

 

 

 

Berlin, Außenministerium 11:00 Uhr

 

„Nein, um Gottes willen, doch nicht als Agentinnen, Frau Staatssekretärin“, sagte Fatmata zu der etwas pummeligen Frau, die ihr gegenüber saß, und blickte dabei kurz durch das nach Osten weisende Fenster in einen nasskalt aussehenden Graupelschauer hinaus. Schwarze Wolken hingen tief über der Stadt und ließen die Menschen, die von oben wie farblose Insekten aussahen, so trist wie die grauen Straßenzüge wirken, durch die sie sich zum Schutz vor Nässe und Kälte unkenntlich verhüllt vorwärts kämpften.

„Wir dachten auch nur an einen kurzen Auslandsaufenthalt. Moskau wäre sowohl was die Zeitgeschichte angeht, als auch was die Themen meiner Dissertation betrifft eben einfach der beste Ort für diese Reportage“, mischte sich die aus dem Iran stammende Shirin-Shania in einer Gesprächspause höflich in das Gespräch ein. Über ihrer fast schon blass wirkenden hellen Haut glänzten Shirins Haare so pechschwarz wie die ihrer Freundin, die sie vor einigen Wochen in der Inklusionssportgruppe beim Campussport kennengelernt und sich danach schnell mit ihr angefreundet hatte. Der aus Sierra Leone stammenden Fatmata gelang es schon viel früher als Shirin-Shania, in Deutschland eine neue Heimat zu finden, und sie arbeitete schon seit einiger Zeit als studentische Hilfskraft für Frau Dr. Preutling, die im Außenministerium neben ihren Hauptaufgaben auch als Inklusionsbeauftragte tätig war.

„Selbst wenn es mir gelingen sollte, den Minister von ihrem Vorhaben überzeugen zu können, wird die Operation aus verschiedenen Gründen nicht ohne den BND umsetzbar sein“, antwortete die Frau mit den langen kastanienbraunen Haaren. Sie wirkte auf den ersten Blick viel weicher, als sie wirklich war, und blickte die zwei jungen Frauen, ohne etwas von ihrer Haltung zu offenbaren, aus ihren rehbraunen Augen gütig an. Nachdenklich atmete sie durch und streckte sich, indem sie sich mit ihren Armen auf den Armlehnen ihres Rollstuhls kurz hochdrückte. Fatmata und Shirin glaubten aber dennoch ahnen zu können, was im Kopf der Staatssekretärin vorging, und waren schon darauf vorbereitet, jetzt gleich mit einem strikten „Nein“ gehörig frustriert zu werden.

„Wenn der Minister meine Einbürgerung über seine politischen Kontakte etwas beschleunigen könnte, hätte ich auch ohne den BND die Chance auf ein deutsch-russisches Visum. Oder ich nehme einfach meinen iranischen Reisepass, damit könnte ich heute Nachmittag zur russischen Botschaft gehen und wäre dann morgen, wenn alles glatt läuft, schon zur Abreise bereit. Vielleicht ist es ja wirklich die bessere Lösung, einfach als Studierende und nicht als Journalistin zu reisen. Es wäre auf jeden Fall viel einfacher und mir war es sowieso schon vorher etwas peinlich, sie hier auch noch zusätzlich mit meiner Person zu bemühen", sagte Shirin, deren Name aus dem Persischen ins Deutsche übersetzt die Bedeutung von ‚Die Süße‘ hat.

„Genaugenommen bräuchten wir nur die etwas wohlwollende Unterstützung der deutschen Botschaft. Ein klein wenig Hilfe mit den Kontakten zu den richtigen Leuten würde schon reichen“, ergänzte Shirin und setzte ihr freundlichstes Lächeln auf, während ihre tiefgrünen Augen die Staatssekretärin unternehmungslustig anstrahlten.

„So etwas auf eigene Faust anzugehen, halte ich für extrem gefährlich, und Fatmata hat zudem noch die Verantwortung für ihre kleine Tochter Faith“, gab die Staatssekretärin besorgt zu bedenken und sah auf ihre Uhr.

„Für Faith ist während unserer kurzen Abwesenheit bestens gesorgt. Sie wird ihre Osterferien bei meiner Freundin Lisha auf dem Land verbringen. Faith freut sich schon sehr darauf, dort wieder mit Lishas Tochter Binta und unseren anderen Befreundeten aus dem Sportverein viel unternehmen zu können“, sagte Fatmata und sah die Staatssekretärin bittend an.

„Länger als eine Woche soll es ja auch nicht dauern“, fügte Shirin-Shania mit einem entschlossen klingenden Unterton in ihrer Stimme freundlich hinzu.

„Wir müssen gehen, Shirin“, sagte Fatmata, die gesehen hatte, dass Frau Dr. Preutling, ohne das Gespräch abrupt zu beenden, auf ihre Uhr gesehen hatte, und sah, dass Shirin sich daraufhin sofort erhob und sie mit einem Arm um ihre Taille umschlang.

„Kommen sie morgen um 15:00 Uhr nochmal zu mir, bis dahin werde ich sehen, ob ich etwas für sie tun kann“, sagte Frau Dr. Preutling freundlich, aber auch besorgt, während sie ihre Gäste verabschiedete und zum Aufzug begleitete.

 

 

Moskau, Platz der drei Bahnhöfe

Die drei Bahnhöfe, der Jaroslawer, der Kasaner und der Leningrader Bahnhof, sind allesamt Kopfbahnhöfe, die eigentlich dicht beisammen in bester Gegend liegen. Obdachlose kauften sich dort für kleine Schmiergelder immer mal wieder für ein paar Stunden ein Dach über dem Kopf, um ihre Kleidung zu trocknen und sich aufzuwärmen. Vor den Augen der Öffentlichkeit versteckten sie sich und für die Betroffenen waren die Zahlungen kleine Vermögen.

„Nikita, diese Lüge ist mein Schicksal“, murmelte Nikita Nikitin vor sich hin, während er sich aus einer lumpigen Decke heraus schälte und sich mit seiner Rechten den Schlaf aus den Augen wischte. Sowohl seinen Vornamen als auch seinen Nachnamen hatte er von seinem Vater, der genauso wie er hieß, bekommen. Er dachte an das schöne Leben und die Annehmlichkeiten, die er als junger Mensch an der Seite seiner Eltern genießen durfte, und rappelte sich auf. Dann ging er wie jeden Tag zu einem der tropfenden Wasserhähne im Bahnhofsgebäude, um sich so gut es ging ordentlich zu waschen. Die morgendliche Nutzung der Bahnhofstoilette war in den einhundert Rubel, die er für die Nacht hier bezahlt hatte, inbegriffen. Das entsprach nach dem Beginn des Krieges gegen die Ukraine, den Russland mit der Annexion der Krim begonnen hatte, in etwa einem Euro und vierzig Cent. Jeder, der hier nächtigen wollte, hatte diesen Betrag pro Nacht an eine der Aufsichtspersonen als Schmiergeld zu entrichten.

„Ein Glück, dass ich die Hölle an der Front wenigstens überlebt habe“, murmelte Nikita wieder zu sich selbst, während er sich bis auf seine Unterhose auszog und dankbar für das klare Wasser war. Klares Wasser und Hygiene waren das Schlimmste für ihn, auf das er im Krieg verzichten musste. Jetzt, wo er wieder zurück in Moskau war, konnte er sich endlich wieder sauber waschen. Mehr melancholisch als verschlafen oder verträumt griff er in den zirpenden Wasserstrahl, der sich durch den Kalk des vergammelten Auslaufs quetschte. Das mitgebrachte Stück Kernseife, mit der er sich unter Zuhilfenahme seines Armstummels, der ihm unterhalb seines linken Ellenbogens verblieben war, sorgfältig seinen Oberkörper einseifte, hielt er in seiner rechten Hand.

 

 

Berlin, Außenministerium, 11:35 Uhr im Windfang vor der Außentür

 

„Warte, draußen ist bestimmt noch scheußlich kalt und nass“, sagte Shirin-Shania mit weicher Stimme zu Fatmata, stellte den Kragen des Mantels ihrer Freundin auf und schlug ihr mit feinfühliger Fingerfertigkeit einen flauschigen roten Wollschal um ihren Hals. Der lockere Knoten, mit dem sie das wärmende Accessoire auf Fatmatas weicher Haut fixierte, sah richtig schick aus und das kräftige Rot strahlte mit einem legeren Kontrast stilvoll zu Fatmatas schwarzer Haut. Shirin-Shania wickelte sich danach einen weißen Kunstpelz, den sie sich zusammen mit Fatmata bei H&M gekauft hatte, um ihren Hals, der mit ihrer dicken schwarzen Winterjacke auch wie ein kontrastreicher Eyecatcher Blicke auf sich zog. Dick eingemummt verließen sie wieder, so eng umschlungen, wie sie Minuten vorher zusammen das Zimmer der Staatssekretärin verlassen hatten, das Gebäude des Außenministeriums wie zwei Liebende, die ihre Finger nicht voneinander lassen konnten.


***

 

„Nina! … Nein, nein und nochmals nein, das kommt nicht infrage“, sagte der Büroleiter des Außenministers zu der Staatssekretärin und starrte sie entsetzt an.

„Bitte nicht so …“, antwortete ihm Nina Preutling und lächelte leicht.

„Ja, ja, zuerst Faktencheck, ich weiß, aber das ist doch alles absurd“, versuchte Norbert Vissmann sich zu rechtfertigen und bot seiner Kollegin einen Espresso an, den sie dankend annahm und sich zu dem Besprechungstisch in dem Büro ihres Kollegen begab.

„Norbert, wir könnten die Reise, wenn überhaupt, allenfalls Lisha verbieten und das auch nur, wenn wir ihr mit der Aufhebung ihrer Tätigkeit für uns drohen würden. Beide sind freie Bürger in einem freien Land“, sagte Nina Preutling und lächelte ihren Kollegen nett an, während sie sich zwei gehäufte Löffel Zucker in ihren Espresso schaufelte.

„Und wenn etwas schiefgeht, hat unsere Botschaft ein weiteres Problem mit den Russen an der Backe und wir auch“, antwortete ihr Vissmann.

„Eben!“, sagte die Staatssekretärin und nippte an ihrer Tasse.

„Wenn sie wenigstens …“, sagte Vissmann, brach ab, biss sich auf seine Lippen und errötete.

„… keine Krüppel wären?“, fragte Nina spitz zurück.

„Nein, Nina, was denkst du denn von mir? Aber sie sind Frauen, junge Frauen. Sie brauchen Schutz, nicht mehr“, sagte der Büroleiter und nestelte verlegen an seinen Manschetten herum.

„Ja, das brauchen sie, und den besten Schutz können sie dort vom BND bekommen, aber ohne, dass sie es wissen müssen. Bis dahin bin ich ganz deiner Meinung, Norbert“, sagte Nina und trank ihren Espresso aus.

„Der Minister wird dich fressen …“, sagte Vissmann und grinste die Staatssekretärin überheblich an.



Moskau, ein Morgen wie jeder Morgen

Nikita sah, bis auf die abgewetzten Sachen, die er trug, manierlich aus und roch weder nach Gosse noch nach Wodka. Er befand sich in einem Bus, den viele auf dem Weg zu ihrer Arbeit benutzten, auf dem Weg in die Innenstadt. Dort wollte er wie an jedem Tag nach einer Arbeit suchen mit der er seinen bescheidenen Lebenstandart wieder auf ein besseres Niveau anheben könnte. Dass das für einen der vielen Kriegsversehrten in einem von Krieg und Schmerz gezeichneten Land ein nahezu aussichtsloses Unterfangen war, erfuhr er täglich am eigenen Leib. Der beste Trost, der ihm blieb, war, sich als Alternative in einer angenehmen Atmosphäre mit einem Buch in der Hand abzulenken. Die mitleidigen Blicke, die ihn trafen, schmerzten ihn mehr als die Erinnerungen an sein früheres Leben, und er fand Halt in dem Bewusstsein, dass ihm niemand weder seine guten Manieren noch seine gute Bildung nehmen konnte. Auf der langen Fahrt mit dem klapprigen Bus döste er in traurigen Erinnerungen an die Tage, die sein Leben radikal verändert hatten. Als Lehrer für Geschichte und Sozialkunde war er zunächst in die Fußstapfen seines Vaters getreten, bis er zu Beginn der Perestroika zu Gasprom gewechselt hatte. Dort war er dann wegen gesellschaftskritischer Äußerungen verhaftet und als Volksverhetzer eingesperrt worden. Die Haftbedingungen waren menschenunwürdig und es gab für ihn keinen Weg zurück, bis ihm der Kriegsdienst bei der Söldnertruppe Wagner angeboten wurde, auf den er sich, so zermürbt, wie er war, eingelassen hatte.



Moskau, Ankunft an einem Morgen

 

„Herzlich willkommen in Moskau“, sagte der Mitarbeiter der deutschen Botschaft mit einem breiten Lächeln und griff, so wie es sich für einen Gentleman gehört, nach dem Gepäck der beiden Damen, das Shirin-Shania ihm dankbar überließ.

„Danke“, sagte Fatmata und nickte dem dunkelhaarigen Mann, der etwas mongolisch aussah, freundlich zu.



***

 

„Einerseits sind wir ihnen für ihr Engagement und ihren Mut wirklich dankbar, aber wir machen uns auch ernsthafte Sorgen um sie“, sagte der Botschafter, der die Bundesrepublik Deutschland in Moskau gegenüber Russland zu vertreten hatte, mit besorgtem Tonfall. Gleich danach bat er die beiden Damen, zu dem Henkel-Trocken zu greifen, der ihnen von einer Botschaftsangestellten auf einem Silbertablett in langstieligen Gläsern angeboten wurde. Zum Glück reagierte die Botschaftsangestellte, die schnell bemerkte, dass ihr Chef seine beiden Gäste gerade in eine etwas peinliche Situation gebracht hatte, sehr geistesgegenwärtig und drückte Shirin-Shania einfach zwei Gläser in die Hand.

„Investigativer Journalismus wird in diesem Land schnell zur Straftat und das erst recht, wenn zwei Studierende ohne Presseausweis dabei ertappt werden, dass sie verbotene Fragen stellen. Wagen sie es auf keinen Fall, russische Bürger auf einen Krieg anzusprechen, den es hier im Sprachgebrauch per Gesetz nicht geben darf“, sagte der Botschafter und sah Fatmata streng an.

„Keine Sorge, Herr Botschafter, gegenüber den Russen werden wir uns alle Mühe geben, als Freunde und nicht als Feinde wahrgenommen zu werden, schließlich sind wir ja genauso Betroffene wie die russischen Kriegsversehrten auch. Gerade jetzt, wo die russische Propaganda Cyborgs nicht nur als Helden verherrlicht, sondern sie als stylische Superfrauen und -männer zu Idolen auf Sportfesten und in Discos aufbauen will, wird ihnen unser Besuch wie gerufen kommen“, sagte Fatmata und nippte an dem Sektglas, das Shirin-Shania ihr vorsichtig an ihre wohlgeformten, typisch afrikanisch aussehenden Lippen angesetzt hatte, die sie vorher zärtlich mit ihren Fingerkuppen berührt hatte.

„Das Außenministerium hat uns mitgeteilt, dass man sie auch dort schon vor ihrer Abreise gewarnt hat und ihnen geraten wurde, von ihrer Mission Abstand zu nehmen, was sie offensichtlich nicht sehr beeindruckt hat. Es wird nicht so einfach werden, wie sie sich das vorgestellt haben, und unterschätzen sie die Diplomaten aus dem Iran nicht. Hinzu kommt, dass sie, so wie sie ihre Schwächen als Team kompensieren, was mich ehrlich beeindruckt, hier auch schnell als homosexuelles Frauenpaar wahrgenommen werden könnten. Wie schnell das passieren kann, haben sie ja gerade nach meiner Aufforderung, beim Sekt zuzugreifen, unter Beweis gestellt. In einem Land, dessen Präsident nur zwei Geschlechter, die sich heterosexuell begegnen, sehen will, kann alleine das schon zu ihrer Verhaftung führen“, sagte der Botschafter und stellte damit klar, dass ihm keineswegs ein Lapsus passiert war.

„Dessen sind wir uns durchaus bewusst, aber wir stehen uns tatsächlich näher und gedenken, unsere Zuneigung zueinander auch in diesem Land nicht mehr als notwendig zu verstecken“, antwortete Shirin-Shania dem Botschafter etwas zu spitz.

„Herr Botschafter, nicht, dass sie uns falsch verstehen … Das soll nicht heißen, dass wir nicht auch den Kontakt zu netten Männern zu schätzen wissen, die uns so annehmen, wie wir sind“, ergänzte Fatmata und setzte ein vermittelndes Lächeln auf.

„Enis Ganbat, der sie vom Flughafen hierher gebracht hat, wird sie begleiten. Aber wenn sie auffliegen, werden wir allenfalls für sie, Frau Fatmata Bangura, in dem Umfang versuchen können zu helfen, wie uns das die russische Staatsmacht für Menschen mit deutscher Staatsbürgerschaft zugesteht. Für sie, Frau Shirin-Shania Afsoun, könnten wir, weil sie mit ihrem iranischen Pass eingereist sind, so gut wie nichts tun. Sie müssen wirklich noch viel vorsichtiger sein, als sie das hier gerade erklärt haben“, bemerkte der Botschafter ernsthaft besorgt.

 

 

Café Ziferblat

Nikitas’ abgewetztes Sakko sah, wenn er sich damit bekleidete und durch bessere Viertel ging, in denen sich die Menschen modisch und teuer kleideten, schäbig und altmodisch aus. Dort war ihm auf den ersten Blick anzusehen, dass er dazu verdammt war, am Rande der Gesellschaft zu leben. Weil er sein Sakko in einem Waschsalon sorgfältig aufgebügelt hatte, wirkte er mit seinem Outfit dennoch keineswegs ungepflegt. Trotz seiner fehlenden Linken ging ihm dieses Procedere, da er das ohne fremde Hilfe regelmäßig so praktizierte, recht gut von der Hand. In der Umgebung eines der beliebtesten Anti-Cafés der russischen Hauptstadt, dem trendigen Ziferblat, in dem ein gepflegter nostalgischer Flair die Atmosphäre prägte, kam Nikitas Style sogar richtig cool rüber. Zwischen den alten Sachen und den antiken Regalen mit vielen Büchern fühlte er sich zwar wohl, aber er war menschenscheu geworden. Oft saß er in einem der vielen gemütlichen Zimmer, die auf vier Ebenen verteilt waren und durch enge Gänge und schmale Treppen miteinander verbunden waren, stundenlang einfach so in seiner Lieblingsecke. Das lebhafte Treiben um ihn herum gab ihm ein bisschen von seinem alten Leben zurück. Mit dem Rücken zum Fenster saß er auch heute wieder dort in der Mitte der Längsseite eines langen Tisches, der mit gewachsten Holzbohlen beplankt war. Gleich nachdem er angekommen war, hatte er sich wie oft zuvor wieder ein Buch aus einem der Regale genommen und las. Der Tee, der vor ihm stand, war noch halb voll, aber schon ganz kalt geworden. Die Ärmel seines Sakkos hatte er beide bis unter die Ellenbogen nach oben umgeschlagen, weil er sich mit seinem nackten Stumpf bei vielen Dingen des täglichen Lebens besser als mit dem nutzlos herabhängenden leeren Schlauch seiner Jacke helfen konnte. Den Kopf in der rechten Hand, war er mit aufgestütztem Ellenbogen in seine Lektüre vertieft, während das schwebende Gewebe seines amputierten Arms im Falz des Buches lag. Die Seiten des Buches waren auf diese Art gut fixiert und ermöglichten es ihm, trotz seiner Behinderung in gemütlicher Körperhaltung entspannt zu lesen.


***

 

„Danke, Enis“, sagte Shirin-Shania, die sich an der Seite ihres Begleiters eingehängt hatte, und hauchte ihm ein flüchtiges Küsschen auf seine Wange, das den Botschaftsmitarbeiter leicht erröten ließ. Ganbat, der seinen beiden Begleiterinnen, um sie in das Gebäude zu führen, gerade die Tür am Eingang des Ziferblates geöffnet hatte, gab sich wie ein guter Freund der beiden Damen. Die Blicke der Menschen, die das Trio, das eigentlich keine Aufmerksamkeit erregen wollte, trafen, irritierten Ganbat und verunsicherten ihn mehr, als er sich das vor ihrer gemeinsamen Tour vorstellen konnte. Fatmata hingegen wirkte alles andere als verunsichert und lächelte die Gaffer einfach warmherzig an. Für Fatmata war es Routine, auf diese Art das Eis zu brechen und übliche Berührungsängste mit proaktiver Offenheit abzubauen.

„Sabine Becker, klingt doch gar nicht so schlecht, oder?“, sagte Shirin-Shania und wandte dabei ihrem Begleiter ihr Gesicht zu, dessen Körper sich scheu versteifte, als er tief in ihre weit geöffneten Augen sah, deren grün schimmerndes Glitzern seinen Blick an den ihrer großen schwarzen Pupillen fesselte, die heftig schielten.

„Ja schon, Sabine Becker klingt wirklich sehr deutsch“, stotterte er und schob seine beiden Begleiterinnen weiter vor sich her durch die engen Gänge auf eine schmale Treppe zu.

„Wartet mal kurz …“, sagte Fatmata und ging einen Schritt zurück.

„Was ist denn?“, fragte Shirin-Shania, die sich bis auf Weiteres Sabine Becker nennen ließ und sich zur Tarnung als Befreundete des Botschaftsangestellten Enis Ganbat ausgab.

„Ich glaube, ich hab da auch gerade einen Mann entdeckt, der gut zu mir passen würde, Sabine“, flüsterte Fatmata und knuffte ihre Freundin keck zwischen deren Rippen, bevor sie durch die Tür in das gemütliche Zimmer schlüpfte, an dem sie gerade vorbeigegangen waren.

„May we take a seat with you?“, hörte Shirin-Shania ihre Freundin kurz darauf einen Fremden ansprechen, nachdem ihr Begleiter Ganbat sie ebenfalls in den Raum geführt hatte.

„No problem, feel free“, antwortete Nikita, der noch ganz in sein Buch vertieft erst nur kurz zu der hübschen schwarzen Frau aufsah, dann erstarrte, sein Buch achtlos vor sich liegen ließ und Fatmata wie ein Wesen aus einer fremden Welt anstarrte.

„It's just a reminder of bad times from my childhood”, sagte Fatmata mit einem so warmherzigen Lächeln, dass es Eis zum Schmelzen hätte bringen können, und setzte sich neben den Russen, dessen wuscheliger Blondschopf nicht nur knuffig aussah, sondern auch frisch gewaschen nach einem Hauch von Seife duftete.

„An accident?”, fragte der Russe, der vermutete, dass die dunkelhäutige junge Frau ihre beiden Arme infolge eines Verkehrsunfalls verloren hatte, griff nach dem Buch und legte es hinter sich auf die Fensterbank.

„No, child soldiers. I was born during the civil war that ravaged our country over blood diamond money in Sierra Leone. I am the only one of my family who survived", antwortete Fatmata und beschränkte sich darauf, dass Kindersoldaten sie während des Bürgerkrieges in Sierra Leone verletzt hatten, bei dem es rivalisierenden Banden um die Verteilung des Geldes ging, das illegal mit dem Verkauf von Blutdiamanten eingenommen wurde. Weitere Details zum Hergang ihrer Verstümmelungen wollte sie Nikita ersparen und fragte schnell: „And what happened to you?”, und deutete mit ihrer Nase in die Richtung von Nikitas Armstumpf, der sie jedoch, total perplex, nur stumm anstarrte. „Ich wurde während des Bürgerkriegs geboren, der unser Land wegen Kämpfen um Geld und Macht verwüstete. Aus meiner Familie bin ich die Einzige, die überlebt hat. Und was ist mit dir passiert?“, wiederholte sie ihre Frage an Nikita dann nocheinmal und hoffte, dass er sich mittlerweile soweit sammeln konnte, dass er wieder eigene Worte fand.

„My contribution to the victory of my fatherland in the struggle against peace”, sagte Nikita, der Fatmata auch nur knapp auf die Frage nach seinem Schicksal geantwortet hatte: „Mein Beitrag zum Sieg meines Vaterlandes im Kampf gegen den Frieden“, und grinste schief.

„May we take a seat with you, too?“, hörte Nikita eine Frau mit leuchtend grün strahlenden Augen fragen, die kurz nach Fatmatas Eintreten, eingehängt am Arm eines gut gekleideten Manns, ebenfalls den Raum, in dem er saß, betreten hatte. Nikita starrte sie genauso verwirrt an, wie er vorher Fatmata kritisch gemustert hatte.

„Please! But I don't understand why?”, sagte Nikita mit einem misstrauischen Unterton in seiner Stimme, wobei seine Worte zusätzlich von einer zögerlich einladenden Geste seiner rechten Hand begleitet waren, die auf die gegenüberstehenden leeren Stühle wies. Sein irritiert und etwas ängstlich wirkender Blick begleitete seine Frage, die er der Gruppe gestellt hatte, warum sie sich ausgerechnet zu ihm an den Tisch setzen wollten?

„We are students from Germany and we are working on international inclusion projects”, sagte jetzt Shirin-Shania, die Nikita auf seine Frage geantwortet hatte, dass sie Studierende aus Deutschland seien, die an internationalen Inklusionsprojekten arbeiteten, und setzte sich gegenüber von Fatmata auf einen der freien Stühle, zu dem Enis sie dirigiert hatte, bevor er sich selbst gegenüber von Nikita platziert hatte.

„Ich spreche auch Deutsch. Zwar nicht so gut wie sie Englisch sprechen, aber ich unterhalte mich gern auch weiter in ihrer Sprache mit ihnen, wenn sie möchten. Für mich wäre es ein Vergnügen …, also wenn sie möchten …“, sagte Nikita, mit einem russischen Akzent, der überhaupt nicht hart, sondern eher wie der Bariton eines russischen Künstlers klang, der auf einer Bühne in Deutschland auftrat.

„Gern auch in Deutsch“, sagte Shirin-Shania, streckte dem Russen zur Begrüßung ihre Hand mit einem gewinnenden Lächeln über den Tisch entgegen und stellte sich als Sabine Becker vor.

„Ich freue mich, ihre Bekanntschaft zu machen“, sagte Nikita und ergriff Sabines Hand während er sich händeschüttelnd mit seinem Vornamen Nikita vorstellte.

„Wir sind hier, weil wir uns in diesem Lokal mit einem russischen Diplomaten treffen wollen, um uns über das Cyborg-Projekt zu informieren”, sagte Fatmata und fragte den Russen, der ihr nach dem ersten Augenblick von Minute zu Minute immer besser gefiel, ob er selbst auch schon etwas davon gehört hätte.

„Gehört schon, aber wie viel davon bis jetzt bei mir angekommen ist, sehen sie ja selbst“, brummte Nikita und hob seinen verstümmelten linken Arm mit einer frustrierten Geste leicht an.

„Ich nicht, ich bin nämlich blind“, sagte die Frau mit den grünen Augen mit einem selbstironischen Unterton.

„Entschuldigung, Sabine“, das war taktlos von mir, stotterte Nikita und berichtete kurz über sein eigenes Schicksal. Fatmata fühlte sich an ihre eigene traumatisierte Kindheit erinnert, als sie erfuhren, dass es das Feuer eines russischen Maschinengewehrs war, mit dem die Russen von Wodka vernebelte Soldaten von hinten beschossen hatten, um sie nach vorne in die Schlacht zu treiben, durch das Nikita seinen linken Unterarm verlor.

„Ich hab meine beiden Augen schon in früher Kindheit wegen einer Retinoblastom-Erkrankung verloren und trage deshalb, seit ich denken kann, zwei kosmetische Prothesen aus Glas", log Shirin-Shania. Gewarnt wie sie war, hatte sie inzwischen einfach zu viel Angst, in diesem Land zur Wahrheit zu stehen. Dennoch tat ihr es fast körperlich weh, Nikita zu belügen und ihm nicht so offen, wie er es getan hatte, gleich auch die Wahrheit zu sagen. Aber ihr Gefühl sagte ihr, dass hier nicht der richtige Ort war, um zu verraten, dass ihr die Religionspolizei auf einer Demonstration gegen das Kopftuchverbot in Teheran gezielt in die Augen geschossen hatte, um sie zu blenden.

 

 

Investigativ

 

„Entschuldigen sie bitte vielmals die kleine Verspätung“, sagte einer der beiden Herren, der wie sein Begleiter in einem maßgeschneiderten Anzug erschien und sich als Grigorij Saizew vorstellte, obwohl er mit richtigem Namen Sergej Orlejew hieß.

„Aber lieber Grigorij, gar kein Problem", sagte Enis Ganbat. Wir haben uns schon bestens mit einem eurer tapferen Soldaten über die neuen Perspektiven unterhalten, die sich ihm bald mit den Ergebnissen deiner Arbeit erschließen werden“, und wies mit einer Kopfbewegung zu Nikita, während er seinem Diplomatenkollegen zur Begrüßung heftig die Hand schüttelte.

„Dann ist ja gut“, brummte Orlejew, wand sich der Gruppe der am Tisch Sitzenden zu, die sich alle am Erheben waren und sich ihm ebenfalls zuwandten, und breitete theatralisch seine Arme aus.

„Ich komme direkt aus der iranischen Botschaft und darf ihnen meinen iranischen Kollegen Niyoosha Mahdi vorstellen, der so freundlich war, mich zu begleiten, weil sich sein Land ebenfalls, allerdings eher besorgt, für unser neues Cyborg-Projekt interessiert. Danach beugte er sich vor Fatmata stehend über den Tisch und grapschte mit beiden Händen nach ihrem kurzen rechten Armstummel, schüttelte ihn wie eine Hand und sagte: „‚short-sleeve‘ Sierra-Leone, oder?“. Fatmata stand wie zu einer Salzsäule erstarrt da und nickte stumm.

„Mit unseren neuen Prothesen könnten sie bald wieder Tennis spielen“, sagte er mit einem überheblich klingenden Lächeln und drehte sich zu Shirin-Shania um, deren Hand zum Gruß blitzschnell so weit auf ihn zuschoss, dass er mehr, als er das eigentlich vorhatte, auf Distanz bleiben musste.

„Sabine Becker“, sagte sie kühl.

„Zwei Glasaugen, oder?“, sagte er und führte ihre Hand zu einem angedeuteten Handkuss in die Nähe seiner Lippen.

„Ja, aber Tennis ist nicht mein Sport“, gab ihm Shirin-Shania schnippisch zur Antwort und zog ihre Hand wieder zu sich zurück.

„Aber Autofahren könnte mit unseren aktiven Augenprothesen doch interessant für sie sein“, sagte er freundlich, ohne weiter auf ihre schnippische Antwort einzugehen, und schlug Nikita männlich derb auf seine Schulter. Und du kannst bald ausprobieren, ob du mit deiner neuen Prothese links nicht schneller und schöner schreiben kannst als mit deiner Rechten, guter Junge.

„Wollen wir uns nicht wieder setzen?“, schlug Enis Ganbat vor, den der Auftakt, mit dem das Treffen begonnen hatte, so sehr besorgte, dass er sich vornahm, es so schnell wie möglich wieder zu beenden.

„Eigentlich haben sie uns die wichtigsten Fragen, die wir hatten, schon beantwortet, bevor wir unsere erste Frage stellen konnten, Herr Saizew. Fatmata ist noch immer traumatisiert, nachdem ihr im Bürgerkrieg Kindersoldaten ihre beiden Arme mit Macheten abgehackt haben. Deshalb wäre es echt wichtig, dass sie solche Prothesen einmal selbst ausprobieren kann. Wäre das denn kurzfristig möglich?“, fragte Shirin-Shania sehr direkt und brachte damit zum Ausdruck, dass sie auch keine Lust hatte, das Treffen länger als unbedingt nötig weiter auszudehnen.

„Im Moment gibt es nur in unserem Entwicklungszentrum, das sich im Donbass befindet, erste vielversprechende Prototypen, aber sobald wir die ersten in Serien gefertigten Arme an unsere tapferen Soldaten ausliefern können, werde ich gerne auch wieder an ihre Kollegin denken.

„Dann vermute ich, dass es die Glasaugen, mit denen Blinde wieder sehen können, bis auf Weiteres auch nur im Donbass gibt“, bemerkte Shirin-Shania spitz, tastete unter ihrem Stuhl nach ihrem Rucksack und nahm ihre Jacke, die sich hinter ihrem Rücken befand, von der Stuhllehne.

„Ja, genau so ist es, aber wenn wir so weit sind, dürfen sie uns auch gerne wieder hier besuchen kommen“, antwortete Orlejew und bedankte sich für das Interesse der beiden Damen.

„Wie sie wissen, gehören Körperstrafen im iranischen Strafrecht zu den wirksamsten Strafmaßnahmen gegen Schwerverbrecher und die Feinde unserer Gesellschaft, die wir haben. Sie werden verstehen, dass wir diese Entwicklung deshalb auch mit Sorge verfolgen“, sagte Niyoosha Mahdi in die sich im Aufbruch befindliche Gesellschaft.

„Oje, dann könnten Diebe, denen als gerechte Strafe Gottes ihre rechte Hand abgehackt wurde, mit den neuen Prothesen ja noch besser als vorher stehlen, besonders die fingerfertigen Taschendiebe“, sagte Shirin-Shania noch schnippischer als vorher, während sie schon den Raum verließen.

„Vergessen sie nicht die geblendeten Aufrührerinnen, die als ins Ausland geflohene Ungläubige in blinder Wut international Stimmung gegen unser friedliches Land machen, schöne Frau“, sagte der iranische Diplomat mit dünner Stimme. Nach einer formellen, etwas frostig wirkenden Verabschiedung verschwanden der Iraner und der russische Diplomat schnellen Schrittes zu Fuß. Enis Ganbat drängte Nikita und die beiden Frauen, schnell in den Wagen aus dem Fuhrpark der deutschen Diplomaten einzusteigen, wonach der Chauffeur sofort in Richtung Botschaft losfuhr. Nikita erfuhr während der Fahrt, dass die deutsche Botschaft sowohl Fatmata als auch Shirin-Shania schon gleich nach deren Ankunft in Moskau dort in zwei komfortablen Zimmern einquartiert hatte.

 

 

 

Gastfreundschaft

 

„Auf Gäste sind wir hier immer gut vorbereitet, Nikita“, sagte Enis Ganbat freundlich und überreichte dem dankbaren Russen den Schlüssel zu einem Zimmer mit eigener Toilette, in der sich auch eine großzügig ausgestattete barrierefreie Dusche befand. Nachdem er ausgiebig heiß geduscht hatte, kuschelte er sich in sein Bett und dachte über die Ereignisse des Tages nach.

„Nikita? …, schläfst du schon?“, hörte er plötzlich eine weibliche Stimme und ein leises Klopfen an seiner verschlossenen Tür.

„Nein, Moment, ich komme …“, rief er leise zurück, schlüpfte in den weißen Bademantel, den er im Bad gefunden hatte, und öffnete die Tür.

„Sabine, Fatmata, was ist denn …? Möchtet ihr hereinkommen?“, fragte Nikita schüchtern.

„Ja, gern, ich muss dir noch was beichten …“, sagte Shirin-Shania und druckste etwas herum.

„Beichten? Du mir …?“, fragte Nikita irritiert, der Shirin-Shania zum ersten Mal mit einem Blindenstock in ihrer Hand sah und überrascht war, wie zielstrebig sie die kleine Sitzgruppe mit den vier Stühlen ohne Fatmatas Hilfe fand.

„Ja, ich heiße gar nicht Sabine Becker, sondern Shirin-Shania, das ist ein iranischer Name und bedeutet 'die Süße, die auf dem richtigen Weg ist'. Außerdem sind die Mullahs daran schuld, dass ich blind bin, und keine Krankheit, das war auch gelogen“, sagte sie kleinlaut.

„Wie bei uns Russen …“, sagte Nikita nachdenklich und bemerkte erst dann Fatmatas erwartungsvolles Lächeln.

„Wie meinst du das?“, fragte Shirin-Shania und runzelte ihre Stirn.

„Wir Russen müssen auch mehr Angst vor unseren eigenen Landsleuten als vor unseren Feinden an der Front haben, und wer nicht vorsichtig ist, ist auch im Ausland nirgends mehr sicher. Die Russen machen das am liebsten mit radioaktivem Material, oder mit heimtückischem Nervengift. Das war echt clever ... Ich meine euren Trick mit dem Namen Sabine Becker!“, sagte Nikita und lächelte dabei scheu Fatmata an.

„Dann lass’ ich euch beide jetzt mal alleine“, sagte Shirin-Shania, stand auf, lief mit ihrem Stock voraus zielsicher auf die Tür zu und verschwand in den dunklen Gang, der zu ihrer eigenen Zimmertür führte.



***

 

„Das ging aber schnell, Sabine", sagte Enis schmunzelnd und schlug für Shirin-Shania die Bettdecke seines von ihm schon etwas vorgewärmten Betts zurück.

„Erst noch schnell unter die Dusche“, kicherte die Dunkelhaarige mit den grünen Augen, die nicht wirklich mollig war, aber einen atemberaubend schönen fraulichen Körper hatte, während sie sich splitternackt auszog.

„Warte, ich muss doch auf dich aufpassen“, rief ihr Enis ins Bad hinterher und sprang genauso splitternackt wie die außergewöhnliche Frau, mit der er Freundschaft geschlossen hatte, aus dem Bett und stellte sich zu ihr unter die heiße Brause.

„Ich bin genauso neugierig auf dich, sagte sie, während sie einander einseiften und Enis seine Erregung nicht mehr vor ihren weichen Händen verbergen konnte. Etwas Wasser tropfte von ihren schweren Brüsten wie von zwei Wasserspeiern ab, aber die größere Menge bündelte sich zwischen ihren Brüsten zu einem kleinen Wasserfall. Dieser suchte sich zunächst über ihren Bauchnabel seinen Weg zu ihrer völlig glatt enthaarten Scham, von wo er zwischen ihren Beinen wie aus einer heißen Quelle hinunter auf die Bodenfliesen stürzte.
Sein Gemächt hatte sich hoch aufgerichtet und Enis brauchte alles an Selbstbeherrschung, als Shirin-Shania es ganz langsam in ihrer heißen Quelle in sich aufnahm.

„Beim Sex mußt du nicht auf mich aufpassen“, sagte sie etwas zweideutig und umgriff seine Pobacken, um sich mit seinem Prachtstück selbst mit rhythmischen Bewegungen immer fester zu stoßen. Das war einfach zu viel für Enis und er stieß einen unterdrückten Schrei aus, als er sich in vollen Zügen bis auf den letzten Tropfen in Shirin-Shania ergossen hatte.

„Und du …?“, fragte er matt und war ehrlich besorgt, weil er seine Prinzessin aus tausend und einer Nacht nicht unbefriedigt in ihr Bett geleiten wollte.

„Schon gut, aber mehr als das geht bei mir wegen der Beschneidung meiner Klitoris durch die Mullahs leider nicht mehr“, dabei lächelte sie ihn mild an und küsste ihn zärtlich.

Nebeljobs

Mara

„Oh Mara, endlich!“, rief meine Mutter vor Freude und fiel mir noch im Treppenhaus stürmisch um den Hals.

„Hey Mami, jetzt aber bitte vor lauter Rührung nicht auch noch weinen. Es waren doch nur ein paar Tage, die ich weg war“, antwortete ich ihr voller Elan. Die Freude unseres Wiederzusammenseins, die mich noch mit meinem Zuhause bei ihr verband, konnte sie deutlich heraushören und zog mich daraufhin noch fester an sich heran. Nach den Erfahrungen, die ich von meinem Berlin-Trip mitgebracht hatte, machte mich plötzlich irgendetwas nachdenklich. Es war eine Art Feeling, das ich spontan nicht zu deuten wusste. Weil ich einfach nicht gleich greifen konnte, was es war, grübelte ich ein paar Sekunden lang, bis der Groschen dann doch endlich bei mir gefallen war. Meine Mutter hatte eine Fähigkeit, die ich auch hatte, aber die keine meiner neuen Freundinnen und Freunde in Berlin so hatten wie wir. Marc, Neles Bruder, hat sie auch, diese Fähigkeit, weil er auch blind ist. So blind wie ich und meine Mutter es auch sind und wie Mila, meine blinde Freundin, die so mysteriös aus meinem Leben hier verschwunden war. Selbst mit Marcs Schwester Nele, bei der ich ein paar Tage in Berlin in ihrem Zimmer im Studentenwohnheim wohnen durfte, war in einer bestimmten Situation, in der es um Leon ging, die Kommunikation recht schwierig geworden. Von Leon, einem Mann aus Neles Clique, der in Berlin Theologie studierte, wollte ich meiner Mutter nicht alles erzählen. Dass Leon, so wie alle anderen dort, auch normal sehen konnte, sollte sie schon erfahren. Auch dass er sich von mir interessiert zeigen lassen wollte, wie blind einkaufen funktioniert, wollte ich ihr nicht verheimlichen. Dass er sich getraut hatte, mit mir mit verschlossenen Augen, ohne selbst etwas sehen zu können, eine Straße zu überqueren, auf der bis auf wenige Lücken immer wieder viele Autos fuhren, hat mir gewaltig imponiert. Sogar meine Mutter hing in solchen Momenten gelegentlich vor Angst zitternd an meinem Arm, weil sie im Gegensatz zu mir lieber kniff, anstatt sich auf ihr Gehör und den Blindenstock zu konzentrieren. Außerdem brannte ich darauf, ihr von den Geräuschen und Gerüchen in dem idyllischen Park, der sich mitten in der Großstadt befindet und den ich mit Leon nach dem Einkaufen bei herrlichem Wetter besucht hatte, zu berichten. Nur, dass ich mich in dem Park kurz mehr mit ihm eingelassen hatte, als ich mir das vorher mit einem Mann hätte vorstellen können, das wollte ich ihr nicht erzählen, zumindest nicht gleich.

„Mami, du hast es einfach drauf, aus meiner Stimme fast alles ganz deutlich herauszuhören, was mich bewegt. Das können nur welche wie wir. Zusammen mit meinen neuen Freundinnen und Freunden in Berlin ist mir erst richtig klar geworden, dass Sehende das so gut wie gar nicht können. Weil sie nie üben mussten, genau hinzuhören, haben wir, wenn es um feinfühliges Wahrnehmen von Empfindungen geht, ihnen gegenüber sogar Vorteile. Das ist mir in meiner Clique hier im Sportverein vorher nie so wirklich aufgefallen. In der Inklusionssportgruppe ist das hier bei uns außergewöhnlich anders. Vermutlich kommt das von Marc, unserem Trainer, dessen inklusiver Ansatz, begleitet von freundschaftlichem Vertrauen, auch auf alle Sehenden in unserem Sportverein übergeschwappt ist. Wie du weißt, hat er ja seit seinem Motorradunfall, so wie wir zwei auch, nur noch zwei Glasaugen in seinem Kopf. Erst in Berlin ist mir das so richtig klar geworden, weil ich dort die einzige Blinde in meiner neuen Clique bin. Herr Stelzke, mein Taxifahrer dort, der hat es auch drauf. Er ist ein inklusives Naturtalent, das mich, auch wenn ich alleine in der Stadt unterwegs war, nie wie ein Tollpatsch bevormunden wollte. Wenn überhaupt, dann können die meisten Sehenden aber nur nebulös an der Oberfläche der Gefühle, aus der Mimik eines Gesichts und vielleicht noch aus der Körpersprache eines Menschen etwas aus dessen Innerstem herauslesen“, sagte ich und fühlte mich auf Anhieb total von ihr verstanden. Wir genossen es beide, dass wir seit langer Zeit erstmals so gut harmonierten, was sich in unserer neu erwachsenen Mutter-Tochter-Beziehung total gut anfühlte. Daran hatte in den zurückliegenden Jahren nicht einmal unsere Fähigkeit, dass wir beide nur, aber dafür perfekt, nonvisuell miteinander kommunizieren konnten, etwas ändern können – aber das war jetzt plötzlich ganz anders.

„Ja klar, mein Schatz, ich könnte mir für mich selbst nach unserer gemeinsamen Reise mit dem Zug nach Berlin nicht vorstellen, mich so wie du in die Welt der Sehenden zu stürzen. Einmal miterlebt zu haben, wie du das alles so selbständig hinbekommst, hat mich zwar echt beeindruckt, aber im Nachhinein bin ich froh darüber, dass ich nach unserer Ankunft am Bahnhof mit dem nächsten Zug sofort wieder die Heimreise antreten durfte. Schon der große Bahnhof war sehr angsteinflößend für mich und die Großstadt hätte mich nicht weniger geängstigt. Aber da war noch etwas, was mich nachdenklich gemacht hat, Mara. So schroff, wie du mit manchen Menschen umgegangen bist, die dir oft ja nur helfen wollten, fand ich nicht wirklich gut. Manchmal war mir das sogar total peinlich. Aber das ist ja jetzt zum Glück alles vorbei“, sagte sie und gab mir damit zu verstehen, dass sie mein Abenteuer als abgeschlossen betrachtete. „Endlich haben wir uns wieder und ich freue mich total darüber, dass du rechtzeitig vor deinem achtzehnten Geburtstag, den wir nächste Woche gemeinsam feiern wollen, wieder gesund zu Hause angekommen bist. Jetzt muss nur noch der nasskalte Herbst vorübergehen. Du kannst dir vielleicht gar nicht richtig vorstellen, wie ich mich darauf freue, dass wir es uns hier drinnen in der Vorweihnachtszeit zusammen schön gemütlich machen und jetzt auch offen gemeinsam über Frauenthemen reden können. Die besinnliche Zeit vor Weihnachten mit dir ohne Streit zu genießen, darauf freue ich mich schon jetzt ganz doll“, sagte sie und zog mich mit meinem Rollkoffer durch die Abschlusstür in unsere Wohnung.

„Hey, mein Lieblingstee“, sagte ich, als mir im Flur schon der Duft des Tees in meine Nase zog, den ich vor geraumer Zeit in dem kleinen Laden entdeckt hatte, der auch marokkanische und tunesische Gewürze im Angebot hatte. Diese hatte ich vor meiner Abreise nach Berlin dort für ein leckeres Couscous gekauft, das damit gekocht immer herrlich exotisch schmeckte.

„Beim Türken habe ich heute Morgen ganz frisches Lamm mitgenommen“, sagte sie prompt und mir lief auch gleich das Wasser im Mund zusammen. Dass sie mir mit meinem Lieblingstee und mit einer meiner Leibspeisen offensichtlich eine weitere Willkommensfreude bereiten wollte, freute mich mega.

„Oh Mami, das ist lieb von dir, aber nach dem Tee möchte ich vorher noch ein bisschen im Sportverein mit Marc trainieren. Der brennt bestimmt auch schon darauf, zu erfahren, was ich mit Nele und ihren Freunden alles in Berlin erlebt habe“, sagte ich und spürte, dass sie mich am liebsten gleich voll vereinnahmt hätte.

„Du bist doch gerade erst angekommen und willst gleich wieder weg?“, antwortete sie zögerlich und gab sich wenig Mühe, ihre Enttäuschung zu verbergen.

„Ja, schon, aber nicht lange, und danach kochen wir dann zusammen. Ich freue mich wirklich schon sehr auf den Abend mit dir und auf das gute Essen freue ich mich natürlich auch“, sagte ich. Dass mir total mulmig war, weil ich krampfhaft darüber brütete, wie ich ihr möglichst schonend beibringen könnte, dass ich nach meinem Geburtstag nach Berlin umziehen will, sagte ich ihr aber nicht.

 

***

 

„Komm her und lass dich drücken, du erwachsenes Kind“, sagte meine Mutter, als ich an dem Tag, den ich mir schon so lange herbeigesehnt hatte, zu ihr in die Küche trat.
„Alles Gute zu deinem achtzehnten Geburtstag“, sagte sie mit Tränen in den Augen, umarmte mich innig und ließ mich spüren, wie sehr sie darunter litt, dass ich mich schneller als ihr das lieb war in mein eigenes Leben freischwimmen wollte.
„Danke Mama, und sei nicht traurig, schließlich können wir, auch wenn ich wieder in Berlin bin, jederzeit, wenn wir Sehnsucht nacheinander haben, telefonieren. Außerdem kannst du mich dort ja auch immer, wenn dir danach ist, besuchen kommen“, sagte ich gerührt und erwiderte ihre liebevolle Umarmung. Ihr Schmerz, den ich deutlich fühlen konnte, tat mir selbst mehr weh, als mir das lieb war, aber hier in der Provinz zu versauern, war keine Alternative für mich.

„Du wirst mir auch fehlen, und genauso auch meine Clique vom Sportverein“, sagte ich leise, während ich meinen Hals an den Ihren drückte und hoffte, dass sie sich schnell wieder fing.

„Ich hab solche Angst um dich, Mara, und dann auch noch die Sache mit dieser Operation …“, schluchzte sie. Weil ich wusste, wie sehr sie unter der Geschlechtsangleichung, für die ich mich entschieden hatte, vielleicht noch mehr als unter der anstehenden Trennung litt, tat sie mir in diesem Moment wirklich total leid.

„Ach komm, Mama, jetzt, wo ich achtzehn bin, ist die Verantwortung dafür ja zum Glück nicht mehr bei uns gemeinsam, sondern nur noch ausschließlich bei mir“, versuchte ich sie zu trösten.

„Ja, ich weiß, aber ich habe trotzdem höllisch Angst davor, dass du diesen Schritt bereuen könntest“, schniefte sie und schob mir ein Schächtelchen in meine Hand, das mit einer Schleife verziert war.

„Oh, eine Geburtstagsüberraschung“, sagte ich entzückt, hoffte, dass der melancholische Teil unseres beginnenden Geburtstagsfrühstücks mit der Geschenkübergabe beendet war, und machte mich ans Auspacken. Meine Mutter werkelte indes am Herd herum und gleich danach roch es zu dem Brutzeln, das aus ihrer Richtung zu mir herüberdrang, sehr würzig nach geräuchertem Speck. Während ich noch im Bad war, hatte sie in aller Früh auch den Tisch schon wunderschön für uns beide gedeckt. Vor mir dufteten Wurst und Käse mit vermischten Gerüchen frischen Gemüses um die Wette und ich war total neugierig auf den Inhalt des kleinen Päckchens. Behutsam erkundete ich die Schleife und befreite den Karton von dem seidig glatten Papier, ohne es zu zerreißen. Einen Moment später ließ ich die kleine Schatulle, die ich in meiner Hand hielt, aufschnappen und entdeckte, dass sich im Inneren zwei Kammern befanden. In der einen Kammer fand ich ein filigranes Kettchen mit einem Herzchen, in das auf der Vorderseite gut fühlbar mein Name Mara eingraviert war und auf der Rückseite die Zahl Achtzehn. Behutsam nahm ich es heraus und untersuchte den Verschluss. Als ich es mir um den Hals legte und das kalte Metall auf meiner Haut fühlte, spürte ich Freudentränen auf meinen Wangen.

„Oh Mami, danke! Du hättest mir keine größere Freude damit machen können, mir auf diese Weise ausgerechnet heute zu zeigen, dass du mich als deine Tochter so akzeptierst, wie ich bin“, sagte ich total gerührt. Währenddessen befühlte ich überglücklich das dezente, feminine Schmuckstück, das sie mir geschenkt hatte.

„Dass mir das nicht leicht gefallen ist, weißt du, aber ich will dir einfach damit zeigen, dass ich nur glücklich sein kann, wenn du es auch bist, mein Kind“, sagte sie. Dazu streichelte sie mich in meinem Nacken, während der Speck im Hintergrund noch intensivere Röstaromen im Raum verbreitete.

„Was ist da denn noch drin?“, frage ich schniefend, zog meine Nase hoch und wischte mir mit meinem Ärmel die Tränen ab.

„Die Kapsel solltest du nicht öffnen, selbst Gold wird nämlich fleckig, wenn es mit Fingern in Berührung kommt“, sagte sie geheimnisvoll, während ich die kleine Ronde, die ich aus der Schatulle genommen hatte, neugierig befühlte.

„Gold?“, fragte ich stutzend.

„Ja, das Kettchen und das Herzchen sind aus Silber. Ich weiß ja, dass du keinen Goldschmuck magst. Das andere ist ein Notgroschen, von dem ich hoffe, dass du ihn nie brauchen wirst“, sagte sie mit einem ängstlichen, aber auch stolzen Unterton in ihrer Stimme.

„Mama, was ist das?“, fragte ich sie etwas hilflos und drehte die kleine Plastikscheibe, in der sich etwas sehr Schweres befinden musste, zwischen meinen Fingern.

„Herr Braustein war so freundlich, mir einen Krügerrand für dich zu beschaffen“, sagte sie und fügte hinzu, dass sie hoffe, dass ich die Symbolik ihres Geschenkes richtig deuten würde.

„Du hast Angst, dass mir eines Tages mein Geld ausgeht und ich in der Fremde unter die Räder komme?“, sagte ich mit einer Mischung aus Freude und aufkeimender Wut, die ich jedoch nach besten Kräften versuchte zu unterdrücken.

„Ja, Mara, aber ich habe gelernt, dass meine Angst nicht deine Angst ist, weil du, so wie es scheint, noch gar nicht weißt, wie Angst sich anfühlt. Darüber bin ich sogar froh und ich weiß auch, dass dein Vorhaben, nach Berlin zu ziehen, um dich dort in das Leben der Sehenden zu stürzen und inklusiv zu studieren, genau das Richtige für dich ist. Dass ich mir Sorgen darüber mache, ist aber nicht dein Problem, sondern meines. Du bist halt einfach wie das Goldstück für mich, das du gerade in der Hand hältst, und ich wünsche dir von ganzem Herzen, dass du es nie als Notgroschen von dir geben musst. Und jetzt iss …“, sagte sie und stellte einen köstlich riechenden Teller vor mich hin, während im Hintergrund das Mahlwerk der Espressomaschine schnurrte.

„Oh Mama! Du hast mir das schönste Geburtstagsgeschenk gemacht, das sich eine junge Frau wie ich nur wünschen könnte. Meine Freiheit! Mit Worten kann ich dir nicht beschreiben, wie lieb ich dich habe, und jetzt will ich dich umarmen“, schluchzte ich erst kurz und heulte danach wie eine Schlosshündin los.

„Na komm, schon gut, Mara, ich wollte dir einerseits wirklich eine Freude machen, dich andererseits aber auch auf die Gefahren hinweisen, in die du dich dort begibst“, sagte meine Mutter ganz weich. Ihre Worte klangen dabei so liebevoll, dass ich, obwohl ich sonst mit ihrer überfürsorglichen Art, die ich oft als Einmischung in meine Angelegenheiten deutete, überhaupt nicht klarkam, in diesem Fall aber trotzdem gerne hörte. Sie stießen mir nur einen ganz winzigen, etwas impulsiven Moment auf. Der kurze Anflug von Wut hatte sich zum Glück so schnell verflüchtigt, dass ich ihn nur als den Hauch eines in mir aufkeimenden Zorns wahrgenommen hatte, der sich gleich wieder im Nichts verlor.

 

***

 

„Guten Morgen, Herr Braustein“, begrüßte ich unseren Bankberater bei der Sparkasse, dessen schleimige Art mir immer mehr zuwider war. Dennoch winkte ich ihm so nett, wie ich es fertigbrachte, mit der ihm zugewandten Handfläche meiner rechten Hand flüchtig zu. Mit der Linken hatte ich schon die Lehne meines Besucherstuhls ertastet und setzte mich so zügig hin, dass ihm keine Gelegenheit blieb, sich bei mir mit ‚Stühlchen herbei rücken‘ einzuschmeicheln. Meinen Blindenstock hatte ich während dieses etwas trickreichen Manövers mit meinem rechten Unterarm so an mich gedrückt, dass sich ihm auch keine Chance zum Händeschütteln bei mir bot.

„Ah, welch netter Besuch, die junge, jetzt auch erwachsene, Frau Müller, in Begleitung der stolzen Mutti“, hörte ich den widerlichen Braustein schleimen und es schüttelte mich fast, mir das mitanhören zu müssen. Das seichte machohafte Getue, mit der er meine Mutter, bis diese endlich auch neben mir auf ihrem Stuhl saß, umschwänzelte, klang wie gewollt und dann doch nicht gekonnt und ließ mir fast übel werden. Meine armen Ohren, ertrugen sein Gesülze, das sich wie lauwarmer Sabber anhörte, und ich setzte dazu ein neutrales Pokerface auf, das hoffentlich hinreichend arrogant und so selbstbewusst aussah, um den schmierigen Kerl schon zum Gesprächsbeginn zu entwaffnen.

„Meine aufrichtige Gratulation zum Anpfiff ins Leben, Frau Müller, und das gleich mit einem üppigen Stipendium, einem großzügigen Geburtstagsgeschenk und einer glänzenden Zukunft vor Augen. Da fehlt jetzt nur noch der Jugendsparbrief“, sagte der Banker in einem Ton, der sich nach üblem Feixen anhörte.

„…, und die Augen, die fehlen ja auch noch“, zischte ich gereizt.

„Mara!“, … schrie meine Mutter entsetzt auf, der meine kleine Frechheit unendlich peinlich vorgekommen sein musste.

„Äh, entschuldigen sie bitte“, stammelte der Braunstein hilflos herum, und ich hätte mir am liebsten selbst Beifall für meine Schlagfertigkeit und für den damit erzielten Volltreffer geklatscht.

„Über den Sparbrief reden wir später“, sagte ich dem noch verdatterten Braustein und übernahm die weitere Lenkung des Gesprächs.

„Bei meinem Stipendium handelt es sich, so wie es aussieht, um eine monatlich wiederkehrende Zahlung auf unbestimmte Zeit, oder?“, stellte ich dem Braunstein die erste meiner für diesen Termin sorgfältig vorbereiteten Fragen.

„Ja, Frau Müller, sehr üppig für eine Studierende“, grummelte der von mir so herrlich angepisste Macho inzwischen erkennbar frustriert vor sich hin.

„Sie hat es ja auch nicht einfach dort“, sagte meine Mutter kleinlaut dazwischen.

„Nein, natürlich nicht, aber nicht so, wie du denkst, Mama. Einfach will ich es ja auch gar nicht haben. Natürlich werde ich mir, so wie andere Studierende auch, einen Job suchen und für meinen Lebensunterhalt mit meinen eigenen Händen arbeiten.“

„Also dann doch den Sparbrief?“, sagte der Bankberater, und ich hörte am Knarzen des Leders seines bestimmt zu protzig wirkenden Sessels, dass er sich entspannt zurücklehnte.

„Nein, das ganz bestimmt nicht, Herr Braustein. Sie dürfen mir ein Tagesgeldkonto einrichten und mehr erstmal nicht“, entgegnete ich ihm überraschend nett und packte noch ein perfekt geheucheltes Augenzwinkern obendrauf.

„Dass sie in diesem Fall viel weniger Zinsen bekommen, ist ihnen aber schon klar, junges Fräulein“, sagte er mit einem selbstherrlich nach Besserwisserei klingenden Tonfall.

„Keine Sorge, Herr Braustein, mir wird schon rechtzeitig etwas einfallen, wofür ich das Geld verwenden will. Aber sagen sie mal, wie sieht das denn eigentlich mit der Herkunft des Geldes aus?“, fragte ich ganz naiv.

„Mit dem Sparbrief, das habe ich bereits prüfen lassen, kämen sie mit den Gesetzen, die zum Schutz vor Geldwäschegeschäften immer schärfer werden, nicht in Konflikt. Wir passen ja schon auf unsere geschätzte Kundschaft auf“, sagte er und machte gleich danach wieder eine rhetorische Kunstpause.

„Danke, aber ich bin davon überzeugt, dass ich auch selbst gut genug auf mein Geld und auf mich alleine aufpassen kann. Schließlich ist es eine monatlich wiederkehrende Zahlung gleichen Betrages“, ergänzte ich, bevor ich von meiner Mutter unterbrochen wurde.

„Mara, siehst du denn nicht, dass das ohne vernünftige Beratung nicht geht und du, wenn du etwas falsch machst, sogar kriminell werden könntest. Davor habe ich dich schon vor unserer Abreise nach Berlin gewarnt“, sagte sie, von einer Mischung aus Rechthaberei und Angst begleitet.

„Nein, ich sehe nichts, weil ich nämlich blind bin. So blind wie du, Mama, und du siehst auch nichts außer Gespenstern. Aber sagen sie mal, Herr Braustein, wenn ich mir von dem Geld in Berlin eine Wohnung kaufen würde, wäre ich da nicht noch sicherer vor einem möglichen Vorwurf gegen bestehende Gesetze geschützt?“, unterdrückte mir ein innerliches Grinsen und wartete danach geduldig auf seine Antwort.

„Ach so, sie brauchen eine Baufinanzierung, das hätten sie mir auch gleich sagen können. Das wäre für sie natürlich auch steuerlich noch besser als ein Sparbrief“, kam es darauf, wie aus der Pistole geschossen von ihm. Dass das der nächste plumpe Versuch war, mit dem er mich als Kundin an seine Bank fesseln wollte, merkte ich zum Glück sofort.

„Sehen sie, es ist doch immer gut, rechtzeitig selbst ein paar Hausaufgaben zu erledigen, Herr Braustein. Vielen Dank für ihre Zeit, und wenn sie mir ein Finanzierungsangebot schicken wollen, können sie das gerne tun. Meine neue Adresse bekommen sie nach meiner Ummeldung beim Berliner Bürgeramt schon wegen der Anpassung meiner Kundenstammdaten von mir in den nächsten Tagen mitgeteilt. Bis auf Weiteres käme dann zu meinem Girokonto nur noch das Tagesgeldkonto dazu“, sagte ich, stand auf und winkte ihm wieder so zu, dass ich ihm während unserer Verabschiedung nicht doch noch die Hand geben musste.

„Oh Mara, hoffentlich weißt du, was du tust“, sagte meine Mom, als wir in die nasskalte Herbstluft hinaus auf die Straße gingen.

„Ja, keine Sorge, Vorausdenken gehört ja zu unseren besonderen Stärken und ich habe auch schon einen Plan, was wir beide als Nächstes tun sollten. Wir gehen jetzt nämlich wieder in den Coffeeshop am Bahnhof und ich lade dich, bevor wir uns verabschieden, wie vor unserem gemeinsamen Trip nach Berlin noch zu einem Kaffee ein. Ein bisschen Coffein kann jetzt nicht schaden“, sagte ich grinsend und ergriff ihre Hand.


***

 

„Schmeckt immer noch so gut wie vor unserer Bahnfahrt, Mama, oder?“, bemerkte ich aufmunternd, von der rhetorisch fragenden Floskel begleitet, mit der ich die Stimmung etwas aufhellen wollte. Wir hatten gerade in der angenehm warmen Bahnhofshalle auf den Hockern an einem der Stehtische Platz genommen und nippten an den kleinen Tässchen, als meine Mutter damit herausrückte, was ihr nicht passte.

„Mara, was sollte denn das mit dieser Wohnung eben und mit der Suche nach Arbeit in Berlin. Davon hast du mir die ganze Zeit noch nicht einen Piep erzählt? Ist es denn so, dass du gar nicht mehr wegen deines Studiums dorthin umziehen willst?“, fragte sie mich zwar auch etwas neugierig, aber eigentlich mehr säuerlich enttäuscht.

„Dass du mir Vorwürfe dafür machen würdest, ist mir schon lange klar, aber ich wollte uns mit meinen erweiterten Plänen auch nicht vor meinem Geburtstag die Stimmung verderben“, versuchte ich, mich ihr gegenüber mehr als notwendig zu rechtfertigen.

„Ein Stipendium ist zum Studieren da. Arbeiten kannst du auch hier“, setzte sie bissig nach.

„Ich will ja dort auch studieren, aber eben nicht nur, Mama“, gab ich ihr brav zur Antwort und nahm mir ganz fest vor, diesmal nicht gleich zickig zu werden.

„Es ist wegen der OP, hab ich recht?“, hörte ich sie sagen und spürte, dass sie die unausgesprochene Frage, ob sie der Grund für mein Weggehen sei, noch mehr als der Abschied von mir quälte.

„Nein, das ist es auch nicht, die Stadt ist einfach so unheimlich interessant und richtig idyllisch“, begann ich ihr vorzuschwärmen.

„Eine Millionenstadt ist doch nicht idyllisch. Wenn du naturverbunden leben möchtest, ist es doch hier viel schöner“, hielt sie mir vor und nippte wieder an ihrer kleinen Tasse.

„Absolut nicht, Mama, dort gibt es sogar mitten in der Stadt Natur pur und Kanäle und Seen und den Spreewald gibt es auch. Die Berliner Feldmark ist riesig, ein grüner Gürtel mit Weiden und Wiesen umgibt die ganze Stadt. Dort gibt es Badeplätze und Radwege. An diesen schönen Orten riecht es nach Natur und der Wind der Freiheit ist allgegenwärtig. Selbst Bauernhöfe mit Tieren und glücklichen Hühnern gibt es, und die Bauern verkaufen in ihren Hofläden frische Eier und andere eigene Erzeugnisse aus ihrer Landwirtschaft.

„Vielleicht da, wo teure Villen an zugebauten Seeufern stehen, die für die Städter nicht mehr zugänglich und für normale Bürger wie uns auch nie erschwinglich sein werden“, setzte sie mir weiter zu.

„Mama, ich habe ein total tolles Häuschen mitten in der Natur entdeckt. Die Miete scheint billiger als drinnen in der Stadt zu sein. Unweit ist sogar ein öffentlicher Badeplatz und Bus sowie U-Bahn kann ich von dort auch ohne fremde Hilfe leicht erreichen“, beschwor ich sie.

„Mir kommt das alles so vor, als wolltest du auf Teufel komm raus nur weg von hier“, sagte sie dann plötzlich resigniert, aber so kühl, dass ich glaubte, dass mir das Blut in meinen Adern gefriere. Den Rest ihres Kaffees schüttete sie, bevor wir aufbrachen und schweigend nach Hause gingen, in sich hinein.

 

***

 

„Nein, Mama, ich will nicht, dass am Bahnsteig Tränen fließen. Ich gehe allein zum Zug und freue mich schon auf deinen ersten Besuch in dem schönen Häuschen, von dem ich dir erzählt habe, bei mir in Berlin“, stand auf, streichelte ihr über ihren Handrücken und spürte, dass sie zitterte. Dann nahm ich sie in unserem Flur ein letztes Mal in den Arm und litt Höllenqualen, während wir beide innig umarmt in Tränen ausbrachen. Nachdem wir uns voneinander gelöst hatten, wuchtete ich den schweren Rollkoffer hinaus auf den Absatz vor der Treppe und gab ihr einen letzten Kuss. Es brach mir selbst fast das Herz und ich fühlte mich innerlich total aufgelöst und sogar richtig mies dafür, was ich ihr gerade angetan hatte. Den Stock in meiner Rechten zog ich, den größten Koffer, den wir hatten, über das Pflaster hinter mir her auf das kleine Türchen zu, das unseren Vorgarten von der Straße trennte. Das dumpfe Rumpeln klang wie ein trauriger Trommelwirbel in meinen Ohren und mir war sonnenklar, dass ich den Absprung nie mehr schaffen würde, wenn ich jetzt weich werden würde. Als ich den Bahnhof erreichte, raste mein Herz immer noch und ich schwitzte aus allen Poren. Im Regionalexpress in Richtung Marburg wurde es dann schnell besser und ich lenkte mich mit meinem Handy ab. Auf Booking fand ich mit meinem Smartphone im Stadtteil Zehlendorf schnell eine kleine passende Ferienwohnung für mich, die ich sofort mit meiner neuen Visakarte buchte. Der Bahnhof Marburg weckte, als ich dort in den ICE nach Berlin, für den ich eine Sitzplatzreservierung hatte, umstieg, weniger gute Erinnerungen, und ich war froh, dass ich diese Stadt jetzt auch hinter mir lassen konnte. Während wir in Berlin-Spandau einfuhren, griff ich wieder nach meinem Handy.

„Guten Tag, Herr Stelzke, sie gaben mir vor Kurzem ihre Karte und ich wollte sie fragen, ob sie mich um 16:45 vom Bahnhof Mitte nach Zehlendorf fahren können?

„Na det is mal ne jute Überraschung, die Frau Müller wieder, oder?“, sagte er, und ich fand es total cool, dass er sich gleich wieder an mich erinnerte.

„Also wären sie dann da?“, fragte ich zurück.

„Ick kann sie och am Bahnsteig abholen“, schob er hinterher.

„Nein danke, ich komme um 16:29 an. Eine Viertelstunde reicht mir locker bis zur Invalidenstraße, Herr Stelzke, nur keine unnötigen Umstände“, antworte ich ihm mit einem Grinsen in meiner Stimme und legte auf. Als ich eine halbe Stunde später an der Gebäudeecke des Bahnhofs ankam, hörte ich schon einige Taxis tuckern. Meinen Fahrer erkannte ich auch gleich an seiner Stimme wieder, die mich fragte, ob er mir meinen Koffer abnehmen und in den Kofferraum einladen dürfe. Dass die Beifahrertür auf war, verriet mir sein Radio, und ich saß schon angeschnallt im Taxi, als er einstieg. Die Ferienwohnung war genau richtig, nur die Vermieterin musste ich erst beruhigen, dass sie sich keine Sorgen darüber machen müsse, dass ich blind bin, und auch nicht darum, dass ich ihr deshalb die Küche abfackeln würde.

 

***

 

„Guten Morgen, Herr Stelzke, sie sind ja schon wieder überpünktlich“, begrüßte ich meinen Fahrer. Die erste neue Nacht, die ich zurück in Berlin verbrachte, schlief ich super gut und wie ein Stein. Schon um 7:00 Uhr hatte mich das Smartphone jäh aus meinen Träumen gerissen. Nachdem ich um 8:55 Uhr gut ausgeschlafen und vom Tatendrang angetrieben aus der Tür auf die Straße hinausgetreten war, hörte ich schon das wartende Taxi vor sich hin nageln.

„Auf den richtigen Schleichwegen is det in Berlin ken Problem. Nach mir kannste Tag und Nacht die Uhr stellen“, begrüßte er mich so gut gelaunt wie immer. Und jetzt zum Bürgeramt, wa …?“

„Ja, um 10:00 Uhr ist der Termin“, bestätigte ich und schnallte mich an.

„Dat reicht ja noch locker für ’nen Kaffee und ’ne Bulette“, lachte Stelzke und fuhr los. Bis zur Kirchstraße war es nicht weit und es war bitterkalt draußen. Die Bude, an der wir für ein zweites Frühstück anhielten, hatte aber einen beheizten Zeltvorbau, in dem es köstlich nach frisch Gebratenem vom Grill, aber auch nach fettigen Pommes, Curry und Senf roch.

„Für sie auch?“, fragte mich die Berliner Schnauze, die mich begleitete.

„Ja, gern, aber nur, wenn ich sie einladen darf“, antwortete ich etwas keck und genoss es, gleich mitten drin in der Gemeinschaft der Berliner zu sein sowie bei deren Gepflogenheiten mitmischen zu dürfen.

„Aber nur, wenn se für die Fahrt kene Quittung wollen, die Uhr hab ich nämlich schon abgedrückt“, sagte er gewitzt und ich musste herzlich lachen. Die Bulette befand sich zwischen einem Brötchen und das Ganze lag, wie ich schnell ertastet hatte, auf einer rechteckigen Pappe. Der Kaffee dampfte heiß, was mir half, herauszufinden, wo er vor mir stand, aber er roch im Vergleich zu den Espressos, die ich sonst trank, total wässrig.

„Sehen sie wo Senf?“, fragte ich und hob höflich auffordernd die obere Brötchenhälfte von meiner Bulette ab.

„Soll ick bei ihnen och gleich wat davon draufmachen?“, fragte er entspannt, bevor er was tat, und ich nickte zustimmend.

„Danke, darf gern ein bisschen mehr sein“, lachte ich und wartete, bis ich das blubbernde Scharren der Luft hörte, die mit dem Senf aus der Düse quatschte.

„Echt lecker, das war ’ne gute Idee von ihnen, Herr Stelzke“, sagte ich nach dem letzten Happen und wischte mir mit der Serviette den Mund ab. Vom Kaffee ließ ich die Hälfte stehen und Stelzke verlor kein Wort darüber.

„Wenn 'se wollen, bring' ich 'se noch rein“, bot er mir an und ich verstaute meinen zusammengeklappten Stock noch bevor wir aufstanden in meinem Rucksack.

„Gern, zum Schalter zwei muss ich“, sagte ich und griff nach Stelzkes Ellenbogen.

„Perso hat ’se dabei?“, fragte eine Stimme, die nach humorlosem Bürodrache klang, meinen Begleiter, und ich spürte, wie mir vor Zorn das Blut in meinen Kopf schoss.

„Die Dame hat bestimmt alles, was sie braucht“, sagte Stelzke und war danach blitzschnell verschwunden.

„Na dann“, hörte ich die unsympathische Stimme sagen und schob auf dem Resopal, das sich nach Amtsstube anfühlte, meinen Perso auf sie zu.

„Und der Meldeschein?“, fragte sie dann.

„Hab ich alles im Internet ausgefüllt“, sagte ich, genauso kurz angebunden wie das Schreckgespenst, das mir gegenüber saß.

„Da fehlt noch die Adresse“, kam prompt die Antwort, und ich schob ihr den Ausdruck aus Booking über den Tisch, auf dem die Anschrift meiner Ferienwohnung zu lesen war.

„Det geht ja nich“, hörte ich dann.

„Und warum geht dat ja nich?", äffte ich sie nach und beschloss, der in mir aufwallenden Wut freien Lauf zu lassen.

„Weil dat 'ne Ferienwohnung ist und ’se dat ja gar nicht können. Und 'nen Platz in ’ner Wohngruppe jibt es ohne Warteliste nich“, blökte die dumme Kuh fies zurück.

„Danke, dann hätte ich gern ein Touristenvisum oder eine Aufenthaltsgenehmigung für die Wohnung, in der meine Sachen sind und in der ich heute Morgen geduscht habe“, sagte ich ganz ruhig.

„Det jet nich“, bekam ich trocken zur Antwort.

„Danke, mir reicht's auch“, sagte ich, stand auf, ließ meinen Stock aufklackern und war froh, dass ich den Weg nach draußen kannte.

„Ne Ummeldung hat 'ne Frist von längstens sechs Monaten“, hörte ich die Drachenstimme von hinten ein letztes Mal, als ich schon auf dem Weg zur Tür war, und zeigte dem Drachenmonster über meine Schulter hinweg wortlos den Mittelfinger meiner linken Hand. Wie ich es vermutet hatte, war Stelzke bei seinem Taxi und ich roch zuerst, dass er eine rauchte, bevor ich hörte, dass er vermutlich lässig an seinen Kotflügel gelehnt auf mich wartete.

„Det jing aber schnell“, sagte er mit einem schelmischen Unterton, als er mich, so wütend wie ich noch war, auf ihn zustürmen sah.

„Wissen sie, wo Immobilien-Mayer in Zehlendorf ist?“, fragte ich und tastete nach der Beifahrertür seines Taxis, in das ich dann gleich wortlos einstieg und drauf hoffte, dass mein Zorn schnell wieder verrauchte.

„Det is nur zehn Minuten von hier, und da wollen se jetzt also hin?“, sagte er und fuhr, ohne eine Antwort von mir abzuwarten, los, was mir gerade recht war, weil ich echt gerade voll genug von unnötigen Worten hatte.

 

***

 

„Danke, Herr Stelzke, ohne Quittung also“, sagte ich und legte, nachdem ich mich schon losgegurtet hatte, einen Fünfzig-Euro-Schein auf die Mittelkonsole.

„Det is aber jetze nich ihr Ernst, wa …“, sagte mein treuer Berliner Fahrer, als ich schon fast ganz aus seinem Taxi ausgestiegen war.

„Doch, das ist ja auch für den Senf, und wenn sie wollen, noch dafür, mich da jetzt noch hineinzubringen. Wenn ich mal wieder wohin will, melde ich mich bei ihnen, auch wieder ganz ohne Quittung und gerne auch wieder mit Buletten“, sagte ich und zwinkerte ihm dabei zu.

„Dann mal los und danke“, sagte er wieder ohne weitere Worte und wartete, bis ich seinen Ellenbogen gegriffen hatte, bevor er mit mir an seinem Arm lostrabte.

„Wie sieht die Bude hier denn aus? Futuristisch, edel-rustikal oder nach Bruchbude?“, fragte ich ihn, während er mich eine Treppe, die nur wenige Stufen hatte, hinaufführte.

„Alte Backsteinfassade, ehemalige Fabrik, mit modernen Fenstern und alles blitzeblank herausgeputzt“, hörte ich ihn sagen und war begeistert, wie treffend er die Dinge, die er sah, schön knapp beschreiben konnte. So hab ich das am liebsten, weil er ein herausragendes Talent dafür hatte, Gesehenes in klare, kurze Sätze zu fassen, ohne es mehr als nötig zu werten.

„Ich würde die Fassade gerne mal anfassen. Geht das ohne, dass sie mich in den Vorgarten führen müssen?“, fragte ich neugierig.

„Det is gar ken Problem, hier können se klingeln und rundherum is alles Fassade“, sagte er grinsend und führte meine Hand an den Rahmen einer Gegensprechanlage.

„Super Wortspiel, Herr Stelzke. Dann lassen sie mich jetzt mal mit meinen Augen hinter diese Fassade gucken, und wenn ich wieder wegwill, ruf’ ich sie wieder an, ok?“, antworte ich dem süßen Kerl, der nur kurz lachte und danach, ohne dumme Sprüche zu machen, mit federnd klingenden Schritten verschwand. Die Fassade fühlte sich kein bisschen bröckelig, aber eisig kalt an und der Mörtel zwischen den Steinen war kein bisschen feucht. Die Kanten der Ziegelsteine erzählten alte Geschichten. Sie mussten wirklich recht alt, aber aufwändig neu verfugt worden sein. Als ich das Taxi los tuckern hörte, ließ ich meinen Stock aufklackern und drückte auf den Klingelknopf.

„Ja, bitte“, krächzte eine junge Frauenstimme, die nach eingebildeter Schnepfe klang, aus dem Lautsprecher.

„Ich bin wegen des alten Hauses hinter der Terrassenstraße hier“, sagte ich und drehte mein Gesicht zu der Halbkugel, die ich über der Klingel ertastet hatte, weil ich mir sicher war, dass sich hinter dem Plastik eine Torkamera befand.

„Haben sie einen Termin?“, krächzte die Stimme.
„Nein, aber Kaufinteresse“, antwortete ich, ohne lange nachzudenken, und prompt schnurrte der elektrische Türöffner.

„Oh, sind sie blind?“, flötete die gleiche Stimme, die jetzt zwar nicht mehr krächzte, aber nicht weniger dümmlich klang, als ich durch das nach Bohnerwachs riechende Treppenhaus im ersten Obergeschoss angekommen war. Die Tür, in der das Repräsentationshäschen rechts von mir stand, musste sehr hoch sein, weil schon das Treppenhaus etwas von der Akustik einer Kirche hatte und sich das Knarren der alten Türscharniere nach feudalem Herrenhausstil angehört hatte.

„Ja, ich hab mich aber dran gewöhnt, dass Leute, die sehen können, mir meine Blindheit schnell ansehen. Aber nur, wenn sie eine scharfe Beobachtungsgabe haben“, sagte ich und ließ meinen Stock vor mir auf Brusthöhe von rechts nach links pendeln, bis die Schöne sich wieder gefangen hatte, was einige Sekunden dauerte.

„Herr Mayer ist gerade in einer Beratung. Sie müssten sich noch etwas im Wartezimmer gedulden“, stotterte sie mich dann unbeholfen an, bis ich ihr sagte, dass ich ihr gerne folgen wolle, wenn sie die Freundlichkeit hätte, vorauszugehen. Auf Fluren der Wand entlang jemandem zu folgen, ist mit dem Stock eine der einfachsten Übungen, mit der sich Sehende immer wieder aufs Neue verblüffen ließen.

„Tja, also …“, hörte ich das Mäuschen piepsen, nachdem wir im Wartezimmer angekommen waren und ich entlang der Wände schnell die Sitzgelegenheiten gefunden hatte.

„Nein, nicht die Heftchen vom Lesezirkel, ich hab selbst etwas zum Lesen dabei, aber einen Espresso würde ich gerne nehmen“, erlöste ich die Hilflose und packte meinen neuen Canute 360 aus meinem Rucksack aus. Den hatte ich mir aus dem ersten Budget meines Stipendiums geleistet. Dieser Braille-E-Bookreader ist zwar etwas unhandlich und mit drei Kilogramm auch kein Leichtgewicht, dennoch bin ich damit jetzt in der Lage, wo immer ich will, neu downgeloadete E-Books, die vorher nur mit der Software Calibre mit einem Duxbury-Plugin konvertiert worden sein mussten, zu lesen. Das Einzige, das ich zu meinem neuen Leseglück immer noch brauchte, war eine Steckdose.

„Oh, mein Espresso, danke. Können sie den bitte in der Nähe einer Steckdose abstellen? Den passenden Stuhl finde ich dann schon selbst. Geht dann einfach immer der Leitung nach und schon hab ich's“, sagte ich und ließ den Stecker grinsend vor meinem Oberkörper hin- und herpendeln. So wie vorher an der Tür, als anstatt der Stromleitung mein Blindenstock vor mir herpendelte, wartete ich auch jetzt wieder genüsslich ab, bis das Püppchen endlich raffte, was angesagt war.

„Aber ja natürlich“, stotterte die Arme total von der Rolle, der ich es nicht besser gönnte. Bei dummen Fragen wie: 'Sind sie blind?', war ich oft ein bisschen nachtragend und wurde dann auch ganz schnell bissig, aber das war jetzt ihr Problem und nicht meines. Kurz darauf hörte ich, dass sie einen Stapel Heftchen auf einen der Stühle umschichtete und danach einen Gegenstand durch den Raum trug.
Ihr Espresso steht hier, sagte sie aus der mir gegenüberliegenden Ecke des Raums, und ich stand auf und ging mit meinem Stock voraus auf ihre Stimme zu.

„Danke für die Umstände, die sie sich mit dem Tisch für mich gemacht haben“, sagte ich jetzt richtig nett und tastete nach der Tischkante und danach nach einem Stuhl, den ich gleich darauf rechts neben dem niedrigen Tisch fand. Der Stuhl schien der gleiche wie der zu sein, auf dem ich vorher gesessen hatte, und ich setzte mich darauf. Der Espresso, den sie mir gebracht hatte, stand auf einer Untertasse, auf der ich neben einem Tütchen zwei Zuckerstücke entdeckte.

„Könnte ich bitte noch zwei weitere Stückchen Zucker haben?“, fragte ich sie, nachdem sie den Stecker in die Steckdose bugsiert hatte, und legte mein Smartphone neben dem Tässchen auf den kleinen Tisch.

„Ja, bringe ich ihnen sofort“, sagte die Süße, die jetzt fast so gut wie Herr Stelzke funktionierte, nur dass es bei ihr etwas länger gedauert hatte, bis sie begriffen hatte, dass Blinde nicht immer auch gleich blöd sind. Die Zeit verflog wie im Fluge und ich fragte, nachdem ich auf meinem Canute das Vorlesungsverzeichnis nach allen Vorlesungen von Frau Professor Grieshaupt durchsucht hatte, mit meinem Smartphone per E-Mail einen Besuchstermin für den Folgetag bei der Professorin an.

„Wen darf ich Herrn Mayer denn melden?“, riss mich die Stimme meiner neuen Assistentin aus meinen Gedanken.

„Mara Müller, Müller, mit Doppel-L und mit Umlaut, nicht mit ue“, sagte ich spitz und packte all meine Sachen, mit Ausnahme meines Blindenstocks, den ich auch auf dem kleinen Tisch abgelegt hatte, in meinen Rucksack.

 

***

 

„Frau Müller? Ich bitte um Entschuldigung, dass sie warten mussten. Das ist eigentlich nicht der Stil unseres Hauses", sagte eine jovial klingende Männerstimme kurz darauf aus der Richtung, in der sich die Tür zum Flur befand.

„Kein Problem, ich hatte ja auch keinen Termin und bin hier einfach so bei ihnen hereingeschneit“, antwortete ich nett und zeigte mich von meiner besten Seite.

„Wollen sie mir bitte folgen?“, hörte ich und dachte: Geht doch! Dass das Häschen ihren Chef so gut gebrieft hatte, hätte ich ihr vor einer Stunde noch nicht zugetraut.

„Nun ja, so kalt ist es nun doch noch nicht, dass wir mit Schnee rechnen müssten. Aber lange wird es nicht mehr dauern, die Winter in Berlin haben es trotz Klimawandel immer noch in sich“, begann er einen Smalltalk, den er geschickt an mein ‚hereingeschneit‘ anknüpfte.

„Noch einen Espresso mit vier Zucker und vielleicht ein Glas Wasser dazu, Frau Müller?“, sagte er, während er die Tür zu seinem Büro öffnete und wie ein Gentleman stehen blieb.

„Bitte nach ihnen, Herr Mayer“, sagte ich, und er verstand sofort, dass ich es hasste, angetatscht zu werden, und ging, den Smalltalk fortsetzend, voraus, bis wir saßen und die Getränke sowie ein paar Kekse serviert waren.

„Das Objekt, für das sie sich interessieren, liegt weit ab vom Schuss und der Renovierungsrückstau ist beträchtlich“, begann er vorsichtig über das Geschäft zu reden.

„Das mag sein, aber die Lage im Grünen ist dafür umso schöner. Ich komme aus der Provinz und bin es gewohnt, an heißen Sommertagen schwimmen zu gehen und unter Bäumen im Schatten zu laufen“, antworte ich geschmeidig.

„Ja, da stimme ich ihnen zu, aber wir hätten auch schöne Objekte im Zentrum im Angebot. Berlin ist eine grüne Stadt mit viel Wasser“, sprach er weiter.

„Ich bin aber wegen des Häuschens hinter der Terrassenstraße zu ihnen gekommen. Direkt in die Innenstadt ziehen will ich nämlich gar nicht und vor dem Renovieren habe ich auch keine Angst“, sagte ich etwas nachdrücklich.

„Nun ja, was heißt Häuschen? Es sind immerhin fast zweihundert Quadratmeter Wohnfläche im Erdgeschoss, über die wir hier reden. Hinzu kommt, dass das Obergeschoss fast ebenso groß ist und sich die Wohnfläche dort nur wegen einiger schräger Wände etwas reduziert. Für die Pflege des großen Gartens ist die alte Eigentümerin insbesondere wegen des anstrengenden Rasenmähens und des Schneidens der Büsche und Bäume auf regelmäßige Unterstützung durch die Mietenden angewiesen“, gab er mir hinterhältig zu bedenken.

„Das sehe ich genauso wie mit den anstehenden Renovierungsarbeiten, und außerdem gibt es da ja auch noch Nachbarn und Freunde“, sagte ich und wollte nicht gleich den Eindruck erwecken, dass Geld bei mir nicht das Problem ist.

„Die Miete wäre wohl nicht das Hauptproblem, aber sie bräuchten zusätzlich eine Finanzierung für die Dienstleistungen, die dort regelmäßig anfallen“, schlich er sich neu an.

„Können sie mir denn eine passende Finanzierung anbieten, wenn ich das erste Obergeschoss mieten wollte?“, fragte ich scheinheilig.

„Da ließe sich sicher etwas machen. Für solche Fälle haben wir Kooperationspartner, die auch jungen Leuten helfen können, die noch keine Sicherheiten in der üblichen Form bieten können, quasi zur Überbrückung, bis sie das aus eigener Kraft finanzieren können.“

„Das klingt echt verlockend, wann kann ich denn mal in die Wohnung?“, hakte ich nach.

„Sie meinen so eine Art Besichtigung“, sagte er verklemmt.

„Ja genau. Eine Besichtigung, das ist genau das, was ich will“, bestätigte ich, ohne auf seine Frechheit näher einzugehen.

„Wenn sie mit einem Vorvertrag, der uns unsere Courtage sichert und die im Voraus bezahlt werden muss, einverstanden sind, gerne schon morgen“, sagte er. Dass die Dollarzeichen in diesem Moment wie Sterne am Himmel in seinen Augen strahlten, war mir so klar wie das Amen in der Kirche, und damit war spätestens jetzt gebongt, wo ich mit ihm dran war.

„Wie hoch ist die Kaltmiete denn? Und wie berechnet sich denn ihre Courtage genau?“, fragte ich kühl.

„Die Miete liegt bei Einzug bei neunhundert Euro und der Staffelmietvertrag verpflichtet sie neben der Inflationsschutzklausel alle zwei Jahre zu einer Mieterhöhung um fünf Prozent. Die Courtage beträgt vier Monatsmieten und sichert ihnen ein vierwöchiges Rücktrittsrecht für die Anmietung zu. Danach ist der Mietvertrag in den ersten fünf Jahren nicht mehr kündbar und danach ist eine ordentliche Kündigung mit einem Jahr Kündigungsrecht zum Folgejahr möglich“, leierte er mir seine Wucherkonditionen herunter.
Morgen passt mir nicht, aber übermorgen klingt gut. Wäre es für sie in Ordnung, wenn ich die Courtage zum Besichtigungstermin in bar mitbringe?“, fragte ich und stand auf, obwohl ich den Espresso und die vier Zuckerstücke noch nicht angetastet hatte.

„Sagen wir fünfzehn Uhr, in der Nachmittagssonne zeigt sich das Objekt von seiner besten Seite“, sagte der Geldhai ohne Skrupel.

„Na, wenn sie das sagen, dann wird es schon alles stimmen, mit der Sonne und so. Fünfzehn Uhr ist mir recht und den Vorvertrag kann ich doch sicher bis morgen um zwölf Uhr vorab per E-Mail bekommen, oder?“, sagte ich und streckte ihm einen Zettel entgegen, auf dem meine E-Mail-Adresse stand.

„Den Vertrag können sie gerne Zug um Zug gegen die Courtage hier abholen kommen. Selbstverständlich akzeptieren wir dann auch ihren Vorschlag mit der Barzahlung“, sagte er und erhob sich von einem Sessel, der während seiner Entlastung dankbar krächzte.

„Danke für das Gespräch. Ich werde Ihnen Morgen um zwölf einen Boten schicken. Machen sie sich keine Mühe, ich finde selbst zur Tür“, sagte ich knapp und verließ grußlos das Büro des gottverdammten Halsabschneiders.

 

***

 

„Hallo Herr Stelzke, ich hoffe, dass sie eine erholsame Nacht hatten und ich sie nicht zu früh aufschrecke. Bitte rufen sie mich im Laufe des Vormittags zurück. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn sie gegen zwölf Uhr eine Fahrt für mich erledigen könnten“, sprach ich meinem Taxifahrer um 5:30 auf dessen Mailbox. Nach dem Termin bei dem Immobilienmakler übelster Sorte war ich mit den Öffentlichen in die Silbersteinstraße gefahren, um den Abend mit Nele und deren Freunden zu verbringen, die mich zum Glück schnell auf andere Gedanken brachten. Zuerst waren alle überrascht, dass ich so schnell schon wieder zurück in Berlin war. Als ich erzählte, dass ich mich vorübergehend in einer Ferienwohnung in Zehlendorf anstatt bei ihnen im Studentenwohnheim einquartiert hatte, spürte ich auf der Seite meiner Zuhörer im ersten Moment Enttäuschung. Diese schlug aber schnell in hilfsbereite Begeisterung um, nachdem ich ihnen von der Wohnung in dem romantisch anmutenden Häuschen, das ich im Grünen fand, berichtet hatte. Alle waren spontan dazu bereit, mich nach besten Kräften zu unterstützen. Sowohl für die Renovierung meiner neuen Wohnung als auch für meinen Umzug in die Feldmark sagten sie mir ohne Ausnahme ihre Hilfe zu, die ich auch gern in Anspruch nehmen wollte. Nele schwärmte von dem vielen Grün und den Wiesen im Park, die wir an den letzten sonnigen Herbsttagen dort draußen zusammen genossen hatten. Leon träumte von den frisch gelegten Frühstückseiern, die man dort zwischen Weiden auf den Gehöften von Bauern kaufen konnte, und Sophie schwärmte vom gemeinsamen Grillen in meinem Garten im nächsten Sommer. Dass ich am Folgetag mit Frau Professor Grieshaupt auch über den anderen Umzug, der mich viel mehr beschäftigte, reden wollte, behielt ich für mich. Der Umzug in einen zu mir passenden Körper war, nachdem ich mittlerweile volljährig geworden war, endlich auch für mich möglich geworden. Das war jedoch ein Thema, das nun nur noch mich persönlich etwas anging und für das ich die Verantwortung für meine freien Entscheidungen jetzt ganz alleine tragen wollte.

 

***

 

„Guten Morgen, Frau Müller“, begrüßte mich mein Taxifahrer, der mich gleich, nachdem ich aufgelegt hatte, zurückrief und mich gut gelaunt ansprach.

„Guten Morgen, Sie klingen zwar nicht übermüdet, Herr Stelzke, aber nach einer Nacht mit schönem Ausschlafen hört sich das bei ihnen auch nicht an“, sagte ich und wurde mir bewusst, wie gerädert ich mich selbst fühlte.

„Is schon jut, bin halt immer auf Achse, wa …“, sagte er locker und ergänzte, „wo soll’s denn diesmal hingehen?“

„In die Brook-Taylor Straße zwei, nach Treptow; um 11:15 müsste ich dort sein, geht das?“, fragte ich.

„Wollen se nochmal umziehen, nach Adlershof ins Studentendorf, wa, …?“, fragte er etwas direkt, aber so charmant, dass ich trotz meiner Müdigkeit spontan lächeln musste.

„Umzüge hab ich noch einige vor, aber nicht mehr ins Studentenwohnheim, da hab ich zwischenzeitlich andere Pläne“, antwortete ich und fragte, wann er mich denn abholen kommen wolle.

„Ne halbe Stunde reicht. Wir fahren am besten Richtung Steglitz bis zum Botanischen Garten und dann die A100 am Tempelhofer Feld vorbei, det is um die Zeit jut zu fahren, is ja nich wirklich weit, wa …“, sagte er.

„Dann wäre da noch was, Herr Stelzke, ein Abstecher, aber diesmal ohne mich, nochmal zu dem Immobilienhai, zu dem sie mich gestern gefahren haben …“, sagte ich und Stelzke raffte sofort, dass ich dort keine neuen Freunde gefunden hatte.

„Für sie mach ich det glatt“, antwortete er mir ohne zu zögern. „Und dann wieder abholen in Adlershof?“

„Nee, auf dem Rückweg fahre ich lieber mit den Öffentlichen. Sollte dann endlich mal damit fortfahren, Berlin auf eigenen Füßen alleine weiterzuerforschen. Aber das Kuvert, das sie dort bekommen …, könnten sie das vielleicht dann noch in den Briefkasten meiner Ferienwohnung werfen?“, fragte ich den netten Steltzke dann noch.

„Klar, mach ick dann och“, sagte Stelzke und danach legten wir beide auf. Mein Smartphone sagte, „Sechs Uhr, achtunddreißig“, zu mir und ich legte mir ein Memo für sieben Uhr mit der Adresse der Touristeninformation am Europaplatz eins an. Weil ich mir diese Tour nach Berlin-Mitte, also mit Bus und Bahn zum Hauptbahnhof, auch alleine vornehmen wollte, präparierte ich in der verbleibenden Zeit mein Navigationssystem mit einer günstigen Route dorthin. Den Termin, den ich dort per E-Mail für acht Uhr vormittags vereinbart hatte, würde ich noch ganz gut schaffen, bevor ich mit Herrn Stelzke danach zu dem Termin mit Frau Professor Grießhaupt fahren wollte, den ich für halb zwölf bei ihr in Adlershof bekommen hatte. Bevor ich ging, goss ich mir noch einen letzten doppelten Espresso in einen viel zu großen Kaffeebecher und rührte eine üppig bemessene Menge Zucker in das intensiv duftende Heißgetränk. Das war gerade noch der letzte Rest, der sich im Oberteil der original italienischen Espressomaschine befand, die ich hier in einem Schränkchen in der Küche gefunden hatte. Der Job, den die Touristeninformation Berlin für Studierende angeboten hatte, würde mir noch besser gefallen als die Idee, die ich zu dem Gespräch mit der Professorin mitnehmen wollte, von der ich mir auch eine Anstellung als studierende Hilfskraft erhoffte. Obwohl ich das Gespräch mit der Dozentin eigentlich wegen des Themas, das Nele ausgegraben hatte, und wegen meiner persönlichen Sache suchte, war mir dieser Gedanke nach dem Termin mit Herrn Rathling in der Sehwerkstatt in den Kopf gekommen. Die Zusammenarbeit mit ihm stellte ich mir genauso gut vor, wie anderen Studierenden mit Sehbehinderung im Umgang mit den tollen Hilfsmitteln zu helfen, die sie dort hatten. Zu meinen engen, hell ausgewaschenen Jeans, die über beiden Knien aufgerissen waren, hatte ich mich wegen der Kälte für meine winterfesten schwarzen Stiefel entschlossen. Dazu streifte ich mir ein schwarzes T-Shirt aus Baumwolle über und schlüpfte danach in meinen dicken Kapuzenpulli von North Face. Der war so dunkelblau, dass Nele ihn vor einigen Tagen während des Shoppens mit mir im ersten Moment sogar für Schwarz hielt. Die regendichte Jacke, die mein Farberkennungsgerät als helles Himmelblau bezeichnet hatte, war deutlich enger geschnitten als der Pulli, den ich darunter trug. Der Sensor, der meinen Pulli als Schwarzblau ansagte, konnte die Farben, die ich heute trug, offensichtlich deutlich besser differenzieren als Nele. Jetzt fehlte nur noch der füllige Schal, von dem ich wusste, dass er, als ich ihn gekauft hatte, schneeweiß strahlte. Selbst nach einigen Malen in der Waschmaschine bildete er bestimmt immer noch einen hellen Kontrast zu meiner etwas dunkleren, aber immer noch recht hellen Jacke, die perfekt zu meinen Jeans passte. Wenigstens gegen die morgendliche Kälte fühlte ich mich so gut gerüstet.

„Guten Morgen, ich habe per E-Mail einen Termin mit Frau Melzkow“, sagte ich, als ich das große Touristenbüro pünktlich betrat und auch gleich den Tresen für die Beratungen gefunden hatte. Vorher hatte ich noch fast eine Viertelstunde in der Kälte verharrt und mich darüber gefreut, wie reibungslos meine Fahrt mit den Öffentlichen geklappt hatte.
„Sie wartet schon in ihrem Büro auf dich“, sagte eine junge Frauenstimme zu mir, deren Akzent sich fränkisch anhörte. „Deine Jacke kannst du bei mir lassen, ich führe dich gleich zu ihr.“

„Danke, wenn du einfach vorausgehst, ist das voll okay. Den Rest mache ich lieber mit meinem Stock, dann finde ich den Weg zurück nämlich alleine und die Jacke nehm ich auch lieber mit“, sagte ich mit so viel Charme wie möglich und machte dazu ein megafreundliches Gesicht. Nach dem Klopfen wurde eine Tür geöffnet und gleich war er wieder da, der Elefant, der dann auf einmal den Raum beherrschte.

„Darf ich?“, sagte ich ganz lieb zu der Fränkin und schob mich, da sie noch im Türrahmen stand, sachte an ihr vorbei. „Frau Melzkow, …?“, und spitze meine Ohren, „ich bin ihr Termin …, Müller, Mara Müller.“

„Ach so ja, ich wusste natürlich nicht …“, stammelte sie und ich half ihr.

„Kein Problem, meinen E-Mails kann ja auch niemand ansehen, dass ich sie blind geschrieben habe“, sagte ich total tiefenentspannt und wartete ab, wie sie reagieren würde, nachdem sie sich wieder gefangen hatte.

„Nein, natürlich nicht“, sagte Frau Melzkow und zögerte länger, als ich mir das erhofft hatte, bis sie endlich auf mich zuschritt und ich ihr meine Hand hinstrecken konnte. Der Klang ihrer Stimme war jung, spritzig und sympathisch. Ihre Hand passte perfekt in das Bild, das ich mir gerade von ihr gemacht hatte. Sie fühlte sich echt gut an. So halt, wie die Hand einer Frau, die regelmäßig Sport treibt, gesund lebt und auf ihre Figur achtet.

„Setzen wir uns doch, Mara, und sag bitte Nicole zu mir. In der Tourismusbranche mögen wir es lieber, mit weniger Distanz zu den Menschen, und das beginnt ja mit der Sprache“, sagte sie und bot mir Kaffee aus einer Kanne an, den ich hier nicht ablehnen konnte. In diesem Moment ging es für mich um mehr als nur um den Willen, der notwendig war, um ein bisschen Ekel zu überwinden. Die widerliche Plörre roch noch grässlicher, als ich das vermutete, und ich musste mich total zusammenreißen, die winzige Menge, die ich nach einem ersten höflichen Nippen im Mund hatte, zu schlucken.

„Wie bist du denn auf die Jobs bei uns aufmerksam geworden, Mara?“, fragte Nicole mich total nett, nachdem ich unter Beweis gestellt hatte, dass ich Milch und Zucker ohne fremde Hilfe in meine Tasse bekomme und auch umrühren und trinken kann, ohne mich gleich selbst oder etwas anderes zu bekleckern.

„Im Internet steht, dass Studierende in Berlin gerne als Tourismusassistentinnen und -assistenten gesehen werden und viele Berliner das als ein der Stadt Respekt zollendes Engagement beurteilen“, sagte ich freundlich. Ich hoffte, dass ich meine Gesprächspartnerin so davon überzeugen konnte, dass ich nicht nur die Schlagworte der Anzeige gelesen, sondern zur Gesprächsvorbereitung auch sorgfältig auf relevanten Homepages recherchiert hatte.

„Ah“, sagte Nicole anerkennend. „Und für welchen Job interessierst du dich konkret bei uns?“

„Am liebsten würde ich Aufgaben mit intensivem Kundenkontakt erledigen. Seit ich klein war, bin ich schon immer gerne draußen unterwegs gewesen und ich fände es total spannend, Leuten die Stadt zu zeigen. Gerne würde ich sie sowohl für die Sehenswürdigkeiten als auch für die Geschichte der Artefakte begeistern, die unsere Stadt zu bieten hat“, schwärmte ich voller Begeisterung los.

„Du meinst jetzt aber nicht als Stadtführerin, oder?“, antwortete Nicole darauf steif.

„Doch, eigentlich wäre das genau mein Ding. Gerne auch international, ich spreche und schreibe fließend Englisch und Französisch. Mein Spanisch ist nicht so perfekt, aber auf der Tonspur auch nicht wirklich schlecht“, sagte ich selbstbewusst, ohne mich dabei mit einem Eigenlob outen zu wollen.

„Für unser Callcenter würde das noch besser passen“, entgegnete mir Nicole.

„Ja, das glaube ich gerne, aber ich war noch nie eine Stubenhockerin. Selbst während des Abis war ich viel outdoor, quasi als Ausgleich für das nervtötende, trockene Lernen am Schreibtisch“, erklärte ich ihr und zog meine Bewerbungsmappe aus der Innentasche meiner Jacke. Hier, schau mal, da steht alles. Ich hab immer viel draußen gemacht. Auf den Schein als Mobilitätstrainerin, den ich mit sechzehn Jahren bestanden habe, bin ich sogar ein bisschen stolz, weil es vor mir in ganz Deutschland keine Vollblinde mit sowas gab. Ich war wirklich die Erste.

„Mara, das mag ja alles sein, aber denk doch mal an die kulturellen Unterschiede. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass Leute aus dem nichteuropäischen Ausland sich für gutes Geld von einer Blinden durch unsere Stadt führen lassen wollen. Leute aus dem Nahen, dem Mittleren und dem Fernen Osten zum Beispiel. Glaubst du ernsthaft, dass die sich von einer Blinden etwas über Highlights unserer Stadt erklären lassen wollen, die sie selbst noch nie sehen konnte?“, sagte Nicole in vernichtender Klarheit.

„Ist die Inklusion denn nicht ein Stück unserer Kultur? Gerade für Leute, die aus Ländern kommen, in denen Familienmitglieder mit Beeinträchtigungen heute noch vor der Öffentlichkeit versteckt werden, wäre es doch am wichtigsten. Ihnen durch eine Blinde ihre Augen für die Perspektiven Betroffener zu öffnen, fände ich richtig cool“, antwortete ich ihr so freundlich wie ich konnte, mit einer Gegenfrage, die ich vorsorglich gleich mit einigen Argumenten unterfüttert hatte.

„Mara, glaub mir, dass das nicht funktionieren wird, und unsere Berufsgenossenschaft würde so etwas bestimmt auch nicht gut finden“, frustrierte Nicole mich weiter.

„Der Berufsgenossenschaft müssten wir eben beweisen, dass diese Tätigkeit auch Arbeitsplätze für Betroffene schafft, die nicht in ein Callcenter vermittelbar sind“, hielt ich dagegen, weil ich gelernt hatte, nie aufzugeben, bevor ein Pferd nicht ganz totgeritten war.

„Sobald in unserem Callcenter wieder neue Stellen geschaffen werden, könnte ich mir dich dort wirklich gut vorstellen“, sagte Nicole, stand auf und ging zu ihrem Telefon.

„Ulla, haben wir noch von den Flyern vom Blindenhilfswerk in Steglitz da? Die sitzen, wenn ich das noch richtig in Erinnerung habe, in der Rothenburgstraße …“, hörte ich Nicole sagen und stand auch auf, weil mir klar war, dass das Gespräch an dieser Stelle beendet war.

„Deine Bewerbungsunterlagen für eine zukünftige Stelle in unserem Callcenter dürfen wir doch sicher behalten“, sagte Nicole und machte Anstalten, mich zur Tür begleiten zu wollen.

„Nein, tut mir leid, aber die brauche ich heute zur Mittagszeit nochmal. Mein nächstes Bewerbungsgespräch findet um elf Uhr dreißig in Adlershof statt und ich kann ja keine zwei Stellen annehmen. Eine ist mir für den Anfang genug und ein bisschen Zeit zum Studieren brauche ich ja auch noch“, sagte ich knapp und tastete nach meiner Bewerbungsmappe, die noch an der gleichen Stelle auf dem Tisch lag, wo ich sie abgelegt hatte.

 

***

 

„Bing", meldete sich mein Handy, kurz nachdem ich in die U-Bahn eingestiegen war, und der Tag drohte sich noch schlechter weiterzuentwickeln als die elende Nacht davor. Frau Professor Grießhaupt hatte gerade den Termin mit mir absagen lassen, zu dem ich in einer Stunde mit Herrn Stelzke aufbrechen wollte. Das fehlte mir jetzt gerade noch zu meinem Pech. Verständlicherweise war die U-Bahn proppevoll, weil in dem tristen Wetter, das die Menschen depressiv machte, niemand der Bahnfahrenden Lust auf Parkwege hatte, die oben in den Parks zwischen durchgeweichten Wiesen verliefen. Vor lauter Elend hatte ich einen Platz angenommen, der für alte Menschen oder solche wie mich mit Beeinträchtigungen reserviert war, den mir ein netter Mensch mit einer sympathischen Männerstimme kurz zuvor angeboten hatte. Diese Plätze hasste ich sonst wie die Pest, weshalb ich sie normalerweise verschmähte und lieber zwischen den Normalen einen Stehplatz nahm, aber er war extra meinetwegen aufgestanden und ich hatte weder Energie noch Lust dazu, ihn zu frustrieren. Von dem so mies gelaufenen Bewerbungsgespräch war ich noch so down, dass mir alles egal war, was mir offensichtlich anzusehen war, und er mich vor mir stehend fragte, ob er mir noch irgendwie anders helfen könne. In dem Moment fiel mir der Flyer ein, den diese Ulla, die mich auf meiner Flucht vor ihrer Chefin an der Tür des Touristenbüros abgepasst hatte, recht penetrant aufdrängte, bevor sie die Tür nach draußen freigab. Statt des Jobs, den ich mir so sehr gewünscht hätte, hatte ich nur noch den blöden Zettel und mein Anschlusstermin war ja danach auch noch geplatzt.

„Ja, vielleicht schon“, sagte ich, weil ich viel zu matt und zu antriebslos war, um den Flyer mit meinem Smartphone in der überfüllten U-Bahn selbst abzuscannen und mir den Inhalt ohne fremde Hilfe vorlesen zu lassen.

„Gerne, was denn? Du siehst so traurig und niedergeschlagen aus, und da dachte ich: Ich frag' halt einfach mal. Ich heiße Nils, und Du?“, fragte der Typ, dessen Stimme nach irgendwo in Norddeutschland klang.

„Mara, heiß ich …, magst dich nicht wieder setzen?“, fragte ich, rückte ein Stückchen zur Seite und rappelte mich, weil ich keinen Bock darauf hatte, wie eine Hilflose auszusehen, wieder auf.

„Kannst mal gucken, wo das ist und ob da was von 'nem zu vergebenden Job draufsteht?“, sagte ich, gab mich tough und streckte ihm den Flyer hin.

„Klar, gib mal her …, das ist in Steglitz, in der Rothenburgstraße 15“, begann er.

„Hm, sogar ganz bei mir in der Nähe und der Job?“, hakte ich nach.

„Glaub nicht, dass das für dich passt … Das ist so ’ne Werkstatt für Blinde, die Körbe flechten und Besen binden. „Versuch's doch besser in 'nem Callcenter, die gibt's doch zuhauf hier in Berlin“, fing er an, mich zuzutexten, anstatt mir vorzulesen, was da wirklich stand.

„Oje, ich muss ja hier schon raus“, sagte ich schnell, riss ihm den Zettel aus der Hand und bahnte mir den Weg zur Tür, die schon piepste und als ich sie erreichte noch so weit offen war, dass ich gerade noch hinausschlüpfen konnte.

 

***

 

„Hallo Herr Stelzke, der Termin in Adlershof hat sich erledigt. Hatten sie heute schon Buletten?“, sprach ich auf die Sprachbox und scannte danach den Flyer:

 

 

 

 

 

 

 

PLZ

12165

Ort

Berlin

Straßen

Rothenburgstr. 15

Geschäftsname

Blindenhilfswerk Berlin e. V.

HR-Nr.

VR23456NZ

Sitz

12165, Berlin

S.I.C

Soziale Einrichtungen f. Alleinstehende u. Familien

WZ2008

Sozialdienste für Behinderte

 

Tätigkeit

Blindenwerkstatt, Herstellung von Bürstenwaren, Korb- und Flechtwaren

 

„Wenigstens hat Nils mich weder verarscht noch angelogen“, murmelte ich, während ich Espresso kochte, voller Zorn vor mich hin. Den Flyer zerknüllte ich zu einem Wutball, bevor ich ihn mit Karacho in den Abfalleimer feuerte.

Himmelfahrt - Band 3 aus der Schattenglut-Reihe

 

 

 

Himmelfahrt

 

Texte: © Copyright 2022 - 2025:

Lisa Mondschein, alle Rechte vorbehalten.

Fassung 7.1.1 Mai 2025

 

 

 

 

Ein erotischer Thriller -Transsexuell? Blind? Amputiert? - aufgeben ...? niemals ...!

 

 

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wären rein zufällig.

 

 

Gadgets

Am 4.12.2022 wurde vom "Stern" die Kolumne:

Perlen der Kreml-Propaganda

veröffentlicht.

 

"Von Invaliden zu Cyborgs"
– jetzt lässt Putin Prothesen zu "coolen Gadgets" erklären

 

 

Susi

 

„Guten Morgen, Susi! Hast Du gut geschlafen?“, sagte Anna und lobte Susi, die seit einigen Tagen schon wieder ohne ihren Blindenstock unterwegs sein konnte, für ihre Fortschritte.

„Ja, danke. Das Tagesprogramm mit dem vielen Sport, der hier immer zwischen den fachlichen Trainings stattfindet, schlaucht mich auch ohne die Sehschule schon so sehr, dass ich am Abend todmüde in mein Bett falle. Dann schlafe ich, so wie heute Nacht auch, fast immer wie ein Stein bis zum nächsten Morgen durch. Die Übungen, die ich zusätzlich für die Sehschule machen muss, sind zwar zäh, aber sie scheinen wirklich etwas zu bringen“, antwortete ich ihr gut gelaunt. Zwei Schritte weiter ließ ich mich dann auf den Hocker plumpsen, auf dem Anna zum Auftakt ihrer Termine mit mir immer zuerst eine Refraktion durchführte.

„Dein Visus ist schon wieder bei zweiundsiebzig Prozent. Wie ist es denn mit der Farbwahrnehmung? Ist sie besser geworden, oder siehst du, statt dem Weiß der Eiswüste und dem Blau des Himmels, immer noch abstrakte Kunstwerke?“, fragte Anna. Sie bedeutete mir, mich auf dem Hocker zu drehen, mein Kinn in die Mulde des Spaltlampenrahmens zu legen und meine Stirn fest gegen die beiden Lederkissen zu drücken. Anna setzte sich mir gegenüber auf der anderen Seite des Tisches auch auf einen Rollhocker und schaltete das Licht des Untersuchungsgerätes ein.

„Die Farben sind noch intensiver geworden, aber wenn ich die gelbe Brille absetzte, sieht alles noch so unnatürlich aus, als hätte ich mir gerade einen Trip geschmissen“, witzelte ich. Das Farbsehen vermisste ich draußen im Schnee kein bisschen, und mit dem Gelb der Schutzbrille konnte ich die von Tag zu Tag immer deutlicher werdenden Kontraste sogar noch besser als ohne sehen.

„Schau mal, Susi …“, sagte Anna und drehte ihren Bildschirm so zu mir hin, dass ich auch sehen konnte, welche Datei sie gerade geöffnet hatte.

„Mein Benchmarking? … Na und? Ich bin ja aus anderen Gründen als all die anderen, quasi nur als Gast hier“, sagte ich und fragte mich, was Anna mir eigentlich sagen wollte.

„Außer in Englisch schaffst du fast überall gerade mal knapp fünfzig Prozent und im Kampfsport bist du mit siebenundzwanzig Prozent sogar das Schlusslicht der ganzen Belegschaft“, sagte Anna. Dann bückte sie sich, um die Schiebetür eines Schränkchens, das sich links ihres Rollhockers befand, zu öffnen.

„Ein Auge und ein Arm reichen halt wohl nicht für mehr“, sagte ich schnippisch und verschränkte meinen linken Arm, in dem ich meine Hand unter meiner rechten Achsel mit meinem recht kurz geratenen Stummel fest an mich presste, bockig vor meiner Brust. Dann sah ich, was Anna aus dem Schränkchen zog, und mir stockte fast der Atem.

„Hey, warum denn nicht?“, fragte Anna und tat so, als ob sie mein entsetztes Gesicht, die skeptischen Runzeln auf meiner Stirn und meine ablehnend zu einem dünnen Strich zusammengepressten Lippen nicht sehen könnte.

„Das sieht doch so unnatürlich gruselig wie aus Frankensteins Labor aus und nicht wie ein ästhetischer Arm für eine Frau, die auch mal wieder hübsch herumlaufen möchte“, sagte ich angewidert. Die Armprothese, die Anna zwischen mir und dem Rahmen der Spaltlampe auf den schmalen Streifen des Tischs hingelegt hatte, sah so abstoßend wie eine Kreuzung aus Eiffelturm und Kneifzange aus.

„Langsam, Susi“, sagte sie, stand auf und stellte sich hinter mich, um mir mit ihren beiden Händen von hinten meine Hals- und Schultermuskulatur mit zartem Druck durchzukneten. Auch physiotherapeutisch hatte Anna mehr drauf, als ich von ihr als Chirurgin vorher erwartet hätte.

„Das war keine gute Idee, mich mit diesem mittelalterlichen Ding so zu erschrecken“, gurrte ich und genoss weiter die Massage, die mir schnell geholfen hatte, den Schock zu überwinden.

„Das tut mir leid, Susi, aber wenn du mir eine Minute mehr Zeit gelassen hättest, wäre es gar nicht so weit gekommen. Du wirst hier zu nichts gezwungen. Dennoch solltest du aber erst einmal so lange abwarten, bis du die Einzelheiten zu all dem kennst, was wir hier noch mehr Gutes für dich tun können“, sagte Anna freundlich, ohne mir meine Eskapade krummzunehmen. Dass die fertige Prothese noch eine individuell für mich angefertigte kosmetische Verkleidung bekommen sollte, konnte ich ja nicht ahnen, weil sie an dem Stahlgitterarm, den ich sah, auch nicht vorhanden war.

„Was heißt individuell angepasst?“, fragte ich Anna, nachdem ich mir den Roboterarm genauer angesehen hatte. Anstatt mit einer hübschen, schlanken Hand war er mit einer furchterregenden Zange ausgestattet worden, die wie eine sichelförmige Astschere mit rasiermesserscharfen Klingen wie ein Fleischwolf und nicht wie eine kosmetische Prothese für friedliebende Menschen aussah.

„Den myoelektrischen Nahkampfarm, den du gerade in der Hand hast, habe ich nur noch als Anschauungsobjekt hier. Außer für diesen Zweck ist er für mich, weil er mittlerweile technisch total überholt ist, schon vor geraumer Zeit so unbrauchbar geworden, dass er eigentlich auf den Schrott oder allenfalls noch in ein Museum gehören würde", erklärte mir Anna. Die fast schon theatralische Miene, mit der sich Anna zu den rätselhaften Worten vor mir erhob, ließ mich ihr stirnrunzelnd einen fragenden Blick zuwerfen. Das, was ich gerade sah und hörte, hatte in meinem Kopf noch mehr Fragen aufgeworfen, als dass es mir Antworten auf die Fragen, die mir vorher schon in mein Hirn geschossen waren, lieferte. Sowohl Annas auf mich irgendwie verschwörerisch wirkende Mimik als auch die ausholende Gestik, mit der sie sich bewegte, hatten dann aber plötzlich doch mehr Neugier als Abscheu für eine neue Rechte für mich in mir erweckt.

„Ein myoelektrischer …“, weiter kam ich nicht und ließ vor Schreck den Blecharm fallen, der einen Augenblick später, begleitet von schepperndem Getöse, derb auf die Steinfliesen polterte. Der Aufschlag war so heftig, dass der Motor, der vorne wie ein Geschwür über dem Scharnier, das dort statt eines richtigen Hanggelenks angeschweißt worden war, abbrach und nur noch an bunten Drähten an dem Monstrum hing. Mein Auge war vor Schreck geweitet, als ich kapierte, was Anna vorhatte. Der Schreck hatte mir meine Stimme so verschlagen, dass ich nicht einmal mehr zu einem Aufschrei fähig war, nachdem Anna damit begonnen hatte, sich die Ärmel ihres Arztmantels bis über ihre beiden Ellenbogen hinweg hochzukrempeln. Bis zu diesem Moment war es für mich unvorstellbar, dass es tatsächlich schon Prothesen gab, die amputierte Menschen sogar in die Lage versetzten, hochpräzise, feinmotorisch extrem anspruchsvolle Augenoperationen durchzuführen. Anna hatte mit ihren beiden falschen Händen beim Massieren sogar genau die richtige Mischung zwischen zärtlich und kernig anregend treffen können, das hatte ich gerade selbst an meinem eigenen Leib verspürt.

„Wie kann das sein, dass du …?“, stotterte ich herum, weil mir gerade eine total schrille Frage in meinen Kopf geschossen war. Warum …? Wie kann das sein …? Hat Anna mit ihren beiden Roboterhänden, die total ansprechend aussehen und sich unglaublich filigran bewegen, vielleicht wirklich bessere Fähigkeiten, als Menschen mit zwei normalen Armen haben?

„Sowas geht mit so einem Myelektrikarm?“, brummelte ich ungläubig und bückte mich nach der unnatürlich verkrümmt neben mir auf dem Boden liegenden Prothese, die wohl doch nicht so mittelalterlich war, wie sie auf den ersten Blick für mich ausgesehen hatte.

„Nein Susi, das heißt übrigens myoelektrisch und nicht Myelektrik. Myoelektrische Prothesen sind zwar viel besser als ganz funktionslose kosmetische Prothesen, aber die Entwicklung der Unterarme, wie ich sie trage, steckt erst noch in den Kinderschuhen. Einen moderneren myoelektrischen Arm kann ich dir aber auch, wenn du Angst vor den Tücken der Technik haben solltest, mit bestem Gewissen empfehlen.

„Ich kann mir das Ding ja nochmal genauer ansehen“, sagte ich kleinlaut zu Anna, weil ich mich inzwischen schon auch ein bisschen für mein übergriffiges Verhalten schämte. Annas Prothesen sahen so täuschend echt aus, dass ich vorher gar keine Chance hatte zu erkennen, dass sie auch eine Krüppelin war. Von daher hatte ich mir auch nichts vorzuwerfen. Dann hätte ich mich natürlich viel feinfühliger benommen und mir auch Zeit für das Mitleid genommen, das sie zum Trost verdient gehabt hätte. Die hässliche Blechprothese erinnerte mich zwar immer noch mehr an die eiserne Hand des Götz von Berlichingen als an eine prothetische Versorgung der jüngeren Vergangenheit, aber Annas Exponat hatte inzwischen auch meine Neugierde geweckt. Im Gegensatz zu ihren aktuellen Händen sah nicht nur die scharfkantige Kralle, sondern auch der hautfarben lackierte Unterarm, der schon rundum verbeult und mit vielen Kratzern und Farbabplatzungen übersät war, nicht mehr sehr vertrauenerweckend aus. Auch die dunkelbraunen Lederschäfte, die wie Schnürstiefel mit abgeschnittenen Füßen aussahen, wirkten auf den ersten Blick alles andere als modern und so ansprechend sexy, wie hohe Schnürstiefel, deren feines Leder aufregend schwarzpoliert glänzte, waren sie schon gar nicht.

„Hier, Susi, auf diese Elektroden kommt es an“, sagte Anna und deutete mit dem perfekt gestylten Fingernagel ihres rechten Zeigefingers auf drei silbrig aus dem Leder heraus funkelnde elektrische Kontakte, die wie die Köpfe von Nieten aussahen. Sie befanden sich alle drei innen drin in den Lederschäften, in denen der Armstumpf so fest eingeschnürt werden musste, dass der Kunstarm sicher genug am noch von der Amputation verschont gebliebenen Stummel befestigt war.

„Elektrische Kontakte?“, fragte ich, während ich den herunterbaumelnden Elektromotor bestaunte, der, bevor ich ihn abgebrochen hatte, offensichtlich dazu da war, die hässliche Kralle, wie auch immer, zu bewegen.

„Ja, Susi, auch nachdem dir dein Arm amputiert wurde, senden die Muskelfasern in deinem Stumpf jedes Mal, wenn der motorische Kortex in deinem Gehirn deine fehlende Hand bewegen will, immer noch fleißig elektrische Signale im Millivolt-Bereich aus. Die Elektronik in diesem Arm funktioniert wie ein kleines Transistorradio, das die elektromagnetischen Wellen eines Radiosenders ja auch so verstärken kann, dass aus den Lautsprechern wieder die Musik herauskommt, die im Studio gerade abgespielt wird. So gut wie du inzwischen schon wieder siehst, kannst du das vor dem Spiegel sogar mit bloßem Auge sehen. Jedes Mal, wenn du etwas bewegst, das nicht mehr da ist, bewegt sich die Muskulatur in deinem Stumpf ein bisschen anders. Bestimmt hast du auch schon beobachtet, dass die Stümpfe Armamputierter beim engagierten Erzählen oft mehr oder weniger so kräftig zucken, dass sogar leere Ärmel regelmäßig Wellen schlagen. Das liegt daran, dass unser Gehirn sich vehement dagegen wehrt zu akzeptieren, dass nach Amputationen etwas fehlt, das früher mal da war", erklärte mir Anna.

„Echt jetzt?“, fragte ich noch etwas ungläubig, klemmte mir den alten Blecharm, von dem auch noch einige schmale Lederriemen herabhingen, zwischen meine Beine und nestelte den Stoff meines rechten T-Shirt-Ärmels nach innen. Kurz darauf hing mein kurzer Oberarmstummel splitternackt von meiner Schulter herab und während ich mit der ollen Blechhand herumhantierte, fiel mir auch gleich auf, dass mein Stumpf tatsächlich dauernd zuckte, weil mein Hirn immer noch beide Hände nehmen wollte.

„Ausprobieren wird so aber nicht funktionieren“, hörte ich Anna mit einem kopfschüttelnden Grinsen sagen und sah sie fragend an.

„Das, was du gerade in der Hand hast, ist eine linke Unterarmprothese und das, was du bräuchtest, ist eine rechte Oberarmprothese. Außerdem müssen die Elektroden und der Schaft an jeden Menschen und dessen Stumpf individuell genau angepasst werden, anders funktioniert es nicht“, sagte Anna und kramte erneut in dem Schränkchen, aus dem sie den alten Blecharm hervorgezaubert hatte.

„Was ist das denn?“, fragte ich zwar neugierig, während ich beobachtete, was Anna alles zu einem großen Beistelltisch trug, aber Anna merkte trotzdem gleich, dass mit mir doch irgendetwas nicht stimmte. Meine Enttäuschung darüber, dass ich den myoelektrischen Arm nicht gleich selbst ausprobieren konnte, war einfach zu groß. Dennoch gab ich mir alle Mühe, ruhig und interessiert zu wirken, weil ich Anna weder bedrängen noch enttäuschen wollte. Den Beistelltisch hatte sie vorher neben eine medizinische Behandlungsliege gerückt, über deren Liegefläche aus Hygienegründen frisches Papier gespannt war.

„Du willst es doch selbst auch ausprobieren, oder?“, fragte mich Anna verschmitzt, als sie mit einer mit lauwarmem Wasser gefüllten Wanne, die sie vom Waschbecken kommend vor sich hertrug, zurückkam.

„Oh ja, voll gern sogar“, rief ich erfreut und schaute etwas ratlos auf die alte Prothese, deren Elektroden in den Manschetten an so tiefen Stellen lagen, an denen ich schon keinen Arm mehr hatte.

„Setze dich einfach hier so auf die Liege, dass für mich rechts von dir noch ein bisschen Platz zum Arbeiten bleibt. Das Abgipsen deines Stumpfes ist eine Sache von wenigen Minuten und während der Zeit, die der Gips zum hinreichenden Ablüften braucht, zeige und erkläre ich dir noch ein paar weitere Dinge über verschiedene Prothesen. Am Beispiel, oder besser gesagt aus dem Vergleich meiner ausgemusterten Blechprothese und meinen neuen Händen wirst du den Unterschied der bewährten alten Technik im Gegensatz zu der bahnbrechenden neuen Technologie sicher schnell verstehen", sagte Anna. Mein T-Shirt war schnell abgestreift und dann saß ich auch gleich mit meinem nackten Oberkörper vor Anna auf der Pritsche. Sie spreizte meine virtuelle Rechte etwas zur Seite, nahm die wabbelige Kuppe meines Stummels in ihre hohle Hand und forderte mich auf, meine amputierte Hand so fest ich konnte zu einer Faust zu ballen. Während meiner ersten Kontraktionsübungen bestrich sie mir nicht nur meinen Stummel dick mit Vaseline, sondern massierte mir das fettende Gel über die ganze rechte Seite meines Oberkörpers vom Hals bis hinunter zu meinem Bauchnabel fast zärtlich bis über mein Brustbein hinweg tief in alle Poren meiner Haut ein. Zur Aufregung kam jetzt noch ein erregendes Kribbeln hinzu, das mich sogar noch erfüllte, nachdem Anna bereits damit begonnen hatte, mich einzugipsen. Die lauwarmen Gipsbinden, die sie mir von meinem Schlüsselbein über meinen halben Busen bis zum Ansatz meines Schulterblattes nacheinander auflegte, fühlten sich auch kein bisschen unangenehm, sondern richtig schön feuchtwarm an. Nur ein bisschen Gips und Wasser sollten alles sein, was Anna brauchte, um mir nach ihrer großen Tat für mein Auge auch noch mit einer Alternative für meinen fehlenden Arm zu helfen. Das wäre wirklich zu schön, um wahr zu sein, dachte ich, während Anna mich schon wieder von dem Gipsabdruck befreite und die gewonnene Form mit breiigem, dünnflüssigem Gips ausgoss.

„So, das lassen wir jetzt mal fünfzehn Minuten so hier liegen und ich zeige dir inzwischen zuerst, wie die einfache elektrische Unterstützung in der praktischen Anwendung funktioniert“, sagte Anna, nachdem sie mich von den Gipsresten befreit und zur Hautpflege mit einer wohlriechenden Lotion eingecremt hatte, die wie ein sommerliches Parfüm duftete. Kurz darauf wurde mir, als sich Annas rechte Hand unter ihrem linken Ellenbogen um den Schaft ihrer dort so gut wie nicht erkennbaren Unterarmprothese legte, wieder total mulmig. Sie erklärte mir, dass die künstliche Haut nanobeschichtet und beheizt sei, weshalb selbst während des Kontakts mit natürlichen Gliedmaßen, beim Händeschütteln zum Beispiel, nicht gleich auffiel, dass sie Kunstglieder trug. Kurz nachdem ich ein metallisches Doppelklicken gehört hatte, rutschte Annas linker Arm von dem kurzen Stummel, der ihr unterhalb ihres Ellenbogengelenks gerade noch so verblieben war. Das, was ich dann sah, war so schrecklich, dass ich im ersten Moment sogar mein Auge zugekniffen hatte und wie aus einem Reflex heraus dazu noch kurz mit einem schnellen Ruck meinen Kopf wegdrehte.

„Keine Angst, Susi, die Titanimplantate sind nur eine Option. Auch wenn du deinen Stumpf so rund wie er jetzt ist belassen willst, spricht nichts gegen eine Versorgung mit modernen Prothesen für dich. Die Titanimplantate in meiner Elle und in meiner Speiche werden nur für die Cyborgfunktionen gebraucht, auf die ich zur Ausübung meines Berufes nicht verzichten kann“, sagte Anna und drückte mir, um mich abzulenken, etwas Labbriges in meine Hand.

„Igitt, das fühlt sich innen ja voll schleimig an“, sagte ich etwas angewidert, nachdem ich mir die Innenseite der grauen Socke angesehen und sie mir, damit ich sie auch von innen betasten konnte, zwischen meine Knie geklemmt hatte.

„Ja, aber das täuscht. Silikonliner fühlen sich innen nur feucht an, in Wahrheit sind sie ganz trocken, aber sie schützen, weil sie rutschfest auf der Haut kleben, diese sehr wirksam vor dem Wundscheuern. Das passiert mit Prothesen, die nicht an solchen Titanadaptern wie ich sie habe fixiert sind, wenn du nicht aufpasst, schneller als du denkst. In diesen Fällen muss die Haut nämlich ganz alleine alle Kräfte von der Prothese auf den Stumpf übertragen“, sagte Anna, nahm mir den Liner wieder ab und rollte ihn sich zuerst über ihren Stummel und danach über den Rest ihres linken Arms hinweg weiter den Oberarm hinauf bis unter ihre Achsel.

„Soll ich dir helfen?“, fragte ich, weil ich mir nicht vorstellen konnte, wie Anna, die sich zwischenzeitlich ihren alten Blecharm auf ihrem linken Armstumpf und um ihren Oberarm herum mit ihrer rechten Hand festgezurrt hatte, mit einer Hand ordentliche Schleifen hinbekommen wollte.

„Lass nur, das kann meine Hand viel besser als deine“, sagte Anna grinsend, und ich wollte meinem Auge nicht trauen, als ich sah, wie flink sich ihre fünf Finger überkreuzten, streckten, klemmten und krümmten und in Windeseile sowohl die Oberarmmanschette als auch der Lederschaft, in den sie sich ihren Stummel eingeschnürt hatte, so perfekt wie die Schnürstiefel von Soldaten mit zwei perfekten Schleifen verschlossen waren.

„So Susi, schau her“, sagte Anna und sogleich hob sich ihr Unterarm, begleitet von einem leisen Summen, so an, als wolle sie mich mit dieser Geste zum Armdrücken über einer Tischplatte, zu einem Spiel oder einer Wette auffordern. Nur die grässliche Zangenhand hing nutzlos herunter und der abgebrochene Motor baumelte an den Leitungen wie das Pendel einer Uhr hin und her. Dann streckte Anna ihren Kunstarm, begleitet vom Summen zweier Motoren, gerade nach vorne hinaus und ließ ihren Unterarm danach von einem dritten Motor angetrieben im Ellenbogen um sich selbst herum rotieren. Danach stand sie auf und ging wieder kurz zurück zu dem Schränkchen mit der Schiebetür, um kurz darauf bei mir mit einem Obstkorb in ihrer Rechten zurückzukommen, in dem neben ein paar Äpfeln auch ein rohes Hühnerei und eine hautfarben lackierte Blechhand lag, die genauso lädiert aussah wie ihr abgenutzter linker Arm.

„Was hast du denn mit dem Obst und dem Ei vor?“, fragte ich und sah Anna mit einem fragenden Blick an.

„Ich zeige dir jetzt gleich, wie man früher Griffübungen gemacht hat, um Anfänger im Gebrauch ihrer neuen Prothesen zu schulen“, sagte Anna und schraubte die beschädigte Zange mit ihrer Rechten einfach von dem Blecharm ab, um die andere Hand, die wie ein makabres historisches Blechspielzeug für Kinder aussah, vorne an ihren linken Arm zu schrauben. Danach demonstrierte sie mir mit dem rohen Ei, wie gut mit dem alten Ding sogar noch ein vorsichtiger Pinzettengriff mit dem Ei zwischen Daumen und Zeigefinger durchgeführt werden konnte. Einen Augenblick später legte Anna das Ei wieder zurück in den Korb und streckte mir ihre Linke quer über den Tisch, an dem wir inzwischen gegenüber Platz genommen hatten, und forderte mich auf, mit meiner Linken wie zu einer Begrüßung per Handschlag einzuschlagen. Das Blech fühlte sich kalt und unnatürlich an und die Noppen der grünen Gummis, die wie Fingerhüte über die Fingerkuppen gezogen waren, vermittelten ein noch weniger angenehmes Gefühl. Der Händedruck selbst war aber gar nicht so schlecht und ließ mich fühlen, dass Anna ihn sogar weicher oder fester werden lassen konnte. Das letzte Beispiel ihrer Demonstration, ängstigte mich dann wieder, nachdem sie den Apfel, den sie nach meiner Hand mit einem Faustgriff aus dem Korb genommen hatte, grinsend ohne jegliche erkennbare Anstrengung mit ihrer blechernen Hand, wie einen Schwamm zu Kompott zerquetschte.

„Oh Anna, dieser Arm ist ja ein richtiges Monster. Sei mir bitte nicht böse, aber das, was ich von dem Modell Frankenstein gerade gesehen habe, reicht mir zur Genüge. Wenn ich dazu keine andere Wahl hätte, würde ich lieber so bleiben, wie ich durch die Amputation geworden bin, und dazu stehen, dass diese grausame Krankheit mir halt ein Auge und einen Arm im Tausch zurück zu einem gesunden Leben geraubt hat", sagte ich etwas enttäuscht, aber betonte meine Aussage entschlossen.

„Ach Susi, hast du schon vergessen, was ich dir zu dem ollen Ding vorher gesagt hatte? Du kannst deine neue Hand genauso wie du meine Rechte siehst, sowohl als muskelelektrisch gesteuerte Prothese als auch in der moderneren Variante bekommen. Egal wofür du dich entscheidest, wird dein neuer Arm am Ende exakt auf dein Skelett und deine Proportionen angepasst nicht schlechter als eine meiner beiden Hände aussehen“, sagte Anna beruhigend und schnürte sich dabei die Manschetten wieder auf.

„Bevor du eine Entscheidung triffst, werde ich dir noch eine letzte Demonstration darüber zeigen, was heute der Stand der Technik ist, Susi“, sagte Anna, stand auf, schnappte sich das Blechmonster und verbannte es wieder in das Schränkchen mit der Schiebetür. Ihren modernen linken Unterarm in ihrer Rechten tragend, kam sie gleich wieder zurück, um sich erneut gegenüber von mir auf ihrem Stuhl niederzulassen. Zu meiner Überraschung klickte sie sich den Arm aber nicht so, wie ich das erwartet hatte, auf ihren Stumpf, sondern ließ auch ihre Rechte, begleitet von dem Doppelklicken, das ich schon kannte, neben ihren anderen Arm auf die Tischplatte plumpsen.

„Nicht erschrecken, Susi“, sagte sie grinsend und einen Augenblick später blieb mir fast mein Herz stehen, als ich sah, dass mir Anna mit der rechten Hand des Arms, der neben ihrem linken Arm vor mir auf dem Tisch lag, winkte.

„Komm, schlag nochmal ein“, sagte sie einen Augenblick später und ich traute meinem Auge nicht, als sich mir ihre linke Hand von ihrem vor mir auf dem Tisch liegenden Arm auffordernd entgegenstreckte.

„Wie machst du das?“, fragte ich und griff, weil ich trotz des Schocks, der mir in den Knochen steckte, extrem neugierig auf das war, was ich hier gerade erlebte, vorsichtig mit meiner Linken nach Annas vor mir auf dem Tisch liegenden rechten Hand. Spontan erwiderte Anna meinen Händedruck mit einem mich sympathisch stimmenden Gegendruck, der sich total angenehm anfühlte, und grinste mich wohlwollend an.

„Mit meinem Brainport kann ich das genauso wie mit meinen ursprünglich gewachsenen Gliedern machen, nur dass die Prothesen viel feinfühliger und viel stärker als meine alten Hände sind“, sagte Anna und streichelte mir dabei mit ihrem Däumchen zärtlich meinen Handrücken.

„Ein Brainport?“, fragte ich nach der Bedeutung dieses sehr technisch klingenden Begriffs, dessen praktische Anwendung mich mehr an solche makaberen Zaubertricks erinnerte, wie die in Cabarets immer mal wieder schadlos zersägte Jungfrau .

„Ja, ein Brainport ist ein Hirnimplantat, das es ermöglicht, direkt vom Kortex aus, also direkt von der Hirnrinde ohne Umwege über Stammhirn und Wirbelsäule Prothesen noch viel schneller und präziser als über das Nervensystem der Evolution anzusteuern. Du kannst dir die Übertragung so ähnlich wie bei kabellosen In-Ears vorstellen", sagte Anna, beugte sich mit ihrem Oberkörper über den Tisch und näherte sich dabei mit ihren beiden Armstümpfen den trichterförmigen Öffnungen, die an den Enden der Schäfte ihrer künstlichen Unterarme wie dunkle Höhlen klafften. Sofort nach der Aktivierung der magnetisch unterstützten Andockfunktion flutschten ihr die beiden Prothesen wieder über ihre kurzen Armstummel und saugten sich unter ihren Ellenbogen fest. Mit dem charakteristischen Doppelklicken arretierten sich Annas perfekt gestylte Hände, exakt ausgerichtet an den Titanimplantaten, die umgeben von Narben aus ihren beiden kurzen Stumpfenden herausragten, und verbargen die nötige Technik wieder unter ihrer ansprechenden Nanohaut.

„Alles perfekt, oder Susi?“, sagte Anna und streckte mir ihre beiden Hände mit den Handrücken nach oben bis dicht vor meinen Busen so entgegen, dass ich ihre Nails und die Ringe, die sie an ihren langen schlanken Fingern trug, ganz in Ruhe aus der Nähe bestaunen konnte. Mein T-Shirt lag noch immer an der Stelle, an der ich es wegen des Gipsabdrucks abgelegt hatte, und als ich meine Hand so ausstreckte, dass Anna ihre kuschelig-weichen Hände zart in meine nach oben geöffnete Handmulde legen konnte, durchzuckte mich ein wohliges Kribbeln. Diese Hände waren nicht nur so schön wie die eines Models, sondern ihre Berührungen prickelten auch in einer Weise erotisch, wie ich das vorher so noch mit keiner anderen Frau erlebt hatte. Dass sich meine Brustwarzen vor Erregung aufgestellt hatten, war mir genauso peinlich wie das aufgeregte Zucken, mit dem der Stummel an meiner rechten Schulter signalisierte, dass meine Rechte die ganze Zeit auch schon unermüdlich, aber leider erfolglos, versuchte, Annas aufregende Hände zu berühren.

„Ein Hirnimplantat? So eine Operation ist doch bestimmt sehr riskant, oder?“, fragte ich mit trockenem Mund, drehte und streckte mich, bis ich mein T-Shirt, das noch schräg hinter mir auf der Untersuchungsliege lag, erwischt hatte, und streifte es mir wieder über. Das tat ich nicht nur, um meine Peinlichkeit zu überspielen. Seit meiner Amputation fühlte ich mich viel wohler, wenn mein Stummel vom kurzen Ärmel eines T-Shirts verborgen nicht ganz so nackt wie oben ohne, nutzlos von meiner Schulter herab hing. Gleiches galt, seit ich so lange blind gewesen und mir meines unvollkommenen Körpers bewusst geworden war, nicht nur für meinen Busen, denn ich hasste es seither selbst beim Duschen und beim Baden, wenn ich fühlte, dass ich schutzlos nackt war. Die einzige Ausnahme machte ich bisher nur, wenn ich mit Mirjam, meiner Mobilitätstrainerin, heimlich Zärtlichkeiten austauschte, aber dann achteten wir besonders darauf, uns gut vor ungebetenen Blicken zu schützen.

„Aber nein, Susi. Das, was wir für das Applizieren eines Hirnimplantates machen müssen, ist im Gegensatz zu einer Amputation nur ein winziger, nahezu risikoloser Eingriff, bei dem am Gehirn selbst auch überhaupt nichts gemacht werden muss. Das Implantat ist aus einem neuen, absolut biologischen Material. Es ist eine Art Membran, die vom Körper so freundschaftlich wie die Halbinsel Krim von uns Russen annektiert wurde, angenommen und völlig problemlos wie ein eigenes Organ akzeptiert wird. Schon deshalb wird das Implantat vom Immunsystem als Freund erkannt und nicht wie ein Fremdkörper bekämpft werden. Die Energieversorgung funktioniert wie die der Zellen, und wie viel Energie unser Körper in unseren Muskelfasern beim Sport auf diese Art im Überfluss produzieren kann, weißt du ja vom Benchmarking deines Trainings. Mit diesem Kniff brauchen wir weder Drähte noch gefährliche Akkus, die sich im Körper bei Überlastung zu sehr aufheizen oder sogar wie manche Handys in Flugzeugen im Schädel platzen könnten. All das gibt es bei diesem System nicht, weil wir, so wie die Evolution auch, ausschließlich mit körperidentischen Materialien arbeiten. Hinzu kommt, dass die neuste Prothesengeneration nicht nur ein ästhetischer Gewinn für deinen Körper ist, sondern, obwohl das diesen filigranen Kreationen niemand ansehen kann, damit auch ein Vorteil für deine aktive Sicherheit mit einhergeht.

„Bei allen Vorteilen, die ich dir nie glauben würde, wenn ich nicht mit meinem eigenen Auge sehen würde, dass fast alles, was du gesagt hast, tatsächlich so stimmen muss, nehme ich dir aber nicht ab, dass das Abnehmen der Schädeldecke so risikolos sein soll, wie du mir das gerade dargestellt hast“, sagte ich stirnrunzelnd. Während ich zusah, wie Anna sich mit graziös wirkenden Pinzettengriffen zwei neue Äpfel aus der Obstschale fischte und sie auf ihren Fingerspitzen vor meinem Auge wie kleine Bälle herumjonglierte, war mir schon fast klar, was als Nächstes kommen würde. So schön und zart wie diese Hände aussahen, waren sie beileibe nicht, schoss mir ein furchtbarer Gedanke durch meinen Kopf. Dem myoelektrischen Blechmonster sah man die Tödlichkeit, die seine Erschaffer in den teuflischen Arm hinein konstruiert hatten, wenigstens gleich an, aber diese Hände, um die es jetzt ging, waren offensichtlich noch viel gefährlichere Tötungsinstrumente. Dessen war ich mir in diesem Moment sicher. Als hätte Anna meine Gedanken lesen können, lachte sie nur kurz nett auf und schnippte mir einen der zwei Äpfel mit einem ihrer Zeigefinger so über den Tisch, dass er langsam auf meine linke Hand zu kullerte, während sie schon genüsslich in den anderen hinein biss.

„Quatsch, wie kommst du denn darauf, dass man dafür die Schädeldecke abnehmen müsste? Wir sind doch nicht mehr im alten Rom, wo nach den ersten Hirnoperationen der Menschheit noch Gold- und Silberplatten zum Verschließen des Schädels eingesetzt wurden. Das Implantat kannst du dir wie einen gut gepackten Fallschirm vorstellen, der, wie eine große gefaltete Tischdecke, erst der Breite nach und dann der Länge nach entfaltet wird und sich danach sachte im Hirnwasser schwimmend auf die Hirnrinde legt“, erzählte Anna, während sie ihren knackigen Apfel verspeiste, so entspannt, als würde sie gerade über das Wetter plaudern.

„Aber das Tischtuch muss doch trotzdem da rein“, sagte ich unwirsch, weil ich immer mehr den Eindruck hatte, dass Anna mich, warum auch immer, zu etwas überreden wollte, das mir gefährlich werden konnte. Aber dann spielte sie ihren letzten Trumpf, der mich zwar noch misstrauischer, aber auch noch neugieriger machte, aus.

„Ja, aber dafür brauchen wir nur vier kleine Bohrungen, die so klein sind, dass sie nach dem Einbringen und dem anschließenden Entfalten des Implantats nicht einmal verschlossen werden müssen. Wir spannen dann gleich wieder die Kopfhaut darüber und vernähen sie wie kleine Platzwunden mit zwei oder maximal drei kleinen Stichen. Direkt nach der Operation sieht man nur noch ein paar Tage lang die vier ein Euro großen Stellen, an denen die Haare partiell wegrasiert werden müssen, und das war’s dann schon. Das Implantat überspannt übrigens nicht nur den motorischen Kortex, der sich unter der Schädeldecke ziemlich weit oben befindet, sondern es beginnt schon an den Schläfenlappen und erstreckt sich von dort über die orbitale Gyri bis nach hinten über den Okzipitallappen hinweg“, sagte Anna.

„Willst du mir damit etwa sagen, dass es hier sogar Prothesen gibt, die außer greifen auch noch hören und sehen können?“, fragte ich in einer Mischung von Erschauern und Hoffnung in meiner Stimme.

„Nein, das sicher nicht, die Prothesen haben ja kein Gehirn. Sie sollen nur die Menschen, die sie tragen, dort ertüchtigen, wo sie ihre individuellen Handicaps haben, mehr nicht“, erklärte Anna mir nachsichtig und gab mir damit zu verstehen, dass sie mich für eine mit der Situation offensichtlich etwas überforderten Patientin hielt.

„Ein myoelektrischer Arm würde mir so ein Implantat aber doch ersparen?“, sagte ich etwas vorschnell.

„Sicher! Aber wenn du dich für ein bionisches Auge entscheiden würdest, bräuchtest du dafür doch ein Implantat. In diesem Fall könntest du dann auch den besseren Arm dazunehmen, weil unsere Implantate mittlerweile so standardisiert sind, dass sie im Zweifel auch alles andere, das noch ausfallen könnte, ertüchtigen können. Das ist vor allem für unsere Soldaten wichtig, weil gerade bei den Besten oft schnell weitere Schwächen hinzukommen“, sagte Anna und schaute auf ihre Armbanduhr.

„Oje, schon so spät. Du bist jetzt sicher müde und von den vielen neuen Möglichkeiten, die ich dir gezeigt habe, ist dein Gehirn jetzt vielleicht auch mit Neuem überfuttert. Denke einfach mal in Ruhe über alles nach, und im nächsten Termin beantworte ich dir dann alle weiteren Fragen", sagte Anna, und mir war schon vor der resümierenden Zusammenfassung, die Anna mir noch mitgab, ganz schwummrig zumute. Nach dem Resümee stockte mir so der Atem, dass ich mich noch einmal kurz hinsetzen musste, weil mir von der Vision, die sie mir mitteilte, auf einmal richtig schwindelig geworden war.

Nebelclip

Mara

 

„Hallo Frau Müller, det is der Buletten-Express, den se bestellt haben, wa …", quäkte die Stimme meines treuen Taxifahrers, den ich so gerne mochte, aus dem Lautsprecher meines Phones.

„Hi, Herr Stelzke, cool, dass sie gleich gekommen sind. Bin gleich bei ihnen unten …“, sagte ich voller Freude, sprang auf, schlüpfte in die Schäfte meiner Stiefel und griff nach meinem Blindenstock, um die Treppe hinunterzueilen, wo vor der Tür schon der Diesel, dessen Tuckern ich genau kannte, geduldig vor sich hin nagelte. Den Herrn Stelzke hatte ich noch aus der U-Bahn per Sprachnachricht gefragt, wie es bei ihm gerade mit Lust auf Buletten aussähe. Als ich danach total zerbröselt in meiner Ferienwohnung ankam, fand ich im Briefkasten schon die Unterlagen des Immobilienhais, die mich zum Glück wieder auf andere Gedanken brachten. Bisher war heute einer der Tage für mich, die im Nachhinein für immer aus dem Kalender verbannt werden müssten. Da war gleich am frühen Morgen mein Gespräch mit einer Personalerin der Touristeninformation, die mich als Blinde für einen stinklangweiligen Job in ihrem Callcenter haben wollte. Dass ich den Termin dort vereinbart hatte, um, so wie viele andere Studierende das hier auch täglich taten, Touristen herumzuführen und ihnen die Stadt zu zeigen, schien ihr egal gewesen zu sein, weil sie mir das nicht zutraute. Der geplatzte Termin bei Frau Professor Grießhaupt, von der ich mir Unterstützung für das Problem erhoffte, das ich als Frau mit meinem noch männlichen Körper hatte, kam kurze Zeit später noch hinzu. Die Hoffnungen auf einen Job als studentische Hilfskraft an ihrem Institut konnte ich mir wohl gleich mit abschminken. Eine trostlose Fahrt mit einer überfüllten U-Bahn hatte mich dann vollends frustriert. Aber jetzt fluteten wieder schöne Gedanken an ein romantisches Häuschen im Grünen mein Gehirn. Im Nu spürte ich erneut aufkeimende Abenteuerlust und das Gefühl neuen Tatendrangs, der einen frischen Schub Energie in mir aufwallen ließ, und fand ohne Steltzkes Zutun auf Anhieb den Türgriff der Beifahrertür meines Lieblingstaxis.

„Sie sehen richtig hungrig aus, det war wohl 'n richtiger Notfall, wa?“, begrüßte er mich aufmunternd, nachdem ich ohne fremde Hilfe sein Taxi geentert hatte. Der nette Kerl fuhr sofort los, ohne mich mit unnötigen Worten überschwänglich dafür zu loben, dass ich mit meinen achtzehn Jahren gerade schon ganz alleine in ein Taxi eingestiegen war, das ich nicht sehen konnte. Die Bulettenbude, vor der er direkt vor dem Eingang parkte, kannte ich noch nicht und gab ihm wortlos meinen Parkausweis, der ihn dazu berechtigte, auf Touren mit mir Parkplätze zu nutzen, die für Behinderte reserviert waren. Das Essen war köstlich und die bittere Note des India Pale Ale, das die Berliner Kultbrauerei Fürst Wiacek mit besonders viel Hopfen braute, passte bestens zu dem scharfen Senf aus Bautzen, den es zu den leckeren Fleischküchlein gab, die in Schmalz knusprig ausgebacken worden waren.

„Sorry, Herr Steltzke, dass ich die Fahrt nach Adlerhof absagen musste“, sagte ich zu ihm, nachdem er mich nach dem netten gemeinsamen Snack wieder an der Ferienwohnung abgesetzt hatte, in der ich seit meiner Ankunft in Berlin zur Überbrückung, bis ich etwas Besseres gefunden hatte, temporär lebte. Nach einem Powernap, einer heißen Dusche und einem doppelten Espresso mit Unmengen Zucker drin ging es mir dann wieder richtig gut und ich hängte mich ans Telefon.

„… Wie? Bei Frau Grießhaupt ist kein neuer Termin mehr möglich?“, fragte ich den sich smart anhörenden Typen, der in ihrem Vorzimmer den Abfangjäger mimte, und beendete das Gespräch mit einem kühlen Ciao. „Volltrottel“, bellte ich mein Smartphone an, und dann kam mir, anstatt endgültig gefrustet aufzugeben, eine neue zündende Idee. In dem Vorlesungsverzeichnis, das mir Herr Rathling in Braille ausgedruckt hatte, fand ich auf Anhieb, was ich suchte, und ergriff dann sofort wieder mein Handy.

„Hi, Nele, ich bin’s“, begrüßte ich die Frau am anderen Ende der Verbindung. Sie war die Schwester eines Freundes, die ursprünglich auch aus dem gleichen Dorf stammte, in dem ich, so wie sie, in der Provinz aufgewachsen war. Erst als ich ihr in Richtung Berlin folgte, um dort so wie sie zu studieren, kreuzten sich unsere Wege vor Kurzem wieder. Nele war hier in Berlin schließlich meine erste Anlaufstelle gewesen und ist inzwischen auch eine meiner besten Freundinnen geworden.

„Okay, dann treffen wir uns vor der Vorlesung, gegen 15:30 beim AStA, dank’ dir!“, beendete ich das Telefonat, legte auf und rüstete mich für einen Spaziergang ins Grüne.

 

***

 

„Entschuldigen sie die Störung“, begrüßte ich die ältere Dame, die nach mehrmaligem Klingeln dann doch noch an der Haustüre des idyllischen Häuschens erschienen war, das ich mit Nele während eines Spaziergangs gefunden hatte. Nele hatte mir das Schild hinter dem Zaun vorgelesen, auf dem der Name Immobilien-Mayer und die Telefonnummer der Leute stand, die hier mit der Vermietung einer Wohnung beauftragt zu sein schienen. Das Gebäude stellte ich mir wie eine einsam gelegene Villa aus einem Märchen vor, in dem eine alte Fee wohnte, die mich wohlgesonnen aufnehmen wollte, und nahm mir vor, mich von meiner besten Seite zu zeigen.

„Ich spende nicht!“, hörte ich eine scharrende Stimme sagen und spürte diese Wut, die ich noch nie sonderlich gut im Griff hatte, in mir aufflammen. Die gute Fee, die ich mir wünschte, war nullkommanichts zu einer kratzbürstigen Hexe mutiert und ich musste mir ganz schnell etwas einfallen lassen, um mir hier nicht gleich alles zu vermasseln.

„Das dürfen sie bei mir auch nicht, aber zahlen müssen sie trotzdem. Mara Müller ist mein Name, ich vertrete nämlich die Finanzbehörde“, flunkerte ich.

„Finanzamt? Bei mir ist alles legal und die Steuern sind auch alle bezahlt“, war zumindest einmal eine gemäßigtere Antwort als die diskriminierende Begrüßung.

„Darf ich zu Ihnen reinkommen?“, fragte ich mit gespielter Gelassenheit und konnte mir ein Grinsen nicht unterdrücken, während ich gespannt die frischen Windgeräusche auf mich wirken ließ, die aus den Blättern der Bäume schallten. Der Park, der die alte Villa umgab, verströmte einen etwas feuchten Geruch, der prima zu dem schönen herbstlichen Tag passte und der Wärme der Sonne eine besondere Note verlieh.

 

***

 

„Danke für den Tee“, sagte ich zu der Frau, die mich dann doch zügig hereingebeten und mir einen Platz auf der Terrasse angeboten hatte, auf der sie sich schon vor meinem Besuch niedergelassen haben musste. In der Wolldecke, die sie mir gegeben hatte, spürte ich noch einen Hauch ihrer Körperwärme. Außerdem hatte ich gehört, dass sie ein Buch zur Seite legte, bevor sie die Decke, die sie mir gab, aus einem Haufen Kissen hervorgekramt hatte.

„Eine Notlüge?“ – Na, du hast vielleicht Ideen, Kindchen.

„Sorry, mir fiel halt so spontan nichts anderes ein, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen, und wenn ich sie wegen ihres Spendenspruchs gleich dumm angemacht hätte, wäre das bestimmt keine bessere Idee gewesen“, antworte ich der Dame, die sich inzwischen richtig nett anhörte, mit einem schiefen Grinsen.

„Das mit meinem dummen Spruch tut mir echt leid. So forsch, wie ich dich voller Elan zielstrebig auf mein Haus zustürmen sah, konnte ich mir nicht im Entferntesten vorstellen, dass du wirklich blind bist“, war die beste Antwort, die ich mir wünschen konnte. „Willst du auch eine?“, fragte mich die Dame schon, bevor ich das Knistern der Folie gehört hatte, mit der das Zigarettenpäckchen, nach dem sie gegriffen hatte, umhüllt war.

„Als Ersatz quasi für’ne Friedenspfeife?“, grinste ich und fand dort, wo ich das Knistern gehört hatte, die Hand mit ihren Kippen und griff zu. Ihre vom Rauchen kratzige Stimme hätte ich jünger eingeschätzt als die kalte Haut ihres Handrückens, die mir, so trocken und runzlig wie sie war, nun doch schon fortgeschrittener gealtert vorkam. Meine Gesprächspartnerin taxierte ich auf so um die achtzig Jahre alt und knüpfte an den Verlauf des Gesprächs an der Stelle an, an der sie sich von meinen zügigen Schritten irritiert gezeigt hatte. „Ja, mit dem Stock bin ich ganz gut und auch gerne alleine draußen in der Natur unterwegs“, griff ich den Faden auf und fügte gleich hinzu, dass Gartenarbeit mir bestimmt auch gut von der Hand gehen würde. Zudem käme ja noch hinzu, dass das Werkeln in der frischen Luft eine gute Möglichkeit sei, um nach einem anstrengenden Tag an der Uni den Kopf wieder freizubekommen.

„Wie kommst du denn jetzt auf Gartenarbeit?“, fragte die Alte und wunderte sich entweder über meinen abrupten Themenwechsel oder darüber, dass ich vielleicht mal wieder, ohne den Gesprächsverlauf geduldig zu entwickeln, mit der Tür ins Haus gefallen war.

„Der Mayer hat mir das auch schon versucht auszureden. Genauso wie die Idee, hier einzuziehen. Nur abgezockt hat er mich dafür trotzdem schon sofort“, antworte ich ehrlich verschnupft und gab mich dazu weniger euphorisch und dafür an dieser Stelle jetzt frustriert und enttäuscht.

„Oje, der schon wieder! Den Kerl hasse ich mehr als der Teufel das Weihwasser. Erst war er zuckersüß, und seit er den Auftrag, mir bei der Mietersuche behilflich zu sein, in der Tasche hat, nervt er mich von Woche zu Woche immer mehr. Mit immer fieseren Tricks kommt er hier dauernd unangemeldet an, um mir neue Vorschläge zum Umziehen in ein betreutes Wohnen zu unterbreiten, um die ich ihn nie gebeten habe. „Hinzu kommt, dass er mir seit Neuestem mein Häuschen am liebsten unter meinem Hintern wegverkaufen würde“, sprudelte die Frau erregt.

„Die Courtage hat der fiese Beutelschneider schon gleich nach dem ersten Gespräch in bar von mir abkassiert. Quasi als Vorschuss, bevor er dazu bereit war, mir einen Termin für eine Wohnungsbesichtigung zu geben“, berichtete ich ihr.

„Wenn du möchtest, gehe ich gleich nach unserem Tee mit dir hoch“, antwortete die Vermieterin, der ich vor Freude am liebsten um den Hals gefallen wäre.

  

***

  

„Meine Tasse ist leer und die Kanne auch“, sagte die Vermieterin und stand auf, um mir die Wohnung zu zeigen.

„Ich hab auch leer“, entgegnete ich und war ganz hippelig vor lauter Neugier.

„Mara, eine Frage hätte ich noch, bevor wir hochgehen… Wenn ich dich das überhaupt so fragen darf…“, sagte sie dann, und mir war sofort klar, was sie fragen wollte.

„Ich bin total blind, also wirklich stockblind, falls es das ist, wonach sie mich fragen wollen. Sehen geht bei mir gar nicht, aber das ist kein großes Problem für mich. Damit komme besser klar, als sich das Sehende vorstellen können, und auch die Besichtigung der Wohnung wird bestimmt gut klappen“, antworte ich ihr ganz offen.

„Oh, das tut mir leid, ich wollte auch nicht indiskret sein“, war die Antwort, und ich spürte, dass sie mir dabei scheu in meine Augen sah.

„Meine Augen sind halt nur noch Glasprothesen, aber ich kann alles, was mir wichtig ist, auch so gut wahrnehmen – nur anders halt als Sehende“, ergänzte ich, weil ich spürte, dass sie mit meiner Blindheit etwas überfordert und deshalb unsicher war. Für Sehende, die ich mochte, waren solche Erklärungen die schnellste und beste Methode, um Berührungsängste abzubauen. Dann stand ich auch auf und griff nach meinem Stock, den ich zusammengefaltet neben mich auf den Sessel des Terrassenmöbels gelegt hatte, das aus Rattan war.

„Wenn es ihnen nicht unangenehm ist, würde ich mich gerne an ihrem Arm bis zur Wohnungsabschlusstür durch das Treppenhaus führen lassen und die Wohnung dann von dort aus alleine mit meinem Stock erkunden. Könnten wir vielleicht durch den Garten zur Eingangstüre gehen? Wenn wir dort starten, könnte ich mir gleich den Weg von der Haustüre bis zur Abschlusstür der Wohnung einprägen“, sagte ich und streckte meine Hand unaufdringlich in Richtung ihres Ellenbogens aus.

„Na dann mal los, Kindchen“, sagte sie, und der Körperkontakt mit dem, uns meine Hand durch den Ärmel der dicken Strickjacke, die sie trug, verband, fegte letzte Reste von Vorbehalten wie von einem Windstoß weggeblasen davon. Der Hausflur roch intensiv nach Bohnerwachs und das Holz der alten Treppe knarrte auf jeder Stufe, die wir weiter hinaufstiegen. Das schwere Klirren von Schlüsseln, die zu einem Schlüsselbund zusammengefügt waren, sagte mir, dass es hier noch keine modernen Sicherheitsschlösser gab. Das Holz der Abschlusstüre passte zu dem alten Türschloss und fühlte sich etwas roher an, als ich das von den Oberflächen moderner Kunststofftüren kannte. Die Luft in der Diele der Wohnung roch im Gegensatz zu dem gut gelüfteten Treppenhaus, in dem sich zu dem Geruch der Bodenpflege frische Herbstluft hinzugemischt hatte, muffig und abgestanden. Durch den Stoff meiner Jeans hindurch spürte ich rechts von mir die Wärme von Sonnenstrahlen, die mir zeigten, wo sich in dem Wohnzimmer, das wir gerade betreten hatten, ein Fenster befinden musste.

„Darf ich?“, fragte ich, nahm die Hand vom Stoff der Strickjacke, ließ meinen Stock sich auffalten und bewegte mich ohne fremde Hilfe, konzentriert mit dem Stock vor mir hin- und herwischend, auf das Fenster zu, das nach Südosten ausgerichtet sein musste. Bevor ich es erreichte, um es zu öffnen, musste ich noch einige Balken des Dachstuhls umrunden, die vom Boden bis zur Decke reichten. Der Fenstergriff fühlte sich so alt an wie einer, den ich vor längerer Zeit bei einem Besuch in einem Freilichtmuseum mal in der Hand hatte. Die Beschläge quietschten und schrien gierig nach ein paar Öltropfen, und auch als das Fenster nach innen kippte, ging diese Bewegung nicht ohne knarzende Begleitgeräusche vonstatten. Das Schließen des Fensters erforderte etwas Kraftaufwand und das Umlegen des Hebels, der sich rechts unten über abgeblätterter Ölfarbe befand, war noch schwergängiger. Das alles störte mich aber überhaupt nicht. Ganz das Gegenteil war der Fall, weil ich mir die Wohnung mit Beibehaltung der authentischen Patina sorgfältig renoviert, einzigartig romantisch vorstellte. Nachdem ich es geschafft hatte, die beiden maroden Fensterflügel nach innen aufzuziehen, drang ein Schwall frischer Herbstluft herein, der die Wohnung schon in viel besserem Licht erscheinen ließ.

„Wie machst du das nur, Kindchen?“, hörte ich die alte Dame staunen, die noch immer in dem Türrahmen stand, der den Durchgang von der Diele in das Wohnzimmer ermöglichte.

„Mit bisschen Übung ist das kein Ding“, gab ich ihr, erfüllt von Begeisterung und Neugier, zur Antwort. „Wenn's recht ist, würde ich mir dann jetzt gern Küche und Bad ansehen und die Tour einfach so nehmen, wie sie sich ergibt“, und fuhr damit fort, die Wohnung der Außenwand entlang weiter Zimmer für Zimmer zu erforschen. Das Bad fand ich rechts von der Tür zum Wohnzimmer, nach Nordost weisend, und stellte fest, dass es sich dabei um einen schmucklosen Anbau mit spartanischer Ausstattung handeln musste, der Raum jedoch erfreulich groß war. Es gab noch ein weiteres Zimmer, das vom Flur aus gegenüber der Tür zum Wohnzimmer Richtung Nordwesten ausgerichtet war. Der Boden des Raumes, der sich sowohl zur Nutzung als Gästezimmer als auch als Arbeitszimmer anbot, war mit den gleichen rustikalen Holzbrettern wie die restlichen Räume der Wohnung belegt. An der Abschlusstür vorbei stieß ich gegenüberliegend von der Tür zum Bad in südwestlicher Richtung auf die Tür zur Küche, die nicht nur klein war, sondern sich auch so vergammelt anfühlte, wie sie roch. Die Tür zum Schlafzimmer befand sich von der Diele aus im rechten Winkel zu der Tür, die in die Küche führte, an derselben Wand, durch die es auch in das Wohnzimmer ging, also wieder in südöstlicher Richtung. Mit meinem Stock fand ich in dem Raum ein altes Ehebett und einen Kleiderschrank, der vielleicht nach einer gründlichen Restaurierung sogar als Antiquität durchgehen würde.

„Die Wohnung gefällt mir, sie ist schön groß“, sagte ich und klinkte mich wieder über dem Ellenbogen der Frau ein, die geduldig gewartet hatte, bis ich mit meiner Inspektion durch war.

„Ja schon, aber weil das Wohnzimmer so riesig und die wenigen anderen Räume recht klein sind, ist sie mit einer Grundfläche von einhundertneunzig Quadratmetern für die Vermietung an eine Familie, die eine große Wohnung braucht, weil sie mehrere Kinder hat, einerseits zu groß und andererseits doch zu klein. Rechnerisch reduziert sich die Wohnfläche wegen der vielen schiefen Wände zwar auf einhundertfünfzig Quadratmeter, aber für Kinderlose ist sie trotzdem viel zu groß, schon alleine des Putzens wegen“, antwortete die Vermieterin und fügte hinzu: „… Und in diesem Zustand wäre sie selbst dann, wenn sie kleiner wäre, eigentlich auch nicht vermietbar.“

„Das sehe ich anders. So wie sie ist, würde ich sie gerne nehmen und nicht nur renovieren, sondern auch etwas umbauen, wenn ich das dürfte“, sagte ich und hätte mir auf die Zunge beißen können, weil mir danach noch die selbstironische Bemerkung dazu herausrutschte: „Ich bin ja blind.“

„Kindchen, ich würde dir wirklich gerne helfen, aber hier anzufangen würde mehr Geld verschlingen, als ich mir mit meiner kleinen Rente leisten kann“, sagte sie, ohne auf meine schnippische Bemerkung weiter einzugehen, und fügte hinzu, dass der Hausverkauf in Verbindung mit einem Umzug in das betreute Wohnen bei Licht betrachtet wohl doch ihre einzige langfristige Alternative sein könnte.

„Ach kommen sie, schließlich wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird, und was die Alternativen betrifft, hab' ich da ganz andere Ideen im Kopf als sie.“ Während ich das sagte, gab ich ihren Oberarm dann doch schnell wieder frei und rüstete mich neu mit meinem Stock. „Darf ich sie jetzt erstmal zu ihrer Terrasse zurückbringen, werte Dame?“, und marschierte sie untergehakt los zur Treppe. Die dreizehn Stufen, die ich gezählt hatte, klappten so perfekt wie der Linksbogen, den die Treppe nach der siebten Stufe von oben machte, und nachdem wir diesem gefolgt waren, traten wir kurz darauf wieder in das wärmende Licht der Herbstsonne, das wie Balsam für nachdenkliche Gemüter und gut gegen Sorgen war.

„Hätten sie noch Lust auf einen Plausch bei einer neuen Kanne Tee mit mir?“, fragte ich sie, nachdem wir das Terrassenmöbel wieder erreicht hatten.

  

***

  

„Danke Lissi“, sagte ich zu Luise, die mir während des Plausches nicht nur das ‚Du‘ angeboten, sondern mir auch ihren Kosenamen verraten hatte. „Danke, dass ich die Wohnung von dir bekommen und demnächst hier einziehen darf. Besonderen Dank will ich dir für dein Vertrauen in mich sagen und für die Chancen, die du mir damit eröffnest, hier ein selbstbestimmtes und freies Leben als unabhängige Volljährige beginnen zu dürfen. Auch dass ich mich in deinem Auftrag um die Ausfertigung meines Mietvertrages und vielleicht auch mehr mit dir kümmern darf, ist nicht selbstverständlich. Diesen Aspekt werte ich als bemerkenswerten Vertrauensvorschuss deinerseits, für den ich dir auch noch danken will“, sagte ich überglücklich und verlor dann noch ein paar letzte Sätze über den gierigen Mayer, der Luise so sehr bedrängte, dass sie sich zunehmend vor ihm ängstigte. „Bitte Lissi, mach dir wegen des Mayers keine Sorgen mehr, mit dem lassen wir uns auf keine dummen Spielchen mehr ein. Solchen Typen ihren Schneid abzukaufen und ihnen den Spiegel vorzuhalten, das ist eine besondere Stärke von mir.“

„Daran, dass du den unverschämten Mayer mit deinem taffen Auftreten und mit der Energie, die dich, wenn du ein Ziel verfolgst, antreibt, in den Griff bekommst, hab ich keine Zweifel mehr, Mara“, bemerkte Lissi, der offensichtlich ein letzter ganz anderer Aspekt neue Sorgen bereitete. „Aber wie du das, was du mir da eben alles so schön entwickelt hast, als Studierende finanziell allein stemmen willst, das kann ich mir nicht im Entferntesten vorstellen.“

„Darüber wollte ich eigentlich nicht reden und ich behalte diesen Aspekt auch gegenüber meinen besten Freundinnen und Freunden, solange es geht, für mich“, stakste ich herum, weil ich auch Lissi nichts von einem mysteriösen Stipendium erzählen wollte, dessen Geld mir Monat für Monat auf mein Konto sprudelte.

„Oje Mara, nein! Du musst mir nichts erzählen, was du nicht willst. Jeder Mensch sollte sich seine Geheimnisse bewahren dürfen“, bremste die alte Dame mich, während ich darüber nachdachte, wie ich ihr das so erklären könnte, dass sie hinter mir keine krummen Dinger vermuten würde, die sie beunruhigen könnten.

„Danke, Lissy, aber wir könnten es so machen, dass ich dir die Papiere meiner Bank für die Finanzierung zeige, sobald sie steht. Die brauchen wir dann eh für den Termin bei einem Notar, und dann ist auch der Mayer dran …“, schlug ich dankbar vor und ließ mir dazu von meinem Smartphone die Uhrzeit ansagen.

„Auweia, Nele wartet gleich auf mich in der Uni …“, rief ich erschrocken und tastete etwas hektisch nach meinen Sachen, die ich auf den Rattangartenmöbeln abgelegt hatte, und nach dem Rucksack, der neben meinem Stuhl auf dem Terrassenboden stand.

„Lass dich nicht aufhalten, Kindchen. Schön, dass du hier warst, und ich freue mich sehr auf deinen nächsten Besuch“, sagte die liebenswerte ältere Dame, während sie mich zum Abschied herzlich umarmte und wir uns ganz doll drückten.

 

 ***

  

„Wo bleibst du denn? Ich hatte mir schon Sorgen gemacht“, empfing mich Nele, die sich vor dem AStA-Büro schon die Beine in den Bauch gestanden hatte, bis sie mich endlich völlig abgehetzt dabei erblickte, wie ich um die Ecke in den Gang stürmte, in dem sie auf mich gewartet hatte.

„Sorry, Nele, im Gebäude ohne Navi und dann noch ohne Netz, da klappt das halt manchmal nicht so, wie ich mir das wünschen würde. Bist mir hoffentlich nicht böse wegen des Wartens und so …“, sagte ich, und unsere Umarmung zur Begrüßung war eine bessere Antwort als weitere Worte.

„Hast du den Job?“, fragte Nele neugierig.

„Nein, den nicht, aber die Wohnung“, platzte die Neuigkeit vor Freude geradezu aus mir heraus.

„Nein, ich fasse es nicht … Etwa die in dem coolen Haus im Grünen, am Schlachtensee?“, rief Nele und warf sich mir vor Freude noch einmal an meinen Hals.

„Ja, genau die. Die alte Dame, die dort im Erdgeschoss wohnt, heißt Lissi, sie ist die Eigentümerin, und wir sind nach dem Rauchen einer spontanen Friedenspfeife schon nach kurzer Zeit ein Herz und eine Seele geworden.“

„Friedenspfeife? Sag bloß, du warst gleich pampig zu ihr?“, fragte Nele, die mich immer besser einschätzen konnte.

„Nee, sie war pampig, diesmal war es wirklich nicht ich!“, antwortete ich meiner Freundin mit unverhohlenem Vergnügen. „Als sie an die Tür kam und mich sah, dachte sie, ich mache auf blind, um sie anzubetteln. Deshalb kam sie dann halt erstmal ein bisschen schrullig rüber.“

„Auweia! … Das hat dann, so wie ich dich kenne, bestimmt gleich ordentlich geknallt“, erwiderte Nele und ich hörte, wie sie sich vor Schreck eine Hand über ihren Mund legte.

„Echt supi, wie du so über mich denkst“, grinste ich mit einem gekünstelten Schmollen. „Ob du es mir jetzt abnimmst oder nicht …? Ich hab’s einfach mal mit Humor probiert und das hat so perfekt geklappt, dass ich jetzt die Wohnung habe, von der ich träumte.“

„Ich freu’ mich so für dich! … und jetzt zur Grießhaupt in die Vorlesung, oder?“, sagte Nele und ich griff, ohne meinen Stock zusammenzuklappen, nach ihrem Ellenbogen und folgte ihr, auf den Weg konzentriert, durch die Gänge der Uni.

  

***

  

„Typisch Grießhaupt, das passt ja wieder voll zu dem zweifelhaften Ruf dieser Frau, vor dem ich dich schon vorher gewarnt habe“, sagte Nele, als wir an der Tür zu dem Hörsaal ankamen, in dem die Vorlesung, zu der ich wollte, schon zwanzig Minuten begonnen hatte, bevor wir dort verspätet eintrafen.

„Hört sich ja nach einer wilden Orgie an“, kommentierte ich das Geschehen, das sich hinter der noch verschlossenen Türe abspielte, tastete nach dem Türgriff, den ich gleich danach gefunden hatte, und schob mich durch den Türspalt. Nachdem der Schnapper wieder leise in der Türfalle geklickt hatte, stand Nele neben mir in dem Raum und raunte mir etwas ins Ohr.

„…, die lässt hier doch tatsächlich einen Porno aus dem Internet laufen, und zwar einen, der es in sich hat und der bestimmt nicht jugendfrei eingestuft ist“, hörte ich sie sagen und spürte, dass sie sich absolut nicht wohl in ihrer Haut fühlte.

„Siehst du irgendwo am Rand einen freien Sitzplatz?“, raunte ich mürrisch zurück, weil es mich ankotzte, dass ich in dem mir unbekannten Raum schon wieder auf fremde Hilfe angewiesen war.

„Rechts vorne sind noch einige Klappstühle frei“, flüsterte Nele, nach deren Arm ich widerwillig gegriffen hatte, weil ich mich hier, ob ich das wollte oder auch nicht, von ihr führen lassen musste.

„Danke, Nele, einer reicht mir, du musst ja nicht bleiben; … Raus, find’ ich alleine.“

„Wie du meinst!“, brummte sie säuerlich und führte mich ein paar breite Stufen hinab, die sich mit meinem Stock wie Eselsstufen in einer mediterranen Altstadt anfühlten, aber mit einem struppigen Teppichboden belegt waren. Das Gestöhne aus den Lautsprechern wurde mit jedem Meter, den wir weiter nach vorne kamen, lauter und Nele musste fast schreien, nachdem wir die erste Reihe mit den freien Sitzgelegenheiten erreicht hatten, um mir eine weitere Frage zu beantworten.

„Sind das Latinas? Das hört sich nämlich sehr nach Portugiesisch an“, fragte ich sie deutlich umgänglicher, nachdem mir klar geworden war, dass ich sie mal wieder blöd angepflaumt hatte, anstatt ihr meine, für ihre Hilfe angebrachte Dankbarkeit durch respektvolle Höflichkeit zu zeigen.

„Glaub schon, aber das ist nicht alles“, sagte Nele und schob mich einen Sitz weiter, um sich danach neben mich zu setzen.

„Danke, dass du noch ein bisschen bleibst, war gerade nicht so gemeint. Aber jetzt sag halt, was noch ist!“, antwortete ich ihr neugierig, während ich meine Ohren spitzte, um dem ekstatischen Treiben so gut es ging folgen zu können.

„Da sind nur Frauen, aber alle mit Schwänzen, und sie poppen einander, was das Zeug hält“, sagte mir Nele mit einer sachlichen Note, die sich ein bisschen angewidert anhörte.

„Ah, Shemales, ok“, bemerkte ich zu einem besonders laut anschwellenden Japsen und den dazu pressend ausgestoßenen Atemzügen, die sich so anhörten, als ob auf der Leinwand gerade welche von den Darstellerinnen ejakulierten. „Du Nele, ich hab das nicht böse gemeint vorhin – echt nicht! Und ohne fremde Hilfe hätte ich es auch nicht zu dem Stuhl hierher geschafft, aber jetzt komm’ ich hier wirklich alleine klar und ich spüre auch genau, dass dich hier gerade einiges aufbockt“, sagte ich und schob ihr meine Hand unter ihren Po, um ihr zu bedeuten, dass es besser wäre, wenn sie sich jetzt verdrücken würde.

„Okay, Mara, nach der Vorlesung im La Martina in der Dörpfeldstraße, das ist hier ganz in der Nähe, Hausnummer vierundzwanzig. Lass dir gerne Zeit, ich hab ein Skript dabei, das ich noch durcharbeiten will, und du musst mir dann auch unbedingt noch mehr von dem Häuschen im Grünen erzählen“, sagte Nele, die mir meine Pampigkeit mal wieder verziehen hatte, ohne nachtragend zu sein.

„Prima, danke für deine Geduld und für dein Verständnis, du bist ’ne echt coole Freundin. Sobald mein Handy draußen wieder gutes Netz hat, find’ ich dich schneller wieder, als dir das vielleicht lieb ist“, sagte ich noch schnell, bevor sie nach einem leichten Knuffen meines Ellenbogens zwischen ihre Rippen aufstand und verschwand.

„Die Diskussion über das, was sie gerade gesehen haben, ist hiermit eröffnet“, sagte die Professorin und wandte sich noch kurz an Mara, vor der ihr Rednerpult auf der rechten Seite des Hörsaals stand: „Hier vorne begrüße ich die Studierende, die sich etwas verspätet hier eingefunden hat. Wie hier drin sicher niemandem entgangen sein dürfte, wird sie das Geschehen auf der Projektionsfläche mit einer anderen Wahrnehmung als wir wahrgenommen haben. In ihren Redebeiträgen würde ich heute deshalb gerne besonders sorgfältig ausformulierte beschreibende Details zu den visuellen Aspekten hören, auf die sie Bezug nehmen."

  

***

  

„Für uns als angehende Therapeuten war das ein ergreifendes Beispiel dafür, auf welchen Fakten die Traumatisierung Jugendlicher basieren kann“, sagte eine männliche Stimme, die sich recht weichgespült anhörte.

„Als ob die Welt besser würde, wenn Internetportale alle durch den Staat zensiert und reglementiert werden könnten“, rief ein Anderer dazwischen.

„Quatsch, hier geht es doch auch nur um die Anzahl der ‚Klicks‘ und um die Werbung, die den Konsum steuert“, sagte die erste Frauenstimme.

„Und um die Dicken in der Hose der Kommilitonen hier im Raum, die auf akademischen Diskurs machen, während sie damit befasst sind, das Lechzen nach schweißnasser Schokoladenhaut, gegen die Triebe, die in ihrem Inneren toben, niederzuringen“, äußerte die nächste Frau sich kämpferisch. „Den Betreibern geht es doch in erster Linie um den Fetisch der zahlreichen Testos, die auf sowas stehen, und weniger darum, ob solche Bilder Jugendliche traumatisieren könnten?“

„Eine gute Frage, Lea“, schaltete sich die Professorin kurz ein und fokussierte: „Es geht um die Resilienz von Jugendlichen während deren Pubertät und darum, dass wir verstehen lernen, welche Bilder bei ihnen Traumata auslösen können und warum das so stattfindet. Bevor diese und die Anschlussfragen dazu nicht so diskutiert sind, dass sie alle Antworten dazu in ihren persönlichen wissenschaftlichen Kontext eingeordnet und dort sinnvoll abgespeichert haben, können sie Betroffenen nicht qualifiziert helfen.“

„Onanie ist in der Zeit, in der Jugendliche damit anfangen, ihren Körper zu entdecken, so normal wie die Heftchen, die sich die Generation unserer Eltern oft unter der Hand dafür beschafft hat. In der Generation unserer Großeltern und den Generationen davor waren es die Bücher und Lexika, die auf dem Index standen. Schon entwicklungspsychologisch liegt diese Neugier über die Zusammenhänge von Sex und Spaß sowie die der damit zusammenhängenden Neigungen und Haltungen in unserer aller Natur. Dabei scheint es mir egal zu sein, ob das Material in Form von bewegten Bildern oder als aufklärendes bis hin zu rein pornografischem Schriftgut zugänglich ist. Schon lange bevor es das Internet gab, bestand ein natürliches Interesse an solchen Materialien. Das liegt in der Natur von uns Menschen“, führte eine Frauenstimme aus, die auf eine gefestigte Haltung der Sprecherin schließen ließ. „Die Ursachen für die Traumata, die uns in unseren Praxen erwarten, sind meiner Meinung nach mehr auf moralisch motivierte Stigmatisierungen und auf strafrechtlich relevante Übergriffe zurückzuführen.“

„Darf ich, …?“, fragte ich und stand auf. An die Seitenwand des Hörsaals gedrückt, an die ich mich mit meinem Rücken angelehnt hatte, stellte ich meinen weißen Langstock vor mir auf den Boden und legte meine beiden Hände über der Gelenkschlaufe übereinander auf den Griff, der aus Kork war. So konnte ich sowohl gut ins Plenum sprechen als auch gleichzeitig die Leiterin der Diskussion prima mit meinen Worten erreichen. „Ich bin übrigens Mara. So könnt ihr mich nun gerne auch beim Namen nennen und braucht nicht mit der Zuspätkommerin oder der Blinden zu improvisieren“, sagte ich einerseits als knappe Vorstellung, wie sich das gehörte, aber auch um die Vorstellung der Professorin zu kommentieren, die ohne eine meinerseitige Richtigstellung auch als Vorführung oder Diskriminierung interpretierbar gewesen wäre. „Was ich wichtig am Beitrag meiner Vorrednerin finde, ist, dass wir hier außer den viel diskutierten pornografischen Bildern und Videos auch andere gängige Formate in die Diskussion mit einbeziehen. Schriften und andere Darstellungen, für die es genauso wie für Bilder noch mehr gültige Gesetze als den Jugendschutz gibt. Insbesondere für Menschen mit Beeinträchtigungen müssen ja auch kritisch bewertete Materialien genauso gut wie für Uneingeschränkte ungekürzt zur Verfügung stehen. Damit meine ich nicht nur barrierefreie Bilder und Audiodeskriptionen, die uns Blinden ungefilterten Zugang zu Materialien mit großen Anteilen visueller Informationen wie zum Beispiel über den Pornoclip, den wir hier gerade gesehen haben, geben. Sondern ich denke in diesem Zusammenhang auch an die visuelle Welt, die für Menschen mit Hörbeeinträchtigung als Tor in die Welt so gebraucht wird, wie wir Blinde die Braille-Punktschrift für das Lesen von Texten brauchen. Die eigentliche Frage ist doch, ob weniger Restriktionen von Bildern, Tönen und Texten der Entwicklung von Jugendlichen eher schaden oder vielleicht sogar mehr bei ihrer Entwicklung helfen könnten?" Gleich nachdem ich fertig gesprochen hatte, setzte ich mich in einer Art halbem Schneidersitz auf der hölzernen Sitzfläche der Bestuhlung, etwas zur Seite eingedreht, auf den Knöchel meines rechten Fußes. So gewann ich etwas Höhe und konnte sowohl die Geräusche, die aus dem Plenum zu mir drangen, als auch die Akustik, die von Frau Grießhaupt kam, räumlich optimal lokalisieren.

„Hi Mara, ich bin Marten“, hörte ich von links über mir eine sympathische Stimme, die irgendwie nach einem ausgewogenen Menschen und gutem Zuhörer klang, der sich in der Nähe der Tür niedergelassen haben musste, durch die ich den Raum betreten hatte. „Klar, das ist schon alles so richtig, wie du das sagst, nur trifft es nicht auf das zu, worüber wir hier gerade reden. Aber das war ja nicht zu hören und sehen konntest du es ja auch nicht. Für normale Pornos mag das ja alles gelt …“

„Moment mal, Marten!“, ging ich dazwischen, ohne ihn ausreden zu lassen. „Dann sag’s mir halt, dass ich auch vernünftig mitdiskutieren kann. Dass da Latinas gepoppt haben, konnte ich aus dem portugiesischen Slang heraushören, und dazu hat mir noch jemand gesteckt, dass sie alle Schwanzmädchen sind. Also habt ihr ihnen beim Analverkehr zugesehen, und wie sie gekommen sind, konnte ich auch ohne ein überfürsorgliches Soufflieren prima selbst hören. Was meinst du denn, was mir da noch wo Wichtiges entgangen sein könnte, dass ich mir nicht auch ohne deine Hilfe eine richtige Meinung zu dem bilden könnte, über das wir hier gerade reden?“, und schnappte nach Luft.

„Erfreulich, dass die besonders sorgfältig ausformulierten beschreibenden Details zu den visuellen Aspekten langsam in Schwung kommen, und das bemerkenswerterweise von ihrer sehbehinderten Kommilitonin selbst“, bemerkte die Professorin mit einem schrägen Unterton und kurz erhobenem Haupt, das sie dann gleich wieder senkte und nach ihrem kurzen Redebeitrag wie vorher in den Unterlagen herumkritzelte, die sie vor sich liegen hatte.

„Sorry Mara, das sollte nicht diskriminierend rüberkommen und war auch keinesfalls so gemeint von mir. Hoffentlich nimmst du meine Entschuldigung für den Fehler an, den ich gerade gemacht habe. Das Missverständnis, das ich ausgelöst habe, ist mir nur deshalb passiert, weil ich das, was Frau Dr. Grießhaupt vorhin meinte, erst eben richtig verstanden habe“, antwortete Marten und ermöglichte mir, während er Luft holte, eine kurze Antwort.

„Kein Problem, Marten, bei sowas bin ich halt auch ein bisschen direkt und werd auch schnell pampiger als nötig, aber zum Ausgleich meines dann schnell streitbaren Egos bin ich von meinem Wesen her in fast allen Fällen alles andere als nachtragend. Was ist es denn, was du meinst, was mir von den visuellen Infos noch Wichtiges entgangen sein könnte?“, antworte ich vermittelnd und schenke ihm ein flüchtiges Lächeln.

„Es geht mir um die strafrechtliche Relevanz, die Uta mit angesprochen hatte und auf deren Beitrag du ja auch Bezug genommen hattest“, eierte der sich um Friede mit mir Bemühte weiter herum, kam aber dann doch schneller als ich ihm das einige Sekunden vorher noch zugetraut hätte, recht zügig auf den Punkt. „Dass die Darstellerinnen alle durch Eingriffe chirurgisch feminisiert worden sein mussten, konntest du ja nicht sehen, und das hätte ich dir eben zuerst beschreiben müssen, anstatt mit dem Informationsdefizit wie ein Elefant im Porzellanladen durch die ungeöffnete Tür zu platzen.“

„Verstehe, du meinst, wenn sie unfreiwillig kastriert wurden, um sie dann als Shemales zur Prostitution zu zwingen. Wenn es so wäre, was ich in diesem Fall wie vermutlich alle anderen hier im Raum auch verurteile, sähe ich das genauso wie du. Aber wie wäre es denn in dem Fall, wenn sie sich als Volljährige auf eigenen Wunsch freiwillig kastrieren ließen? Dann wäre die strafrechtliche Relevanz wohl eher ein Aspekt, der zu der Frage führt, wie tolerant ein Staat mit Diversität umgeht? Als Volljährige, so wie sie sind, sich und ihre Körper vor Kameras für Geld zu verkaufen, das sie zum Leben brauchen, hat meiner Meinung nach selbst hier in Deutschland keine strafrechtliche Relevanz. Ganz das Gegenteil wäre doch dann der Fall, wenn sie nur, weil sie anders sind, in der Öffentlichkeit zur Diskretion gezwungen werden würden. So ähnlich wie das bei dem dritten Geschlecht in Indien lange der Fall war und immer noch nicht gut ist. Dort leiden viele Betroffene zu ihrem Schicksal hinzu, selbst heute noch darunter, auf diese Weise zusätzlich diskriminiert zu werden, oder sehen das hier welche von uns anders?", fragte ich offen in die Runde.

„Also wenn es um Kastrierte geht, ist das ohne Zweifel traumatisierend für Jugendliche, besonders für Jungen. Wer das bezweifelt, sollte zuerst einmal in Sigmund Freuds Werken nachlesen, was es mit der Geisel der Kastrationsängste für Männer alles auf sich hat“, meldete sich eine Yasemin zu Wort, die mit türkischem Dialekt ein nicht nur grammatikalisch viel besseres Deutsch als die meisten Berliner sprach. „Mara, dir wollte ich noch zurufen, dass wir Frauen uns das vielleicht gar nicht richtig vorstellen können, was da im Kopf eines pubertierenden Jungen für Feuerwerke, begleitet von höllischen Albträumen, ausgelöst werden können, wenn sie beim Surfen im Internet unvorbereitet über solche Bilder stolpern.“

„Ja, Yasemin, das mag sich so darstellen, wie du das gerade gesagt hast. Aber nachdem Freud aus heutiger Sicht nicht mehr unumstritten gesehen wird, ist das vielleicht nur ein Aspekt, der von weiteren, die sich aus der Fortentwicklung gesellschaftlicher Moraldefinitionen ergeben, begleitet wird“, gab ich zu bedenken.

„Also mal Tacheles …“, ergriff ein Thilo das Wort. „Strafrecht hin oder her, arschfickende schwarze Eunuchen können nicht gut für Kinderaugen sein.“

„An dieser Stelle endet die heutige Vorlesung“, sagte die Professorin in einem scharfen Ton, der mehr als deutlich zum Ausdruck brachte, wie sie die Qualität des letzten Beitrags beurteilte. „Ihr persönliches Resümee zum 'Thema Trauma contra Fetisch' lassen sie mir dann, so wie wir das hier immer handhaben, über mein E-Mail-Postfach im Prüfungsamt im Format einer kleinen Studienarbeit zukommen. Vergessen sie nicht, alle Quellen, die sie nach ihren gründlichen Recherchen in ihrem Diskurs für die Beurteilung der herausgearbeiteten Aspekte heranziehen, als Link im Quellenverzeichnis ihrer Arbeit lückenlos zu dokumentieren. Auf das Lesen ihrer Abschlussstatements, insbesondere die Beantwortung der noch offenen Fragen im Hinblick auf einen wohldosierten Jugendschutz, respektvoll und passend gelebte Inklusion sowie Strategien zur Vermeidung unabsichtlicher Diskriminierung, freue ich mich besonders. „Abgabetermin ist heute in vier Wochen." Nach einer eher kühlen und kurzgefassten Verabschiedung durch die Dozentin leerte sich der Saal recht zügig. Begleitet von angeregtem und vielerorts kontroversem Murmeln verließen die Immatrikulierten den Veranstaltungsort. Als alle Studierenden den Hörsaal verlassen hatten und nur noch die Professorin und ich in dem Raum weilten, hörte ich ihre Schritte auf mich zukommen.

  

***

  

„Danke, Frau Dr. Grießhaupt“, sagte ich, nachdem sie gleich nach dem Ende der Vorlesung zu mir an meinen Platz gekommen war. „Das Angebot nehme ich gerne an. In die Dörpfeldstraße, die soll hier ganz in der Nähe sein“, und stand auf. „Darf ich …?“, fragte ich und tastete nach dem Ellenbogen der Professorin, der ich verschwieg, dass ich mit dem Weg, den ich mir eingeprägt hatte, auch alleine zurechtgekommen wäre.

„Kommen sie, Frau …?“, sagte sie und schnappte sich im Vorübergehen die Aktentasche, die noch auf dem Rednerpult lag.

„Müller, Mara Müller …“, antwortete ich und schritt an ihrer Seite die mit Teppich belegten Eselsstufen hinauf auf die Tür des Hörsaals zu.

„Sie müssen neu eingeschrieben sein“, aber ihr Name kommt mir trotzdem irgendwie bekannt vor.

„Vielleicht wegen des Termins, den ich gestern um 11:30 Uhr bei ihnen in der Sprechstunde gehabt hätte, wenn dieser nicht abgesagt worden wäre?“, fragte ich höflich.

„Ja, genau, daher kenne ich ihren Namen, genau so ist es“, sagte sie. „Da vorne geht es jetzt gleich rechts ins Treppenhaus. Geht das mit den Stufen, oder lieber zum Aufzug?“

„Nee, schon ok, lieber die Treppe, mit dem Stock ist das kein Problem“, sagte ich brav und verkniff mir hinzuzufügen, dass ich ja nicht gelähmt bin und es außer mir noch viele andere Blinde gibt, die auch zwei gesunde Beine haben.

„Dann sind sie also gar nicht immatrikuliert!“, stellte sie mit einem strengen Unterton fest.

„Noch nicht, aber ihre Vorlesung fand ich megaspannend. Als Betroffene kann ich mit dem, was da alles diskutiert wurde, vielleicht sogar noch mehr als die bereits Immatrikulierten anfangen“, erklärte ich, um den Gesprächsverlauf vorsichtig auf meine persönlichen Themen umzulenken.

„Einen Therapieplatz bei mir kann ich ihnen leider nicht anbieten, selbst die Warteliste ist schon über die nächsten Jahre hinaus voll“, sagte sie und ergänzte: „Vorsicht Tür und dann gleich noch drei Stufen hinunter auf den Fußweg.“

„Es geht mir gar nicht um einen Therapieplatz, sondern um einen Job als studierende Hilfskraft. Vielleicht in der Sehwerkstatt? … bei Herrn Rathling? … oder an ihrem Institut?“, wagte ich mich vor und hoffte, dass es doch etwas weiter bis zur Dörpfeldstraße war, als Nele das gesagt hatte.

„Nur weil sie blind sind, liebe Frau Müller, sind sie keine Betroffene im Sinne der Forschungen, die wir an meinem Institut betreiben“, erklärte sie mir mit nachsichtiger Mine, und die Autos, die ich zwischen den Gebäuden vor uns immer lauter fahren hörte, wiesen mich darauf hin, dass meine Gesprächszeit so gut wie abgelaufen war.

„Seit ich vierzehn Jahre alt bin, nehme ich Histrelin, das sind jetzt vier Jahre, und bis vor wenigen Wochen konnte ich es kaum aushalten, auf meinen achtzehnten Geburtstag zu warten. Wegen der Geschlechtsangleichung, verstehen sie? Aber dann ist vor ein paar Tagen etwas passiert, mit einem Mann. Mit einem der früh wegen Krebs kastriert werden musste und bis dahin war ich fest davon überzeugt, dass ich eine Lesbe bin, die nur in den falschen Körper hineingeboren wurde …"

„Hier ist die Dörpfeldstraße“, kam ein kurzer Zwischenruf der Frau, die mir aufmerksam zugehört hatte und die höflich stehen geblieben war.

„… der Mann war total ehrlich und offen zu mir und ich mag ihn sogar immer noch. Selbst nachdem er mir offenbart hat, dass ihn meine zwei Glasaugen sexuell stimulieren, mag ich ihn noch. Das alles ist so passiert, obwohl er seine beiden Hoden, so wie ich meine Augen auch, durch eine Krebserkrankung verloren hat“, beendete ich meine Wortsalven und fügte hinzu: „Nur um diese Zusammenhänge verstehen zu lernen, war ich heute auch in ihrer Vorlesung ‚Traumata contra Fetisch'. Als eine Betroffene, nur halt als eine, die dazu auch noch blind ist.“

„Tja, Frau Müller, dann sind sie tatsächlich auch im Sinne meines Instituts eine Betroffene. Das, was sie mir da gerade geschildert haben, ist auch wissenschaftlich gesehen ein außergewöhnlich interessanter Fall. Sagen sie mal, Frau Müller: Meinen sie, ihr Freund, also dieser Mann, würde sie zu einem gemeinsamen Termin mit mir begleiten?"

„Das will ich ihn gerne fragen. Er studiert Theologie und ist ein guter Freund, aber nicht mein Freund wie bei einem Paar. Eigentlich ist er mit einem Mann verheiratet und es war mehr so ein Knistern, in das wir da reingerutscht sind. Für Leon kam vielleicht das starre Schielen meiner künstlichen Augen als eine Art optischer Trigger hinzu, aber es fühlte sich für mich trotzdem ein bisschen wie Liebe auf den ersten Blick an“, erzählte ich der Wissenschaftlerin in der Hoffnung, dass ihre Neugier auf Leon und mich nach diesem Gespräch nicht mehr zu bremsen war.

„Kommen Sie gerne morgen um 16:00 Uhr mit ihm zu mir in mein Büro, das ist dann nach der Sprechstunde, und danach habe ich an diesem Tag dann auch keine weiteren Termine mehr. Welche Hausnummer ist das denn, da, wo sie hinwollen?“, hörte ich die freundliche Stimme meiner Begleiterin sagen und wäre ihr am liebsten vor Freude um den Hals gefallen.

„Die Vierundzwanzig, Frau Doktor. Er ist zwar ein recht offener Typ, aber wenn er nicht will, würde ich den Termin morgen gerne trotzdem, dann halt alleine mit ihnen, wahrnehmen“, äußerte ich meinen letzten Wunsch für heute und achtete darauf, den Satz als Zusammenfassung und nicht als Frage klingen zu lassen.

„Zusammen wäre besser, aber ich nehme sie auch gerne alleine in Empfang. Etwas pünktlicher vielleicht dann als heute zur Vorlesung …", sagte sie so, dass ich deutlich ihr schräges Grinsen heraushören konnte. „Wenn sie mir gleich gesagt hätten, dass sie in das La Martina wollen …, das ist genau gegenüber, nur noch über die Straße, dann sind sie schon dort.“

„Danke Frau Dr. Grießhaupt, machen sie sich bitte keine weiteren Umstände, den Rest schaffe ich mit meinem Stock locker alleine“, sagte ich winkend und machte zwei schnelle Schritte in Richtung Straße, wo die Kugel meines Stocks mir zuverlässig wie immer die Bordsteinkante rückmeldete. Nachdem ich Neles Tisch gefunden hatte, gab's nach einem knackig frischen Salat als Vorspeise eine leckere türkische Pizza und dann noch Rotwein satt bis zur Sperrstunde. Danach fuhr uns Herr Stelzke mit seinem Taxi zu mir in die Ferienwohnung, wo Nele, die meiner spontanen Einladung gefolgt war, dann das erste Mal, seit ich in Berlin war, bei mir übernachtete.

 

Noncyborgs

Susi

 

 „Wie? Ihr habt hier künstliche Augen, die so gut wie echte Augen sehen können?“, brach es aus mir heraus.
„Nein Susi, sehen können die genauso wenig wie unsere Hände auch nicht hören können, aber Menschen mit dem richtigen Implantat können damit viel besser als andere mit ihren biologischen Augen sehen. Genauso können mit dem Implantat auch alle, die das wollen, das Gras wachsen hören“, sagte Anna und beendete den Termin. Gerade an einem Tag wie heute, an dem ich über so wichtige Entscheidungen nachdenken musste, war ich Anna auch besonders dankbar dafür, dass sie mich bis nach meinem Folgetermin bei ihr am nächsten Tag aus gesundheitlichen Gründen vom Training befreit hatte. 

 

***

 

„Die größten Schwachstellen unserer bionischen Systeme sind unvorhersehbare Einflüsse, die zeitlich begrenzte Totalausfälle zur Folge haben können oder die Steuerungen unserer komplexen Hilfsmittel sogar innerhalb von Sekundenbruchteilen ganz abstürzen lassen. Gerade Faustschläge auf den Kopf, zum Beispiel, das haben unsere neusten Versuche ergeben, können solche auslösen. Noch schlimmer wären Hackerangriffe, die sich der Systeme bemächtigen könnten und mit Fehlfunktionen zur Gefahr für derart ausgestattete Soldatinnen oder für Personen in deren Umgebung werden könnten. Für die zivile Ertüchtigung und die Rehabilitation im Kampf verstümmelter Patriotinnen und Patrioten sind diese Gefahren eher vernachlässigbar, aber nicht im Kampf unserer Cyborg-Amazonen gegen die Feinde Russlands“, diktierte die übernächtigte Anna über ein Spracherkennungssystem in ihren Bericht, der heute noch an die Direktorin reportet werden musste.
„Im Kampfeinsatz sind myoelektrische, drahtverkabelte oder mit Bowdenzügen ausgestattete Prothesen deutlich weniger anfällig und auch nicht hackbar. Nur für bionische Augen haben wir leider keine solchen muskelelektrischen oder andere Alternativen. Aber kampftaugliche Kunstglieder müssen nicht zwingend mit anderen Systemen digital vernetzbar sein. Sie funktionieren auch ohne Hirnimplantate sehr zuverlässig und sind selbst im Kampfeinsatz sehr robust und äußerst effektiv. In allen Fällen, in denen Soldatinnen wegen unbrauchbarer oder fehlender Augen bereits Hirnimplantate appliziert wurden, ist die Mitnutzung für Prothesen bei entsprechendem Bedarf zwar verlockend, aber nur in Verbindung mit einer zusätzlichen myoelektrischen oder einer anderen Datenfunk unabhängigen Redundanz zu empfehlen. Das Weiterschalten, das Bündeln sowie das Einspielen fremder visueller Informationen können schwer beherrschbare Orientierungsprobleme sowie geistige Verwirrungen zur Folge haben, die in Einzelfällen sogar dauerhafte Psychosen auslösen können. Gegen die Verwendung von Soldatinnen ohne visuelle Wahrnehmung oder solche mit eingeschränkter eigener Motorik in Leitständen, an Computern oder in Denkfabriken bestehen keinerlei Bedenken. Die Auswertung der neusten Tests hat ergeben, dass eingeschränkte Personen diese Aufgaben nach entsprechenden Trainings in aller Regel sogar mit deutlich besseren Ergebnissen erledigen können. Die Nutzung eines bionischen Auges in Kombination mit einem noch oder wieder gut funktionierenden biologischen Auge wurde noch nicht erprobt. Gleiches gilt für das Übertragen von Bodycam- oder Filmsequenzen von Satelliten, aus Panzern oder von Flugzeugen an Hirnimplantierte ohne Einschränkungen. Für männliche Soldaten, die in Folge von Kampfhandlungen, Unfällen oder Krankheit derzeit noch als untauglich gelten, gibt es noch keine Daten, weil die bisherigen Erhebungen ausschließlich auf das Termitoxprojekt beschränkt erhoben wurden.“

 

***

 

In dem mysteriösen Sanatorium mitten in der eisigen Einöde war es totenstill und ich lag dort alleine in meinem Bett, in dem ich von den Anstrengungen des Tages todmüde schlief, während ich von einem Spaziergang durch den Spreewald träumte. Der Tag, von dem ich träumte, war ein wunderschöner, sonniger Sommertag und der Wald war nahezu menschenleer, weil sich gefühlt ganz Berlin zum Wannsee und zu anderen Badegewässern aufgemacht hatte, um sich beim Planschen im kühlen Nass zu vergnügen. Die andere Variante, die ich gewählt hatte, war mir viel lieber, um mir auch auf angenehme Art Erleichterung vor der Hitze zu verschaffen. Im Wald war es für meinen Geschmack zumindest mir ebenfalls kühl genug. Die Ruhe und die friedliche Einsamkeit, die mich dort umgaben, empfand ich deutlich angenehmer als das schrille Treiben am Wasser. Einsam stimmten mich die Geräusche, die ich an diesem Ort hörte, aber nicht. Da war nämlich noch das Vogelgezwitscher, das sich in der Idylle zwischen das leise Rauschen der Blätter, die sich in den sanften Böen eines lauen Lüftchens bewegten, mischte. Die Laute der Tiere vermengten sich mit dem instrumentalen Lied, das die Bäume spielten, zu einer Musik, die im leichten Wind nach unberührter Natur und Artenvielfalt klang.
„Klopf …, klopf, klopf … klopf“, trommelte ein Specht zu dem Lied der Natur seinen Takt dazu, der sich wie die Trommel eines afrikanischen Buschmanns anhörte. Dann wurde ich wach, aber das Klopfen war immer noch da. Schlaftrunken richtete ich mich auf und hörte, dass es von meiner Tür kam.
„Mirjam? Bist du das?“, flüsterte ich leise, nachdem es an meiner Tür schon zum zweiten Mal innerhalb einer Minute geklopft hatte und ich realisiert hatte, dass das Klopfen nicht von einem Specht, sondern von einem Blindenstock verursacht worden war. Meine Uhr sagte mir schon, bevor ich den Lichtschalter der Lampe, die seit kurzem behelfsmäßig neben meinem Bett platziert war, gefunden hatte, 2:33 Uhr an. Das Licht brauchte ich eigentlich nur für meine Übungen für die Sehschule, aber ich hatte mir auch schon wieder angewöhnt, es bei Nacht manchmal einfach so wieder anzuknipsen. Vor allem dann, wenn ich wie in dieser Nacht plötzlich wieder vor irgendetwas Angst bekommen hatte.
„Ja, Susi, mach schnell auf, es ist wichtig“, raunte sie mit heißerer Flüsterstimme, in der ich zum ersten Mal, seit ich Mirjam kannte, Angst wahrnahm.
„Was ist denn los?“, hauchte ich genauso leise wie sie in den dunklen Gang hinaus, während mein Türschloss leise klickte und ich sie durch einen schmalen Türspalt zu mir in mein Zimmer hineinzog.
„Du musst so schnell wie möglich weg von hier, und zwar ganz schnell, bevor sie es schaffen, dich zu implantieren. Danach wärst du nirgends auf der Welt mehr vor ihnen sicher“, sagte Mirjam, die nach dem nächtlichen Ausflug in den mysteriösen Eispalast mit der noch mysteriöseren Thermalquelle nicht nur meine Mobilitätstrainerin, sondern auch meine einzige Freundin war. Sie war die einzige Person, von der ich glaubte, ihr hier im Gegensatz zu allen anderen wirklich vertrauen zu können. Außer Pawel vielleicht noch, aber selbst da hatte ich zwischenzeitlich immer mehr Zweifel.

„Hey, Mirjam, wie kommst du denn darauf? Hast du vorhin etwa an Annas Tür gelauscht, während sie mich behandelt und mir eigenartige Dinge über irgendwelche mysteriösen Hirnimplantate erklärt hat?“, fragte ich und grübelte darüber, was sie da gerade für einen Teufel zu reiten schien, oder war es etwa Neid. Neid auf meine Fortschritte in der Sehschule. In der Sehschule, die für Mirjam und die vielen anderen blinden Frauen hier nicht so wie für mich infrage kommen konnte, weil sie durch das Termitox-Programm einen anderen Status als ich in dieser Einrichtung hatten. Neid auf meine Option, durch die neue Therapie eine einäugige Sehende zu werden. Oder ging es hier neben der Termitoxerforschung sogar auch noch um weitere menschenverachtende Versuche mit Hirnimplantaten in Verbindung mit diesen aktiven Augenprothesen, von denen mir Anna erzählt hatte. Nachdem mir all diese Gedanken durch den Kopf geschossen waren, spürte ich eine gewaltige Menge Adrenalin in meinem Blut. So verwirrt und misstrauisch gestimmt zu sein, fühlte sich für mich in diesem Moment, so jäh aus dem Tiefschlaf gerissen, noch viel schlimmer an, als mich nur ein bisschen verschlafen und meines Schlafs beraubt unmittelbar in Gefahr zu befinden.
„Nein, Susi, was denkst du denn von mir? Außerdem hätte ich es auch gar nicht nötig, an Annas Tür zu lauschen. Selbst mit meinem alten Implantat kann ich, wenn ich das will, auch durch die dicksten Wände das Gras wachsen hören“, sagte sie und grinste mich im Schein der Lampe schräg an. Der Schatten ihres Körpers tanzte auf der weißen Wand hinter ihr wie ein böser Dämon herum, während Mirji ihren Blindenstock zusammenklappte und in ihrer Tasche verstaute, bevor sie an dem kleinen Tisch mit den zwei Stühlen Platz nahm und ein winziges Döschen aus ihrer Tasche hervorzauberte.
„Was hast du denn vor?“, fragte ich völlig verdutzt, als ich sah, dass Mirjam sich total hektisch, mit ihrem Gesicht über meiner Tischplatte schwebend, an ihren gläsernen Augen herumfummelte und mit irgendwelchen Kugeln aus dem Döschen herumhantierte. Erst als sie ihren Kopf wieder hochnahm, mich ansah und ich die grünen Dioden in ihren Augenwinkeln blinken sah, wurde mir schlagartig klar, was das Ganze zu bedeuten hatte.
„Und wenn sie uns orten?“, fragte ich entsetzt, weil mir in diesem Moment sofort dämmerte, was Mirjams Warnung zu bedeuten hatte.
„Geht bei mir nicht, weil ich eine aus der IT kenne, die mir meinen Transponder gehackt hat“, sagte Mirjam schelmisch und löschte das Licht meiner Lampe.
„Los komm!“, wir haben nicht mehr viel Zeit.
„… Und Pawel?“, fragte ich und hielt sie am Arm zurück.
„Sag, dass das jetzt nicht dein Ernst ist“, fauchte Mirji mich an, schnappte sich in der völligen Dunkelheit zielsicher meinen linken Arm und zog mich mit eisernem Griff um mein Handgelenk hinter sich her auf die Tür zum Flur zu.
„Ohne ihn würde ich jetzt stockblind in Berlin versauern“, monierte ich.
„Nein, Susi, ohne ihn wäre dein Körper nie mit Termitox vergiftet worden“, sagte sie mit eiskalter Stimme und schob mich in den Flur.
„Pawel soll mich mit Krebs vergiftet haben? Niemals! … So was geht doch gar nicht“, zischte ich sie an und stemmte mich mit aller Gewalt, so gut es ging, gegen den Fußboden.
„Komm endlich zur Vernunft, Susi. Das war nie Krebs, sondern ein neues russisches Gift, mit dem die Russen ihre Gegner demoralisieren und ihnen den Lebensmut rauben wollen. Sie werden damit in der Ukraine beginnen und danach die ganze Welt verseuchen und sich alle unterjochen. Der Plan ist, die Menschen, die ihnen nicht passen, mitsamt ihrer Völker ins Verderben zu stürzen und systematisch auszurotten.
„Und was hat mein Pawel damit zu tun?“, fragte ich misstrauisch.
„Das Spray, das er dir gab, war Termitox. Die Russen hatten es erst als mutmachende Kampfdroge für deren eigene Soldaten entwickelt. Erst als die ersten Nebenwirkungen bekannt wurden, die bei testosteronsättigten Organismen, also bei Männern, Symptome von Hodenkrebs hervorrufen, kamen sie nach und nach auf die wirklich teuflischen Ideen. Im ersten nachfolgenden Ansatz dachten sie zunächst nur an die Nutzung als Biokampfstoff in Verbindung mit Spezialkräften, die allerdings über Testosteron reduzierte Organismen verfügen müssen, so wie das bei uns Frauen und bei kastrierten Männern der Fall ist. Als sie dann kurz darauf entdeckten, dass eine andere Nebenwirkung bei Testosteronreduzierten eine Art künstlich verursachten Augenkrebs zur Folge hat, wurde alles noch viel schlimmer. Termitox ist eine biologische Waffe, die sehr ansteckend ist und die, bis der Krebs ausbricht, was sehr schnell geht, eine extrem leistungssteigernde berauschende Wirkung entfaltet. Den Rest weißt du ja schon und jetzt raff dich auf und komm endlich mit? Viel Zeit bleibt uns nicht mehr“, sagte Mirjam mit sorgenvollem Ton.
„Ohne Pawel gehe ich nicht mit“, sagte ich stur und blickte Mirji dabei entschlossen in ihre grün blinkenden Augen.
„Er hat dich vergiftet!“, zischte Mirjam noch eisiger.
„Und selbst wenn, dann ohne böse Absicht, da bin ich mir sicher. Genauso wie ich ihn auch …“, sagte ich schuldbewusst, weil mir die Zusammenhänge rund um dieses furchtbare Spray immer klarer wurden.
„Wie du ihn auch?“, fragte Mirjam und wurde von einer Sekunde auf die andere stocksteif.
„Ja! … Ich auch, weil ich es war, die ihm, als wir uns auf dem Weg hier her, auf einem Bahnhof gegen russische Milizen verteidigen mussten, in letzter Sekunde auch von dem Spray gab. Ich konnte ja nicht wissen, dass es …“, sagte ich und kämpfte mit meinen Tränen.

„Okay, komm! … Lass uns reden“, sagte Mirjam und brummelte etwas, das ich nicht verstand, weil sie ein paar Sätze in ukrainischer Landessprache vor sich hin nuschelte, bevor sie nachgab und mich durch den stockdunklen Gang wieder zurück in mein Zimmer führte. Das Klicken des Türschnappers gab mir so viel Sicherheit, dass ich mich von ihr zurück zu dem kleinen Tisch führen ließ, an dem wir uns wieder auf die zwei Stühle setzten.
„Wie machst du das nur alles ohne Stock? Hier ist es doch so dunkel, dass ich nicht einmal einen Schatten meiner Hand vor meinem Auge sehen kann?“, fragte ich Mirjam. Da sie mich nicht zum ersten Mal damit verblüffte, wie genial sie ihr fehlendes Augenlicht mit ihren anderen Sinnen kompensieren konnte, hatte ich die Frage, nachdem wir beide wieder gesessen waren, zunächst nur rhetorisch gestellt. Eigentlich wollte ich damit nur etwas den Druck aus der angespannten Situation herausnehmen. Die Antwort, die ich darauf von Mirji bekam, traf mich dann umso mehr mit schier unglaublichem Erstaunen.
„Das ist jetzt zwar unser geringstes Problem, Susi. Aber die Restlichtverstärker in meinen aktiven Prothesen und mein Brainport machen nicht nur das möglich“, sagte meine Freundin und ergriff tröstend meine Hand.
„Danke, dass du mir hilfst, Mirjam, aber ich hoffe, dass du mich jetzt auch ein bisschen besser verstehen kannst, warum ich Pawel hier nicht alleine mit seiner Infektion zurücklassen will. Nachdem ich dir gesagt habe, wie es uns zusammen ergangen ist, und was uns alles verbindet, kann ich ihn hier nicht einfach so, nur um meine eigene Haut zu retten, zurücklassen", antwortete ich nachdenklich und drückte ihr dabei dankbar ihre Hand.
„Reg dich ab, wir helfen ihm in dieser Minute doch schon. Sobald er im Fluchtwagen ist, bringe ich dich zu ihm“, sagte Mirjam knapp und ich hatte Mühe, meine Tränen der Rührung unter Kontrolle zu behalten. Deshalb nahm ich Mirjam einfach ganz spontan in den Arm und wir drückten uns ganz fest.
„Das ändert aber nichts daran, dass du und Pawel in unmittelbarer Gefahr schweben. Aber um Pawel mache ich mir, im Gegensatz zu dir, keine Sorgen, weil er sich den Ärger hier selbst eingebrockt hat“, sagte Mirji und wand sich behutsam aus meiner Umarmung.
„Nein! Egal ob selbst eingebrockt oder nicht, ohne ihn und Anna hätte ich in Berlin mein Augenlicht längst schon für immer verloren. Dafür, dass die Russen Giftmischer sind, kann er genauso wenig wie du, ich und die vielen anderen hier, die dem Gift auch zum Opfer gefallen sind“, widersprach ich und wischte mir meine Tränen ab. Aber dann wurde ich plötzlich doch gleich wieder misstrauisch.
„Wieso ist Pawel denn plötzlich doch auf dem Weg zu diesem Fluchtauto? Du wolltest ihn doch gerade erst gar nicht mitnehmen?“, fragte ich stirnrunzelnd, als mir klar wurde, dass ich die ganze Zeit mit Mirjam zusammen war und sie nicht einmal telefoniert hatte.“
„Mein Brainport, Süße“, sagte sie nur, und als ich verstand, was das Gemurmel sollte, bekam ich es erst recht mit der Angst zu tun.
„Wie? Dein Gehirn ist über das Ding, über irgendeinen Server, mit anderen Hirnen vernetzt?“, fragte ich mit einem schaudernden Zittern in meiner Stimme.
„Keine Angst, Susi, davon können die Teufel nichts mitbekommen, zumindest noch nicht. Ich hab dir doch gesagt, dass wir uns gehackt haben. Nur deshalb sind wir für ihre KI noch unsichtbar und auch noch unhörbar. Wir nennen uns Noncyborgs und kämpfen hier so lange es geht für das Gute“, sagte Mirji mit ruhiger Stimme.

„Ich hoffe, Pawel ist auch wieder gesund“, antwortete ich voller Sorge.
„Im Moment geht es dem Übeltäter, den du schützt, soweit wieder ganz gut, aber ihn mitzunehmen ist trotzdem keine gute Idee“, sagte Mirjam recht zugeknöpft.
„Oh nein, alles wegen des Giftes und ich bin schuld“, sagte ich und fasste mir voller Besorgnis für Pawel an meinen Armstumpf. „Ich hoffe, sie mussten ihn nicht auch …“, schob ich hinterher.
„Nein, das nicht, seine Glieder sind alle noch dran, er wurde gerade noch rechtzeitig kastriert“, sagte Mirji völlig trocken, ohne dabei einen Ansatz von Mitgefühl zu zeigen.

„Ahhaaa …!“, entfuhr mir ein kurzer leiser Aufschrei. „Kastriert, warum das denn?“
„Hast du nicht aufgepasst, Susi? Bei uns Frauen schlägt sich das Gift auf die Augen und bei Männern auf die Hoden, aber das sagte ich dir doch schon“, entgegnete mir Mirjam so ungeduldig, dass ich noch mehr Angst bekam. Angst aber in diesem Moment auch vor ihr, weil mir ihre Kaltschnäuzigkeit fast genauso unmenschlich vorkam wie die der russischen Übeltäter.
„Keine Angst, Susi, wegen des fehlenden Testosterons wird er jetzt keinen Rückfall mehr erleiden können. Schon gar keinen, der auf die alte Vergiftung von dir zurückzuführen sein könnte. Sie haben ihm sogar seine Augen genauso behandelt, wie sie das bei dir vorher erfolgreich ausprobiert hatten. Dein Pawel ist im Moment wieder genauso gut entseucht, wie du und ich auch. Aber im Gegensatz zu mir und Pawel bist du vielleicht noch nicht gegen neue Vergiftungen immun", plauderte Mirjam jetzt genauso entspannt wie vorher Anna in einem Tonfall, als ob sie mir wie meine Ärztin nur Belangloses wie zum Beispiel vom Wetter, über die grausamen Dinge, die hier passierten, erzählen wollte.
„Nur du und Pawel sind immun?“, fragte ich leise und dachte, während ich hinter meiner Retterin herstolperte, darüber nach, was die Noncyborgs noch für weitere übermenschliche Eigenschaften haben könnten.

„Ja, aber die Immunität hat eben ihren Preis, Susi. Das ist ganz einfach. Weder bei Frauen ohne Augen noch bei Männern ohne Hoden sind Neuinfektionen möglich, weil dem Gift dann die Nährböden fehlen", erklärte Mirjam.

„Willst du mir damit etwa sagen, dass ich nur wegen meines geretteten Auges noch immer vergiftet bin und sie es mir nur bestrahlen, um den Verlauf meiner möglicherweise weiter fortschreitenden Verkrebsung zu erforschen?", fragte ich entsetzt.

Ja und nein, Susi. Ganz so schlimm, wie du jetzt denkst, ist es für dich dann doch nicht gelaufen. Hast du vergessen, dass ich dir gerade erklärte, dass du im Moment auch wieder ganz gesund bist? Dein kollabiertes Auge und dein rechter Arm waren viel stärker infiziert als dein letztes Auge, und sie wurden dir entfernt, um den Infektionsherd auf dein inzwischen wieder sehendes Auge zu reduzieren. Dass du damit schon wieder fast normal sehen kannst, ist ein Beweis dafür, dass die Bestrahlungen wirksam als Therapie für Entseuchungen eingesetzt werden können. Aber das ist für die Russen heute nicht mehr interessant. Bis gestern ging es ihnen darum, wirksame Immunisierungen zu erforschen, die bei sehenden Frauen so gut wie das Kastrieren bei Männern funktionieren. Aber der jüngste Bericht, den Anna nach der Auswertung der ersten Versuchsergebnisse über die Experimente mit dir und Pawel abgeschickt hat, war etwas zu ausschweifend und hat deshalb über Nacht alles verändert. Taras Nowikow hat aus dem Bericht die besonderen Fähigkeiten erblindeter Soldatinnen für bestimmte Tätigkeiten herausgelesen und somit besteht jetzt überhaupt kein militärisches Interesse mehr daran, uns mehr als nötig zu schützen."

„Aber ohne Immunisierung kann das doch gar nicht funktionieren", grübelte ich dazwischen. „Alle Soldatinnen und Soldaten würden sich doch dann sogar gegenseitig anstecken können und eine Art Pandemie in der gesamten russischen Armee auslösen, oder?"

„Nicht ganz, Susi", antwortete Mirjam. „Die neue Gefahr hat sich daraus ergeben, dass unser Präsident jetzt meint, dass Blinde ihm viel nützlicher als Sehende sein könnten, und Pawel sowie ich sind ja im Gegensatz zu dir auch schon ohne neue Forschungsergebnisse vollends immun. Der frühere Grund, warum sie für das Termitox-Projekt bisher nur Frauen ausgewählt haben, spielt seit heute keine Rolle mehr. Die meisten hier sind Patriotinnen der russischen Armee, die sich in einem Auswahlverfahren für den Sieg ihres Vaterlandes qualifizieren mussten. Die Eingangsbehandlung nennen sie hier elegant Prophylaxe, und wir Frauen haben insoweit sogar noch Glück, weil wir keine Hoden haben", erklärte Mirjam makaber mit einem bitteren Hauch in ihrer Stimme. Ihr schwarzer Humor legte sich wie ein schwarzes Tuch über die Tatsache, dass Nowikow für die Immunisierung seiner zukünftigen Soldatinnen nun keine andere Art mehr als die schon bewährte für erforderlich hielt.

„Soll das etwa heißen, dass die Patriotinnen, als sie hier ankamen, alle noch gar nicht vergiftet waren?“, fragte ich total perplex, als mir aus der Bedeutung von Mirjams Worten ein gruselig grausames Szenario in den Sinn kam. „Die ganzen Blinden hier sollen alle patriotische russische Soldatinnen sein, die sich dafür krummgemacht haben, um hier ihre Augen entfernt und durch Glasaugen ersetzt zu bekommen?", brach die grausame Erkenntnis aus mir heraus. „Dann wäre die Therapie, die bei mir nur deshalb anwendbar war, weil ich im Gegensatz zu ihnen nicht auch gleich beide Augen herausbekommen habe, ja völlig nutzlos", sinnierte ich laut weiter und fing wegen des Grauens, das sich in meinem Kopf breit machte, an zu zittern. „Die ganze Zeit dachte ich, sie seien auch alle Verseuchte, die darauf hofften, so wie ich noch einmal wie früher sehen zu können."

„Nein, natürlich nicht, vergiftet werden hier, abgesehen von wenigen Ausnahmen, eigentlich nur die Versuchskaninchen“, bestätigte Mirjam. „Ausnahmen wie Du und Pawel zum Beispiel, aber ihr beide wart ja schon vor eurer Ankunft verseucht. Für die Russen wart ihr deshalb auch prädestiniert für neue Experimente. Für Experimente, die sie sonst mit verschleppten Landsleuten von mir, die auch aus der Ukraine kommen, oder mit in Ungnade gefallenen Russen machen. Im Gegensatz zu den Frauen, die in den vom Militär aufgesetzten Programmen sind, bekommen solche Leute wie wir für die Zeit nach dem Ende der Versuchsreihen natürlich weder Hirnimplantate noch neue bionische Augen. Die Zäune mit den Stacheldrähten haben sie nur aufgrund der Angst aufgebaut, dass wir ihnen auch als richtig Blinde, also ohne solche neuen Augen, entwischen könnten. Aber vor den fanatischen Russinen, die nicht nur hier sind, weil sie sich für den Sieg ihres Vaterlandes freiwillig blenden ließen, müssen selbst wir Noncyborgs uns mächtig in Acht nehmen. Sie sind mit ihren neuen Augen viel gefährlicher, weil sie damit viel mehr wahrnehmen können als mit ihren alten Augäpfeln, die ihnen hier herausgeschnitten wurden, um in ihren Höhlen Platz für die bionischen Kampfaugen zu schaffen. Die Immunisierung war schon vor Annas jüngstem Bericht zusehends zu einer nützlichen Nebensache geworden, weil sie diejenigen, die bionische Augen bekamen, nicht mehr dauerhaft blind machte. Spätestens als bekannt wurde, dass die neuen künstlichen Augen viel leistungsfähiger als die alten biologischen Augen sind, platzte die Einrichtung hier fast aus allen Nähten

„Oh Gott, Mirjam, bei dir also auch?“, fragte ich total verunsichert.

„Nein, Susi, ich bin eine der wenigen, die nicht hier geblendet werden mussten, weil ich schon als Kind diese Krankheit hatte, deren Symptome identisch mit denen der Vergiftungen sind. Deshalb brachte ich als Früherblindete sehr selten zu findende, aber für die Zwecke der Teufel einzigartige Voraussetzungen für den Job als Mobilitätstrainerin mit, für den mich die Russen sogar richtig gut bezahlen. Eigentlich erfüllte sich hier für mich mit dem: Endlich auch mal selbst sehen zu können, sogar ein mir unerfüllbar geglaubter Kindheitstraum. Aber seit ich weiß, warum und auf welche skrupellose Art und Weise sie hier Technologinnen entwickeln, die Lahme gehen und Blinde sehen lassen, kann ich mit all dem nicht mehr wirklich glücklich sein. Dass diese Technologien die Lebensqualität vieler Menschen steigern und viel Leid verringern könnten, steht außer Frage, aber es ändert auch nichts daran, dass ich, bevor die Russen in mein Land kamen, hier als Blinde ein glücklicheres Leben als jetzt hatte", sagte meine unglaublich taffe Ausbilderin zu mir und ich spürte, wie mir vom Mitgefühl gerührt Tränen über meine Wangen flossen, bis mir kurz danach neue Zweifel kamen.

„Den Sinn des Mobilitätstrainings, das du hier machst, verstehe ich jetzt aber überhaupt nicht mehr. Das passt doch alles gar nicht zusammen", hakte ich misstrauisch nach und wischte mir mit dem Ärmel meine Tränen ab.

„Denk doch nochmal selbst darüber nach, was ihre Elitekräfte können müssen, wenn die Systeme mal ausfallen", antwortete mir Mirjam etwas stinkig. „Dass die Zeit im Moment nicht unser Freund ist und gegen uns läuft, ist dir hoffentlich noch klar, oder?"

„Dass sie in diesem Fall als Blinde ohne entsprechendes Training aufgeschmissen wären, leuchtet mir zwar ein, aber die Sorge um Pawel macht mich trotzdem noch immer misstrauisch", antwortete ich gereizt. „Außerdem hast du auch zwei solche Augen, über die du mir gerade erklärt hast, dass sie diese nur an die Kämpferinnen abgeben würden."

„Ah, okay, dass dich mein Sehen misstrauisch macht, kann ich sogar nachvollziehen", sagte meine Gesprächspartnerin total offen. Die Hintergründe, warum sie mich auch experimentell hirnimplantiert haben, sind vielschichtig, aber dafür ist jetzt keine Zeit, weil ich gerade die Nachricht bekommen habe, dass Pawel schon im Fluchtwagen auf uns wartet. Die Augen habe ich mir über die Noncyborgs besorgt und jetzt musst du mir einfach vertrauen."

 

 

***


„Ist Pawel wirklich da drin?", fragte ich, als ich hörte, dass dicht vor mir die Tür eines schweren Wagens geöffnet wurde, und quetschte mich einen Augenblick später scheu zu ihm auf die Rückbank, während ich im schwachen Licht sah, wie Mirjam sich hinter das Lenkrad setzte.
„Wenn sie euch zu fassen bekommen, werden sie euch weiter so lange als ihre Versuchskaninchen missbrauchen, wie ihr ihnen noch für ihre Forschungen nützlich seid. Deshalb sollten wir uns jetzt auch sputen, bevor sie mitbekommen, dass wir euch bei der Flucht helfen", sagte Mirji und fuhr unauffällig los in Richtung Tor, das schon weit geöffnet war.

 

 

***

 

 

 „Oh Pawel, ich weiß gar nicht, wie ich dir jemals für all das danken kann, was du alles für mich auf dich genommen hast“, sagte ich und umarmte den ausgemergelten Körper, den ich noch kurz im Lichtschimmer der Innenbeleuchtung sehen konnte, bevor Mirjam die Fahrertür geschlossen hatte.
„Kein Problem, Susi“, antwortete Pawel mit dünner Stimme, während der schwarze Wolga mit seinen Insassen dem Verlauf der holprigen Straße in Richtung Westen folgte.
„Es tut mir so leid …“, sagte ich und schmiegte mein Gesicht an seine knochig gewordene Schulter.
„Du weißt es also schon ...“, sagte er voller Scham und schob mich von sich weg.
„Bitte lass mich bei dir bleiben“, flehte ich ihn an und versuchte ihm zu vermitteln, dass sein schmerzlicher Verlust, wenn er meine Nähe weiter zulässt, für mich kein Problem werden sollte.
„Wir werden sehen müssen, was kommt“, sagte er zweideutig. Danach schliefen wir ein und wachten erst wieder auf, als Mirjam uns hinter der Frontlinie zum Aussteigen aufforderte und uns, nach einer herzlichen Verabschiedung, noch zwei Zugfahrkarten nach Kiew in unsere Hände drückte.

Nebeldeal

Mara

 

„Nanu? Die scheint gar nicht da zu sein", sagte ich zu Leon, mit dem ich gerade an Prof. Grießhaupts Büro angekommen war.

„Bisschen Zeit hat sie ja auch noch, wir sind fast zehn Minuten zu früh dran", antwortete Leon, der sich von mir noch einmal von meinen Erinnerungen an die Diskussion über den Porno berichten ließ, den die Professorin in der Vorlesung laufen ließ, die ich bei ihr besucht hatte. Leon, der Theologe, war wie immer ein aufmerksamer Zuhörer, der Menschen in Gesprächen mit sorgfältig überlegten Zwischenfragen, sein ernsthaftes Interesse und auch ein tolles Gefühl von Wertschätzung vermitteln konnte.

„Schön, dass sie zusammen gekommen sind“, hörten wir kurz darauf die freundliche Begrüßung unserer Gastgeberin, als sie aus dem Treppenhaus in den schmalen Gang einbog, in dem sich sowohl Zimmer der Verwaltung als auch die Arbeitsräume der meisten Lehrkörper, die am Institut von Frau Prof. Dr. Grießaupt tätig waren, befanden.

„Die Freude ist ganz unsererseits, Frau Professor", sagte Leon freundlich, „besonders für Mara, die sich für diesen Termin ja mächtig ins Zeug legen musste, wie ich hörte", und schüttelte der Lehrstuhlinhaberin für Sexualwissenschaften erfreut die Hand.

„Guten Tag, Frau Doktor“, sagte ich und begrüßte sie mit einer winkenden Geste anstatt eines freundlichen Händedrucks, weil ich ein leises Papierrascheln vernommen hatte, das mich darauf schließen ließ, dass sie schon wieder beide Hände voll hatte. Leon hatte sie mit seiner förmlichen Begrüßung möglicherweise in Schwierigkeiten gebracht und sie daran gehindert, die richtigen Schlüssel von dem Schlüsselbund, den ich leise klingeln hörte, in das Schloss ihrer Bürotüre zu stecken. In der Luft lag plötzlich ein verlockender Duft von süßlicher Creme, einer Note, die mich an frisch gebackenen Biskuit erinnerte, und von in Kirschwasser eingelegtem Obst. Die Blume aus zartschmelzender Schokolade und der leicht herbe Geruch frischer Sahne, die noch hinzukamen, ließen mir schon das Wasser im Mund zusammenlaufen. „Wenn sie das für uns geholt hat, stehen wir mit unseren leeren Händen jetzt gleich richtig blöd da“, raunte ich Leon ganz spontan zu und bemerkte den Fettnapf erst, nachdem ich schon mit beiden Füßen hineingetreten war.

„Nehmen sie doch bitte hier an meinem Besprechungstisch Platz“, sagte Frau Grießhaupt und fügte mit einem deutlich hörbaren Lacher hinzu: „Natürlich ist das für uns, Frau Müller, Süßes stimuliert unsere Gehirne und schafft zudem eine entspannte Atmosphäre.“

„Danke, Frau Doktor, und entschuldigen sie bitte das mit der Torte. Aus mir platzen öfter spontane Sätze heraus, die ich dann kognitiv nicht mehr rechtzeitig einfangen kann, weil ich schon auf Sendung bin, bevor ich die Konsequenzenanalyse fertig gedacht habe. „Bisschen tollpatschig halt, aber ich arbeite dran …", entschuldigte ich mich und setzte mich auf den Stuhl, zu dessen Lehne Leon so dezent wie es seine Art war, ohne Worte meinen Handrücken gelenkt hatte.

„Milchkaffee, Cappuccino, Latte …? Was hätten sie denn gerne? Diese Jura lässt heiße Träume mit oder ohne Koffein wahr werden", entgegnete uns unsere Gastgeberin freundlich, ohne auf das, was wir gesagt hatten, näher einzugehen. Dabei klapperte in einem Schränkchen, dessen Schiebetür sie mit Schwung geöffnet hatte, und meine Entschuldigung bezüglich des Lapsus mit der Torte ließ sie ebenfalls unkommentiert im Raum stehen.

„Gerne einen schwarzen Kaffee für mich, vielleicht mit einem Schuss Milch noch, wenn sie haben, aber schwarz ist auch ok", sagte Leon.

„Einen doppelten Espresso vielleicht? … mit viel Zucker?", fragte ich vorsichtig und spürte schon das Aroma auf meiner Zunge, bevor der Duft von frisch gemahlenen Kaffeebohnen aus dem ratternden Mahlwerk der Jura genussvoll den Raum flutete.

 

***

 

„Danke für den freundlichen und so leckeren Empfang, Frau Doktor. Ihre Schwarzwälder Kirschtorte war echt voll der Hammer und auch der Espresso ist 'ne Wucht", sprudelte ich ohne Scheu erneut meinen Dank heraus und fühlte mich voll entspannt. Diese Frau hatte nicht nur das Zuhören so gut wie Leon drauf, sondern sie hatte auch eine bemerkenswerte Art zu moderieren, ohne dabei noch unausgesprochene weitergehende Gedanken zu unterbrechen.

„Gerne, Mara, es waren sechs Stücke, und wenn die Torte erstmal im Kühlschrank war, schmeckt sie nur noch halb so gut wie frisch. „Zurückhalten sollten sie sich bei mir übrigens nie, und das gilt insbesondere auch für das Aufessen der restlichen Torte sowie für die Getränke“, sagte sie und forderte mich dazu auf, mich aus der schlanken Karaffe, in der beim Einschenken im stillen Wasser Eiswürfel klirrten, zu bedienen, während sie mir einen weiteren Doppelten aus der Jura zog. Ohne dass uns das Gespräch wie ein Verhör vorkam, hatten wir damit begonnen, über unsere Gefühle zu reden, die sich aus der Affäre, in die wir zwei hineingeschlittert waren, in unseren Köpfen entwickelt hatten. Auch darüber, dass Nele sich um mein seelisches Gleichgewicht Sorgen machte, nachdem ich meiner Freundin, die hier an der Uni auch Psychologie studierte, von Leons Kompliment über meine beiden blinden Glasaugen berichtet hatte, sprachen wir. Und das alles, ohne dass die Psychologin uns unterbrochen oder irgendetwas kommentiert hatte. Leon thematisierte auch Neles Moralvorstellungen noch einmal, die ihm gegenüber dem Mann, mit dem er verheiratet war, wegen des Sexes mit mir einen Vertrauensbruch unterstellt hatte. Später warf Leon dann auch noch die Frage auf, ob Nele ihm vielleicht gerade, weil er noch in der Pubertät wegen einer Krebserkrankung seine Hoden verloren hatte, eine krankhafte sexuelle Entwicklung unterstelle. Eine, die zur Folge haben könne, dass man sich um mich sorgen müsse, weil sein Fetisch gerade bei mir, die ich aus dem gleichen Grund als Kleinkind meine beiden richtigen Augen entfernt bekommen musste, ein gefährliches Trauma auslösen könnte. Als ich dann mit Leon darüber sprach, dass der Sex, den wir zusammen hatten, mich plötzlich an der Angleichung meines Körpers an den einer Frau zweifeln ließ, wurde es schwieriger für mich. Gerade diese OP, auf die ich mich jahrelang gefreut und deshalb sehnsüchtig meine Volljährigkeit herbeigesehnt hatte, stand just in dem Moment, in dem ich alles alleine entscheiden und umsetzen konnte, plötzlich auf dem Prüfstand. Bevor ich zu sinnieren begann, fiel mir etwas auf, das ich mir nicht anmerken lassen wollte. Das Kratzen des Bleistifts, mit dem sich die Sozialwissenschaftlerin einige Notizen machte, hatte sich von einem Moment auf den anderen verändert und hörte sich plötzlich so an, als hätte sie einen Turbo gezündet. Auch Leon nahm wahr, dass ich von jetzt auf gleich keineswegs mehr entspannt unterwegs war, und grätschte, so soft er es hinbekam, in meinen Redefluss hinein, was sonst eigentlich gar nicht seiner Art entsprach.

„Ach, du hast leicht reden, Leon, aber ich weiß einfach nicht mehr, was ich machen soll. Vorne ist für mich plötzlich hinten, aus oben ist unten geworden, und das alles über Nacht", stöhnte ich verzweifelt und ließ mein Gesicht in meine Hände fallen.

„Sprachen sie gestern nicht von einem Job, den sie an unserem Institut gerne als studierende Hilfskraft hätten, Mara?", fragte die Chefin des Instituts leise in die Runde.

„… oder in der Sehwerkstatt, bei Herrn Rathling …?", antwortete ich mit einem Kloß im Hals. „Da passe ich wohl besser hin. Wie soll ich denn hier Menschen helfen, solange ich nicht mal selber weiß, wer ich bin, wohin ich will und was ich wirklich will?"

„Ich verstehe auch nicht, was du ändern müsstest, wenn für dich im Moment alles gut ist, so wie es ist“, sagte Leon und legte seine Hand auf meine.

„Für einen Job als studierende Hilfskraft an meinem Institut müssten sie sich als Studierende an unserer Fakultät immatrikulieren, Mara. So sind die Regeln. Andere Hemmnisse sehe ich im Moment keine", sagte die Professorin dazu, die mir schon gestern, ohne dass ich sie danach gefragt hatte, sagte, dass sie mir nicht als Therapeutin zur Verfügung stehen könne.

„Meinen sie, das passt für mich?“, fragte ich erstaunt.

„Das könnte ich mir gut für sie vorstellen. Sie haben eine bemerkenswerte Resilienz, Mara. Außerdem wären sie nicht die erste Blinde, die in diesem Beruf Karriere machen würde. Entscheidend ist das, was sie selbst wollen, und dann brauchen sie Fleiß und Leidenschaft für die Sache. Das ist das Wichtigste, was sie selbst als Voraussetzung für einen guten Abschluss zum Studienende einbringen müssen. Studienbegleitend und auch später geht es immer wieder darum, gute Arbeitgeber zu finden, die erkennen, was sie in der Lage sind zu leisten", bemerkte die Lehrstuhlinhaberin mit leiser Stimme. „Mit der Torte helfen sie sich bitte selbst, Mara. Noch einen Espresso dazu?"

„Oh ja, und wie gern“, sagte ich und tastete mich zu der Kuchenschaufel vor, um mir danach aus der Plastikbox, die mit frischem Besteck auf dem Tisch stand, eine unbenutzte Gabel herauszufischen. Mit der konnte ich mich prima zu einem weiteren Stück vortasten, ohne die leckeren Lebensmittel mit meinen Fingern antatschen zu müssen.

„Sie, Leon, würde ich gern als Honorarkraft für ein Seminar gewinnen, das meine Vorlesung ‚Trauma contra Fetisch' praktisch begleiten könnte. Als Seelsorger wären sie dafür prädestiniert, und wer könnte das Thema besser begleiten als ein Betroffener, der sich mit seinem Leben so gut wie sie arrangiert hat? Mit Mara als studierender Hilfskraft an ihrer Seite würde das auch vom zeitlichen Aufwand für sie ganz gut darstellbar sein, und was das Arrangement für ein Leben mit Beeinträchtigung angeht, gilt für Mara das Gleiche wie für sie", eröffnete uns die Leiterin des Instituts, die sich dann auch noch ein weiteres Stück Torte nahm.

„Erst das Riesenglück gestern, mit einem eigenen Dach fürs Studieren in Berlin über dem Kopf und heute die Chance auf meinen Traumjob an der Uni …", begann ich, brach dann aber abrupt meinen Satz ab und tat so, als müsste ich mich voll darauf konzentrieren, den Happen auf meiner Kuchengabel in meinen Mund zu bugsieren.

„Vielleicht sollten wir doch mal nach einer Therapeutin schauen, die dich im Hinblick auf deine Geschlechtsidentität etwas unterstützen kann“, sagte Leon, während ich genüsslich kaute und dabei angestrengt nachdachte.

„Eine frühe psychologische Begleitung ist immer besser, als ein Problem bis zu einer Therapie zu züchten“, bemerkte Frau Grießhaupt und verstummte dann wieder, um sich auch weiter mit ihrer Torte zu befassen, bevor sie danach wieder zu dem Bleistift griff, der so grässlich über das Papier kratzte.

„Ist das nicht dasselbe?“, fragte ich neugierig mit vollem Mund in Richtung der Expertin.

„Nein, Mara, ganz und gar nicht. Ängste gehören zum Leben genauso dazu wie die Entscheidungen, die zu treffen oft auch nicht einfach ist. Eine Therapie ist nur dann notwendig, wenn die Angst lähmend wird und zuerst die Lebensfreude und in schlimmeren Fällen danach auch noch der Lebensmut von ihr erstickt wird. Mir scheint, dass dich die Libido mit Leon etwas verwirrt, aber ich schätze es so ein, dass keiner von euch beiden im Moment ein Therapiefall ist. Bei dir, Mara, stehen, ungeachtet dessen, dass du dich in deinem tiefsten Inneren immer als Frau gefühlt hast, andere Dinge im Raum, aber darüber sollten dich die Mediziner, die dir seit vier Jahren das Histrelin verschreiben, von dem du mir gestern erzählt hast, hinreichend aufgeklärt haben."

„Das besorge ich mir seit vier Jahren unter der Hand, weil meine Mutter ihren Jungen, den sie nie hatte, nicht loslassen wollte“, erklärte ich völlig trocken, nachdem ich mich wieder eingekriegt hatte.

„Prima, der Kuchen ist aufgegessen und ihren Bewerbungen sehe ich erwartungsvoll entgegen“, sagte die Chefin und setzte das Geschirr in eine Plastikbox, die sie polternd aus dem Schränkchen mit der Schiebetüre herausgezogen hatte. Bei der Verabschiedung gab sie mir noch einen Zettel in die Hand, auf den sie mir den Namen einer Psychologin, die auch Ärztin, also eigentlich eine Psychiaterin war, notiert hatte. Sie sei ihr als Expertin für Menschen mit transsexuellen Anlagen so gut bekannt, dass sie mir diese Frau persönlich empfehlen wolle. Alles Gute Mara und auch für sie Leon, bis bald vielleicht. Es hat mich gefreut, dass sie meiner Einladung zu unserem heutigen Gespräch gemeinsam gefolgt sind. Ach Mara …, bestellen sie der Kollegin gerne einen Gruß von mir. Vielleicht wollen sie mit ihr auch einmal über Triptorelin anstatt ihres Histrelinimplantats reden. Das stellt einen ähnlichen Hormonspiegel wie bei Leon bei ihnen ein, ist aber genauso reversibel wie das Histrelin. Es funktioniert über Depotspritzen und auf Rezept. Nur so können sie auch sicher sein, dass das Richtige drin ist, in dem Medikament", sagte sie zu einem letzten herzlichen Händedruck, bevor sie die Tür hinter uns schloss und ich mich an Leons Arm zum La Martina führen ließ.

 

***

 

„So Frau Müller, das hätten wir dann schon mal, nur noch hier auf dem Display die Unterschriften und dann bekommen sie die Unterlagen für das Homebanking ihres neuen Girokontos sowie die PIN in den nächsten Tagen mit getrennter Post zu sich nach Hause geschickt“, sagte der Angestellte der Berliner Volksbank und schob mir das Gerät zum digitalen Unterschreiben entgegen. Das Ding war dummerweise nicht barrierefrei, weshalb ich Hilfe brauchte, um den digitalen Stift auf dem Plastik an der richtigen Stelle anzusetzen, und wo die grüne Fläche mit dem Häkchen war, konnte ich auch nicht ohne Assistenz feststellen.

„Die hätten ja wenigstens außen irgendwo Markierungspunkte anbringen können“, mümmelte ich vor mich hin, während ich mich bei dem Angestellten bedankte, der mir nach jeder weiteren Unterschrift wieder mit diesem blöden Häkchen helfen musste. Dass ich es nicht alleine treffen konnte, wurmte mich, aber wenigstens mit dem Fenster für die Unterschriften klappte es nach dem ersten Mal ohne fremde Hilfe.

„Ab wann kann ich denn über die vierhunderttausend aus der Baufinanzierung verfügen?“, fragte ich etwas geistesabwesend, weil ich gerade im Kopf überschlug, dass ich mit ein paar Sondertilgungen und mit etwas Glück in etwa zehn Jahren alles abgestottert haben könnte.

„Das Geld dürfte in etwa drei bis vier Wochen verfügbar sein und wird dann auf ihrem Tagesgeldkonto gutgeschrieben. Aber das sehen sie ja dann …, sorry, ich meine natürlich, dass sie das dann über ihren Onlinezugang von Zuhause aus am PC feststellen können", sagte der freundliche ältere Herr und ich schenkte ihm, ohne blöd zu werden, ein freundliches Lächeln. Das fiel mir bei dem Berater meiner Berliner Bank, der bei unserem ersten Termin hier mehr Probleme mit meinem Namen Marvin als mit meiner Blindheit hatte, auch nicht schwer. Seine steife, korrekte Art passte zu ihm und ich mochte ihn. Er war ganz anders als der schleimige Braunstein, der meine Mutter und mich bei unserer Sparkasse zu Hause immer so machohaft und nur auf den Vorteil seines Geldinstituts bedacht beraten hatte.

„Wenn sie keine weiteren Fragen mehr haben, bleibt mir heute nur noch, ihnen viel Erfolg für ihr Vorhaben zu wünschen, und ansonsten wissen sie ja, wo sie uns finden.“

„Ja, klar, und vielen Dank für ihre freundliche Beratung und ihre geduldige Unterstützung, Herr Kämmerer“, sagte ich und fand dann auch die Hand recht zügig, die er mir so statisch wie eine Wachsfigur geduldig entgegengestreckt hatte.


***


„Hi Lissi, darf ich reinkommen?“, fragte ich durch den kleinen Spalt der angelehnten Abschlusstür, die Luises Wohnung von dem Treppenhaus trennte, in dem die Treppe aus dem Obergeschoss nach einem Linksbogen endete.

„Natürlich, Mara, du weißt ja, wie froh ich darüber bin, dass ich nicht mehr alleine in diesem großen Haus wohnen muss und wie sehr ich mich immer über jeden deiner Besuche freue. Oh, wer ist denn das, den du hier mitgebracht hast?", fragte sie, nachdem sie gesehen hatte, dass noch ein Handwerker in meiner Begleitung ihre Küche betrat, die zwar sauber, aber schon ziemlich abgewohnt war.

Das ist der Mann vom Küchenstudio, von dem ich dir erzählt habe. Er möchte hier ein bisschen was ausmessen, bevor wir nächste Woche den Beratungstermin zusammen wahrnehmen wollen, den wir beide am vergangenen Freitag telefonisch im Ausstellungsraum des Möbelhauses ausgemacht haben", antwortete ich ihr gut gelaunt.

„Das trifft sich gut, denn ich habe frischen Tee gekocht und wollte gerade raus auf die Terrasse. In der Wohnung rauche ich ja nicht mal im tiefsten Winter. Nimmst du die Tassen für uns mit und den Zucker für dich?", fragte sie mich und trottete mit der Kanne und den Gauloises, die sie immer rauchte, voraus in die Kälte. Schon seit Wochen kochten wir oft zusammen und ich kannte mich in ihrer Küche so gut aus, dass wir uns dabei ohne Unterbrechung mega gut unterhalten konnten, weil ich genau wusste, was hier wo zu finden ist.

„Kindchen, mir ist das richtig peinlich, wie viel Geld du hier ausgibst und dann auch noch für meine Wohnung, die mir so wie sie ist noch lange gut genug gewesen wäre“, fing sie nach dem ersten Zug mit ihrer momentanen Lieblingsstory an.

„Lissi, das ist doch der Deal, den sich der liebe Dr. Pflaum für uns hat einfallen lassen. Mit dem Nießbrauch kannst du hier alt werden und brauchst nicht in ein betreutes Wohnen umzuziehen. Genau deshalb soll doch auch für dich alles moderner, komfortabler und leichter werden mit der Modernisierung. Lass das mit dem Geld einfach meine Sache sein und genieße dein Leben, dann haben wir beide das meiste davon", antwortete ich und zündete mir auch eine an.

„Morgen hab ich übrigens den Termin bei dieser Wiesenfels, die mir die Grießhaupt empfohlen hat“, sagte ich, während ich den Rauch ausstieß.

„Weißt du inzwischen, wo du hin willst, Kindchen?“, fragte Lissi mich ganz offen mit einem fürsorglich interessierten Unterton und ganz anders, als ich solche Gespräche mit meiner Mutter in Erinnerung hatte.

„Na ja, vielleicht erstmal nur die Hormone auf ein anderes Präparat umstellen …“, und nahm den nächsten Zug.

„Du wirst das schon alles gut machen …“, antwortete Lissi, drückte ihre Zigarette aus und trank einen Schluck Tee.

„Kommst du mit dem vom Küchenstudio alleine klar, Lissi? In zwei Stunden beginnt meine erste Vorlesung in Entwicklungspsychologie und ich sollte ein bisschen früher da sein, weil ich den Raum noch nicht kenne."

„Ja, Kindchen, geh nur und viel Erfolg!“, sagte sie und gab mir mit dem Arm, den sie mir kurz um meine Hüfte geschlungen hatte, einen flüchtigen Drücker.



***

  

„Nach der Ulla bist du dann dran, Mara“, sagte der nette medizinische Fachassistent, der sich in der Praxis von Frau Dr. Wiesenfels um die Termine, den Ablauf, die Ausfertigung von Rezepten und eigentlich um alles außer die Durchführung der Beratungsgespräche kümmerte. Kurz darauf war es dann auch schon so weit.

„Guten Tag Frau Müller“, begrüßte mich eine nüchterne Stimme sachlich, während der Nette mich so weit zu dem Besucherstuhl führte, der vor dem Schreibtisch der Ärztin stand, bis ich die Position der Sitzgelegenheit mit meinem Stock selbst erfasst hatte.

„Guten Tag, Frau Doktor“, antwortete ich genauso sachlich und kramte eine Art Arztbrief aus meinem Rucksack heraus, mit dem mich meine neue Chefin überrascht hatte. Als ich meinen ersten Arbeitstag als studierende Hilfskraft in ihrem Institut antrat, hatte sie sich während der Begrüßung in einem Nebensatz, den ich zunächst nur für eine höfliche Floskel hielt, auch kurz über mein persönliches Befinden erkundigt. Dass ich mit dem Problem, das ich mit meinem Körper hatte, noch nicht weitergekommen war, hatte sie gar nicht kommentiert. Etwas enttäuscht hatte ich ihr knapp darüber berichtet, dass ich auch bei Frau Dr. Wiesenfels auf der Warteliste gelandet war und halt noch warten musste. Zwei Tage später fand ich dann eine E-Mail von meiner Professorin mit dem Betreff „Termin“ in der Kopfzeile und mit nachfolgendem Text in meinem Postkorb:

Liebe Mara,

Deinen Termin hast du jetzt.

In der Anlage findest du eine verschlüsselte PDF-Datei.
Das Passwort dafür habe ich dir per SMS geschickt.

Du bist weder krank noch meine Patientin und von der ärztlichen Schweigepflicht, die trotzdem gilt, bin ich nicht befreit. Es ist kein klassischer Arztbrief, geht aber in diese Richtung.
Lies dir den Text in Ruhe durch und nimm ihn, nur wenn du das willst, als Ausdruck mit zu dem Termin bei meiner Kollegin, Frau Dr. Wiesenfels.
Du darfst sie gerne auch nett von mir grüßen.

Ich freue mich auf eine gute Zusammenarbeit mit dir und mit Leon.

Freundliche Grüße

Prof. Dr. Karin Grießhaupt
Institut für Sexualwissenschaften
Institutsleitung
Fakultät für Psychologie an der freien Universität Berlin

 

„Das hier darf ich ihnen von meiner Chefin geben und sie auch nett von ihr grüßen“, sagte ich, während ich der Ärztin die ausgedruckten zweieinhalb Seiten über den Schreibtisch hinweg in die Richtung streckte, aus der die Begrüßung kam.

„Sind sie nur hier, um sich das Histrelinstäbchen ziehen zu lassen, um ihre Hormongaben auf eine Depotspritze mit Triptorelin umzustellen?“, fragte sie mich mit knappen Worten.

„Nicht nur. Hier habe ich auch noch die Gutachten dabei, die ich für die Geschlechtsangleichung brauche, der ich schon seit ich dreizehn Jahre alt bin, entgegenfiebere", antwortete ich und fummelte einen schmalen Ringbuchordner aus dem ledernen Beutel mit den zwei Tragriemen heraus, den ich lieber als schicke Handtaschen mochte.

„Wo ist denn ihr Problem, wenn sie, wie ich hier sehe, schon alles zusammen haben, was sie für die Umsetzung ihrer Entscheidung brauchen?“, hakte sie nach.

„Nach der Affäre, die in dem Schreiben, das ich ihnen von meiner Chefin gab, auch kurz angesprochen wird, sind mir Zweifel gekommen, ob ich die Angleichung immer noch wirklich so will?“, antwortete ich etwas niedergeschlagen. „Seit dem Sex, den ich mit Leon hatte, weiß ich überhaupt nicht mehr so richtig, was ich will und was ich nicht will.“

„Dass sie die Hormone, die ihre Pubertät aufschieben, nicht auf Dauer nehmen dürfen, wissen sie aber schon, oder? Das Triptorelin bekommen sie von mir noch längstens für weitere sechs Monate. Diese Zeit kann ihnen bei der Überleitung zu einer Vaginoplastik helfen und ist aus meiner Sicht nicht als verlängernde Zeit für eine aufgeschobene Entscheidung gedacht", führte sie in einer Art aus, die mich schockte.

„Und wenn ich einfach alles so lassen will, wie es jetzt ist?“, fragte ich mit einem bockigen Unterton.

„Dann wären sie nicht die erste und auch sicher nicht die letzte Frau, die gern glücklich in einem männlichen Körper lebt. Nur müssen sie dann die verspätet eintretende Pubertät in ihre Überlegungen mit einplanen, in der sie nach dem Wegfall der Hormongaben zeitlich verschoben einen männlichen Körper entwickeln werden. Aus rein medizinischer Sicht wäre das sogar die beste aller Alternativen, weil sie danach wieder über einen gesund ausgeglichenen Hormonspiegel verfügen würden", erklärte sie mir mein Problem mit anderen Worten so, dass ich mich in ihren Händen schon wieder etwas wohler fühlte.

„Dass ich mich in einem voll entwickelten männlichen Körper wohlfühlen würde, kann ich mir überhaupt nicht für mich vorstellen. So als Frau mit Bart und mit tiefer Stimme – igitt, das ist gar nichts für mich“, sagte ich sehr selbstbewusst.

„In Südostasien und in Südamerika gibt es schon seit langer Zeit Menschen, die dort in einem auch optisch femininen Körper leben wollen und sich aus diesem Grund häufig auch nur für eine Kastration anstatt für eine komplette Angleichung entschlossen haben. Hormongaben sind in diesen Fällen nicht mehr zwingend nötig, dennoch sind geeignete Präparate, die dann viel geringere und auch andere Hormondosierungen enthalten, zur Vorbeugung gegen Osteoporose hilfreich. Diese Hormongaben sind aber nicht mit den Wirkstoffen vergleichbar, mit denen sie ihren Körper zur Aussetzung ihrer Pubertät belastet haben", waren die mahnenden Worte, mit denen die Ärztin mir zu verstehen gab, wie hoch ich schon ohne ärztliche Begleitung gepokert hatte. So wie sie das erklärte, verstand ich langsam, dass ich mit dem Zeug, das ich die ganze Zeit illegal nahm, schon Schlimmeres als ich mir das je vorgestellt hatte angerichtet haben könnte.

„Wenn das so ist, kann ich mir auch gleich die Vagina machen lassen, die ich mir so gesehen immer noch wünsche und mit der ich mich auch viel besser identifizieren könnte als mit meinen männlichen Attributen", sagte ich spontan.

„Kann es sein, dass sie deshalb zweifeln, weil sie befürchten, danach schlechteren Sex in Kauf nehmen zu müssen?“, fragte mich die Ärztin sehr direkt.

„Ja, ich glaube, das trifft genau den Punkt, der mich im Moment so verwirrt“, gab ich ihr zur Antwort und war froh darüber, dass sie mir dabei geholfen hatte, den Grund für meine Zweifel zu konkretisieren.

„Dann rate ich ihnen jetzt zum temporären Umstieg auf das Triptorelin und schreibe ihnen eine Überweisung zu einer Chirurgin, die sie über die sexuellen Möglichkeiten und auch die Folgen nach einer möglichen Angleichung besser als ich beraten kann. Danach sehen sie das Ganze vermutlich viel klarer und können sich dann immer noch entscheiden, ob sie eine Pubertät zu einem männlichen Körper der Alternative vorziehen, einen weiblichen Körper entwickeln zu wollen.

„Hier Mara, deine Überweisung. Das Rezept für die Depotspritze, die du gerade bekommen hast, rechnen wir direkt mit deiner Krankenkasse ab“, sagte der freundliche Praxismanager zu mir. „Soll ich dir ein Taxi rufen?“

„Oh danke, nett von dir, aber das ist nicht nötig. Bisschen frische Luft tut mir jetzt bestimmt gut und mit den Öffentlichen komme ich in Berlin auch ganz gut klar", und streckte ihm meine Hand hin.

„Schönen Tag noch für dich und die nächste Spritze dann wieder in vier Wochen, falls du dann noch weitere brauchst.“

  

***

  

„Hi Leon, Mara hier. Hast du schon was zum Abendessen geplant oder sonst was vor?", fragte ich ihn ohne Umschweife, gleich nachdem er am anderen Ende der Verbindung meinen Anruf angenommen hatte.

„Eigentlich wollte ich heute ein bisschen fasten. Wolltest du mich zu etwas Kalorischem verführen?", fragte er so, dass es kein klares ‚Nein' war.

„Ich war gerade bei dem Termin bei der Wiesenfels und würde gern ein bisschen reden …", antwortete ich dem Theologen, den ich so gern mochte.

„Und wo, und wann …?", hörte ich seine Stimme sanft aus meinem Phone fragen.

„Im La Martina? … in ’ner halben Stunde vielleicht?", erwiderte ich voller Vorfreude.

„Das wird eng, lauf mir bitte nicht weg, wenn ich mich etwas verspäte", war Leons Antwort.

„Schön, dass du kommst, ich warte gern auf dich", beendete ich das Telefonat.

  

***

 

 „Guten Tag, Frau Müller, sie haben Fragen zu einer möglichen Geschlechtsangleichung?“, fragte mich Frau Dr. Seelblatt, die Chirurgin.

„Ja und ob, eigentlich hätte es ja schon passiert sein sollen bei mir“, sprudelte ich los.

„Passiert sein? Das klingt ja so, als würden sie von einem Unfall oder von einer ungewollten Schwangerschaft sprechen“, antwortete mir die Ärztin und fragte mich, ob die Gutachten, die ich ihr zur Vorbereitung der heutigen Beratung bei ihr eingereicht hatte, denn noch aktuell seien.

„Ja, vom Prinzip her schon, aber ich sorge mich inzwischen, ob ich dadurch meine Libido verlieren könnte?“, antwortete ich gleich mit einer Gegenfrage, die meine Zweifel offenlegten.

„Die Libido ist eine zarte Pflanze, die im Kopf gedeihen und auch dort verkümmern kann, also eher eine Frage der Psyche. Sollten ihre Zweifel eher technischer Natur sein, kann ich ihnen dazu schon mehr sagen", war eine Antwort, die ich von einer Chirurgin gar nicht so einfühlsam erwartet hätte.

„Eher technisch, denke ich, weil ich von einer Vaginoplastik ja mehr haben will als nur die Optik. Also keine rein kosmetische Lösung, wie bei meinen Augenprothesen, sondern eine, die auch so funktioniert, dass ich danach nicht auf die Wahrnehmungen verzichten muss, die mir den Spaß beim Sex bereiten", erklärte ich ihr voller Emotion.

„Schauen sie mal, Frau Müller“, sagte die Chirurgin und schob mir ein taktiles Modell einer weiblichen Scham zwischen meine Hände, das sich nach sterilem Silikon anfühlte und völlig unbehaart war. „Aus ihrer Akte geht ja hervor, dass sie früh erblindet sind, und deshalb habe ich für diese Beratung verschiedene Modelle aus unserer Anatomie besorgt. Sie können sich alles, worüber wir reden, in aller Ruhe mit ihren Händen ansehen und mich alles fragen, was ihnen dazu einfällt“, hörte ich meine Gesprächspartnerin in aller Ruhe sagen und entspannte mich.

„Das hier ist ein Schnittmodell der männlichen Geschlechtsteile. Auf der Rückseite sollten sie auch das Innere des Skrotums sowie die Schwellkörper, die den Penis steif werden lassen, taktil wahrnehmen können. Wenn sie von hier unten hinter die Peniswurzel tasten, können sie die Prostata spüren, die dort unter der Haut von Fettgewebe umgeben ist. Von den Hoden, die hier im Skrotum hängen, kommen sie zur Samenblase und von dort weiter bis zur Eichel“, erklärte die Ärztin und half mir, mit meinen Fingerkuppen die richtigen Stellen zu ihren Erklärungen zu finden.

„Das erinnert mich an einen Biologieunterricht, den ich in der Blindenschule in Marburg ertragen musste“, rutschte mir die Erinnerung an eine schlechte Erfahrung heraus.

„Mobbing von transsexuellen Menschen ist schlimm, aber diese Diskriminierung beschränkt sich nicht auf Blindenschulen“, erwiderte die Ärztin weise.

„Wohl wahr“, kommentierte ich und fragte ganz direkt: „Wie würden sie das denn konkret bei mir machen? Also so, dass danach alles schön weiblich aussieht und auch so wie bei einer Frau, die gerne Freude am Sex genießen will, funktioniert?“

„Schauen sie mal hier“, sagte die Ärztin, griff behutsam die Finger meiner Hände, legte sie auf das Modell, das die äußeren, unteren Geschlechtsorgane einer Frau verkörperte, und lenkte mich so durch für mein Vorhaben wichtige Details der Anatomie. Danach wiederholte sie mit mir das Gleiche an dem männlichen Pendant und erklärte mir dabei, wie die Schwellkörper umgestaltet und verlegt die Funktion der Muskeln einer sich vor Lust kontrahierenden Vagina übernehmen konnten. Sie ließ mich auch ertasten, wie die Eichel an den Platz der Klitoris verlegt werden würde. Auch wie sie chirurgisch so modelliert werden konnte, dass sie sich als passendes Lustorgan einer Frau gut in das Gesamtbild eines weiblichen Geschlechtsteils einfügen könnte, durfte ich in Ruhe so lange ertasten, bis ich alles verstanden hatte. Wie ein viel dickerer Peniskopf so umgestaltet werden konnte, dass der hervorstehende Knubbel danach dem Bild einer biologischen Klitoris zum Verwechseln ähnlich sehen würde, verdeutlichte sie mir anhand einer Knetmasse, die sie für das Beratungsgespräch mit mir bereitgelegt hatte. Die Verkleinerung des sichtbaren Kügelchens könnte durch eine Art Einschnürung so vorgenommen werden, dass dabei keine Nervenenden so geschädigt werden würden, dass deshalb Orgasmusprobleme zu erwarten wären. Der größere Rest würde im Schamhügel verborgen, so über dem Eingang der Scheide unter der Schleimhaut versteckt, eingenäht werden, dass er seine Funktion beim Sex auch unsichtbar weiter erfüllen konnte. Dass die Prostata nach entsprechender Stimulation auch ohne die Keimdrüsen noch Unmengen von Sekret ausstoßen konnte, wusste ich schon aus der Erfahrung mit Leon. Dennoch ließ ich mir diesen wichtigen Aspekt von der Ärztin noch einmal interessiert im Zusammenhang mit der bei mir möglichen Operation erklären.

„Danke, das hat mir jetzt echt sehr geholfen, Frau Doktor. Nur das mit den Hormonen versteh’ ich noch nicht so richtig“, sagte ich und lenkte das Gespräch auf die Fragen, auf die ich weder in den Gesprächen mit meiner Chefin noch in jenen mit der Psychiaterin Antworten gefunden hatte, die ich verstand.

„Was wollen sie denn wissen?“, fragte die Chirurgin geduldig.

„Ihre Kollegin, die Frau Dr. Wiesenfels, hat mir wegen des Histrelins, das ich über vier Jahre als Stäbchen unter der Haut in meinem linken Oberarm implantiert hatte, irgendwie Angst gemacht. Durch die Umstellung auf die Depotspritze mit Triptorelin fühlte ich mich irgendwie in Richtung der OP gedrängt. Also in eine Richtung, die ja eigentlich gegen das Ziel der Beratungspflicht geht, die mich zwar vier Jahre lang total genervt hat, aber die ja verhindern soll, dass Betroffene irreversible Entscheidungen später bereuen", berichtete ich weiter ausholend, als ich das eigentlich vorhatte.

„Solange sie leiseste Zweifel in sich verspüren, rate ich ihnen von der OP dringend ab, und das hat überhaupt nichts mit den Hormonen zu tun, die sie im Moment brauchen, um die Zeit dafür zu gewinnen, die sie brauchen, um sich darüber klar zu werden, was sie wirklich wollen und wie sie ihr Sexleben so gestalten, dass sie damit glücklich leben können“, sagte Frau Dr. Seelblatt zuerst. „Zu dem Histrelin und dem Triptorelin gibt es nicht viel zu erklären, weil sich diese beiden Medikamente in ihrer Wirkung kaum unterscheiden. Sie schieben beide die Pubertät auf, und genau das ist das Problem, das meine Kolleginnen ihnen zu erklären versucht haben. Vielleicht versuchen wir es mal mit einem Vergleich. Einem Mädchen, das mit vierzehn Jahren darunter leidet, im Körper eines Jungen leben zu müssen, die Keimdrüsen zu entfernen, ist genauso schlecht wie die Pubertät einer achtzehnjährigen Frau bis weit in das Erwachsenenalter hinein mehr als nötig aufzuschieben. Sowohl das Histrelin als auch das Triptorelin sind beides Medikamente, die den Eintritt der Pubertät verhindern, und sie haben die Nebenwirkung, dass ihr Körper, abgsehen von dem beschränkten Wachstums zusätzlichen Brustfetts, so wie der eines Kindes bleibt und die Entwicklung der Geschlechtsattribute quasi eingefroren worden ist. Der wesentlichste Unterschied ist nur, dass das Histrelin sich als Stäbchen für eine unkomplizierte Langzeittherapie bei jüngeren Jugendlichen eignet und das Triptorelin bei PatientInnen ihres Alters besser für das Ausschleichen geeignet ist, weil dann einfach die Gabe weiterer Depotspritzen nicht mehr erfolgt.“

„Dann verstehe ich das jetzt so, dass ich mich, wenn ich mir sicher bin, dass ich nie in einem männlichen Körper leben will, noch vor der Absetzung des Triptorelin wenigstens so wie Leon kastrieren lassen sollte?“, fasste ich das Gehörte mit eigenen Worten im Ergebnis zusammen.

„Das könnte ein sinnvoller Schritt sein, weil die Orchiektomie so durchgeführt werden kann, dass die ganze Haut und auch das vollständige Gewebe, das für eine auch später noch mögliche Vaginoplastik gebraucht wird, durchaus erhalten werden können“, sagte die Ärztin, die mir alles so erklärt hatte, dass ich es gut verstanden hatte. „Denken sie über das alles in Ruhe nach, und wenn sie noch weitere Fragen haben, dürfen sie auch gerne zu einem weiteren Beratungsgespräch wiederkommen, bevor sie sich für die Operation entscheiden, die für sie die richtige ist, oder sie die Gedanken an eine der möglichen OPs ganz verworfen haben, nachdem sie sich die Folgen in Ruhe durchdacht haben.“

  

***

 

 Treffpunkt: Sushido Teltower Damm 26, Notare Pflaum & Blitzer

„Hi, Lissi! Magst du Sushi? Greif zu …", begrüßte Mara ihre neue ungleiche Freundin und bedeutete ihr mit einer einladenden Handbewegung, sich ihr gegenüber an den Tisch zu setzen. Auf dem Tisch stand eine Platte, die mit einer Menge bunt dekorierter Reisstückchen belegt war, von denen jedes der kleinen Kunstwerke schöner als das andere aussah.

„Essen kann ich vor lauter Angst und Lampenfieber jetzt wirklich nichts. Sorry, Mara“, sagte Lissi und setzte sich, ohne ihren Mantel auszuziehen.

„Kein Problem, dann lassen wir uns das einfach alles einpacken und essen es nach dem Notartermin in Ruhe zusammen bei dir zu Hause“, antwortete Mara, die sich in den zurückliegenden Wochen nicht nur als Organisationstalent gewaltig ins Zeug gelegt hatte.

„Die Kanzlei des Notars, also von unserem Dr. Pflaum, ist fast genau gegenüber, und wenn wir etwas früher da sind, kann das nicht schaden. Komm häng dich einfach bei mir ein, den Weg dorthin kenne ich schon so gut wie meine Westentasche“, sagte Mara, und der Körperkontakt wärmte der alten Dame voller Zuversicht ihr Herz, während Mara sie am Arm hatte, um mit ihr, ihren Stock voraus, sicher die Straße zu überqueren.

„Guten Tag Frau Schulte, nett sie kennenzulernen“, begrüßte Dr. Pflaum die verschüchtert wirkende ältere Frau sehr herzlich und ergriff danach zur Begrüßung auch Maras Hand, die er ebenfalls herzlich drückte. „Alle überpünktlich, sogar Herr Mayer ist auch schon da, also können wir gleich zur Tat schreiten.“

„Prima, Herr Pflaum, und vielen Dank für die gute Vorbereitung und für ihre hervorragende Beratung“, sagte ich und schnappte mir seinen Ellenbogen so selbstverständlich, wie ich das bei Nele tat und wie bei anderen Leuten, denen ich gerne vertraute.

„Da schau her, wie ein Engelchen, das kein Wässerchen trüben wolle, schaut sie aus, die reizbare Frau Müller, wenn sie betuchte ältere Damen wie ein treusorgendes Enkelkind begleiten darf“, stänkerte der Mayer in seiner schleimigen Art los, als er mich erblickte. Mit einer schnellen Kopfbewegung warf ich mir meine schulterlangen Strähnen so in den Nacken, dass sie sich sanft über all die feinen Härchen legten, die sich mir dort vor Ekel über diesen Typen sträubten. Weil ich den aalglatten Großkotz keines Blickes würdigen wollte, konzentrierte ich mich auf die Stelle über Dr. Pflaums Mund, an der ich seine Stirn vermutete, und drückte Lissi dazu aufmunternd ihre Hand.

„Das sollte sie nicht bewegen, Herr Mayer. Die beiden Damen legen vor der heute anstehenden Protokollierung Wert darauf, dass ich sie noch vorher darüber belehre, dass alle dafür anfallenden Kosten zu den Kaufnebenkosten gehören, deren Übernahme sie vertraglich zugesagt haben“, eröffnete der Notar sachlich.

„Kaufnebenkosten im Budget einer Courtage? Niemals …!", brauste Mayer auf.

„Nein, in der Courtage nicht, die hat Frau Müller ihnen, wie mir berichtet wurde, bezahlt, ohne Ihre Leistungen in Anspruch genommen zu haben. Es geht um Ihr Leistungsversprechen, das sie gegenüber der hier anwesenden Frau Schulte schriftlich erklärt haben. Da ihre Kundinnen um Diskretion gebeten haben, muss ich sie nun dazu auffordern, sich zu verabschieden.“

  

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„Guten Tag, hier spricht Mara, Mara Müller. Ich rufe wegen des Termins an, den wir für mich morgen bei Frau Dr. Wiesenfels geplant hatten“, sagte ich zu dem medizinischen Fachangestellten, den ich so gerne mochte und dessen Chefin sich prima um die Einstellung eines für mich gesunden weiblichen Hormonspiegels kümmerte.

„Hi Mara, schön, dich zu hören. Ich hoffe, es geht dir gut“, antwortete er mir wie immer gut gelaunt.

„Wollte eigentlich nur absagen für morgen, eine zweite Depotspritze brauche ich ja jetzt nicht mehr.“

„Ja, das weiß ich doch. Wie geht es dir denn jetzt nach dem Eingriff, dem du dich in der letzten Woche bei Frau Dr. Seelblatt unterzogen hast?“, fragte er fürsorglich weiter.

„So richtig gut noch nicht wirklich, aber selbst durch den Pflasterverband fühlt sich das jetzt schon alles richtig schön an. Nur der Katheter, der noch ein paar Tage liegenbleiben muss, nervt mich total."

„Das geht sicher schnell vorbei und dann hast du den Stress hinter dir. Herzlichen Glückwunsch, dass du es geschafft hast, diese mutige Entscheidung zu treffen, Mara“, sagte er und ich freute mich ganz doll über die Anerkennung, die in seinen Worten mitschwang.

„Die Nachsorge deiner OP läuft ja noch in der Klinik, aber wenn du für den Check deines Hormonspiegels in etwa vier Wochen schon einmal einen Termin vormerken lassen willst, mache ich das gerne gleich für dich“, ergänzte der Nette, der die Termingestaltung prima im Blick hatte.

„Gute Idee, ich bin ja noch vier Wochen krankgeschrieben. Vielleicht am selben Tag, dann ab heute in vier Wochen?“, fragte ich.

„Okay, das wäre dann ein Donnerstag. Da hätten wir um 11:15 Uhr noch einen Slot frei?“

„Prima, den nehme ich, und bis dahin auch eine gute Zeit für dich und liebe Grüße an euer ganzes Team“, verabschiedete ich mich und beendete das Gespräch.

  

***

  

„Hi Mara, du siehst ja prächtig erholt aus“, waren die Worte des medizinischen Fachangestellten, der mich wie eine beste Freundin in der Praxis von Frau Dr. Wiesenfels begrüßte. Die Psychologin, die auch Psychiaterin war, verfügte deshalb nicht nur über eine therapeutische Qualifikation, sondern hatte zusätzlich noch ein weiteres Studium als Medizinerin abgeschlossen. Sie hatte mich in den vergangenen Wochen auf dem Weg in einen für mich passenden Körper, in einen weiblichen Körper, in den Körper einer Frau prima begleitet.

„Danke, mir geht es auch so gut, wie ich aussehe.“ Am Montag der vergangenen Woche durfte ich wieder mit dem Sport anfangen. „Noch nicht so doll, aber wenigstens ein bisschen, das kam gleich richtig gut“, antwortete ich dem Angestellten, den ich total gern mochte, und klappte meinen Blindenstock zusammen.

„Kommst ja heute nur zum Blutnehmen. Das würde ich dann gleich machen. Sobald die Ergebnisse aus dem Labor da sind, melde ich mich kurz bei dir, und beim nächsten Mal hast du dann wieder das Vergnügen mit einem weiteren Date bei meiner Chefin persönlich“, hörte ich ihn mit seiner coolen Stimme sagen und spürte seine Hand unaufdringlich Handrücken an Handrücken.  Seine lockere Art, mir eine Brücke zu bauen, wie ich, ohne ihn fragen zu müssen, seinen Arm zum Führen lassen finden konnte, war fast schon einzigartig. Die Blutentnahme war schnell erledigt und der Typ hatte auch auf Anhieb eine prall mit Blut gefüllte Vene getroffen. „Danke, das war ja wirklich eine flotte Aktion“, sagte ich, als wir uns verabschiedeten. „Rufst du mich an, wenn die Ergebnisse da sind?“

„Klar, mach ich, und ich wünsche dir einen guten Start in deinem neuen Zuhause an der Uni“, flüsterte er mir zwar etwas frech, aber so diskret zu, dass es außer mir niemand hören konnte. Aus seinem Munde wollte ich diese Formulierung weder in den falschen Hals bekommen noch zicken, und auch er war sich vorher wohl schon recht sicher, dass ich ihn nicht falsch verstehen würde. So wie er es gesagt hatte, freute ich mich einfach nur über diesen Wunsch, der auch meinen Erwartungen an die Zukunft entsprach. In diesem Fall war es auch nicht nur der Ton, der die Musik machte. Das Vertrauen, auf dessen Basis sich Offenheit gründen kann, spüren Menschen, die sich sympathisch sind, auch ohne Worte. Deshalb nahm ich ihm auch nicht krumm, dass er mit dem neuen Zuhause meinen weiblichen Körper meinte, in den ich vor vier Wochen umgezogen war.

„Danke für die guten Wünsche, und für meine ersten Klausuren darfst du mir auch noch Däumchen drücken.“ „Entwicklungspsychologie ist zwar mega interessant, aber unheimlich viel Stoff, und für Sozialpsychologie gilt dasselbe“, antwortete ich, ohne darüber meckern zu wollen, dass ich in den vergangenen Wochen, obwohl ich krankgeschrieben war, viel für mein Studium gelesen und gelernt hatte.

„Gut, dass deine Wohnung noch rechtzeitig vor der OP fertig geworden ist und du den Umzug auch noch vorher hinbekommen hast“, kommentierte mein Gesprächspartner, den ich auch zu der großen Einweihungsparty eingeladen hatte, die ich, bevor ich mich unter das Messer begab, noch mit all meinen neuen Freunden, die ich in Berlin schnell gefunden hatte, feierte. Auch die ältere Dame Lissi, die unter meiner Wohnung im Erdgeschoss des Häuschens im Grünen lebt und deren richtiger Name eigentlich Luise ist, hatte ausdauernd mitgefeiert. Sogar meine Chefin Frau Prof. Dr. Grießhaupt, für die ich an der Uni als studierende Hilfskraft arbeite, war gekommen und meine Mutter war zu der Party aus der Provinz mit dem Zug zu mir nach Berlin gereist.

„Klar, Mara, sobald es so weit ist, drücke ich dir sogar beide.“ Aber für vorher wünsche ich dir noch eine schöne Adventszeit. „Deine Klausuren sind doch sicher erst nach Weihnachten, oder?“, fragte er und erinnerte mich so ganz unaufdringlich daran, dass ich mir auch Zeit zum Leben nehmen sollte, anstatt mich mit zu viel selbst auferlegtem Druck beim Lernen unnötig verrückt zu machen.

„Danke, ja, aber vorher sind ja bestimmt auch die Laborwerte da“, sagte ich während meines Gehens und winkte ihm beim Verlassen der Praxis noch ein letztes Mal freundlich zu.

 

***

 

„Guten Morgen, Mara, nimm Platz und nimm dir gerne ein Stück von der Torte, die auf dem Tisch steht“, hörte ich die Lehrstuhlinhaberin am Institut für Sexualpsychologie sagen, die mich zu der heutigen Unterredung in das weihnachtlich dekorierte Ambiente ihres Büros eingeladen hatte. „Dein Teller steht schon an dem Platz, an dem du sonst auch immer während der Termine mit mir an meinem Besucherbesprechungstisch sitzt.“

„Guten Morgen, Frau Grießhaupt“, antwortete ich erfreut, während ich mit meinem Stock nach der Position der Stühle tastete, die, so wie ich das erwartet hatte, wie immer um den Tisch herum standen. Der verlockende Duft der Torte, dem ich folgte, ließ mir schon, bevor ich saß, das Wasser im Mund zusammenlaufen. Unser Verhältnis war prima und meine Professorin hatte mir schon vor längerer Zeit gesagt, dass es ihr lieber sei, wenn ich sie in Besprechungen wie der heutigen nur mit ihrem Nachnamen anstatt mit ihren Titeln ansprechen würde. Sie tat immer alles dafür, um für jede Situation eine passende Atmosphäre zu schaffen. In ihren Vorlesungen präsentierte sie sich genauso zurückhaltend wie in den persönlichen Besprechungen mit mir, aber im Gegensatz zu dem privateren Rahmen dann sehr streng, was sie in der Öffentlichkeit eher unnahbar wirken ließ. Zu den Treffen in ihrem Büro gab es meistens Torte und seltener nur Kuchen oder Kekse zu den perfekten Kaffeespezialitäten, die sie ihrer Jura stets frisch gebrüht und kochend heiß entlockte. „Der Duft der Kerzen, die sie angezündet haben, passt prima zu dem fruchtigen Duft der leckeren Torte, und der große Adventskranz hier auf dem Tisch fühlt sich schön buschig an. So dick wie seine harzigen Nadeln sind, fühlt er sich wie selbst gebunden an“, äußerte ich mich anerkennend über die liebevollen Details, die ich hier neu vorgefunden hatte.

„Mara, heute werden wir zuerst über ein für sie und für ihre Zukunft sehr empfehlenswertes studienbegleitendes Praktikum reden“, sagte sie, während sie einen kochend heiß dampfenden doppelten Espresso vor mir abstellte. Auf die Untertasse hatte sie mir wie immer einen kleinen Espressolöffel an der rechten Seite daraufgelegt. „Der Zucker, von dem sie immer gerne ein bisschen mehr nehmen, steht da auf dem Tisch, wo er immer steht.“

„Sie meinen wohl, weil ich bei den Leuten von der Touristeninformation abgeblitzt bin, von denen ich den Job als Stadtführerin, so wie viele andere Studierende das auch machen, haben wollte. Zumal sie den dort ja extra als Nebenjob für Studierende ausgeschrieben hatten?“, fragte ich, ohne zu ahnen, worauf meine Chefin hinauswollte. Entspannt nippte ich an meinem klebrig-süßen Espresso und kostete den ersten Happen von dem Stück Erdbeersahnetorte, das ich mir auf den Teller geladen hatte, der vor mir an meinem Platz auf dem Tisch stand.

„Ja, damit hat es auch zu tun, und gerade für Studierende, die nur die Schule kennen, weil sie noch keine abgeschlossene Berufsausbildung haben, sind Praktika besonders wichtig“, sagte sie und schob mir einen Flyer unter meine linke Hand, die mit der Handfläche nach unten ruhig neben meinem Kuchenteller auf dem Tisch lag. „Solche praktischen Erfahrungen aus dem Arbeitsleben bereichern das Studium in diesen Fällen sehr.“

„Ui, Braille, … voll cool“, sagte ich im ersten Moment angenehm überrascht, weil ich die kleinen Noppen in dem etwas dickeren Papier sofort als kleine, mir sehr vertraute Pünktchen erkannte. Pünktchen, die ich so gut wie Sehende geschriebene Buchstaben und Wörter mit ihren Augen studierten, mit meinen Fingern lesen konnte. Aber das, was ich unter meinen Fingerkuppen spürte, ließ mich kurz darauf erstarren und dann stockte mir fast der Atem. „Oh nein, das ist jetzt nicht ihr Ernst, oder?“, rief ich aufgeschreckt mit unverhohlenem Unmut aus.

„Doch Mara, das ist mir für sie ganz wichtig, und ernst meine ich es auch“, bemerkte sie ganz gelassen und schwieg danach auch nach dem Nippen an ihrem Kaffee einfach weiter, um meine Antwort auf ihre Ansage abzuwarten.

„Callcenter kann ich genauso wenig ab wie die Blindenarbeitsplätze, die dort in stickigen Hallen wie Legebatterien für Federvieh zusammengepfercht sind. Solche Orte sind doch die reinste Hölle für Menschen, die dort anstatt Eier legen zu müssen dazu gezwungen werden, Textbausteine im Akkord vorzutragen und die zum vorgegebenen Takt stupide Knöpfchen drücken müssen“, regte ich mich auf und gab mir keinerlei Mühe, meine Wut zu kaschieren.

„Keinen deiner Kommilitoninnen und Kommilitonen, die ähnliche Erfahrungen am Fließband in der industriellen Massenproduktion gesammelt haben, hat das für ein paar Wochen geschadet“, entgegnete die Professorin und befasste sich dazu entspannt mit einem Happen von der leckeren Torte, was mir das Klirren ihrer Kuchengabel auf dem Porzellan verriet. „Ganz das Gegenteil ist nämlich der Fall und auch der beabsichtigte Effekt, Mara.“

„Für Sehende, die als Unternehmenspsychologen Karriere machen wollen, lasse ich mir das gefallen, aber für mich als angehende Sozial- und Familienpsychologin empfinde ich das als fremdbestimmende Diskriminierung“, hielt ich dagegen und schüttete den ganzen Rest des Espressos auf einmal in mich hinein. Schmollend tastete ich nach der spiegelglatten Oberfläche des schweren Gefäßes aus Bleikristall, das neben meiner Espressotasse auch vor mir mit eingedeckt worden war. Die Karaffe mit dem eiskalten Wasser, von der ich wusste, dass sie immer in der Nähe des Zuckers auf dem Tisch stand, fand ich auch schnell. Während ich mit meinem Zeigefinger nach dem Füllstand in meinem Glas spionierte, das ich knapp bis unter den oberen Rand so weit füllte, bis es fast überschwappte, klangen die Eiswürfel, die im sprudelnden Mineralwasser schwammen, friedlich wie weihnachtliche Glöckchen. Bevor ich es auf einen Zug um mehr als die Hälfte leerte, ließ ich die frische Kälte noch ein kurzes Weilchen in meinen Handflächen wirken und war froh darüber, wie sehr diese Ablenkung mich beruhigte.

„Fremdbestimmung teilweise, aber von Diskriminierung ist da nichts dabei, liebe Mara“, stellte meine Dozentin nüchtern fest und gab mir zu verstehen, was sie von mir erwartete. Sie wollte, dass ich ihrem Rat folge, obwohl wir natürlich beide wussten, dass sie keine Mittel hatte, um mich zu dem Glück, das ich für mich nicht sah, zu zwingen.

„Ich komme mir vor wie bei der Touristeninformation, die mich nicht haben wollte, weil ich blind bin“, nörgelte ich vor mich hin, während Frau Grießhaupt mir einen weiteren Espresso zog, der, so lange wie das Mahlwerk ratterte, wieder mindestens ein Doppelter sein musste.

„Schauen sie sich den Flyer doch erstmal in Ruhe durch, Mara“, hörte ich die Stimme aus derselben Richtung, aus der die Pumpe des Kaffeevollautomaten brummte.

„Eine Investorengruppe, die ein Start-up für ein Nobelhotel unter einem unscheinbaren Namen in Berlin gegründet und die historische Bausubstanz des Hotelgebäudes gerade fertig restauriert hat? … und die wollen zwei Arbeitsplätze für Blinde besetzen, die sich schon betriebsbereit in dem noch leeren Nobelschuppen befinden? Wie soll das denn funktionieren und was soll das?“, fragte ich am Ende des Lesens leise murmelnd mehr mich selbst als meine Gesprächspartnerin.

„Dazu habe ich schon etwas recherchiert und herausgefunden, dass sie das Ziel verfolgen, zuerst den Hotelbetrieb aufzubauen, um die GmbH dann zum Beispiel an die Ritz-Carlton-Kette, die in Berlin noch nicht vertreten ist, zu verkaufen“, erklärte mir meine Professorin.

„Den Job als blinde Stadtführerin für sehende Touristen hätte ich genauso gut hinbekommen wie das stubenhockende Telefongequatsche. Aber besser als die Massenmenschenhaltung im Tourismus-Callcenter scheint der Job, den sie gefunden haben, allemal zu sein. „Hinzu kommt, dass für die Tätigkeit dort wohl auch wirklich eine empathische Gesprächsführung gefragt ist, bei der Fingerspitzengefühl und Kreativität gegenüber den Kunden im Vordergrund stehen, anstatt nur Textbausteine im Takt der Sklaventreiber hinaus hauen zu müssen“, antwortete ich einlenkend.

„Möchtest du noch ein Stück Torte, Mara?“, hörte ich meine Gastgeberin freundlich sagen, ohne mich weiter von ihr gedrängt zu fühlen. „Es waren für jede von uns zwei Stücke da, bediene dich gerne, für den Kühlschrank wäre der Rest zu schade.“

„Auf diesen Schreck gerne und vielleicht auch ein bisschen zur Versöhnung“, stimmte ich dem Vorschlag kleinlaut und dankbar zu. Wegen meines ungezügelten Temperaments, das ich immer noch nicht so im Griff hatte, wie ich mir das neuerdings immer vornahm, ärgerte ich mich mal wieder über mich selbst. Insbesondere für Situationen, die mich so wie diese aufregten, wünschte ich mir die besonnene Gelassenheit und Geduld, die mir Frau Grießhaupt vorlebte. Leider wurde mir erst mal wieder im Nachhinein klar, wie unreif ich mich gegenüber der mir so wohlgesonnenen Person durch das Gespräch bewegt hatte.

„Komm, Themawechsel, Mara“, sagte sie freundlich. „Wie läuft es denn mit dem Begleitseminar, das Leon mit dir als seiner studierenden Hilfskraft parallel zu meiner Vorlesung anbietet? Du warst ja gleich nach Anfang des Semesters für einige Wochen wegen deiner OP ausgefallen. Von den Studierenden habe ich zwar nichts Negatives gehört, aber ich hoffe natürlich auch, dass es dir persönlich mit dieser Arbeit gut geht. Hat sich denn da inzwischen, seit du wieder ganz auf dem Damm bist, für dich aus deiner Eigenwahrnehmung etwas geändert?", fragte sie nett und fürsorglich. Die leidenschaftliche Begeisterung, mit der ich ihr von den Gesprächen berichtete, wie Leon und ich unsere nicht alltäglichen Erfahrungen offen mit anderen angehenden Therapeuten teilten und diskutierten, tat mir gut und brachte mich auf andere Gedanken.

  

***

  

„Guten Morgen, Mara!“, begrüßte mich Herr Dielmann, den ich schon aus dem Bewerbungsgespräch kannte, an der monumentalen Drehtür, die aus Mahagoni gefertigt und mit Messingbeschlägen verziert war. „Sie sind aber früh dran, da hätten sie ja um ein Haar noch in der Kälte auf mich warten müssen.“

„Na ja, Arbeitsbeginn ist ja um 8:30 Uhr und wir wollten doch vorher noch den Arbeitsvertrag für mein Praxissemester fertig machen“, antwortete ich und streckte ihm meine Rechte, begleitet von einem freundlichen Lächeln, entgegen. „Ich hoffe, um 7:30 Uhr ist es nicht zu früh, aber ich kann auch gerne noch ein bisschen in der Lobby warten. Hier drinnen ist es schließlich schön mollig warm.“

„Ach Mara, nein, gar nicht. In unserer Branche gibt es kein Zu-früh, wir leben freundliche Dienstleistung doch rund um die Uhr“, sagte er hinter mir stehend, weil er mir wie ein Gentleman die Tür noch aufgehalten hatte, als ich schon längst hindurch war, und mir erst dann fast so lautlos wie ein englischer Butler folgte.

„Vielleicht erst mal einen Kaffee, wenn wir oben sind?“, sagte der nette ältere Herr, der eigentlich Bauunternehmer war und den ich schon bei unserem ersten Treffen damit verblüfft hatte, wie schnell und gut ich mir Orientierungspunkte einprägen konnte. „Unser Personalbüro ist noch immer am gleichen Ort im ersten OG.“

„Prima, dann weiß ich ja schon, wo wir jetzt zuerst zusammen hinwollen“, bemerkte ich und blieb aber stehen, weil ich dem freundlichen Herrn mit meinem Tatendrang nicht vor den Kopf stoßen wollte. Die Abenteuerlust in mir zurückzuhalten, die mich dazu drängte, ihm und mir zu beweisen, dass ich mir diesen Weg durch das Hotel auch schon ohne fremde Hilfe zutrauen durfte, verlangte mir eine Menge Selbstbeherrschung ab.

„Mara, ich bin jetzt etwas überfordert, weil ich nicht so recht weiß, wie ich Ihren Aufmacher richtig interpretieren soll. Sie dürfen gerne vorgehen, aber ich reiche ihnen auch gerne meinen Arm“, sagt er sehr feinfühlig, sodass ich ihn gleich noch mehr mochte als nach unserem ersten Gespräch, in dem ich ihn auch schon als sympathischen Menschen wahrgenommen hatte.

„Dann gehen wir einfach zusammen und machen es umgekehrt wie beim Tanzen“, bemerkte ich mit einem Grinsen, hakte ihn unter und ging mit ihm an meinem Arm den Stock voraus schnurstracks auf die Aufzüge zu.



***



„15.02.2020 – 15.07.2020, wie besprochen, und für das halbe Jahr dann vierzehn Tage Urlaub. Die Grundvergütung mit € 14,– pro Zeitstunde und 38 h pro Woche mit einem kurzen Freitag. Die Probezeit sind drei Monate und ab der zwanzigsten Zimmerbuchung dann € 20,– Prämie für jede weitere Buchung bis zum jeweiligen Monatsende“, wiederholte er die Eckpunkte meines befristeten Arbeitsvertrags und trank seinen Kaffee aus.

„Ja, das passt so prima. Genau so hatten sie mir das während des Vorstellungsgespräches erklärt und so steht es ja auch in dem Entwurf des Arbeitsvertrages, den sie mir zur Vorbereitung als PDF per E-Mail geschickt haben. Darf ich ihnen die zwei von mir bereits unterschriebenen Exemplare hier geben, die sie mir freundlicherweise zur Prüfung überlassen haben?“, fragte ich. Dazu reichte ich ihm die zwei zusammengetackerten Exemplare, die ich vor dem Unterschreiben ordentlich gecheckt hatte, über den Tisch und leerte auch meine Tasse. „Das Kleingedruckte, das ich mir zuhause mit meinem PC in Ruhe ansehen konnte, passt auch.“


***


„Hi, Sie sind mit dem Frontdesk des Hotels Sleepcloud in Berlin verbunden und mein Name ist Mara. Schön, dass Sie bei uns anrufen …“, säuselte ich etwas taffer als vorher in das Mikro meines Headsets und beendete das Gespräch, ohne auf eine Antwort zu warten. Nachdem ich gehört hatte, dass die Tür zu dem großzügigen Raum, der sich in direkter Nachbarschaft zur Rezeption im Erdgeschoss befand, geöffnet wurde, beendete ich das Lernprogramm sofort. Herr Dielmann hatte es mir nach der Einweisung in die neue Arbeitsumgebung kurz vorgeführt und dazu bemerkt, dass es keine Pflicht sei, es zu nutzen, aber das Training vielleicht eine nette Abwechslung wäre, wenn gerade mal wenig los sei.

„Hallo Mara, hier bin ich schon wieder. Ihre neue Arbeitskollegin ist bei mir, sie heißt Ronja, und ich möchte euch einander vorstellen“, sagte er, und ich hörte, wie er meiner neuen Kollegin zeigte, wo deren Drehsessel stand. Aus den Erklärungen zu den verschiedenen Hebeln, die ein gesundes Sitzen ermöglichten, schloss ich, dass der Sessel das gleiche Modell wie der war, auf dem ich mich schon mega gut eingelebt hatte, weil er unbeschreiblich bequem war.

„Hi, Mara, ich bin Ronja“, hörte ich eine schüchterne Stimme im Stuhl neben mir sagen, die das ‚r‘, so ähnlich wie die Bayern rollte, nur, dass es viel melodischer als das im Freistaat praktizierte, zu mir herüberkam. Es klang auf eine ganz besondere Art zuckersüß und hinterließ bei mir einen superpositiven ersten Eindruck, der gleich sogar irgendwie ein bisschen in meinem Bauch kribbelte.

„Hi Ronja, nett, dich kennenzulernen“, antwortete ich und fand ihre linke Hand wie vermutet genau dort auf der Armauflage ihres Ledersessels, wo sie sich festgeklammert hatte.

„Wäre es ok, wenn ich die Einweisung von Ronja übernehmen würde?“, fragte ich Herrn Dielmann spontan und war froh, dass er gleich verstand, was ich vorhatte, und sich so zügig von uns beiden verabschiedete, wie er mit Ronja in unser neues Reich hineingeplatzt war.

 

 

 

Verseuchung

Orlejev

 

„Der iranische Botschafter hat schon wieder an das Essen mit ihnen erinnert“, sagte Nicole Krause, die persönliche Assistentin des deutschen Botschafters in Moskau, zu ihrem Chef und schaute ihn fragend an. Auf dem Tisch vor ihr lag die aufgeschlagene Mappe mit der Tagespost.
„Als ob wir mit den Russen hier nicht schon genug Probleme hätten, aber der Kerl lässt wohl nicht locker …“, sagte er missmutig und blickte mit einer geduldigen Leidensmiene nach einem Terminvorschlag fragend in die braunen Augen seiner wichtigsten Mitarbeiterin.
„Er scheint sich jetzt auch mit einem Frühstück mit ihnen begnügen zu wollen und würde sie gerne kommende Woche um zehn Uhr am Morgen ins Hotel Metropol einladen“, sagte Nicole. Dann fügte sie noch hinzu, dass sie den Iranern aber schon mitgeteilt hätte, dass ihr Chef so kurzfristig wenig flexibel sei und an diesem Tag auch schon um dreizehn Uhr wieder der nächste Termin in der Botschaft anstünde.
„Danke, das haben sie mal wieder perfekt in meinem Sinne vorbereitet. Um das Gespräch komme ich wohl nicht herum, nachdem er jetzt schon zum dritten Mal angeklopft hat“, sagte der Botschafter, der die Interessen der deutschen Demokratie hier verteidigen musste, lobend. „Wissen wir denn, was er will?“
„Ich vermute, es geht ihm um die zwei Studierenden …, die Sache im Ziferblat, wenn sie sich erinnern …“, sagte Frau Krause und schob ihm, während sie sprach, zwei kleine zusammengetackerte Berichte dazu über den Tisch.
„Ah ja, die Sache mit den zwei Studentinnen aus Berlin, um die sich Enis Ganbat intensiver gekümmert hat, als ich mir das eigentlich erwünscht hätte“, sagte der Botschafter mit einem ärgerlichen Stirnrunzeln und schob die beiden Berichte gleich wieder desinteressiert zurück.
„Der zweite Bericht ist neu. Enis hat ihn mir gestern geschickt …“, sagte Frau Krause mild und strich sich ein paar Strähnen ihrer dunkelblonden Haare hinter ihr rechtes Ohr.
„Noch eine Romanze …?“, fragte der Botschafter und zog seinen Mund gequält schief.
„Nein, Herr Botschafter, keine Romanze. Der neue Bericht gehört wohl eher in die Kategorie ‚Thriller‘. Das Schlimme ist nur, dass wir noch nicht wissen, was davon Fiktion ist und was schon bald bittere Realität sein könnte“, sagte Nicole Krause. Ihre Stimme klang ernst, während sie vorsichtig einen der beiden Berichte wieder zur Mitte des Tisches zurückschob.
„Sagen sie mir erstmal einfach, was da drin steht …“, brummte der Botschafter mit einem ungeduldigen Blick auf die dicke Postmappe, die vor Nicole Krause lag und in der immer noch kein Blatt weiter geblättert worden war.
„An der Geschichte mit den Cyborgs scheint mehr dran zu sein, als wir glaubten, und es kommt noch schlimmer … Wenn Enis recht hat, geht es um Biowaffen. Neue Biowaffen. Biowaffen, die die Russen entwickeln, um die westliche Welt den Diktaturen zu unterwerfen“, sagte Krause in sachlicher Ruhe und wartete auf eine Reaktion.
„Was? …, geben sie das Ding schon her, …“, sagte der Botschafter und nickte anerkennend. Er wusste, dass er sich hier nicht nur auf Nicole, sondern auf sein ganzes Team verlassen konnte, und lehnte sich in seinem Sessel zurück, um den knappen Bericht gleich zu lesen.

 

 

***

 

„Guten Tag, Herr Oberst“, begrüßte Frau Dr. Konowalowa, die Direktorin der geheimen Einrichtung, die das russische Militär in der östlichen Ukraine betrieb, den großen Unbekannten recht vertraut am Telefon. Die übliche Anrede, die sie verwendete, klang dabei eher aufmüpfig als respektvoll gegenüber dem Mann ohne Gesicht. So nannten ihn die meisten der wenigen, die überhaupt wussten, dass es ihn gab, wenn sie hinter vorgehaltener Hand über ihn sprachen. Aber auch das war für die wenigen gefährlich, weil selbst im Kreml nicht alle derjenigen, die im engsten Kreis des Präsidenten Taras Nowikow herumschleimten, von der Existenz dieses Mannes und den geheimen Projekten wussten, an denen er arbeiten ließ.

„Verdammt, Uljana, das wurde aber höchste Zeit“, bellte der Offizier in sein Telefon und verlangte eine sofortige Erklärung dafür, warum er so lange auf diesen Anruf warten musste. Mühe, seinen Zorn zu verbergen, gab er sich nicht, sondern donnerte, weil er es gewohnt war, Menschen einzuschüchtern, in einem fort und zelebrierte sein Lieblingsspiel mit der Angst selbstgefällig weiter.

„Ich hoffe, dass ihr wenigstens vorangekommen seid, meine Geduld ist bald zu Ende. Oder habt ihr alle schon vergessen, wie es um unsere Truppen steht, die im Gegensatz zu euch in Matsch, Schnee und Eis im Feuer liegen? Russland ist auf eure Ergebnisse angewiesen, und wenn ihr nicht liefert …“, zischte er die Frau, die er offensichtlich näher kannte, schroff an und ließ den letzten unausgesprochenen Satzteil drohend im Raum stehen.

„Ja, sind wir“, antwortete sie kühl.

„Nur vorangekommen, oder wird jetzt auch mal etwas fertig?“, blaffte der Oberst und gab sich, so wie es seinem Selbstbild entsprach, das er narzisstisch von sich pflegte, schroff und ungeduldig.

„Die Termitox-Neutralisierung scheint zu funktionieren“, gab sie ihm knapp zur Antwort und wartete auf seine Reaktion.

„Was heißt ‚scheint‘?“, fragte ihr Gesprächspartner lauernd.

„Nun ja, die beiden Neuen, die uns Vesevolod aus Deutschland geschickt hat, haben uns gewaltig weitergebracht, vor allem die Frau, die Susi heißt. Sie kann inzwischen schon wieder ganz gut sehen“, berichtete die Biologin in einem Ton, mit dem sie den Oberst spüren ließ, dass er mit Drohungen bei ihr nichts erreichen würde.

„Uljana, willst du mich missverstehen, oder hat dir der Krieg jetzt auch deine restlichen Sinne getrübt?“, fragte der Mann, der in Insiderkreisen als einer der gefährlichsten der russischen Armee galt, mit milder Stimme und entspannte sich in dem bequemen Ledersessel, in welchem er hinter seinem wuchtigen Schreibtisch saß. Leise zog er die oberste Schublade auf der rechten Seite seines Schreibtisches heraus, legte die geheime Personalakte seiner Gesprächspartnerin vor sich auf die abgewetzte grüne Schreibtischunterlage und öffnete sie genüsslich.

„Bei mir ist bis auf den einen Sinn, der mir geraubt wurde, überhaupt nichts getrübt“, zischte sie wie eine ins Feuer geworfene Schlange giftig zurück. Dabei musste sie sich, weil sie genau wusste, mit welchen Kniffen sie ihren Gesprächspartner schachmattsetzen konnte, ein stolzes Grinsen verkneifen. Ein Grinsen, das ihn gleich gefügig gemacht hätte, wenn er ihr gegenüber gesessen hätte und dabei in ihre Augen hätte sehen können.

„Uljana, du freche Hexe, kennst einfach keine Angst“, sagte Orlejev und strich mit den Fingern seiner rechten Hand über das Passfoto, das auf dem Deckblatt in der rechten oberen Ecke ihrer Akte klebte. Die große sportliche Frau mit den pechschwarzen Haaren, die mit ihren achtundzwanzig Jahren schon sehr früh zur Direktorin aufgestiegen war, turnte den Oberst jedes Mal, wenn er wieder mit ihr zu tun hatte, total an. Er war regelrecht verrückt nach dem sehr speziellen Blick ihrer Augen, die schwarz umrahmt aus dem Gesicht der äußerst attraktiven Russin wie Edelsteine herausleuchteten und immer deutlich schielten. Den Telefonhörer in seiner Linken setzte er das Gespräch fort und dachte an die langen Beine seiner besten Mitarbeiterin und die aufregende Nacht, die er mit ihr während des letzten Besuches in seiner luxuriösen Bleibe, die mit Stacheldraht gesichert war, verbracht hatte. Seine Privatresidenz war kein klassischer großer Bungalow, sondern das Bauwerk erinnerte mehr an ein tropisches Lustschloss inmitten einer unwirtlichen Eiswüste, das sich in der direkten Nachbarschaft der als Sanatorium getarnten Versuchsanlage befand, in der er Uljana als Direktorin eingesetzt hatte. Den Inhalt von Uljanas Akte kannte schon deshalb keiner so gut wie Orlejev, weil er sie selbst so zurechtgeschliffen hatte, dass für Dritte alles so aussah, wie er die Geschehnisse darstellen wollte. Als er die Stelle überflog, die beschrieb, wie tapfer seine clevere Favoritin sei, die als Studentin in seinem Auftrag in einem Militärlabor Versuche zur Entwicklung neuer Biokampfstoffe für ihr Vaterland durchführte, lächelte er zufrieden. Dabei, so stand es dort, habe sie durch einen Unfall im Labor zwar ihre beiden Augen verloren, aber ihre Arbeit auch nach ihrer Erblindung weder nennenswert unterbrochen noch aufgegeben. Die Akte der Blinden, die ihre Forschungen bis zum heutigen Tag ausschließlich zum Wohle Russlands weiter betrieben zu haben schien, wirkte recht abgegriffen. Die blasse Pappe des an den Rändern rissigen Aktendeckels war vom Fett der Finger, die darin offensichtlich immer wieder herumgeblättert hatten, recht speckig geworden und vermittelte schon vor dem Öffnen einen schmierigen Eindruck. Auf grobem, vergilbtem Papier las sich der Inhalt schon auf den ersten Blick wie ein skurriler Thriller, aber wer die geheime Akte genau studierte, entdeckte, dass noch mehr als die bloßen kriegerischen Motive der Russen dahintersteckte. Das, was darin zwischen den Zeilen zu lesen war, durfte nach sorgfältiger Betrachtung nicht weniger schmierig als der schmuddelige Einband des Pamphlets interpretiert werden. Orlejev blätterte zum Deckblatt zu Uljanas Passbild zurück und bekam regelrecht Herzklopfen, als er an das dachte, was er gleich weiter mit ihr besprechen wollte. Auf den starren Silberblick ihrer eisblau strahlenden Kunstaugen, die Uljana besonders unnahbar und so kalt wie eine Nixe im Polarwasser wirken ließen, würde er, vielleicht schon beim nächsten Besuch bei ihr, verzichten müssen. Wenn alles nach Plan lief zumindest, aber dieses Thema wollte er sich bis zum Ende des Telefonates aufheben.

„Ich eine Hexe …, Sergej?“, stichelte Uljana provokant mit jetzt süßlich klingender Stimme weiter und packte noch eine rauchige Note obendrauf.

„Das klingt so, als ob du dich vor dem Scheiterhaufen drücken wolltest, meine Liebe“, erwiderte Uljanas Förderer und gab sich keine Mühe, seine Erregung für die Frau zu verbergen, die ihm in schwarzes Leder gehüllt schon viele Nächte fast um seinen Verstand gebracht hatte.

„Das wäre dann das erste Mal, wo ich mich vor heißen Spielchen mit dir drücken wollte, aber ich weiß ja, wie sehr du mich noch als deine Giftmischerin brauchst“, gurrte sie in den Hörer.

„Uljana, du weißt, wie sehr ich dich schätze, aber lass das besser mit unseren Klarnamen. Das ist selbst in einem so persönlichen Kontext nicht ungefährlich am Telefon“, sagte er mit einem warnenden Unterton in seiner Stimme.

„Ja, ja, der FSB und sein unergründliches Netzwerk“, sinnierte Uljana und zeigte sich auch in dieser Hinsicht unnahbar und immun gegen alles, wovor andere Leute schon bei dem bloßen Gedanken an den russischen Geheimdienst vor Angst verstummten.

„Den FSB solltest selbst du nicht unterschätzen“, entgegnete der Mann ohne Skrupel, seine Warnung noch einmal wiederholend, aber beim zweiten Mal etwas lauter.

„Sergej, wir telefonieren über eine sichere Leitung und zusätzlich noch über einen Zerhacker. Hat der Krieg denn dem größten Helden Russlands die Sinne vernebelt und dich so ängstlich und dünnhäutig wie die anderen Fettwänste im Kreml werden lassen? Der Aufenthalt in unserer Hauptstadt scheint dir diesmal wirklich nicht gutzutun. Du hättest doch auf mich hören und hierbleiben sollen“, flötete Uljana, begleitet von einem fiesen Grinsen in ihren Hörer, und genoss, dass sie in dem Gespräch die Oberhand gewonnen zu haben schien, was sie wie immer, wenn ihr das gelang, voll anfixte.

„Wolltest du mir nicht von deinen neuen Erfolgen berichten? Dein Ablenkungsmanöver wird dir, wenn alles nur heiße Luft war, auch nicht mehr helfen“, antwortete Sergej völlig entspannt und genoss es umso mehr, seine Gespielin wieder an die Leine zu legen.

„Du bist ein richtiges Dreckstück, Sergej, aber genau das macht dich so unheimlich sexy“, sagte Uljana. Sergej konnte aus ihrer Sprachmelodie heraushören, dass sie außer der Sehnsucht nach neuem Sex mit ihm als ihrem Lover auch ihre Arbeit für ihn in seiner Rolle als ihr Chef gewissenhaft im Blick behalten hatte. Kurz darauf ratterte sie, wie eine Maschinenpistole, völlig emotionslos, mit kühler Stimme einen stichwortartig gegliederten, äußerst knappen, aber hinreichend vollständigen Bericht herunter.

„Als ob ich ein Ablenkungsmanöver nötig gehabt hätte …“

1. Susi und Pawel waren schon vor ihrer verspäteten Ankunft hier, beide mit Termitox verseucht.

2. Susi wurde erfolgreich dekontaminiert und ihre Sehkraft wird gerade rekonstruiert.

3. Die Fortentwicklung von Pawels Kontamination wird von Anna, unserer Chirurgin, wissenschaftlich begleitet.

4. Morgen bekommt Susi von Anna ein Hirnimplantat eingesetzt.

5. Die Bestrahlungen haben sich zwar zum Entseuchen bewährt, aber sie immunisieren nicht.

6. An einer verbesserten Immunisierung arbeiten wir noch.

7. Unsere bionischen Prothesen funktionieren in manchen Bewegungsmustern schon besser als biologische Glieder.

8. Die Fortschritte mit unseren bionischen Augen sind vielversprechend", sagte Uljana und beendete ihren Vortrag ohne weitere Kommentierungen.

„Kommt noch etwas …?“, fragte der Oberst, den die lange Gesprächspause nervte, in der er seine wichtigste Mitarbeiterin nach deren Vortrag nur leise atmen hörte. Wie von Uljana beabsichtigt, hatte das Warten Orlejev erneut gehörig provoziert.

„Ich dachte, sie bevorzugen die Fragerunde, Herr Oberst“, antwortete ihm die Direktorin so freundlich und so hochnäsig wie eine Universitätsprofessorin gegen Ende der Vorlesung.

„Wozu noch ein Hirnimplantat, wenn Susi schon wieder sehen kann?“, fragte Orlejev, gab sich jovial und blies sich wie ein Gentleman auf, der gegenüber einer toughen Frau nicht als ideenloser Spielverderber dastehen wollte. Einerseits reizte es ihn, sich außer an Uljanas Körper auch an ihrem Intellekt zu reiben, und andererseits machten ihn ihre gekonnten Frechheiten, ohne dass er das je zugeben würde, total an.

„Weil ihr außer einem Auge auch noch ihr rechter Arm fehlt“, antwortete Uljana listig.

„Ahh, die Unbesiegbare hat plötzlich doch Angst vor den Tücken der Technik bekommen“, konterte Orlejev.

„Pahh, als ob ich mit der Wiederherstellung von Susis altem räumlichen Sehen wertvolle Zeit für nichts verplempern würde, Orlejev!“, fuhr sie ihn wie eine Furie mit glaubhaft echt gespielter Entrüstung an und war gespannt, wie das Spielchen weitergehen würde.

„Als wir vor kurzer Zeit über die Testung dieses neuen Implantats, das auf dem visuellen Kortex des Gehirns appliziert werden muss, sprachen, erklärtest du mir noch, dass du alles Weitere im Selbstversuch erforschen müsstest. Du selbst seist die einzige geeignete Probandin dafür. Das waren deine eigenen Worte“, sagte der Oberst. Er erinnerte sich, über sich selbst verärgert, daran, dass er in dem zurückliegenden Gespräch zunächst spontan, aber unüberlegt gegen diesen Vorschlag seiner, von ihm bis zu diesem Zeitpunkt für immer geblendet geglaubten, Gespielin argumentiert hatte.

„Die Situation hat sich mit Susi grundlegend verändert und dir dürfte es doch gerade gelegen kommen, wenn bei mir, mit meinen zwei Dummys drin, bis auf Weiteres alles so bleibt, wie es ist, oder täusche ich mich?“, sagte sie mit einem süffisanten Grinsen in ihrer Stimme.

„Das ist immer noch keine Erklärung dafür, dass Susi morgen ihren Schädel geöffnet bekommt, während deiner plötzlich zu bleiben soll“, erwiderte Orlejev, ohne auf die zweideutige Anspielung seiner Gesprächspartnerin einzugehen.

„Diese falsche Schlange“, dachte Orlejev und ärgerte sich darüber, dass er die Chance, die er zu spät erkannte, nicht gleich genutzt hatte. Vielleicht hatte er es sogar wirklich für immer verpatzt, dass sich seine blinde Muse, wenn sie mit dem Implantat tatsächlich wieder hätte sehen können, noch ein zweites Mal für ihn hätte blenden lassen müssen. Verschlagen grübelte er weiter, behielt diese Gedanken, die er sich für den Schluss des Telefonates schon zurechtgelegt hatte, nun aber bis auf Weiteres lieber für sich.

„Heute bist du wirklich ein übler Kotzbrocken. Aber egal, hör mir einfach zu und unterbrich mich, wann immer du willst“, sagte Uljana, der Sergej jetzt doch wie ein Spielverderber vorkam.

„Uljana, Sergej ist ein Psychopath, der nur auf Frauen wie dich und auch auf solche wie Susi steht“, sagte ihre innere Stimme zu ihr und warnte sie eindringlich zu mehr Vorsicht. Weil sich Sergej ihr gegenüber entgegen seines früheren Verhaltens plötzlich so geschäftsmäßig sachlich verhielt, spürte sie auch selbst, dass sie sich zum ersten Mal wie von ihm kaltgestellt vorkam.

„Eigentlich wollte ich dir, nachdem Susi hier aufgetaucht war, gerade wegen deiner sexuellen Neigungen etwas entgegenkommen und im letzten Moment doch noch auf ein solches Implantat in meinem Hirn verzichten. Eine Entscheidung, die mir nicht leicht gefallen wäre, was ich natürlich überall, außer vor dir Sergej, sofort vehement abstreiten würde", sagte Uljana in einer Kühle, die Orlejev frösteln ließ. Im Nachhinein konnte sie mit dem bisherigen Gesprächsverlauf, obwohl sie innerlich vor Wut kochte, jedoch mehr, als sie sich das anmerken ließ, zufrieden sein. An dem Punkt, an dem sie in dem gerade geführten Gespräch zu der Erkenntnis gelangte, dass der Reiz ihrer Blindheit für Sergej unerwartet verblasst zu sein schien, schmeckten für sie auf einen Schlag sowohl ihr Speichel als auch die Luft, die sie atmete, gallenbitter. Aus irgendeinem Grund, den sie noch nicht konkret greifen konnte, aber in ihrem Unterbewusstsein schon deutlich spürte, konnte sie ihn mit ihren beiden Fakeeyes plötzlich nicht mehr so wie früher anturnen und manipulieren. Wütend auf Sergej und auch auf sich selbst grübelte sie darüber, was passiert sein konnte. Diese unerwartete Enttäuschung machte sie wütender als alles andere, über das sie sich jemals zuvor irgendwann einmal mächtig aufgeregt hatte. Dass der in ihrer Akte beschriebene Unfall eine Legende ist, wussten, so glaubte sie, bisher nur Sergej und sie selbst. Aber was war das noch wert, wenn sie ihm plötzlich nicht mehr trauen konnte? Aus ihrer Sicht sprach jetzt allerdings noch weniger für den kürzlich von ihr vorgeschlagenen neuen Selbstversuch. War Susis geplante Implantierung etwa der Grund dafür, dass Orlejev ihr entglitt? Die plötzlich in ihr aufflammende Eifersucht stellte alles infrage.

Wenn ich nur wüsste, was diese plötzliche Entfremdung ausgelöst hat, die so urplötzlich zwischen ihm und mir steht. Schließlich haben wir einander mehr in der Hand, als Sergej das offensichtlich weiter akzeptieren will. Nur gut, dass ich immer recht schnell spüre, was in seinem kranken Hirn vorgeht. Genau das werde ich jetzt vorsichtig und clever nutzen, um meine eigene Haut zu retten, dachte Uljana verärgert, während sie weiter auf die Reaktion von Sergej lauschte.

Ich muss umplanen. Eine neue Alternative finden, aber welche und wie …, überschlugen sich die Gedanken in ihrem Kopf.

„Uljana! Lass die Sentimentalitäten, wir sind im Krieg. Natürlich höre ich dir zu und ich vertraue auf dich und deine Arbeit. Muss ich noch mehr sagen?“, sprach der Oberst gelassen in seinen Hörer, griff nach einer dicken Zigarre und riss ein überdimensional großes Streichholz an. Dann wippte er in seinem Ledersessel zurück und starrte den zur Decke aufsteigenden Rauchkringeln nach, während er Uljana zuhörte.

„Der Verspätung, mit der die beiden Deutschen hier ankamen, war eine Geschichte mit einem Tumult auf einem Bahnhof vorausgegangen, in deren weiterem Verlauf Susi, ohne dass sie wusste, was sie tat, Pawel schon vor deren Eintreffen hier mit dem Termitox vergiftet hatte.“ Uljjana kam nur bis zum Ende ihres ersten Satzes, als Sergej sie zum ersten Mal unterbrach.

„Euphotox, Uljana! … nicht Termitox", korrigierte der Oberst mit nachsichtig klingender Stimme und blies genüsslich die nächsten Rauchkringel in die Luft.

„Eben nicht, Sergej. Pawel, war über Vesevolod in Deutschland irgendwie an Termitox gekommen und dachte, er müsse Susi, weil sie mental am Ende war, noch etwas Wirksameres als Euphotox geben", sagte Uljana, bevor Sergej sie erneut unterbrach.

„Alle zwei mit Termitox vergiftet? … und du konntest beide dekontaminieren, das ist wirklich ein Fortschritt, mit dem ich nicht so schnell gerechnet hätte. In der Tat eröffnet uns dein jüngster Erfolg, viel schneller als wir dachten, neue Möglichkeiten, Uljana", sagte Sergej mit zufriedener Anerkennung in seiner Stimme.
„Halt, halt …, ganz so einfach ist es jetzt doch noch nicht, Sergej. Da ist immer noch das ungelöste Problem mit dem Testosteron. Natürlich ist und bleibt es unser Vorteil, dass wir mit Susi nicht ganz bei null anfangen mussten", fügte sie mit einem Grinsen in ihrer Stimme hinzu und sprach gleich weiter. „Schließlich ist mir die Entgiftung vor längerer Zeit im Selbstversuch schon einmal gelungen. Das Einzige, das vor Kurzem mit der neuen Strahlentherapie bahnbrechend hinzugekommen ist, ist genaugenommen nur der Erhalt der Augen, der vorher selbst für Testosteron reduzierte Menschen, also nur für uns Frauen, im Zusammenhang mit den notwendigen Immunisierungen noch unmöglich war. Dass ich die Strahlentherapie bei Susi ungeplant mit dem seit längerer Zeit nur noch als Biokampfstoff vorgesehenen Termitox erproben konnte, war nur dem Zufall ihrer Vergiftung mit dem alten Zeug geschuldet. Wenn Vesevolod sich das Termitox nicht ohne unser Wissen unter den Nagel gerissen und zur Verabreichung für Susi weitergegeben hätte, wären wir vielleicht nie dort hingekommen, wo wir heute stehen. Nach dem, was wir jetzt wissen, hätten wir auch gleich das Termitox weiterentwickeln können. Die Zeit, die wir in die Entwicklung und die Erprobung des um einiges weniger giftigen Euphotox investiert haben, hätten wir uns so gesehen nach dieser Erkenntnis auch total sparen können", sagte Uljana.
„Nicht ganz, Uljana, die Fokussierung auf das alte, viel giftigere Termitox bei sofortigem Wegfall unserer Euphotox-Entwicklung stiftet ja erst Sinn, seit wir wissen, dass Susis vergiftetes Auge nach deiner neuen Strahlentherapie überraschenderweise doch wieder sehen kann. Was das Testosteron angeht, stimme ich dir auch zu. Nur, dass du versuchst, Vesevolod, den elenden Dieb, und seine Raffgier in Schutz zu nehmen, ärgert mich dabei. Aber um diesen abtrünnigen Taugenichts, der sich in Deutschland von seinen Schlampen seine Nüsse schaukeln lässt, während unsere Truppen hier für Russland kämpfen, werde ich mich später selbst kümmern", brummte der Oberst grimmig und kam wieder zum Thema zurück. „Wenn alle unsere Soldaten solche Eier wie ich in ihren Hosen hätten, wäre die Entwicklung des Euphotox sowieso völlig unnötig gewesen. Nur deshalb kamst du ja auch mit der Idee zu mir, dein Gift, seiner berauschenden Wirkung wegen, zur Stärkung des Kampfgeistes auch auf unserer Seite einzusetzen. Unser Problem war bisher ja nur die Auswirkung der Vergiftung auf die Augen unserer tapferen Kämpferinnen und auf die Nüsse der Weicheier, die unsere Offiziere mit der Peitsche in die Frontlinien prügeln müssen. Dennoch ist es so …, aber nein …, ich möchte, was dieses Thema betrifft, wirklich nicht mit dir streiten. Schon deshalb nicht, weil ich größten Respekt für geblendete Heldinnen wie dich und deine tapferen Kämpferinnen empfinde", verwarf der Oberst seinen ersten nicht zu Ende gesprochenen Satz und fing mit dem, was er gerade sagen wollte, noch einmal neu an. „Du weißt, wie sehr ich dich und deinen Körper schätze, aber ich habe nie einen Hehl daraus gemacht, dass ich davon überzeugt bin, dass welche wie du unbrauchbar für das Feld geworden sind. Genau das ist ja aus der Sicht des FSB, abgesehen von der berauschenden Wirkung, auch der große Vorteil der von dir erprobten Substanzen. Nur deshalb wollten wir dein altes Zeug, das Termitox, ja auch als Kampfstoff hinter unseren Linien einsetzen. Solange es um die Zermürbung und die Demoralisierung der Zivilbevölkerung und die Zersetzung der Wehrfähigkeit unserer Feinde geht, kann es ja schließlich nicht giftig genug sein", sagte der Oberst mit weicher Stimme und gab seiner Direktorin zu verstehen, dass er mittlerweile gewillt war, ihr weiter geduldig zuhören zu wollen.
„Sergej, ich will um diesen Punkt auch nicht mit dir streiten, aber die Fähigkeiten unserer immunisierten Kämpferinnen sind nach wie vor beachtlich, das zeigen die Leistungen meiner Probandinnen hier im Sanatorium mehr als deutlich. Dass du, nur weil sie für die Immunisierung alle blind gemacht werden mussten, keine Verwendung im Feld mehr für sie siehst, liegt ausschließlich daran, dass du ein sturer Bock bist", schnaubte Uljana hörbar verärgert.
„Dass du nicht mit mir streiten willst, fällt mir im Moment schwer zu glauben. Dennoch mag ich dich und deine Qualitäten besonders gut leiden, wenn du wie jetzt etwas in Rage bist", erwiderte Orlejev selbstgefällig und gab sich danach sogar noch etwas mehr Mühe, charmant zu wirken. „Deine Art, die Dinge mit Leidenschaft auf den Punkt zu bringen, gefällt mir immer wieder und das weiß meine freche Hexe auch ganz genau. Von mir aus kannst du sie auch alle sofort für unser Vaterland und den verdienten Sieg ins Feuer schicken. Auf Sentimentalitäten brauchen wir in unserem Staat, dank unseres Präsidenten, der bei Problemen hart und konsequent durchgreift, zum Glück keine Rücksicht nehmen", sagte der starke Mann am anderen Ende der Leitung, knapp, aber immer noch versöhnlich.
„Mit dem Termitox im Blut werden unsere Soldaten unerschrockener und tapferer als Löwen kämpfen können. Sie werden ihre verbesserten Fähigkeiten zwar vernichtend für unsere Gegner, jedoch nicht ansatzweise mit dem Einsatzwert wie meine immunisierten Probandinnen in unsere Truppen einbringen können“, sagte Uljana wieder kühl und gefasst und gab zu bedenken, dass Susi zwar wieder sehen konnte, aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch völlig offen war, ob ihre neuesten Erkenntnisse auch in der Breite auf andere, derzeit noch ungeblendete Heldinnen übertragbar waren. Auch daran, dass wir mit unkastrierten männlichen Soldaten wegen des Testosterons, auf das sich mein Gift am liebsten stürzt, bis auf Weiteres nicht weiterkommen werden, hat sich bis heute übrigens auch noch nichts geändert. Im Ergebnis bedeutet das, dass weder Anna noch ich vor Abschluss der Versuche mit Susi vorhersagen können, wo wir im Moment wirklich stehen. Alles hängt davon ab, wie lange Susis letztes Auge für die laufende Versuchsreihe noch brauchbar bleibt. Wenn es zu früh abstirbt, müssten wir erst eine neue Probantin aufbauen, deren Vergiftungsverlauf wir vergleichbar treffen müssten. Die Dosierungen scheinen einen wesentlichen Einfluss, insbesondere auf die Chancen bei der nachträglichen Entgiftung und den Erfolg mit den angestrebten Impfprogrammen, zu haben. Wir brauchen einfach noch etwas mehr Zeit, um zu klären, wie gut sie mit ihrem bis dahin noch erhaltenen Auge überhaupt immunisiert werden konnte. Genaueres wissen wir erst, wenn wir Susis Immunwerte nach der Entfernung ihres letzten Auges mit den Daten aus den früheren Versuchsreihen, die wir gerade mit ihrem sanierten Auge aufnehmen, verglichen haben. Es wird noch Tage dauern, bis wir die frühen Werte alle haben. Bis dahin müssen wir Susi ihr letztes Auge eben noch lassen und darauf hoffen, dass es lange genug durchhält, bis wir alles haben, was wir von ihr brauchen. Drängeln hilft da auch nicht, mein lieber Freund. Dennoch ist es so, dass ihre Termitoxvergiftung uns viel schneller weitergebracht hat, als wir das noch vor wenigen Tagen dachten. Die Entwicklung des Euphotox hätte bis zur Einsatzreife bei unseren Truppen, selbst wenn wir diese noch mehr beschleunigt hätten, mit Sicherheit viel länger gedauert. Mit der neuen Therapie für das Termitox werden wir in Kürze viel schneller zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Hinzu kommt, dass wir damit auch ohne eine immunisierende Prophylaxe schon alleine mit der Therapie viel mehr Möglichkeiten haben. Möglichkeiten, die bestimmt auch dem FSB gefallen werden …", bemerkte Uljana verschmitzt und näherte sich dem Ende ihres Berichts. „Was bei der Fortführung unserer Versuchsreihen, außer den beiden Augen aus Susis Kopf, noch alles herauskommt, weiß im Moment noch niemand", fügte die Russin abschließend noch mit einem Hintergedanken hinzu. Abwartend zündete sie sich genüsslich eine Papirossa an, deren scharfen Rauch sie sich, gleich als sie die Wärme der Glut auf ihrem Gesicht spürte, genüsslich in ihre Lunge zog. Lauernd wartete Uljana ab, ob und wenn ja, wie ihr Gesprächspartner, von dem keine andere Frau so gut wie sie wusste, was für einen Fetisch der skrupellose Oberst wirklich hatte, auf ihre letzte Anspielung im Hinblick auf Susi reagieren würde.
„Und was hast du mit den Deutschen vor, wenn deine Versuchsreihe abgeschlossen ist?", fragte Orlejev prompt.
„Pawel könnte uns danach bei den Söldnern doch eigentlich noch gute Dienste leisten, oder?", sagte Uljana listig und fügte süffisant grinsend noch einen Nachsatz hinzu. „So sauber, wie er inzwischen immunisiert ist."
„Pawel ist immunisiert?“, fragte der Oberst erstaunt und zog eine seiner Augenbrauen überrascht, aber auch stirnrunzelnd nach oben.
„Na klar, so vergiftet wie der Trottel hier ankam, blieb uns nichts anderes mehr übrig, als ihn schnellstmöglich therapiebegleitend zu kastrieren“, antwortete Uljana ihrem Lover mit einem gelangweilten Unterton in ihrer Stimme.
„Das verstehe ich nicht. Wieso ist er deshalb immunisiert und warum dann der ganze Aufwand mit Susi?", fragte Uljanas Gesprächspartner etwas irritiert.
„Oje, Sergej, hast du im Biologieunterricht wirklich so schlecht aufgepasst?“, antwortete die Biologin ihm schnippisch.
„Alles hängt also nur am Testosteron?“, bohrte der Oberst weiter, ohne auf Uljanas Provokation einzugehen.
„Na klar! Wovon reden wir denn sonst die ganze Zeit?", zog ihn seine Loverin noch mehr auf und genoss es, ihren Chef mal wieder an einer seiner schwachen Stellen erwischt zu haben.

Mit seinem plumpen Ablenkungsmanöver braucht er mir nichts vorzumachen. Testosteron hin oder her …, als ob mir nicht längst klar wäre, wie spitz er auf die Deutsche ist. Ob wegen ihres fehlenden Arms oder weil sie blond und jünger ist, aber das ist mir egal. Sobald ich mit ihr fertig bin, werde ich sie für ihn ungenießbar machen, sie verstrahlen oder gleich mit Haut und Haaren zu einem Stück Kohle verbrennen, dachte Uljana, von Eifersucht besessen.

 

 

***

 

 

„Bitte nehmen sie doch Platz, Frau Strassfeld“, sagte der deutsche Botschafter in Kiew und machte dazu eine einladende Handbewegung.
„Danke“, sagte Susanne und setzte sich müde in einen schweren Ledersessel. Pawel und sie waren kurz nach ihrer Ankunft am Hauptbahnhof der ukrainischen Hauptstadt von einem hilfsbereiten Polizisten einem Mitarbeiter der deutschen Botschaft anvertraut worden. Dieser hatte ihr gerade eben auch den Sessel, in dem sie saß, als eine höfliche Geste ihres Willkommenseins, etwas von dem massiven Tisch, der im Büro des Botschafters für Besprechungen zur Verfügung stand, zurückgezogen. Aber Susanne hatte sich in ihrer Haut noch nie in ihrem Leben so unwohl gefühlt wie in diesem Moment Die Feldkleidung ohne Hoheitsabzeichen, die sie noch trug, hatte auch etwas unter den Strapazen ihrer Flucht gelitten, aber in ihrem Inneren sah es viel schlimmer aus. Ihr Gesicht wirkte glanzlos und ihr haarloser Kopf sah gespenstig grau und matt aus. Susanne schämte sich plötzlich sogar dafür, dass sie entweder durch das Gift oder wegen der Nachwirkungen der Therapie ihre ganzen Körperhaare komplett verloren hatte. Weder von ihren Augenbrauen noch von ihren Wimpern war ihr ein Härchen erhalten geblieben. Im Sanatorium hatte sie trotz des psychischen Drucks, dem sie dort erstaunlich gut standgehalten hatte, nie solche oder ähnliche Minderwertigkeitsgefühle an sich beobachten können, wie sie diese jetzt nach ihrer Rückkehr in die zivilisierte Welt überraschend verspürte.
„Ihre Geschichte klingt so unglaublich, dass wir sie im ersten Moment nicht ganz ernst nehmen wollten. Erst nachdem wir vom Außenministerium in Berlin, viel schneller als in ähnlich gelagerten Fällen, darüber informiert wurden, dass der BND den Wahrheitsgehalt ihres Berichtes keineswegs anzweifelt, machen wir uns ernsthafte Sorgen um ihre Sicherheit“, eröffnete der Botschafter besorgt das Gespräch.
„Darf ich fragen, wo Pawel, mein Freund, ist?“, erkundigte sich die völlig Übermüdete.
„Er ist hier genauso wie sie vorläufig in Sicherheit, aber es scheint so, als ob er sich, im Gegensatz zu ihnen, nach deutschem Recht strafrechtlich verantworten muss“, sagte der Botschafter steif und sah Susanne dabei strenger als vorher an.
„Er hat mir doch nur mein Augenlicht gerettet und dafür einen noch viel höheren Preis als ich bezahlen müssen“, antwortete Susi matt und sah den Botschafter flehend an.
„Ich will sehen, was ich für ihn tun kann“, antwortete der Botschafter mit einem gütigen Nicken und griff zum Telefon.
„ …, das ist in Ordnung, aber wenn sie damit fertig sind, bringen sie ihn bitte sofort zu mir in mein Büro", hörte Susanne den Botschafter sagen und glaubte, dass ihr schon wieder ein weiterer Stein von ihrem Herzen fiel.
„Der BND möchte sie, Frau Strassfeld, schnellstmöglich in Berlin sehen und hat uns fürsorglich davon abgeraten, ihren Bericht schon hier zu protokollieren“, fuhr der Botschafter besorgt fort.
„Welchen Bericht, Herr Botschafter?“, fragte Susanne etwas verwirrt.
„Ihre Geschichte, wie sie ihren Erfahrungsbericht nannten, wurde in Abstimmung mit dem BND und dem für uns zuständigen Außenministerium in Berlin bereits als streng geheim eingestuft. Ungeachtet der Sorgen, die wir uns um ihre Sicherheit, insbesondere hier, machen, sind sie natürlich trotzdem eine freie Bürgerin der Bundesrepublik Deutschland. Leider ist es so, dass hier in Kiew die Diktatoren der ukrainischen Nachbarländer im Untergrund gefährlicher mitmischen als uns das in solchen kritischen Situationen recht sein kann. Das bereitet uns, wie schon gesagt, im Moment ernsthafte Sorgen", sagte der Botschafter.
„Um mich braucht sich doch niemand Sorgen machen, wenn dann um Pawel und Mirjam. Und was bedeutet ‚streng geheim‘? Das Ganze ist doch jetzt so gut wie vorbei und bis jetzt sogar noch überwiegend gut ausgegangen?", entgegnete Susanne etwas naiv.
„Das sollten sie nicht so einfach sehen, Frau Strassfeld, und vor allem nicht auf die leichte Schulter nehmen. Ihr Einverständnis vorausgesetzt würden wir sie gerne so schnell wie möglich nach Berlin evakuieren. Es gibt auch Hinweise aus der Botschaft in Moskau, die darauf hindeuten, dass ihre Geschichte als Botschaft an uns lanciert worden sein könnte, oder als Warnung. Vielleicht ist es sogar eine Drohung. Ihre Geschichte scheint ein kleines Puzzleteilchen zu sein, das, wie der BND befürchtet, in ein großes grauenhaftes Bild des FSB passen könnte", sagte der Botschafter sehr besorgt.

Schwarzwasserflirt

Mara und Ronja

 

 

„So, endlich Feierabend, Ronja“, sagte ich und schaltete den total hochwertig ausgerüsteten Arbeitsplatz aus, der sogar mit einer zweizeiligen Braillezeile mit je vierzig Zellen pro Zeile der Firma Papenmeier ausgestattet war. „Kennst du das La Martina? Das ist eine voll hippe Studikneipe in Adlershof und gut mit den Öffentlichen zu erreichen. Dort könnten wir beide eigentlich zusammen noch etwas essen gehen. Hast du Lust?"

„Lust schon, aber essen gehen kann ich mir nicht leisten. Danke aber trotzdem dafür, dass du deine Freizeit mit mir verbringen wolltest, Mara“, sagte meine neue Kollegin und verstummte.

„Hey, so war das doch gar nicht gemeint, oder willst du dich nicht von mir einladen lassen, weil du schon was anderes vorhast?“, antwortete ich viel zu offensiv, aber etwas anderes fiel mir auf die Schnelle einfach nicht ein.

„Das kann ich doch gar nicht annehmen …“, stotterte die Schüchterne und nestelte unbeholfen in ihren Sachen herum, die rund um ihren Arbeitsplatz verteilt ungeordnet auf dem Boden herumzuliegen schienen.

„Klar kannst du. Nur wenn du ‚nein‘ gesagt hättest, wäre ich jetzt so beleidigt, dass ich dich nicht ein zweites Mal fragen würde, ob du dich zum Essen mit mir einladen lassen willst“, sagte ich, ging neben ihr auf die Knie und half ihr beim Sortieren ihres Krempels. Als wir ihre Habe zusammen sortiert hatten und für Ronja wieder alles im Griff war, knuffte ich sie in ihre Rippen. „Los geht’s, ‚nein‘ gesagt hast du ja gar nicht und das bedeutet ‚ja‘.“



***



„Echt jetzt …?“, fragte ich Ronja auf dem Weg durch die feudale Hotellobby total geschockt. „Du lebst schon, seit du achtzehn Jahre alt geworden bist, von Hartz IV, Bürgergeld und Wohngeld in schäbigen WGs – und das nur, weil du blind bist und dir deshalb in den vielen zurückliegenden Jahren noch nie jemand einen Job gegeben hat, von dem du ordentlich leben konntest?“

„Ist das nicht immer so, wenn jemand blind ist?“, war ihre knappe rhetorische Gegenfrage, die so betont war, dass sie nach einer Feststellung klang, auf die Ronja gar keine Antwort erwartete.

„Bei mir war das nie so, und so, wie ich das sehe, hast du einfach verpasst, dich mal ein bisschen mehr anzustrengen, um dir eigene Wege in ein selbstbestimmtes Leben zu suchen“, antwortete ich der Frau, deren gerolltes ‚r‘ mich immer mehr anfixte, viel schroffer, als ich das vorhatte. „Hast du denn nie probiert, da irgendwie herauszukommen und ein selbständiges Leben zu führen? Gerade hier in Berlin gibt es doch vielfältige Möglichkeiten für Blinde, die ihr eigenes Leben führen wollen, um aus der Fremdbestimmung und der finanziellen Abhängigkeit von der staatlichen Stütze loszukommen.“

„Nicht für mich, ich seh ja seit dem Unfall gar nichts mehr“, wimmerte Ronja mit einer weinerlichen Stimme etwas daher, was mich mega aufbockte und ich alles brauchte, dass ich die Süße nicht anfauchte und sie für den Müll, den sie da gerade von sich gegeben hatte, in den Senkel stellte.

„Aber sich hängen lassen ist die schlechteste Option, und mit meinen zwei Glasaugen sehe ich auch nicht mehr als du“, sagte ich gütig, indem ich die Art zu sprechen meiner Professorin nachahmte, um nicht unkontrolliert aus der Haut zu fahren und meiner Gesprächspartnerin so, wie sie es verdient gehabt hätte, ordentlich den Kopf zu waschen.

„Wie? Du bist auch ’ne Vollblinde, Mara? Wie machst du das denn alles, ohne noch ein bisschen gucken zu können?“, raunte Ronja mir mit einer Mischung von Zweifel und Anerkennung, die in ihrer Stimme mitschwangen, zu. Im Gegensatz zu ihr war es für mich unvorstellbar, dass eine Frau, die schon jahrelang so stockblind wie Ronja war, so unselbständig wie sie unterwegs sein konnte.

„Mit etwas Übung mit dem Stock und immer schön die Ohren auf ist das keine Hexerei, wenn es nicht anders geht, um alleine aus der Bude herauszukommen“, bemerkte ich recht trocken. „Hast du dich denn bisher nie gefragt, ob das mit der Stütze und dass dir bisher niemand einen guten Job gab auch ein bisschen an dir selbst, … vielleicht ja auch an deinem Stubenhocken liegt?“

„Ja, schon, aber das ist viel besser als all das, was ich vorher in meinem Heimatland ertragen musste“, antwortete Ronja. „Wenn ich nach dem Unfall, der mich blind gemacht hat, nicht das Glück gehabt hätte, bis zum Erreichen meiner Volljährigkeit in einer Wohngruppe in Deutschland unterzukommen, würde ich heute ja nicht einmal eine abgeschlossene Schulausbildung vorweisen können.“

„Na prima, viel genützt hat dir das bis jetzt aber nicht“, brummte ich, als wir durch den Haupteingang das Hotel verließen. Da Ronja, die ich ja eigentlich nur wecken wollte, weil ich sie mochte, kurz darauf schluchzend an meinem Arm hing, nagte ich, bis mir eine zündende Idee in den Sinn kam, über meine Unbeherrschtheit grübelnd, an meiner Unterlippe. „Hier, probier doch mal, ich helf’ dir auch“, sagte ich und drückte ihr einfach den Griff meines Blindenstocks in ihre rechte Hand. Die Kugel an der Stockspitze glitt so, als hätte ich den Stock noch in meiner Hand durch die Rillen des Leitsystems gelenkt, das sehbehinderte Gäste vom Ausgang des Hotels bis zur Rolltreppe der nahegelegenen U-Bahn-Station geleitete. Von dort war es auch für Blinde recht einfach, in die Berliner Unterwelt hinunter zu den Tunneln abzutauchen, von denen taktil lesbare Schilder auch Sehbehinderte ohne fremde Hilfe zu den richtigen U-Bahn-Linien führten. Meine Hand lag auf der weichen Haut, die Ronjas Finger überspannte, und die Hitze, die von dort in meine Handflächen strömte, fühlte sich unglaublich sexy an. „Oje, da hatte ich im Vergleich zu dir ja noch richtig Glück“, antwortete ich und griff nach der Hand der Frau, die mir total leidtat und mir wie ein Häufchen Elend vorkam, um sie zu trösten. Auf dem Weg nach Adlershof saßen wir beide in Fahrtrichtung Seite an Seite auf einer Doppelbank in der U-Bahn und berichteten einander so viel, wie es die Fahrzeit hergab, aus unseren so unterschiedlichen Leben. Interessiert hörten wir uns zu und Ronja konnte vor Staunen kaum glauben, wie autark und selbständig ich als Blinde mein Leben so gestalten konnte, wie ich es wollte, ohne dabei auf viel Hilfe von Dritten angewiesen zu sein. Ronjas Hand fühlte sich weich und warm an, und da sie den Körperkontakt offensichtlich so wie ich genoss, tat uns das beiden gut. Im Nu hatte sich Ronjas anfängliche Scheu gewandelt, und als wir uns der Haltestelle näherten, an der wir aussteigen mussten, war die Atmosphäre schon so locker und vertrauensvoll wie zwischen besten Freundinnen. Nach einem leckeren Essen gab's von dem guten Rotwein, den der Keller des La Martina zu bieten hatte. Danach tranken wir noch türkischen Kaffee, der mit viel Zucker zusammen mit dem Kaffeesatz aufgekocht in kupfernen Kännchen serviert wurde, die anstatt Henkel langstielige Griffe hatten. Ronja schwächelte erst, nachdem der Wirt, der mich schon als eine seiner guten Stammkundinnen kannte, mit der ersten Runde Raki zu uns an den Tisch kam und sich kurz zu uns setzte, um mit uns zu prosten. Die Gespräche, die wir größtenteils händchenhaltend führten, hätten wir bis zum Morgengrauen fortführen können, aber kurz vor der Sperrstunde rief ich vernünftigerweise Herrn Stelzke, den Fahrer meines Lieblingstaxis, an, beglich die Rechnung und half Ronja, die vom Alkohol etwas wackelig auf den Beinen war, in ihre Jacke.

„Du kannst auch gern bei mir in meiner Wohnung übernachten, Ronja“, bot ich ihr an, nachdem ich festgestellt hatte, dass sie mehr beschwipst war, als das in der aufgeheizten Luft im Gastraum den Anschein hatte, und der Raki in der Kälte zusehends seine Wirkung entfaltete. „Platz ist bei mir genug und es gibt sogar ein Gästezimmer, wenn du magst.“

„Ja, gern, auf mich wartet schon seit Jahren niemand, aber ich will dir nicht zur Last fallen“, antwortete sie mir dankbar mit leiser Stimme, in der ihre rollenden ‚r‘, so leicht betüdelt wie sie war, jetzt noch kehliger als vorher klangen. Lange warten mussten wir auf das Taxi eigentlich gar nicht, dennoch waren wir schon etwas durchgefroren, als Herr Stelzkes Diesel um die Ecke nagelte. Aber im Taxi war es dann gleich wieder so mollig warm wie vorher in der Gaststube.

„Den Weg kenn ick ja“, sagte Stelzke, der beobachtet hatte, wie fürsorglich und von zärtlichen Berührungen begleitet ich Ronja hinten rechts in den Fond seines Wagens bugsiert hatte und dann nicht wie sonst neben ihm den Beifahrersitz bevölkerte, sondern mich hinten links zu Ronja auf der Rücksitzbank platzierte. „Für Musikwünsche jern och wat sonst …, wat aus meiner Playlist, wenn's recht is wa …“, rief uns Herr Stelzke von vorne zu und startete für uns auf seinem Handy ‚Breaking Me‘ von Topic, während er das Taxi in Richtung Zehlendorf mit Kurs auf mein Häuschen im Grünen anrollen ließ.

  

***

  

„Es tut mir unendlich leid, dass ich ihnen beiden die Kündigung aushändigen muss, zu der uns die wirtschaftliche Situation der Pandemie in der Gastronomiebranche gezwungen hat“, sagte Herr Dielmann, der uns an unseren Arbeitsplätzen schon am frühen Morgen ein paar Tage nach der Verfügung des Lockdowns aufgesucht hatte.

„Wissen sie, Herr Dielmann …“, ergriff ich als erste das Wort. „Eigentlich wollte ich diesen Job ja am Anfang gar nicht machen. Aber so wie sie uns als feinfühlige Führungskraft begleitet haben, war das dennoch ein Gewinn für uns beide, der insbesondere mir mehr Freude und Einblicke in die Arbeitswelt von Blinden ermöglicht hat, als ich mir das vorher vorstellen wollte. Hinzu kommt, dass ich hier Ronja kennenlernen durfte, und das ist etwas, wofür wir uns beide bei ihnen bedanken können.

„Lieber Herr Dielmann“, klinkte Ronja sich in das Gespräch ein. „Auch ich will ihnen danken und sagen, dass dieser Job mir mit Mara an meiner Seite die Tür zur Welt geöffnet hat. Wie sie wissen, leben wir seit einigen Wochen in Maras Wohnung zusammen, und das war das Beste, was uns beiden passieren konnte."

 

 

Vernichtung

Mirjam

 

„Was?“, schrie der Oberst außer sich vor Wut die Direktorin Uljana Konowalowa an, die er für den Zwischenfall verantwortlich machte.
„Ja, geflohen, alle drei, mit meinem Wolga, der, wie unsere Agenten vor einigen Minuten mitteilten, auf ukrainischem Territorium verlassen aufgefunden wurde“, sagte die Direktorin, ohne sich von dem Wutanfall ihres Gesprächspartners erkennbar einschüchtern zu lassen, in aller Seelenruhe.
„Es gibt kein ukrainisches Territorium, das ist alles Russland“, antwortete der Oberst grimmig, aber beruhigte sich etwas.
„Wir vermuten, dass die blinde ukrainische Schlampe dahintersteckt, die ich, weil sie eine der wenigen Implantierten ist, die schon mit einem Implantat der zweiten Generation ausgestattet wurde, mit Bedacht für diese heikle Aufgabe ausgewählt hatte. Wir hatten sie der Deutschen erfolgversprechend als Mobilitätstrainerin getarnt untergeschoben und sie so als unsere Augen und Ohren an deren Fersen geheftet“, rechtfertigte sich die Direktorin und gab sich dabei gegenüber ihrem Gesprächspartner ungerechtfertigt beleidigt. „Sogar alle ihre Termine mit Anna sind über Annas Implantat in bester Qualität archiviert. Wir haben alles Wesentliche lückenlos auf dem Server, vom Aufstehen bis zu ihrem Zu-Bett-Gehen, nur eine Erklärung dafür, wie sie uns dennoch entkommen konnten, die haben wir noch nicht."
„Und wo ist das Problem, wenn sie, so wie du sagst, ein neues Implantat in ihrem Kopf hat?“, schnauzte der Oberst.
„Ihr Implantat ist seit einigen Stunden passiv und wir wissen weder, wo sie ist, noch, was sie gerade macht. Wir wissen nicht einmal, was sie vorhat und schon gar nicht, wie und warum sie von uns vom Schirm verschwinden konnte“, sagte die Direktorin gereizt.
„Passiv? … und warum?“, wollte der Oberst wissen.
„Wir wissen es nicht, vielleicht ein Schlag auf den Kopf oder ein Sturz …“, antwortete Konowalowa emotionslos.
„Oder Sabotage!“, sagte der Oberst grübelnd.
„Ausgeschlossen, das würden wir auf dem Server sofort bemerkt haben, aber ich warne ja nicht zum ersten Mal davor, dass unsere Technologie noch lange nicht so ausgereift ist, dass sie immer zuverlässig funktioniert.“

„Wir müssen mit dem Schlimmsten rechnen“, schrie der Oberst in sein Telefon und begann sich danach erst richtig in Rage zu reden. „Uljana, wir werden sie schon auf dem Schlachtfeld aus allen Rohren unserer feuerspeienden Unterstützungspanzer mit deiner Wunderwaffe begasen und so dafür sorgen, dass all unseren Feinden ihre Eier im Schützengraben wie Seifenblasen zerplatzen“, schrie Orlejew wie von Sinnen in sein Telefon.
„Nein, Sergej, das wäre die falsche Strategie. Männer wie du sind einfach unfähig dazu, intelligent und leise mit Gift zu morden“, sagte die Direktorin mit überheblich mitleidigem, aber überlegt leisem Ton in den Hörer ihres Telefons und steckte sich die nächste Zigarette an der Glut der alten an.
„Ich Dummkopf hätte deiner Implantierung gleich zustimmen sollen“, zischte Orlejev voller Zorn.
„Dann müsstest du jetzt nur ein geheimes Knöpfchen drücken, um mich für immer in meinem Körper zu isolieren, und hättest damit auch mein Gift für immer verloren“, antwortete ihm Uljana völlig entspannt auf seinen unüberlegten Wutausbruch und sog einen weiteren Zug von dem starken Kraut tief in ihre Lungen.
„Glaubst du wirklich, ich würde dir mit dem Implantat je eine Gehirnwäsche verpassen und dir deinen kompletten Kortex verbrennen? Diese geheime Funktion ist in unserem System nur für den Notfall für richtige Saboteurinnen, also für solche wie für deine Geflüchteten, vorgesehen. Von welcher Strategie träumst du?“, fragte Sergej und gab sich wieder zuckersüß.
„Wir hätten Susi und Pawel gar nicht immunisieren, sondern sie als spezielle menschliche Kampfstoffdrohnen einsetzen sollen. Das Termitox verbessern und noch viel ansteckender machen, verstehst du? Es hochansteckend in die westliche Welt einsickern lassen …“, sagte die Frau mit dem Telefonhörer in der Hand grinsend und streichelte sich dabei mit der Sprechmuschel genüsslich an ihrem markanten Kinn.
„Aber sie könnten auch unsere Leute anstecken“, sagte Orlejev besorgt.
„Nicht wenn wir unsere Leute vorher immunisieren konnten, was allerdings noch länger dauern kann, als dir gefallen wird, Sergej. Aber wir hätten die beiden ja so lange in ihrem Urlaub beobachten lassen können“, antwortete die Giftmischerin der Autokraten, wobei ihr der letzte Halbsatz nur geheimnisvoll gehaucht über ihre Lippen ging.
„Ahh, in Urlaub in die USA, nach Japan oder nach Europa? Also einfach überall dort hin, wo unsere Leute, bis auf die Fahnenflüchtigen, wegen der Sanktionen im Moment eh nicht mehr sein dürfen. Das ist wirklich eine teuflisch gute Strategie“, sagte Orlejew, sog an seiner Zigarre und blies weitere Rauchkringel über sich in die Luft und verharrte dann plötzlich … „Aber wie soll das funktionieren? Sind sie denn nicht beide immunisiert?", fragte er misstrauisch.
„Pawel ist und bleibt für unsere Zwecke als menschliche Biowaffendrohne ein Blindgänger. Da hast du wohl recht, aber solange Susi ihr Auge behält, reift sie, wenn wir etwas Glück haben, zu einer unscheinbaren Giftschlange heran. Das Beste an dieser Option ist, dass sie, ohne zunächst etwas davon zu ahnen, es erst merken wird, nachdem sie schon Unzählige neu infiziert hat“, flüsterte Uljana verschwörerisch in ihre Sprechmuschel.
„Das klingt in der Tat sehr erfreulich“, sagte der Oberst zunächst ausgesprochen zufrieden, ergänzte dann aber: „… ist das denn sicher, dass das Gift neu in ihr reifen wird, Uljana?"
„Ich weiß es nicht, das hängt davon ab, wie schnell und wie gut sich ihre Antikörper in Richtung einer permanenten Immunisierung entwickeln werden. Um das genau sagen zu können, hätten wir die Versuchsreihe abschließen müssen. Aber das ändert nichts an der neuen Strategie, die ich dir gerade vorgeschlagen habe, schließlich ist Susi nur ein unbedeutendes Versuchskaninchen von vielen.
„Dann weißt du ja jetzt, was du zu tun hast“, sagte der Oberst.
„Ja klar, die Spuren hier vernichten und an einem unverbrannten Ort mit Hochdruck das Termitox verbessern“, antwortete die Direktorin ihrem Chef, der das Telefonat kurz danach grußlos beendete.

 

 

***

 

 

„Evakuierung!“, sagte Uljana Konowalowa knapp in ihr Telefon und beendete gleich darauf wieder das Telefonat mit dem Genossen, der als höchster Offizier ihres Sicherheitsdienstes für Notfälle in der geheimen Anlage von Orlejews Spezialoperation zuständig war. Kurz darauf heulten Sirenen, Militärlaster fuhren lärmend auf und einige gepanzerte Fahrzeuge bewegten sich mit rasselnden Ketten zum Schutz des Konvois auf das Gebäude des Sanatoriums zu. In den Gesichtern der meisten Einzelkämpferinnen funkelten jetzt grüne LEDs ihrer bionischen Augen, mit denen sie sich trotz der stockdunklen Nacht mit ihren Restlichtverstärkern wie am helllichten Tage orientieren konnten. Die Aktion verlief blitzschnell, aber in einer gespenstischen Ruhe, weil das ganze Team sorgfältig auf diese Situation vorbereitet und trainiert worden war und nur wenige ein Wort sprachen.



***

 

Sirenen? … sie evakuieren! … dachte Mirjam in dem Moment, als sie das Heulen hörte. Mit dem schwarzen Wolga ihrer Chefin hatte sie sich gleich, nachdem sich die russischen Agenten wieder verdrückt hatten, auf den Rückweg in das Umfeld des Sanatoriums gemacht, um den Fortgang der Geschehnisse weiter auszuspähen. Vorsichtig hatte sie sich der Anlage genähert und stoppte, als die Ereignisse sich zu überschlagen begannen, sofort den Wagen, in dem sie alleine hinter dem Lenkrad saß.

 

***

 

„Komm, Uljana, ich bringe dich zu Orlejevs Aurus. Diese Staatskarosse ist schnell und gepanzert, da bist du sicher. Das Auto steht schon mit laufendem Motor und mit deiner Chauffeurin hinter dem Steuer direkt vor der Tür für dich bereit“, sagte Anna und streifte ihre Chefin, um deren Wohl besorgt, mit einer ihrer Armprothesen an deren Hand.
„Nein, nicht in den Senat, den Luxuspanzer mag ich nicht. Bring mich zu den Terminatoren. Wenn schon Panzer, dann lieber die mit durchschlagender Kampfkraft. Mit der ukrainischen Verräterin habe ich noch eine ganz persönliche Rechnung offen“, erwiderte ihr die Direktorin grimmig.
„Was willst du denn in einem unserer TOS 2? Die bleiben bis zum Schluss und haben keine schweren Waffensysteme zur Selbstverteidigung", entgegnete ihr Anna fassungslos.

„Das ist meine Schlacht und ich spüre besser als ihr alle, dass diese falsche Schlange sich hier noch irgendwo aufhält“, und ergriff dabei so entschlossen den Oberarm ihrer Chirurgin, dass diese sich vom eisernen Willen ihrer Chefin eingeschüchtert widerspruchslos deren Befehlen ergab. Unverzüglich brachte sie die Direktorin zu den Feuerspeiern, die mit ihren thermobaren Waffen alles Leben vernichten und Lebewesen in ihrem Umfeld zu Asche verbrennen und zu schwerelosem Staub pulverisieren konnten.

 

 

***

 

 

Mirjam öffnete leise die linke Tür des Wolga und schlängelte sich vorsichtig heraus, um dem Geschehen mit ihrem Gehör, dem sie besser als ihren künstlichen Augen trauen wollte, weiter folgen zu können. Kurz darauf hörte sie die Geräusche anderer Laster, die aus der Gegenrichtung mit hoher Geschwindigkeit auf das Sanatorium zu rumpelten.

 

 

***

 

„Frau Direktor, unsere Feuerspeier sind alle einsatzbereit“, sagte die Kommandantin des Führungspanzers, deren Augen, so wie die Augen der restlichen Panzerbesatzung, grün blinkten.
„Das ist gut, dann komme ich ja gerade recht zum Einsteigen“, sagte Uljana schneidig und griff sich den Arm der Kommandantin.
„Möchten sie das Kommando übernehmen, Frau Direktorin?“, fragte die Kompaniechefin der Unterstützungspanzer, die eigentlich zum Ausräuchern von Feindnestern im Häuserkampf für die Unterstützung im Verbund mit Kampfpanzern konzipiert worden waren.
„Nein, das Kommando bleibt bei ihnen, ich möchte nur ein Bild der Lage behalten und falls nötig eingreifen können“, erwiderte Uljana knapp und ließ sich von der Kommandantin zur Einstiegsluke des Panzers führen.

 

 

***

 

Warum ein Transport aus der Gegenrichtung? Was hat sie nur vor?, fragte sich Mirjam und zoomte die Ladung der Laster, die mit offenen Pritschen, aber hohen Ladebordwänden an ihr vorbei polterten, näher heran. Einen Augenblick später sah sie, was das wohl zu bedeuten hatte, und erschrak vor dem, was die Russen hier offenbar im Schilde führten. Die angsterfüllten Gesichter der ukrainischen Frauen, die auf dem Lastwagen zusammengepfercht wie Schlachtvieh standen, erklärten alles, aber sie fühlte sich dazu verdammt, bei dem, was sich hier anbahnte, machtlos zusehen zu müssen.

 

 

***

 

 

„Die Evakuierung ist abgeschlossen und die Statistinnen sind alle in den Gebäudekomplex getrieben worden“, meldete die Kommandantin nüchtern und schaute fragend die Direktorin an.
„Starren sie mich jetzt etwa ratlos an?“, blaffte Uljana in die Richtung der Kommandantin und zischte böse: „ … ich bin zwar blind, aber wenn sie ihre Arbeit nicht umgehend so wie sie es gelernt haben weitermachen, sind sie die Nächste, die da draußen im Feuer verbrannt wird, und zwar eigenhändig von mir. Tun sie einfach so, als ob ich nicht hier wäre. Mehr wird nicht von ihnen verlangt, aber auch nicht weniger. Einen Augenblick später gab die Kommandantin den Feuerbefehl an ihre Kompanie und die Panzer verursachten mit ihren thermobaren Waffensystemen ein wahres Inferno, bei dem kein Stein des Sanatoriums auf dem anderen blieb und auch kein menschliches Leben. Das einzige, was kurz danach noch von dem barbarischen Akt zeugte, waren vereinzelte Flämmchen, Rauchwolken und verkohlte Leichen. Die Kommandantin meldete Vollzug und wollte gerade den Rückzug befehlen, als die Direktorin Einhalt gebot.
„Stopp, was zeigen die Wärmebildkameras?“, fragte sie scharf.
„Eine Glutwüste, Frau Direktorin, aber wenn sie noch eine Untersuchung mit Spähtrupps wünschen …?“, bot die Kommandantin ergeben an.
„Schwachsinn, ich fragte nach unserem Umfeld, nach den Lastwagen, die gerade abgefahren sind, nach flüchtigen Personen oder nach verdächtigen Fahrzeugen …“, fuhr Uljana, die Kommandantin der TOS-Kompanie, schroff an und fragte sich dabei, wen sie für die mangelhafte taktische Intuition ihrer Spezialkräfte später zur Verantwortung ziehen könnte.

 

 

***

 

Mirjam standen nicht von der Hitze, sondern von dem Genozid, den sie gerade mit ansehen musste, so viele Tränen in ihren Augen, dass ihr der Blick, den ihr ihre aktiven Prothesen so grausam auf ihre Hirnrinde spielten, total verschleiert vorkam. Wie durch dichten Nebel getrübt wiederholte sich das ganze Grauen in ihrem Kopf immer wieder wie ein Horrorfilm, der am Ende zum Anfang zurückgespult und dann erneut abgespielt wurde. Die Endlosschleife endete erst, als das heiße Fauchen einer weiteren Feuerwalze auf sie zurollte und sie sich aus einem Reflex heraus von dem Wolga abdrückte und in schier freiem Fall eine Böschung hinabrollte.
Bitte nicht …“, war das Letzte, was Mirjam dachte, als das Vakuum der Feuerbrunst ihr die Luft aus ihren Lungen sog.
Danach spürte sie nur noch eine sengende Hitze, die ihre beiden Prothesen sprengte, und sie nahm plötzlich ein helles Licht wahr, das sie glauben ließ, dass das ihr Ende gewesen sei.

 

 

***

 

 

„Können sie uns hören?“, fragte die Ärztin im Schockraum der Notaufnahme des städtischen Krankenhauses, in dem von Tag zu Tag immer mehr Verletzte aus der Zivilbevölkerung, aber auch besonders schwer verletzte Armeeangehörige eingeliefert wurden, und schaute ratlos auf die verbrannten Reste der Uniform ihrer mit Verbrennungen übersäten Patientin.
„Morphium?“, fragte die etwas korpulente Krankenschwester, die sich schon mit Tränen in den Augen um die Schwerverletzte gekümmert hatte, bis sich die total überlastete Ärztin endlich Zeit für den Neuzugang nehmen konnte.
„Nein, noch nicht. Vorher sollten wir noch versuchen herauszufinden, wer sie ist und woher sie kommt. Das sieht gar nicht gut aus. Wenn wir es schaffen, ihre Identität zu klären, bevor sie uns wegstirbt, können wir danach wenigstens noch ihre Angehörigen über ihren Tod informieren. Viel mehr werden wir vermutlich nicht mehr für sie tun können", sagte die Ärztin kalt wie eine Hundeschnauze und beugte sich noch etwas tiefer über den verkrümmt vor ihr liegenden, mit Schüttelfrost zitternden Körper.
„Was sind das für eigenartige Fremdkörper in ihren Augenhöhlen?“, fragte die Krankenschwester und fügte hinzu: „Wie Splitter sieht das nicht aus.“
„Stimmt, so etwas habe ich vorher auch noch nie gesehen“, sagte die Ärztin und versuchte, die eingebrannten Fremdkörper vorsichtig mit einem sterilen Haken zu lösen. „Vielleicht hilft uns das sogar bei der Klärung ihrer Identität weiter. Eine von uns ist sie wohl eher nicht, aber die Reste ihrer Uniform lassen auch nicht den Rückschluss auf eine Angehörige der russischen Armee zu."
„Vielleicht eine Söldnerin? … oder doch eine von uns, die von den Russen dazu gezwungen wurde, gegen ihre eigenen Leute anzustürmen?", überlegte die Krankenschwester laut weiter.
„Rufen sie die Militärpolizei dazu, die wird besser als wir wissen, was in diesem Fall zu tun ist. Reinigen sie die verbrannten Hautpartien, decken sie alles keimfrei ab und wickeln sie die Frau danach gut in eine Folie zur Brandwundversorgung ein", sagte die Ärztin und wollte sich schon abwenden.
„Nichts gegen Schmerzen?“, fragte die Krankenschwester.
„Nicht nötig und auch nicht hilfreich in diesem Fall“, rief ihr die Ärztin beim Gehen über die Schulter zu. „Sie ist so stark komatös, dass sie bestimmt auch ohne Schmerzmittel nicht mehr viel spürt. Sie darf nur nicht austrocknen, bevor sie der Vergiftung erliegt, die unvermeidlich voranschreiten wird, weil, wie es mir scheint, bei ihr einfach schon zu viel Hautfläche verbrannt ist."

 

 

***

 

 

„We don't know who she is and what has happened with her“, sagte die Ärztin aus dem städtischen Krankenhaus zu ihrem jungen Kollegen, der den Learjet mit intensivmedizinischer Ausstattung begleitete, während der Übergabe der Patientin auf dem Flughafen von Bachmut.
„We was told, that it seams to be, that she is a importend witness for the Ministry of foreign Affairs“, sagte der deutsche Arzt zu seiner ukrainischen Kollegin, während der Pilot schon die Triebwerke des Jets aufheulen ließ, und verabschiedete sich mit einem schnellen kollegialen Gruß.

 

 

***

 

 

„Ich heiße sie herzlich willkommen zur Tagesschau“, sagt der Sprecher und begann mit den Meldungen des Tages.
Ukraine: Der russische Nachrichtensender RT meldet, dass ukrainische Raketen in den Morgenstunden ein Sanatorium im Donbass, in dem sowohl russische als auch ukrainische Kriegsversehrte behandelt wurden, dem Erdboden gleichgemacht haben sollen. Es seien viele Tote zu beklagen, auch einige Frauen der russischen Armee. Unter den Getöteten befinden sich aber größtenteils Frauen aus der ukrainischen Zivilbevölkerung, die dort behandelt worden seien. Überlebende gäbe es keine, weil die Gebäude alle bis auf die Grundmauern niedergebrannt waren, bevor Hilfe eintraf. Die Leichen seien alle unkenntlich verbrannt. Der Wahrheitsgehalt dieser Nachricht ist für uns nicht überprüfbar.

 

 

***

 

 

„Guten Tag, Frau Strassfeld“, begrüßte Prof. Krassmann die Patientin, die ihr noch gut in Erinnerung war, und blickte auf den leeren Ärmel, der von Susannes rechter Schulter herabhing. „Also doch Metastasen!“
„Nein, eben nicht, und mein Auge ist auch wieder gesund, Frau Doktor“, sagte Susanne, zuckte für einen Moment mit ihrem Kopf zur Seite und blinzelte etwas Unterstützung suchend zu Pawel und zu dem Mann vom BND, der den Termin hier für sie alle so schnell organisiert hatte. Im Gegensatz zu der Verfassung, in der sie sich während ihres kurzen Aufenthalts in Kiew befand, fühlte sie sich inzwischen aber wenigstens in ihrer eigenen Haut wieder fast ganz pudelwohl. Die kupferfarbenen Locken ihrer Perücke leuchteten prachtvoll und vermittelten der toughen jungen Frau schon auf den ersten Blick einen Vorgeschmack auf ihr feuriges Temperament. Die mit Kajal aufgeschminkten Augenbrauen und die kontrastreiche Wimperntusche, mit der Susi ihrem Outfit den letzten Schliff verpasst hatte, passten perfekt dazu. Das einzige, das noch fehlte, um auch ihr strahlend grün und klar leuchtendes linkes Auge richtig zur Geltung zu bringen, war ein gutes kosmetisches Pendant für die leere Augenhöhle in ihrer rechten Gesichtshälfte. Die Prothese, die sie von den Russen bekommen hatte, fand Susi, sah aber im Vergleich zu dem schwarz getuschten Doppelstrich, mit dem sie die geschlossenen Lider ihrer rechten Seite dezent betont hatte, überhaupt nicht akzeptabel aus. Ihr russisches Zombieauge, wie Susi es seit Kurzem abwertend nannte, war zwar recht bequem, aber es war nur aus reinem Kryolithglas ohne jegliche kosmetische Farbgebung hergestellt worden und sah deshalb wirklich mehr furchterregend als schön aus. Dass Susis fehlendes rechtes Auge Fremden, denen sie so begegnete, letzte Spuren von ihrem Schicksal verriet, tat ihrem Selbstbewusstsein keinen Abbruch. Aber auf die Perücke und die Schminke wollte sie auf keinen Fall mehr verzichten.
„Es war eine Vergiftung“, mischte sich der Beamte ein.
„Eine Vergiftung mit den Symptomen eines Retinoblastoms?“, fragte die Ärztin und blickte den Herrn im Anzug stirnrunzelnd an.
„Ja, ein neues Gift, das die Russen entwickelt haben“, sagte Susi.
„Die Sache unterliegt strengster Geheimhaltung, Frau Professor“, fügte der Mann vom deutschen Auslandsgeheimdienst hinzu.
„Geheimhaltung? Wir sind eine freie Universität!", erwiderte die Professorin gereizt.
„Ja, absolute Geheimhaltung sogar!“, sagte der Agent und präsentierte der Ärztin seinen Dienstausweis. „Es scheint sich um eine neue biologische Waffe zu handeln, die Autokraten gedenken, dafür zu nutzen, um sich die westliche Welt zu unterwerfen.“
„Und warum sind sie deshalb hier bei uns und nicht in einer Klinik der Bundeswehr?“, fragte Frau Krassmann misstrauisch.
„Wir sind hier, weil sich die Ärzte der Bundeswehr besser mit der Behandlung von Augenverletzungen als mit der Beurteilung von Antikörpern gegen Krebserkrankungen auskennen“, sagte der BND-Mann sachlich.
„Solche Antikörper sind in der Wissenschaft nicht bekannt, wenn gleich wir uns diese sehnlichst wünschen würden, um unseren Patienten damit besser als mit den bekannten Methoden helfen zu können“, sagte Frau Krassmann etwas arrogant und blickte auf ihre Armbanduhr.
„Wenn sie Frau Strassfeld auf solche Antikörper untersuchen wollten, würde sich der Horizont der Wissenschaft vielleicht schneller erweitern, als sie das im Moment für möglich halten wollen“, erwiderte der Beamte und begleitete seine Ausführungen mit einer einladenden Handbewegung, die er auf Susi richtete.
Wir wären ihnen auch sehr verbunden, wenn sie die junge Dame auch auf Reste des Giftes untersuchen wollten und uns ihre Einschätzung über eine möglicherweise vorhandene Ansteckungsgefahr mitteilen würden.
„Eine Isolierstation haben wir hier nicht, aber in Kooperation mit der Onkologie sollte das das geringste Problem sein", sagte die Professorin, als sie die Tragweite des Problems verstanden hatte, und griff sofort zu ihrem Telefon.

 

 

***

 

 

„Herein!“, tönte eine sympathisch leicht rauchig klingende Frauenstimme aus dem Krankenzimmer, das noch immer rund um die Uhr von einem Polizisten bewacht wurde, obwohl das Krankenhaus der Bundeswehr in Ulm auch so schon einen beachtlichen Sicherheitsstandard hatte.
„Guten Morgen Alena, es ist erstaunlich, wie schnell sie sich erholen, und es freut mich persönlich, dass ich derjenige bin, der sie auf dem Weg ihrer Genesung begleiten darf“, sagte der hochgewachsene und gutaussehende Besucher freundlich. Die Tür hatte der Mann mit dem auffällig gut trainierten Körper gleich nach seinem Eintreten wieder hinter sich geschlossen. An Tagen wie diesem erkannte Alena an dem Hauch seines während des ersten Blicks in die Kamera oft etwas schelmisch wirkenden Grinsens sofort, wenn er besonders gut gelaunt war. Die Kamera war gleich, nachdem es ihr wieder besser ging, an dem blechernen Rollwagen montiert worden, der sich immer neben ihrem Bett befand und an dem auch ihr kleiner Esstisch aufgeklappt werden konnte.
„Oh, frisch vom Frisör? Mit den kurzen Haaren sehen sie ja richtig fesch aus, Herr Schuhmann", sagte Alena und erwiderte auf diese Art den Hauch des schelmischen Lächelns, das ihr bereits seit dem ersten Tag, an dem sie ihren persönlichen Verbindungsbeamten zum ersten Mal gesehen hatte, ausgesprochen gut gefiel. Noch besser gefiel ihr, dass er von Natur aus, trotz seines Berufes, ein lockerer Typ geblieben war, mit dem es deshalb auch leichter fiel, offen über schwierigere Themen zu sprechen.
„Danke, danke Frau Huber, man tut eben, was man kann, um den Ansprüchen interessanter Damen wie ihnen gerecht zu werden“, säuselte der Besucher, der Alenas Kompliment als Aufforderung zu einem kleinen Flirt verstehen wollte.
„Wenn es ihnen nur darum geht, lieber Herr Schuhmann, können sie sich zumindest für mich die Kosten für teure Haarschnitte zukünftig sparen, aber sie wollen damit ja sicher nicht nur meinen Ansprüchen gerecht werden, oder?“, stichelte die Frau aus ihrem Bett zurück und war darauf gespannt, ob er die Überleitung zu einem etwas heiklen Thema so schon erahnen würde.
„Wie soll ich das denn verstehen, Alena? Ich hoffe, dass ich sie mit meiner laxen Art nicht zu sehr irritiert habe. Falls doch, war das dann so nicht von mir beabsichtigt gewesen. Noch hoffe ich, dass nicht Schlimmeres hinter ihrer Bemerkung zu vermuten ist“, antwortete er prompt.
„Gar nichts Schlimmes. Aber ich weiß, dass es weder ihnen persönlich noch den anderen Damen und Herren ihres Hauses gefallen wird, zu erfahren, dass ich mich dazu entschlossen habe, mir das Implantat schnellstmöglich entfernen zu lassen. Sie geben seit Tagen ihr Bestes für meinen Schutz, aber ich weiß, wie gefährlich die Zeitbombe, die in meinem Kopf tickt, in den Händen der Russen ist. Sie wissen das auch, und deshalb hoffe ich auf ihr Verständnis“, ließ Alena die Bombe, die sie seit Tagen beschäftigte, platzen. „Selbst wenn ich ihnen damit jetzt ihre gute Laune verdorben habe, lieber Herr Schuhmann, was mir sehr leidtäte, aber mein Entschluss steht fest.“

„Ihre Angst vor den Russen kann ich gut verstehen, aber sind sie sich wirklich sicher, dass sie sich deshalb für ein Leben in erneuter völliger Blindheit entscheiden wollen, Alena“, sagte der große Mann. Mit einer vorsichtig fragenden Handbewegung deutete er tonlos, begleitet von frustrierter Körpersprache, an, dass er sich gerne auf Alenas Bettkante setzen würde. Nach einer kurzen Pause sprach er, nachdem sie ihm wortlos signalisiert hatte, dass sie seine Nähe im Moment nicht wollte, stehend mit ihr weiter. „Sie haben eine neue Identität, unsere besten Leute überwachen sie rund um die Uhr, was soll da noch passieren?"
„Setzen sie sich zu mir, lieber Schumann. Ich werde es ihnen erklären und danach werden sie mich sicher verstehen", sagte Alena und legte ihre vernarbte, zierliche Hand auf die ihres Gesprächspartners, bevor sie ihm von dem von den Noncyborgs gehackten Server erzählte.
„Wann soll der Eingriff durchgeführt werden?", fragte der hartgesottene Beamte mit trockenem Mund, nachdem er verstanden hatte, dass der FSB implantierte Leute nicht nur überall auf der Welt orten, sondern ihnen aus der Ferne auf Knopfdruck den kompletten Kortex ihrer Hirne irreparabel verbrennen konnte.
„Heute um 10:00 h, lieber Schuhmann, das ist in 20 Minuten", sagte Alena und zog den Stecker der Kamera aus der Steckdose neben ihrem Bett heraus.
„Eingesperrt im gelähmten eigenen Körper und völlig ohne Sinne … Ich verstehe sie zu gut, Alena", sagte Schuhmann und schniefte ob der Grausamkeit, die Autokraten für den Erhalt und den Ausbau ihrer Macht in Kauf nahmen.

 

 

***

 

„Zu Frau Huber? Dann sind sie der Herr Schuhmann, neh? …", sagte die junge Frau, die vermutlich eine Auszubildende war und mit dem verbindlich freundlichen Dialekt, den die meisten Leute in Thüringen pflegten, herzlich den Besucher begrüßte.
„Oh, sie erwartet mich schon? Das freut mich …", sagte der Verbindungsbeamte des BKA, der sich für dieses Wochenende freigenommen hatte und völlig privat nach Bad Klosterlausnitz gefahren war, um Alena, die hier seit einigen Wochen in einer auf Brandverletzungen spezialisierten Klinik weilte, zu besuchen.
„Ja, sie freut sich schon seit Tagen auf ihren Besuch. Sie finden sie draußen auf der Wiese, obwohl ihr davor abgeraten wurde, sich in die pralle Sonne zu legen. Aber sie wird schon wissen, was ihr guttut, und solange sie es nicht übertreibt …", plapperte die Nette und wies Schuhmann mit einer Handbewegung den Weg.
„Hey Alena! … schick siehst du aus", sagte Schuhmann zu der schlanken Frau, die sich, gleich nachdem sie seine Stimme gehört hatte, auf ihrer Decke zu ihm hin rollte und sich mit ihrem Kopf in einer Handfläche auf einem ihrer Ellenbogen abstützte.

„Sie sind später dran, als ich dachte. Am Wochenende ist doch nicht so viel Verkehr, oder konnten sie es sich nicht verkneifen, doch noch bei ihrem Frisör vorbeizuschauen?", fing die Frau, die einen knallroten und recht knappen Bikini trug, gleich an, mit ihrem Besucher zu flirten. Sie trug eine Perücke mit langen, ganz glatten Haaren und Pagenschnitt mit einem tief geschnittenen schwarzen Pony, unter dem zwei große, strahlend blaue Augen in der Sonne glitzerten. Ihr makelloses Gesicht war von einem fähigen Epithtiker bildhübsch auf einer angenehm zu tragenden Weichplastikhaube passend zu ihrem Typ neu gestaltet worden. Die kosmetische Prothese, die sie nicht nur zum Schutz vor UV-Strahlen, sondern auch, wenn sie für einen Mann wie ihren Besucher attraktiv aussehen wollte, einfach über ihren vernarbten Kopf ziehen konnte, war nagelneu, und die Verbrannte wartete gespannt auf das Feedback, das sie sich von Herrn Huber über ihr Aussehen erhoffte.
„Sorry, am Verkehr lag's auf jeden Fall mal nicht und außerdem bin ich rein privat hier. Mein Vorname ist Artur", sagte er schmunzelnd und ließ sich neben Alenas Decke auf die Knie sinken.
„Passt gut zu dir, kommt von Artus … und jetzt bin ich neugierig, ob du doch noch beim Frisör warst?“, sagte Alena, schlang ihre Arme um den Mann mit dem schelmischen Grinsen, das sie in seiner Stimme gehört hatte, und wuschelte ihm frech durch seine Haare. „Alena, mein neuer Name aus dem Zeugenschutzprogramm, gefällt mir übrigens auch viel besser als Mirjam", ergänzte sie noch kurz bevor sie ihren Artus leidenschaftlich küsste.

„Du bist die stärkste, die schönste und die begehrenswerteste Frau, die ich kenne“, flüsterte Artur in Alenas zierliches Ohr, das etwas verspielt aussah und die Reste ihrer vernarbten Ohrknorpel verbarg, bevor er sie erneut küsste und die beiden sich ganz dem Spiel ihrer Zungen hingaben, während sie eng umschlungen auf die Decke zurücksanken.

Schattenglut

Ronja

 

„Die ganze Geschichte, in die ich im Zusammenhang mit dieser Schattenglut hineingeraten bin, wird mir langsam aber sicher immer mehr suspekt", murmelte Ronja gedankenversunken vor sich hin. Seit Tagen nörgelte ich mahnend an Mara herum, wobei ihr Vorhaben sich im Vergleich zu meiner Aktion zwischenzeitlich deutlich harmloser darzustellen schien. Möglicherweise steckte ich hier sogar schon richtig tief in der Klemme. Ich wusste ja nicht mal, ob mir diese Alena mit ihrer unwiderstehlich bezaubernden Stimme die Wahrheit erzählt hatte oder ob ich meinen Kopf bereits im Übermut in ihre Schlinge gelegt hatte. Sie konnte mir schließlich alles Mögliche erzählen. Selbst dass sie auch eine Blinde sei, könnte eine Lüge gewesen sein. Mir war klar, dass ich eine Möglichkeit finden musste, die mir dabei half, für mich selbst wieder etwas mehr Licht in dieses Dunkel zu bringen. Fest stand allerdings, dass ich dieses Blinddate eigeninitiativ wollte. Das Einzige, was mir blieb, um hier einigermaßen ungeschoren zu meinem Ziel zu kommen, war einerseits wachsam zu bleiben und im Übrigen das Beste aus der verfahrenen Situation zu machen. Ungeschoren? Die prickelnd schöne Zweideutigkeit brachte mich auf einen neuen Gedanken. Mara hatte mir heute Morgen zärtlich meinen ganzen Körper geschoren. Aber, wie war das bei Yasu? Ihre Haut fühlte sich sogar noch ein bisschen glatter, als meine eigenen frisch rasierten Stellen an? An Alena kam ich im Moment nicht ran, das war klar. Aber an Yasu schon. So könnte ich auch schnell herausfinden, was das Rätsel mit ihrem Alter auf sich hatte, und auf diese Weise sicherstellen, dass sie auch wirklich volljährig ist. Sie einfach nach Ihrem Perso zu fragen, konnte ich ohne eine vertrauenswürdige Assistentin an meiner Seite vergessen. Aber das war das kleinste Problem. Schließlich war ich es ja gewohnt, mir alles, was mich interessierte, auf andere Art zu erschließen, und am einfachsten funktionierte das eben immer mit Tasten. Wenn Yasu die Reifeprüfung bestand, dann stand meinem weiteren Vergnügen mit ihr, auch ohne die plötzlich sehr eigentümlich wirkende Alena, nichts mehr im Wege. Aber zuerst musste ich noch herausfinden, wo ich war und wer uns bei dem, was hier gerade geschah, wie auch immer noch zuschauen oder sogar heimlich fotografieren und filmen könnte. Ja genau, die Vorhänge, das sollte ich zuerst klären. Wenn hier nämlich, so wie Yasu das so rätselhaft angedeutet hatte, wirklich kein Licht war, könnte das Ganze doch noch irgendwie alles legal sein und würde dann auch wieder verständlicher zusammenpassen.

„Also, ich sitze!“, sagte ich, da ich wieder einen Plan hatte, ohne einen Hauch von Angst in meiner Stimme preiszugeben.

„Dann sollten wir erst mal reden“, sagte Alena und ihre schöne Stimme klang dabei wieder genauso entspannt und sympathisch wie im ersten Telefonat, das wir vor knapp zwei Stunden zusammen geführt hatten.

„Ja genau, am Telefon hatten wir zuletzt über eure Schattengalerie gesprochen“, antwortete ich flott.

„Nicht ganz, zuletzt hatten wir darüber gesprochen, dass du mit deiner Blindheit nicht klarkommst“, entgegnete Alena freundlich, aber kühl.

„Ach nee. Bitte nicht schon wieder dieses Thema. Wenn das so wäre, würde ich ja jetzt nicht hier sitzen. Aber Schwamm drüber, apropos hier sitzen. Ist das hier so etwas Ähnliches wie das Unsichtbar?“

„Ah, du kennst das unsicht-Bar, das Dunkelrestaurant in Berlin-Mitte, in der alten Backfabrik? Ja, das hier ist ein ähnliches Konzept. Unser Restaurant heißt aber Schattentraum“, antwortete Alena mit hörbar ehrlicher Freude in ihrer Stimme.

„Im unsicht-Bar hatte ich sogar mal einen Minijob.“, schob Alena dann wieder verbindlicher hinterher.

„Schattentraum? Das klingt aber nicht nur nach gutem Essen“, gab ich Alena so zur Antwort, dass eine Blinde ein schräges Grinsen aus meinen Worten heraushören können müsste. Außerdem zeigte ich Yasu ohne Worte, dass ich ihre Hand, die noch immer auf meinem Unterarm lag, als vorsichtigen Annäherungsversuch verstehen wollte, und begann damit, sie so leise wie möglich vorsichtig zu streicheln. Jetzt, wo ich erneut ein paar Fäden in der Hand hatte, die es mir erlaubten, das rätselhafte Treffen auf meine Art zu analysieren, war für mich wieder alles ok. Dieses Kribbeln und Kitzeln war auch wieder da. Allerdings war ich nun auf Yasu noch mehr als vorher auf Alena scharf, die bei mir zwischenzeitlich trotz ihrer erotischen Stimme ziemlich unten durch war. Kurz darauf sank Yasus Kopf seitlich auf meine Schulter und ich spürte schwere, glatte, lange Haare, die mir, wie leichter Nebel, auf die weiche Seide meiner dünnen Bluse glitten und dort über meine Brüste strichen.

„Ganz genau, nicht nur gutes Essen. Aber wie ich höre, lächelst du wohl hauptsächlich deshalb, weil dir Yasus sinnliche Träume im Moment nicht gerade ungelegen in deinen Schoß fallen, oder?“

„Was für eine irrsinnige Entwicklung der Geschehnisse", brummelte ich vor mich hin und ließ mir das eben Gehörte noch einmal kurz durch meinen Kopf gehen. Ohne groß nachzudenken, antwortete ich der Spaßbremse Alena, die mich so langsam wirklich zu nerven anfing, flapsig knapp zurück.

„Jetzt weiß ich wenigstens, dass deine Blindheit so echt wie meine ist und du auch nicht besser damit klarzukommen scheinst als ich.“ Gleichzeitig trieb mir mein Herz schon kräftig und laut pochend eine gehörige Menge heißes Blut durch die Adern, während meine Hände über Yasus Hals neugierig zu ihrem Kopf hoch glitten. Sie war sportlich leicht gekleidet und trug ein gut gebügeltes Poloshirt aus dicker Baumwolle, das sich schön weich anfühlte.

„Menschen wie du, die gegen ihre Gebrechen ankämpfen, sind oft grundlos misstrauisch, weil sie nicht souverän über der eigenen Sache stehen“, schien mich Alena tatsächlich belehren zu wollen und sprach gleich ohne eine Pause einzulegen weiter.

„Deshalb urteilen viele dann auch häufig zu schnell und aus diesen Gründen oft falsch und teilweise sogar unfair über andere“, antwortete mir Alena ganz gelassen, ohne einen anfeindenden Unterton in ihrer Stimme. Ich war mir sicher, dass sie jedes Detail von meinen Kuscheleien mit Yasu genau mitbekam. Wir hatten uns inzwischen auf unseren Stühlen einander zugewandt, streichelten uns über die Rücken und tauschten leise erste zärtliche Küsschen aus. Obwohl ich von der Hitze und der Leidenschaft, die schon heftig in mir brodelten, fast schon die Beherrschung verlor, musste ich mir aber zuerst noch ein Bild über Yasus tatsächliche Reife verschaffen. Alles andere wäre verantwortungslos gewesen. Ich spürte das drängende Verlangen, ihre Brüste zu berühren, wollte so gern ertasten, welche Form ihre Brustwarzen hatten und wie hart sie schon waren. Aber vorher musste ich mich erst noch vergewissern, dass ihr Schamhaar normal entwickelt war und ihr Körper sich wie der einer ausgewachsenen Frau anfühlte. Nur diese Alena fand kein Ende damit, mir mit ihrem tiefsinnigen Geschwafel die Lust auf Yasu verderben zu wollen. Ein Dunkelrestaurant mit edlen Stofftischdecken, in dem ein altkluges Orakel ungefragt an mir herumnörgelt? Heute war wohl doch nicht mein Glückstag.

„Muss das denn sein?“, fauchte ich, fast meine Contenance verlierend. Ohne dabei meine Finger von Yasus Körper zu lösen, schob ich noch eine zornigere Wortsalve hinterher und sprach auch gleich weiter.

„Du hast zwar eine schöne Stimme, Alena. Aber der Inhalt dessen, was du sagst, hört sich fast schon so gefühlskalt an wie all die schlimmen Dinge, die Maike mir vorhin über euer Etablissement erzählt hat. Merkst du denn gar nicht, wie verletzend und überheblich das, was du sagst, in den Ohren anderer Menschen klingt? Zumindest für mich fühlt sich das so an, dass du mir damit wehtust. Oder ist dir das egal?“ Mein Herz raste wie wild, weil sich zu meiner Erregung jetzt auch noch Zorn hinzumischte. Nur Yasu, deren Körper so schön weich und warm war und die mich beruhigend streichelte, hatte eine weitere Eskalation meines Zorns gerade noch verhindern können. Ihre Hände streichelten mein Gesicht. Im Gegensatz zu mir war sie die Ruhe selbst und unglaublich friedlich. Sie schmiegte sich beruhigend an mich und streichelte mich ganz lieb. Verspielt glitt ihre zarte Hand über meine Wange und dann spürte ich, wie sie mir vorsichtig ihren Zeigefinger über meine weichen Lippen legte. Yasu gab mir damit ohne Worte sehr harmonisch zu verstehen, dass ich mich besser auch auf die Suche nach meinem inneren Frieden begeben sollte, anstatt mich weiter als eine unreife Zicke aufzuführen. Wie konnte ein zartes Geschöpf wie sie nur derart souverän über den Dingen stehen? Yasu konnte, so wie sie sich verhielt, unmöglich noch ein unreifes Kind sein. Ganz im Gegenteil, sie kam mir reifer und in ihrer Persönlichkeit gefestigter vor, als ich mich selbst gerade fühlte. War ich wirklich nur so zickig, weil ich etwas in mir verdrängen, bekämpfen oder gar mich selbst verleugnen wollte? Es waren Yasus Hände, die ich plötzlich auf meiner Bauchdecke spürte und die mich zurück ins Geschehen holten. Ich fühlte mich wie in den siebten Himmel gehoben. Verzaubert zu einer erotischen Himmelfahrt, mit flatternden Schmetterlingen in meinem Bauch, und einen Moment später saß Yasu so auf mir, als sei ich der fliegende Teppich, auf dem wir beide davon schweben wollten. Im selben Moment stellte ich fest, dass sie einen sehr kurzen, frechen Minirock trug, dessen Saum sich nach edlem Pelz anfühlte und der sich schon bis zu ihren schmalen Hüften hochgeschoben hatte. Wie ein Windhauch kam sie hauchzart über mich geweht, um sich danach, gegrätscht, über mir aufgerichtet auf meinen Schoß zu setzen.

„Ihr müsst euch aber nicht auf diesen unbequemen Stühlen lieben?“, hörte ich Alena verständnisvoll in gütigem Ton sagen. „Yasu führt dich bestimmt auch gern zur Schattenwiese, dort seid ihr ganz ungestört nur unter euch, wenn dir das lieber ist, Ronja.“ Ich biss mir so fest ich konnte auf die Lippen, spürte, dass Yasu sich nach vorne beugte und mir mit ihrem halb geöffneten, weichen Mund total entspannt meinen Hals entlang nach oben auf mein Gesicht züngelte. Weil meine Hände mittlerweile von ihrem Rücken zu ihrem fraulich runden Po gewandert waren, mit dem sie sich genüsslich auf dem Leder meiner Jeans auf mir herum schlängelte, wusste ich, dass sie untenrum schon splitternackt war. Meine Knie zitterten vor explosiver Lust, als sich meine Finger entlang ihres süßen Hinterteils nach vorne zu ihren weichen Schenkeln, die sich auch fraulich mollig anfühlten, vorstreichelten. Aber als ich mich endlich im Strudel meiner eigenen Lust zu ihren Leistenbeugen vorangetastet hatte, erschrak ich plötzlich. Mit blankem Entsetzen spürte ich eine Gänsehaut. Von einem Moment auf den anderen zog sich in mir alles, fröstelnd vor Schreck, zusammen. Meine Lust war schlagartig schockgefroren und ließ mich zu einem fassungslosen Eisblock erstarren.

 

***


„Urteile nicht zu schnell, Ronja, vertrau mir, sonst wirst du es nach wenigen Sekunden bitter bereuen.“ Da war sie wieder, Alenas’ allwissend und allmächtig klingende Orakelstimme, die, obwohl sie leise war, wie ein schwermütig mahnendes Echo im Raum nachklang. Diesmal kochte ich wirklich vor Wut über diese besserwissende Spielverderberin, an der ich nach meinem Schreck nichts Gutes mehr erkennen wollte. Schließlich hatte ich gerade selbst genug an dem Schock zu knabbern, den Yasus Körper mir gerade eingejagt hatte. Yasus Schamhügel war tatsächlich auch so spiegelglatt wie ihre Schulterpartie und ihre zarten Hände. Nicht samtig glatt, wie bei Mara und mir, sondern richtig spiegelglatt, ohne Stoppel, nicht mal ein Härchen oder Flaum war auf ihrer weichen Haut zu ertasten. Aber das war noch nicht alles. Mir blieb fast mein Herz stehen …, war da etwa noch etwas, das mich an meinen morgendlichen Streit mit Mara, kurz bevor sie mich verlassen hatte, erinnerte. War Yasu etwa gar keine richtige Frau? Ich war total verwirrt, denn ein richtiger Mann war sie auch nicht, das spürte ich ja ganz deutlich. Sie …, oder er …, oder es … Oje, was für fürchterliche Worte für ein so liebenswertes Wesen? Ich zweifelte an mir selbst und an meinem Verstand, während ihr Zäpfchen in meiner Hand, die ich vor Schreck zur Faust geballt hatte, geduldig auf neue Zärtlichkeiten wartend, lustvoll erregt vor sich hin pulsierte. Yasu hatte mir doch vorhin schon klar und verständlich erklärt, dass sie sich als Frau versteht. War ich wirklich so oberflächlich unterwegs, dass ich sie in meinem Stress soeben sprachlich als Sache, ja, als Objekt bezeichnet hatte? Oder aus welchem anderen Grund sollten mir solche Taktlosigkeiten sonst in den Sinn gekommen sein. Mara legte sonst immer so viel Wert auf Respekt und Freiheit, gepaart mit lustvoller Toleranz, was mir ja auch wieder Kraft und mein neues Selbstbewusstsein eingehaucht hatte.

„Das ist der Grund, warum ich meinem Land den Rücken gekehrt habe“, sagte Yasu leise und fast tröstend zu mir. Ihre Sprachmelodie brachte ihre innere Zufriedenheit so glaubhaft zum Ausdruck, dass mir fast schwindelig wurde vor Rührung. Dann brach ich in Tränen aus und drückte sie so fest ich konnte an mich.

„Genau das wollten wir mit dir teilen, Ronja“, sagte jetzt auch Alenas Stimme mit einer Wärme in die dunkle Stille, in der sonst nur noch mein Schluchzen schwebte. „Jetzt verstehst du vielleicht auch, warum Yasu trotz aller Farben, die sie noch hat, das Licht nicht mag, das wir nicht haben.“ Dann hörte ich Alena, wie sie mit leisen Schritten entschwand, um kurze Zeit später wiederzukommen. Ihr Atem verriet mir, dass sie sich auf etwas konzentrierte. Das Geräusch, das von der Tischdecke leise und dumpf zu meinen Trommelfellen schallte, klang nach einem Tablett, das sie dort abgestellt hatte.

„Warum?“, flüsterte ich, während ich Yasu noch immer fest in meinen Armen hielt und über den glücklichen Langmut der fantastischen, zierlichen Frau nachdachte, die ich in meinen Armen hielt, aber nicht verstand.

„Warum? Nun ja, Wesen, die ihre Geschlechter wechseln können, haben in der japanischen Kultur eine jahrtausendealte Tradition und werden in Japan Futanaries genannt“, erklärte mir Yasu.
„Eine strenge Trennung nach nur zwei Geschlechtern gibt es dort nicht. Aber das ist in vielen anderen Kulturen auf der Welt auch anders als hier. Denk doch nur mal an die Hijras in Indien, die Ladyboys in Thailand, Kambodscha und auf den Philippinen. Die gibt es in Asien sogar bis nach China. Oder die Trannys in Brasilien und die feminisierten Schönheiten, die sich an kolumbianischen Traumstränden in winzige Mikrobikinis gehüllt im Sand sonnen und zur Abkühlung im Meer plantschen."

„Du kannst dein Geschlecht wechseln?“, fragte ich ungläubig und fast schon wieder zornig werdend zurück. „Außerdem verstehe ich nicht, warum du dann überhaupt mit deinem Land gebrochen hast. So wie sich das gerade anhörte, schien es mir gerade so, als ob du die grausamen Rituale sogar als Betroffene noch voll gut zu finden würdest.“

„Nein, ich kann mein Geschlecht natürlich auch nicht nach Lust und Laune, so wie ein Leguan seine Farbe wechseln kann, situativ beeinflussen. Das geht natürlich nicht. Es stimmt auch, dass ich jetzt so bleiben will, wie ich bin. Aber mich stört, dass andere das alles, als ich noch zu klein war, um es selbst zu verstehen, für mich entschieden haben. Woher soll ich denn überhaupt wissen, wie ich heute gern anders sein wollte? Ich kenne es doch nur so. Vielleicht ist das so ähnlich wie mit den Farben bei blinden Menschen. Geburtsblinde stecken den fehlenden Farbsinn ja auch oft leichter weg als Späterblindete. Das, was ich dir zu der Fähigkeit der frühen Futanaries, von denen man sich erzählte, dass sie ihr Geschlecht wechseln konnten, sagte, sind fast vergessene Sagen aus der Vergangenheit. In Japan gibt es solche wie mich schon seit mehreren tausend Jahren. Natürlich sind wir alle Wesen, bei denen andere Menschen mit unseren Feminisierungen sehr weltlich nachgeholfen haben, eine alte Tradition fortzuführen. Heute weiß man, dass es die ursprünglichen Fabelwesen nie gegeben haben kann. Der Zauber der alten Sagen ist dort aber bis zum heutigen Tage gesellschaftlich allgegenwärtig und leider stärker als Aufklärung, Respekt und Vernunft.“ Ein leises Knistern und Kratzen, das aus Alenas Richtung kam, erregte in meinem Unterbewusstsein zusätzliche Aufmerksamkeit und lenkte mich etwas ab. Zornig auf Yasus Peiniger presste ich dennoch betroffen glucksend einen weiteren Satz aus mir heraus.

„Also die gleiche Barbarei, so wie das bei uns im späten Mittelalter die katholische Kirche mit ihren Singknaben gemacht hat?“ Yasu streichelte mir mit ihren kleinen Handrücken zärtlich über meine Wangen und verwischte die hervorgequollenen Tränchen zu einem dünnen kühlenden Film, der mein Gesicht danach nur noch leicht benetzte.

„Plopp“ …, schallte es durch den Raum und ich hörte zischend und schäumend Champagner in Gläser sprudeln. Sie mussten so eng gedrängt auf dem Tablett stehen, dass sie schon während des Eingießens hell wie Glöckchen klingelten. Es hörte sich nach Sektflöten aus dünnem Kristall an. Die Flasche musste sich uns gegenüber auf der anderen Seite des Tisches in Alenas Hand befinden. Von dort, wo die edlen Tropfen lebhaft aus dem Flaschenhals rannen, wehte ein trockener Duft zu Yasus’ und zu meiner Nase herüber, der unsere Schleimhäute mit einem herben Aroma benetzte. Das kühle Nass flüsterte ein feinperliges Sprudeln dazu. Einfühlsam schoben sich Yasus kleine Finger unter die Finger meiner noch kraftlos geschlossenen Faust. Ihr kleiner Kerl war jetzt noch kleiner geworden, aber noch immer ein gewaltiger Riese im Vergleich zu meinem Kitzler. Die frostige Kälte in mir war von Yasus grenzenloser Zufriedenheit und ausgleichender Menschenliebe komplett weggetröstet und mein kurzer Schmerz, der für Yasu in Wahrheit ja gar keiner mehr zu sein schien, schmolz dahin wie Eis in der Sonne. Mein Verlangen nach leidenschaftlichem Sex mit ihr brach wie ein isländischer Geysir durch den Rest der dünnen Eisdecke, die mein Herz von dem Schreck noch einhüllte. Wie ein feuerspuckender Vulkan brach meine neue Lust durch das Eis hindurch und überschüttete die dünne Oberfläche mit einem wilden Funkenregen, der das letzte Eiskristall wie Butter in der Sonne dahinschmelzen ließ.

„Wollen wir nicht wenigstens noch zusammen anstoßen?“, mischte sich Alena höflich, mit einem gut hörbaren, aber wissenden Grinsen wieder in unsere Unterhaltung ein und Yasu glitt geschmeidig von meinem Schoß herunter. Ein Hauch ihrer erotischen Wärme, die ich links von mir spürte, ließ mich wissen, dass sie noch dicht bei mir stand, und ich hörte, dass sie noch damit beschäftigt war, sich ihr Röckchen wieder sorgfältig zurechtzuzupfen. Deshalb wollte ich auch aufstehen, um bei Alena schon mal nach unseren Gläsern zu sehen. Kaum dass ich mich erhoben hatte, spürte ich Yasus Hand auf meiner Schulter.

„Du bleibst mal besser hier, ich mach’ das schon …“, hörte ich das süße Wesen, zwar hell und zart, aber in einer Art und Weise sagen, die mich aufhorchen ließ.

„Soll das heißen, dass mir Alena für immer verborgen bleiben soll?“, fragte ich verwundert.

„Glaub mir, das ist besser so“, sagte Alena weich, und diesmal glaubte ich, in ihrer Stimme einen wirklich traurigen Unterton herausgehört zu haben.

„Dann hast du also doch selbst mehr Probleme mit deinen Gebrechen, als du zugeben willst?“, rutschte mir spontan ein wirklich dummer Satz heraus.

„Besser, du kehrst erst mal vor deiner eigenen Tür, Ronja“, bemerkte Alena dazu völlig trocken.

„Komm, nimm mal …“, im selben Moment spürte ich eine eiskalte Sektflöte, die Yasu mir auffordernd an meinen Handrücken hielt, und griff vorsichtig zu.

„Auf deinen ersten Besuch bei uns in der Schattenglut, Ronja. Du befindest dich im Moment, wie du weißt, noch in der Schattenwelt, aber nach unserem Umtrunk kann Yasu dich, vorbei an den Schattenbildern, derentwegen du ja ursprünglich zu uns kommen wolltest, entlang der Schattengalerie durch die Schattenbar bis in die Schattenhölle führen. Danach kennst du dann auch die wirklich dunklen Seiten in unserer Schattenglut.“

„Wie, du gehst nicht mit?“, fragte ich überrascht.

„Nein, Ronja, das Licht passt nicht gut zu meinem Gebrechen. Lass uns lieber über andere Dinge reden und auf deinen Besuch anstoßen. Du bist uns hier jederzeit willkommen.“ Ganz benommen von den vielen neuen Eindrücken spürte ich, dass Yasu mich ganz vorsichtig an meinem Handgelenk zu der Stelle über dem großen runden Tisch lenkte, über der unsere drei Gläser kurz darauf im Gleichklang klirrten und wir uns danach zuprosteten. Alena sprach im weiteren Verlauf unseres Gesprächs davon, dass ihr Name zum gleichen Sprachstamm wie Olena gehöre und sowohl in Russland als auch in der Ukraine weit verbreitet und beliebt sei. So erfuhr ich auch, dass sie aus der Ukraine stammte, wo sie wegen Taras Novikows barbarisch wütender Russen erblindet war. In unseren Gläsern befand sich übrigens ein ganz erlesener, sehr trockener Sekt, der in der Ukraine auf der Halbinsel Krim in nur ganz geringen Mengen erzeugt worden war. Während des spontanen Umtrunks erzählte uns Alena Weisheiten und alte Geschichten aus ihrer Heimat. Sie sprach auch über die Bedeutung ihres Namens und erklärte uns, was daran gerade jetzt, während des Überfalls auf ihr Land, so bedeutsam sei. Dass die Firstlady, also die Frau des ukrainischen Präsidenten, auch Olena heißt, wusste ich schon aus den Nachrichten, aber die Bedeutung dieses Namens kannte ich vor Alenas Erklärungen noch nicht. Beide Namen, so hörte ich interessiert, hätten mit ‚der Strahlenden‘ und ‚der Abwehrenden‘ eine Doppelbedeutung. Während die Strahlende selbsterklärend war, hörte ich, dass die 'Abwehrende´ bedeute, dass alle Olenas als starke Frauen ihre Ehemänner vor der Aggression feindseliger fremder Männer beschützen könnten. Alena blieb, weil ich sie mir ja noch immer nicht mit meinen eigenen Händen hatte ansehen dürfen, bis zu unserer herzlichen Verabschiedung aus den Schattenträumen ein geheimnisvolles Rätsel für mich. Aber das Bild, das beim Gehen von ihr in meiner Vorstellung existierte, war so wunderschön, dass ich es für immer in meinem Herzen bewahren wollte. Noch als meine Hand schon zum Verlassen der Schattenträume bereit, um mich von ihr führen zu lassen, auf Yasus Schulter lag, stellte ich mir Alena wie eine stolz und gleichzeitig gütig in die Welt blickende Madonna vor …

„Aber warte mal, wollten wir nicht erst noch zur Schattenwiese?“, hörte ich mich Yasu mit meiner, wieder von einem leidenschaftlichen Flackern begleiteten Stimme fragen. Dabei glitt meine Hand von ihrer Schulter hinunter und ihrem Schlüsselbein entlang auf die Stelle zu, an der sich ihr Brustansatz befinden müsste – oder hatten Futanaries, gar keine richtig weiblichen Brüste? Meine Fingerkuppen vibrierten noch mehr als meine Stimme. Im selben Augenblick schrillte plötzlich eine weiche, harmonische Melodie aus meinem Rucksack heraus.

„Oje …, sorry, das muss Mara sein!“, schrie ich besorgt auf und riss mir den Rucksack von meiner Schulter.
„Mara?“, fragte Yasu. „Deine Freundin?“
„Ja, meine Freundin …, also nein, eine Freundin, ähm …, doch meine beste Freundin, und doch ja auch meine Freundin!“, stotterte ich herum und nestelte nervös mein Handy hervor, um das Gespräch mit zitternden Fingern anzunehmen.

„Hallo Mara? Ich hoffe, es ist alles gut gegangen bei dir?“

„…“

„Oh, das tut mir leid.“

„…“

„Nein, ich bin ja auch nicht zu Hause?“

„…“

„In der Stadt.“

„…“

„Wie? …dieser Alex fährt dich? … mit diesem Schlitten?“

„…“

„Na dann kommt doch einfach zum Restaurant Marjellchen. Das ist an der Ecke Mommsenstraße mit der Schlüterstraße."

„…“

„Ok, rufe einfach fünf Minuten vorher nochmal an, wir kommen dann raus und holen euch dort vor der Tür ab."

„…“

„Nein, nicht ins Marjellchen, das hier heißt „Schattenglut…“

„…“

„Das ist eine lange Geschichte. Es fing, wie bei dir, mit Bildern an. … nur ganz anders.“

„…“

„Wie, wer ‚wir‘ ist?“

„…“

„Yasu“

„…“

„Nein, keine Frau, äh … also schon eine Frau, aber eigentlich eine Futanari.“

„…“

„Jetzt frag mir doch am Telefon keine Löcher in den Bauch, komm her und wir erklären dir dann alles.“

„…“

„Na und? Ich durfte ja alles anfassen, was mir hier bisher wichtig war … bis auf eine Ausnahme. Aber das ist jetzt wirklich kein Thema mehr fürs Telefon.“

„…“

„Okay, cool!“ So vierzig Minuten also! Bis gleich dann.“

 

***

 

„Ich wollte nur nicht aufdringlich erscheinen“, sagte Yasu, während sie schon die Richtung änderte, um mich noch tiefer in die Schattenwelt zu dirigieren. Schnell hörte ich am Echo einer Wand, dass wir uns im hinteren Bereich der Schattenträume wieder einer Tür näherten. Überrascht nahm ich dann aber auch Alena noch einmal hinter uns wahr. Wie ein lautloser Schatten musste sie uns hinterhergehuscht sein und ich fragte mich kurz, ob das Ganze jetzt doch noch auf Zärtlichkeiten zu dritt hinauslaufen könnte. Aber sie drückte Yasu nur das Tablett mit der Sektflasche und unseren Gläsern in die Hände. „Wollt ihr das nicht gerne haben?“, hörte ich sie schmunzelnd murmeln. Sekunden später war sie dann endgültig verschwunden.

„Kannst Du mal bitte nehmen?“, fragte mich Yasu und schob mir das Tablett mit der Kante an den Handrücken meiner Hand, die noch locker entspannt auf ihrer Schulter lag. Mein Körper straffte sich blitzschnell und eine Sekunde später hatte ich dann schon mal das Tablett mit der Flasche gut und sicher zwischen meinen Händen in der Horizontalen ausbalanciert. Genauso flott schaffte ich es auch, ohne Stock und ohne Körperkontakt zu anderen Orientierungspunkten aus meiner Umgebung genug Körperspannung für einen sicheren Stand aufzubauen. Kurz darauf hörte ich eine schwere Tür vor uns aufschwingen, spürte einen warmen Lufthauch und fühlte mich vom Duft von Räucherstäbchen, die nach Rosen, Rosmarin, ätherischen Ölen und einem leichten Hauch Zimt dufteten, eingehüllt. Yasu erlöste mich wieder von dem Tablett und ich folgte ihr in einen warmen Raum, dessen Akustik mir das Vorhandensein von flauschigen Tüchern, kuschelweichen Decken und gemütlichen Liegeflächen vermittelte. Der Fußboden fühlte sich, selbst durch die dicken Sohlen meiner Stiefel, schon nach dem ersten Schritt über die Schwelle schön gemütlich an. Mein Herz meldete ganz ungeduldig einen neuen, gestreckten Jagdgalopp an und meine Nippelchen benahmen sich, als wollten sie vor lauter Ungeduld die dünne Seide meiner Bluse mitsamt der zwei Ringe, die ich stolz vorne an meinem festen Busen trug, durchbohren. Yasus Atem klang auch aufgeregt. Sie stand ganz dicht vor mir und wartete auf mehr. Diesmal zögerte ich keine Sekunde, zog sie spontan ganz dicht an mich heran und Yasu erwiderte meine Umarmung mit einer innigen Umklammerung. Die Luft, die sie ausatmete, strich feucht und warm an meinem Kinn vorbei und von dort weiter zu meinen Nasenflügeln, die bebend Yasus’ Duft schnüffelten. Meine Hände strichen zärtlich über ihren Rücken, während Yasu lustvoll aufstöhnte. Eigentlich wollte ich noch etwas zu ihr sagen, aber Yasu erstickte meine weiteren Worte einfach mit ihrer Zunge und tastete nach den Knöpfen meiner Bluse. Leidenschaftlich knutschend knöpfte sie mich von oben nach unten, bis auf den letzten Knopf, auf, um mit meinen erregten Nippelchen zu spielen. Ihre neugierigen Finger ertasteten meine Piercings, schoben sich von unten federleicht unter meine beiden Ringe und ließen sie danach wieder neckisch auf meine Vorhöfe zurückpendeln. Yasu schien es regelrecht anzutörnen, mir ihre Fingerchen durch meine beiden Schmuckstücke hindurchzustecken und mich auf diese Art anzufixen. Im selben Moment spürte ich, dass sich da etwas sehr Süßes und Kleines gegen das aufgeweichte Leder in meinem Schritt drückte. Sofort erinnerte ich mich und verstand, dass Futanaries, obwohl sie offensichtlich so weiblich wie Mara und ich sind, in entsprechender Stimmung wie Männer erigierten. Mein Herz raste plötzlich wie das einer arabischen Vollblutstute, nachdem sie einen Hengst gewittert hatte. Für die Stute, als instinktgesteuertes Fluchttier, wäre jetzt Flucht oder Lust die nächste Frage gewesen. Darüber wollte ich mir, so erregt und so verrückt wie ich jetzt nach Yasu war, aber keine Gedanken mehr machen. Mit ungezügeltem Verlangen entschied ich mich für die in mir auflodernde Lust und knutschte mit Yasu wild weiter. Wir küssten und streichelten uns so schön, wie ich das bisher nur unter Frauen kennengelernt hatte. Yasu hatte sich inzwischen auf die Zehenspitzen gestellt und mir ihr Zäpfchen beim Knutschen jauchzend vor Lust zwischen die Innenseiten meiner Oberschenkel in die aufgeweichte lederne Ritze meiner Jeans geschoben. Ihr kleiner Freund begann, mich richtig süß mit sanftem Druck in der Lederfalte meiner hautengen Hose zwischen meinen Beinen zu stimulieren. Yasu war unter ihrem süßen Kerlchen zwar komplett gestutzt worden, aber obwohl sie da so glatt wie ich, nur ohne Schamlippen und ohne Vagina war, genoss sie unser Liebesspiel nicht weniger als Mara. Mara und ich hatten es heute Morgen, also kurz vor dem für mich so schmerzlichen Abschied, auch noch einmal in ähnlicher Weise zusammen unter der Dusche getrieben. Zu diesem Zeitpunkt hätte ich mir nicht träumen lassen, dass mein Tag sich heute sogar noch besser als der von Mara entwickeln könnte. Yasu hatte sich plötzlich nach hinten auf eine weiche Matratze zwischen Berge aus weichen Kissen und Decken fallen lassen. Etwas überrumpelt plumpste ich ihr, weil sie mich einfach mit sich mitgerissen hatte, genau zwischen ihre gespreizten Schenkel. Mein Gesicht befand sich über dem ihren und wir verschmolzen erneut ganz entspannt Mund zu Mund. Unser genussvolles Stöhnen, das vor lauter Freude die Wellen unserer Orgasmen begleitete, wurde gegen Ende etwas lauter. Es waren Wellen, die immer wieder so wie wilde Brandung neu anrollten. Sie fühlten sich wie die Wellen eines Sturms an, die nie müde werdend auf den Strand rollten und deren Brausen laut und tief in meinem Bauch donnerte. Arm in Arm eingedämmert, vergessen wir für einen Moment Zeit und Raum. Nach dem Erwachen befreite Yasu mich von meinen Stiefeln und vom Rest meiner Kleidung. Das Badezimmer, in das sie mich danach führte, erinnerte mich an jenes in einer Suite, die ich vor einigen Wochen zusammen mit Mara ein paar Tage in einem schönen Resort in Mexiko in einem kleinen Bungalow direkt am Strand bewohnt hatte. Dort war das Klima und unsere Stimmung genauso heiß und feucht wie hier gewesen. Mara hatte mich zu meinem ersten Urlaub, den ich jemals erlebt hatte, eingeladen und überredet, sie zu begleiten, was ich zunächst überhaupt nicht annehmen wollte. Wir genossen die zwei Wochen, die wie im Zeitraffer verstrichen, und ahnten noch nicht im Entferntesten, dass wir kurz darauf wegen der Corona-Pandemie unsere Stellen im Call-Center schneller als gedacht wieder verlieren würden. Nie hätte ich mir damals träumen lassen, dass Mara sich ohne mich in ein Abenteuer stürzen würde, das gar nicht zu ihr passte und von dem ich ihr aus fürsorglicher Sorge, so nachdrücklich ich das konnte, immer wieder abgeraten und sie gewarnt hatte. Dass ich mich mit dem Erkunden der Schattenglut in mein eigenes Abenteuer gestürzt hatte, konnte Mara nur aus meinen Andeutungen während der kurzen Telefonate, die heute immer mal wieder stattfanden, erahnen, aber dass bei ihr noch weniger als bei mir nach Plan gelaufen zu sein schien, sagte mir mein Bauchgefühl. Die Sorgen, die ich mir um Mara machte, änderten aber nichts daran, dass sie irgendwo da draußen in Berlin in einem Luxusschlitten saß, der sich auf dem Weg zu mir befand und in einer knappen halben Stunde hier eintreffen sollte. Sie war dort und ich hier bei Yasu in der Schattenglut gelandet. Nur weil Mara sich ihr Abenteuer von mir nicht ausreden lassen wollte, war ich hier. Hier in der Schattenglut, mitten drin in meinem eigenen Abenteuer, das mich in wenigen Stunden so selbständig wie Mara hatte werden lassen, und ich spürte, wie gut das tat. Yasus Badezimmer war auch schön heiß und der warme Nebel so feucht, wie ich das Klima und die coole Stimmung mit Mara aus Südamerika in Erinnerung hatte, wo wir, um uns abzukühlen, in der Gischt zusammen durch Wellen der Brandung getaucht waren. Yasus Bad war von sattem Dampf erfüllt und in der Mitte hörte ich einladend ein Jacuzzi sprudeln, in dem wir uns dann noch weiter zusammen entspannten. Yasu hüllte mich nach dem Abtrocknen und Trockenfrottieren in einen weichen, langen Bademantel aus schwerer Seide und schlüpfte danach in ein ähnliches Modell, das sich bis auf die viel kleinere Größe identisch zu meinem neuen Kleidungsstück anfühlte. So verließen wir kurz darauf die Schattenwiese und durchschritten wieder das noch immer von dezenten Klängen erfüllte Dunkelrestaurant mit dem Namen „Schattenträume“. Beim Vorbeigehen erkannte ich mit meinem Handrücken an einer rundlichen Kante, über die ein Tischtuch herunterhängen musste, den runden Tisch, an dem Alena den Sekt für uns geöffnet hatte. Dort fand ich dann auch gleich danach meinen kleinen Rucksack, den ich an diesem Ort vorher auf einem Stuhl abgelegt hatte. Kurz darauf ertastete ich den ersten Vorhang der Lichtschleuse und wusste, dass wir die uns vor neugierigen oder gar bösen Blicken schützende Dunkelheit jetzt gleich wieder verlassen würden.

Eiskalt

Mara

 

„Zwanzig Beutel Eis?“, fragte die junge Brünette, die an der Tankstelle einen Minijob hatte und Alex irritiert ansah.

„Bei der Menge kommen locker vierzig Kilogramm zusammen. Sind sie sicher, dass sie so viel auf einmal kaufen wollen?", ergänzte die Kassiererin, während vor dem winzigen Kassenhäuschen leise säuselnd ein überlanger Humvee stand und mit zuckenden Lauflichtern geschmückt ihr Interesse geweckt hatte.

„Keine Sorge, auf vierzig Kilogramm mehr oder weniger wird es wohl kaum ankommen. Unser Schlitten kann einiges vertragen und wir auch. Meine Begleiterinnen möchten jemandem die kalte Schulter zeigen, da kann etwas Abkühlung nie schaden“, antwortete Alex, schob einen Fünfzigeuroschein unter der Plexiglasscheibe hindurch und steckte hastig das Wechselgeld ein. Die Eisbeutel verstaute er danach so schnell er konnte im Kofferraum und dachte währenddessen über die Ereignisse der letzten halben Stunde nach.

„Was ist nur in Mara gefahren?“, fragte er sich zum wiederholten Mal. Eigentlich glaubte er, dass sie spätestens während des verspäteten Frühstücks, das sie um die Mittagszeit im Filmstudio zusammen mit Susi eingenommen hatten, mit ihm auf einer Wellenlänge sei. Aber seit sie auf der Flucht vor Susis Freund Pawel waren, hatte sich Mara innerhalb von Sekunden total verändert und auch ihm erneut die kalte Schulter gezeigt. Es fing damit an, dass Mara plötzlich wollte, dass er sie alle anstatt zu ihr nach Hause so schnell wie möglich in die Mommsenstraße zu dieser Schattenglut kutschieren sollte. Kurz danach hatten Mara und Susi ihn an einer Bushaltestelle anhalten lassen, um Marga dort abzusetzen, und danach die Trennscheibe geschlossen. Durch die geschlossene Trennscheibe, die das noble Fahrgastabteil vom Führerhaus, in dem er als Fahrer saß, schalldicht abtrennte, hatte er im Rückspiegel noch einen kurzen Streit zwischen Mara und Susi beobachten können. Als er sah, dass Mara dann auch noch mit ihrem Smartphone im Internet surfte, oder sogar wild auf dem Bildschirm zockte, stutzte er, weil das ja gar nicht gehen konnte, wenn Mara wirklich so blind war, wie er geglaubt hatte.

„Auch wenn ich mich bis über beide Ohren in Mara, diese Powerfrau, verliebt habe, sieht das im Moment nicht gut für uns aus“, murmelte Alex gedankenverloren zu sich selbst und dachte weiter über ihre neue Situation nach. Vielleicht wäre es besser, zur nächsten Polizeistation zu fahren und diesen Albtraum, in den sie hier alle hineingeraten waren, schnellstmöglich mit professioneller Begleitung zu beenden, bevor noch Schlimmeres passierte. Selbst wenn Mara jetzt doch nicht mehr blind war, fühlte er sich für die beiden Frauen, mit denen er seit Margas Ausstieg alleine unterwegs war, verantwortlich.

„Wenn ich nur wüsste, was Mara im Schilde führt?“, fragte er sich. Bei dem Gedanken daran, dass er die einarmige Susi vielleicht bald gegen einen gefährlichen Psychopathen verteidigen musste, war ihm schon jetzt ganz mulmig zumute. Selbst wenn sich Mara ohne fremde Hilfe ihrer Haut wehren könnte, wäre das Problem damit noch nicht gelöst.

„Ich bin nur Schauspieler und Tänzer, aber bestimmt kein Bodyguard“, murmelte er von der Situation total überfordert vor sich hin, während er weiter darüber grübelte, wie er im Notfall beide Frauen in einem realen Kampf vor diesem gewalttätigen Irren beschützen könnte.

 

***

 

„Hast du dich vor lauter Übermut verrannt und dich von vorschnellen Schlussfolgerungen geleitet selbst in die Irre geführt, Mara?“, fragte mich meine innere Stimme, während ich auf den hinteren Lederpolstern neben Susi in der noblen Stretchlimo saß.

„Dass euer Freund Pawel gefährlicher ist, als er vorgab, war mir schon klar, nachdem ich den ersten Satz aus seinem Mund gehört hatte. Aber selbst wenn es dieses russische Kampfstofflabor, von dem du mir gerade erzählt hast, wirklich gegeben haben sollte, kann das alles so nicht wahr sein“, blaffte ich die Frau, mit der ich kurz vorher noch schön gekuschelt hatte, verärgert an. Die Enttäuschung darüber, dass sie mein Vertrauen missbraucht zu haben schien, war für mich allerdings ein viel geringeres Problem als die Frage, ob Alex mir die kurze Romanze mit ihr übel nahm. Da ich keine Erfahrungen als Model hatte, konnte ich nicht einschätzen, ob solche kleinen Techtelmechtel in Schauspielerkreisen wie diesen, in denen ich mich hier bewegte, üblicherweise toleriert wurden. Noch viel weniger konnte ich die Gefahr einschätzen, in die ich mich als blindfolded Model begeben hatte, nachdem der Drehtag, auf den ich mich abenteuerlustig eingelassen hatte, total übel eskaliert war. Die schwarze Augenbinde, die ich am Set tragen musste, war für mich kein wirklich gruseliges Thema, sondern eine willkommene Gelegenheit, vor Alex meine tatsächliche Blindheit zu verbergen. Meine Freundin Ronja hatte mich zwar davor gewarnt, mich mit Leuten vom Film wie eine Sehende mit verbundenen Augen einzulassen, aber genau das hatte meine Abenteuerlust geweckt. Alex hatte sich schon während unseres Gespräches nach meiner Abholung im Auto als charmanter und vertrauenswürdiger Mann entpuppt und damit meine Lust auf mehr mit ihm geweckt. Gleich nach dem Einsteigen gab ich mich zunächst ganz bewusst zickig und provokativ, um ihm zunächst mit kalter Schulter etwas auf den Zahn zu fühlen, weil ich auf diese Art herausfinden wollte, ob ich ihm wirklich trauen wollte. Aber nachdem er die Prüfung bestanden hatte, schloss ich ihn von Minute zu Minute mehr in mein Herz. Der nächste, dem ich an diesem Tag meine kalte Schulter gezeigt hatte, war Pawel, der danach in seinem Sportwagen wütend die Flucht ergriffen hatte.

„Ich hatte lange keine Ahnung, dass die Russen uns mit dem Spray, das Pawel für mich besorgt hatte, vergiften wollten, um uns als Versuchskaninchen zu missbrauchen“, verteidigte sich Susi und sprach gleich weiter.

„Frag mich doch einfach nach den Dingen, die dir spanisch vorkommen, anstatt mich hier nur zickig anzumachen. Wir sollten besser zusammenstehen und uns gemeinsam unserer Haut wehren.“

„Hm, damit, dass wir besser zusammenhalten und uns gemeinsam gegen Pawel zur Wehr setzen sollten, hast du wohl recht. Nur werde ich euch nicht trauen, solange ich nicht weiß, wer aus welchem Grund lügt?“, erwiderte ich ihr kühl und wühlte in meinem Rucksack nach meinem Handy.

„Du kannst dir offenbar nicht vorstellen, wozu skrupellose russische Terroristen fähig sind. Aber mich deshalb als Lügnerin abzustempeln, ist nicht fair“, zischte Susi, die sich mir jetzt auch mit kalter Schulter zur Wehr setzte.

„Natürlich weiß ich, dass Taras Novikows Schergen skrupellos sind und vor keiner Schandtat zurückschrecken, aber das ist nicht das, was deine Story unglaubwürdig gemacht hat“, erwiderte ich Susi voll angefressen. „Selbst wenn es stimmen würde, dass dich das Russengift mit Augenkrebs infiziert hätte, müsstest du davon so blind geworden sein wie ich mit meinem bilateralen Retinoblastom, oder willst du mir etwa weismachen, dass sie dir mit dem Spray nur eines deiner beiden Augen vergiftet hätten?“

„Ach so, das ist es …“, sagte Susi.

„Das ist ganz schnell erklärt. Sie haben an Gegenmitteln geforscht und ich war eben ihr Versuchskaninchen.“

„Das wird ja immer verrückter“, zischte ich Susi erneut an.

„Erst sagst du, dass sie dir deine Augen vergiftet hätten, und dann kommst du damit hinterher, dass diese Teufel die Welt retten wollten? Das glaubst du doch wohl selbst nicht.“

„So habe ich das ja auch nicht gemeint“, hauchte Susi mit einem verletzt klingenden Unterton, der meine Wut auf sie unerwartet auf wundersame Weise besänftigte, während Susi sich mit weiteren Argumenten um mein Vertrauen in sie bemühte.

„Das Zeug war zunächst nur als eine Art Droge gedacht, die ihre Soldaten mutiger, kampflustiger und blutrünstiger machen sollte. Ähnliches hatten die Nazis mit ihren Soldaten mit den Vorläufern von Crystal Meth und Scopolamin schon gemacht. Die Vergiftungen waren am Anfang nur Nebenwirkungen. Deshalb haben sie zunächst nur nach Therapien geforscht, mit denen sie Soldaten, die zu viel von dem Zeug genommen hatten, wieder kampffähig machen konnten."

„Deine Geschichte hört sich noch unglaublicher als ein übler Thriller an“, antwortete ich Susi leise vor mich hin sinnierend und wählte, weil ich mir plötzlich auch um Ronja Sorgen zu machen begann, meine eigene Telefonnummer.

„Tut, …, tut, …, tut …“, hörte ich im Hörer, bis der Anrufbeantworter, der in meinen PC integriert war, ansprang. Zum Glück gab es eine Fernabfragefunktion mit Raumüberwachung, die ich über meine PIN umgehend aktivierte. Zunächst hörte ich außer dem Summen des Computers und dem Wäschetrockner, der piepste, weil er geleert werden wollte, kein verdächtiges Geräusch und auch nichts von Ronja, die somit wirklich alleine unterwegs zu sein schien. Erst als ich schon wieder auflegen wollte, vernahm ich ein leises Klackern, das von der Tastatur meines PCs kommen musste und mir sagte, dass sich, wenn Ronja mich nicht angelogen hatte, mindestens ein Fremder in meiner Wohnung aufhielt. Daran, dass Pawel bei mir eingebrochen war, hatte ich keine Zweifel mehr, das sagte mir schon mein Bauchgefühl, auf das ich mich in brenzligen Situationen bisher immer verlassen konnte.

„Gut, dass wir schon das Eis haben", brummte ich grimmig vor mich hin und hörte Susi mit weinerlich-ängstlichem Unterton fragen, was das alles zu bedeuten habe. Im Gegensatz zu mir tappte sie in der Situation, in der wir uns befanden, völlig im Dunkeln, da sie weder meine Wahrnehmungen noch meine Rückschlüsse und schon gar nicht meinen Plan erahnen konnte. Susi hatte absolut recht damit, dass wir jetzt zusammenhalten mussten, und plötzlich war ich sogar froh darüber, dass sie in meiner Nähe war. Nicht nur, weil ich alleine nicht mehr viel weiterkommen konnte, beschloss ich, mich wieder umgänglicher zu zeigen, sondern vor allem deshalb, weil mir plötzlich klar geworden war, dass ich Susi mit meinem Misstrauen Unrecht getan hatte. In dem Moment, in dem mich die Sorge um Ronja ergriff, verstand ich, was die arme Susi alles durchgemacht haben musste und dass sie sich die vielen schrecklichen Dinge unmöglich selbst so zusammengereimt haben konnte. Susi spürte meine Angst sofort und legte mir tröstend ihren einen Arm um meine Schultern, während ich nicht nocheinmal meine, sondern diesmal Ronjas Handynummer auf meinem Smartphone wählte.

 

***

 

„Was machst du denn hier?“, staunte Alex, als er nach dem Öffnen der Fahrertür plötzlich Susi auf seinem Platz hinter dem Lenkrad vorfand.

„Planänderung! Mara wird dir, während ich uns zu ihrer Wohnung fahre, alles in Ruhe erklären“, sagte Susi mit einem verschmitzten Grinsen im Gesicht, deutete mit dem Daumen ihrer linken Hand über ihre Schulter nach hinten und wartete, bis Alex eingestiegen war.

„Sorry, wegen Susi, Alex …“, sagte ich etwas zu kühl, weil ich mir wegen meines schlechten Gewissens keine Blöße geben wollte, und rückte ein bisschen zur Seite, um Alex damit zu bedeuten, dass ich ihn gerne rechts neben mir sitzen hätte.

„Wegen Susi?“, sagte er so, dass ich ein süffisantes Grinsen aus seiner Stimme heraushören konnte, bevor er sich neben mich setzte und mir einen seiner starken Arme um meine Schultern legte. Ich verkniff mir ein Jauchzen, das von dem Kribbeln unter meiner Haut kam, und riss mich zusammen, weil wir zuerst noch die Sache mit Pawel zu erledigen hatten, bevor wir zum gemütlichsten Teil des ereignisreichen Tages kommen durften.

„Susi sagte etwas von einem Plan?“, fragte Alex und ich spürte, dass er fast vor Neugier platzte.
„Magst du …?“, fragte ich und nahm die Fingerkuppen meiner rechten Hand vom Screen meines Smartphones. Das Sektglas, das ich für Alex gefüllt hatte, stand genau dort, wo ich hingriff und es ihm danach grinsend entgegenstreckte. Mit meiner linken Hand navigierte ich weiter auf meinem Handy, das noch immer so wie vorher auf meinem rechten Oberschenkel lag, und verfolgte zeitgleich über den In-Ear in meinem linken Ohr, was sich am anderen Ende der Verbindung Interessantes ereignete.

„Prost Partner, ist ja nur ein Job …“, sagte ich und reizte ihn mit der Floskel, die sich während unserer morgendlichen Flirts schon zu unserem ganz persönlichen geflügelten Wort entwickelt hatte. Nachdem wir beide an unseren Gläsern genippt hatten, plumpste, weil ich spontan halb aufgestanden war, um Alex leidenschaftlich auf seine vom Sekt benetzten Lippen zu küssen, mein Handy auf den flauschigen Teppich, der den Fußboden der Sänfte bedeckte.

„Bist du mir wegen meines Knutschens mit Susi etwa doch böse?“, fragte ich entsetzt, als ich spürte, dass Alex sich wie ein Stück Holz anfühlte, anstatt meinen leidenschaftlichen Kuss so zu erwidern, wie ich das eigentlich erwartet hatte.

„Quatsch, … nicht wegen Susi …“, stotterte Alex herum und selbst als er mir sagte, dass er mich im Rückspiegel beim Surfen mit meinem Smartphone beobachtet hatte, verstand ich nicht, was er mir damit sagen wollte. Ich fragte mich, warum in aller Welt er mir deshalb jetzt plötzlich seine kalte Schulter zeigte.

„Oder gerade wegen Susi …, aber wegen Pawel …, nicht deinetwegen. Wir sollten besser gleich die Polizei einschalten …“, stotterte er mir weiter total von der Rolle in meine Ohren, anstatt mich auch einfach so schön zu küssen, wie es mich gerade bei ihm überkommen hatte.

„Hier, Mara, dein Handy“, sagte Alex. „Auch wenn du jetzt nicht mehr blind bist, sind wir immer noch Susi gegenüber in der Pflicht, sie vor dem durchgeknallten Pawel zu beschützen.“

„Das ist es also …“, schnaubte ich und stieß Alex mit aller Wucht von mir weg. Wie konnte ich nur so blöd sein zu glauben, meine Blindheit vor Männern verstecken zu müssen, nur um von ihnen als normale Frau akzeptiert zu werden? In dem Moment, als mir klar wurde, dass Alex, nur weil ich mit meinem Smartphone wie eine Sehende surfen konnte, einen falschen Rückschluss gezogen hatte, schien mir sein Verhalten plötzlich sonnenklar zu sein. Die Enttäuschung, die mich ergriff, dass er sein Interesse an mir jetzt doch deshalb verloren haben konnte, weil er mich, so glaubte er vermutlich aufgrund seiner falschen Schlussfolgerung, als Lügnerin ertappt hatte, ließ mich in ein tiefes Loch fallen. Meine blinden Augen vor Sehenden verbergen zu wollen, das war es, wovor Ronja mich so eindringlich gewarnt hatte, aber das war mir gar nicht zum Verhängnis geworden. In meinen kühnsten Träumen wäre ich nie darauf gekommen, dass ich das Vertrauen Sehender deshalb verlieren könnte, weil sie meine Blindheit bezweifelten und sie mir nur, weil ich selbständig und autark bin, unterstellen würden, dass ich wie sie sehen könne und nur auf blind mache. Mit Lissi war mir das so ähnlich passiert, erinnerte ich mich jetzt an das Kennenlernen der älteren Dame, in deren Villa ich wohnte. Aber Lissi war nicht Alex und der Drop, dass ich mich bei Lissi als eine vom Finanzamt ausgegeben hatte, um eine ähnliche Situation zu entspannen, war auch schon lange ausgelutscht. Egal wie ich es wendete, war das Vertrauen zwischen Alex und mir der App zum Opfer gefallen, die es Blinden wie mir ermöglichte, ein Smartphone mit dem Trick des inversen Tastendrückens wie Sehende bedienen zu können. Dem Zweifler einfach zu erklären und zu zeigen, dass der ganze Zauber nur eine pfiffige Lösung ist, die darin besteht, den Finger zum Tippen eines Buchstabens einfach vom Handyscreen abzuheben, wenn das Smartphone den Buchstaben ansagt, der gedrückt werden soll, wäre keine Lösung. Hier ging es um Vertrauen. Vertrauen, mit dem auch ich mit dem Augenbindentrick sogar als Erste gepokert hatte, ohne dass mir die ganze Sache zunächst, so wie ich es eigentlich verdient gehabt hätte, auf die Füße gefallen war. Den Tränen nahe kapierte ich, dass das Ganze nicht mehr zu heilen war, weil es gar nicht darum ging, ob Blinde mit Glasaugen sehen können oder ob Sehende Glasaugen ansehen können, dass wer blind ist. Ob das Vertrauen, das zwischen Alex und mir im Verlauf des Tages erst gedieh und sich dann durch die Vielzahl kleiner Enttäuschungen, die den Umständen geschuldet waren, wieder verlor, oder ob es nie da war, änderte nichts mehr an der Gegenwart. Mein Bauchgefühl sagte mir, dass die Romanze mit ihm keine Chance mehr hatte und wir uns jetzt darauf konzentrieren mussten, das, was wir angefangen hatten, zu einem bestmöglichen Ende zu bringen. Diese bittere Erkenntnis war noch schlimmer als die Peinlichkeit, dass ich so doof war, von wildem Sex auf Augenhöhe mit Alex zu träumen, aber dass er noch bis vor wenigen Sekunden daran dachte, vor Pawel zu kneifen, schockierte mich noch viel mehr.

 

***

 

„Wir werden ihn ganz einfach mit seinen eigenen Waffen schlagen“, sagte ich grimmig. Susi hatte den protzigen Luxusschlitten hinter einer alten Scheune auf dem Nachbargrundstück zu meinem Garten versteckt und war zu uns hinten in den Fahrgastraum dazu gestiegen. Dass ich Pawel, der sich noch immer in meiner Wohnung aufhielt, über den Screenreader meines PCs, auf dem ich mich mit meinem Smartphone eingewählt hatte, als Blinde viel einfacher als das einer Sehenden möglich gewesen wäre, unbemerkt ausspähen konnte, hatte Alex total verblüfft. Dummerweise entwickelte er sich für die anstehende Aktion im Gegensatz zu Susi zusehends zum für uns fast nutzlosen Weichei.
„Mara, bitte, Pawel ist wirklich gefährlich, der wird sich uns bestimmt nicht kampflos ergeben“, jammerte Alex herum, während ich mit Susi und ihm die einzelnen Schritte des Plans wiederholte.

„Alex, Mara hat absolut recht damit, dass das Ganze im Gegensatz zu dir für mich eine sehr persönliche Angelegenheit ist. Auch wenn du dich nur hier unten in der Nähe der Haustür verstecken und dich für uns als Reserve für Notfälle bereithalten sollst, tust du damit auch etwas sehr Wichtiges für uns“, versicherte ihm Susi mit sanfter Stimme. Während Susi Alex damit ablenkte, dass er sich für uns nur außerhalb der Gefahrenzone noch etwas nützlich machen konnte, durchstöberte ich einen Leinensack aus sich störrisch anfühlendem Tuch, den Susi aus einer Schublade des Interieurs hervorgekramt hatte. Dessen gruseliger Inhalt war mir mit den Handschellen aus schwerem Metall, verschiedenen Knebeln und diversen Peitschen genauso zuwider wie Margas Accessoires aus Pawels perversem Filmstudio. Aber für das, was wir mit Pawel vorhatten, kamen mir die Sachen wie gerufen, obwohl das Eis nach wie vor unser schärfstes Schwert dafür war, um Informationen über seine Hinterleute aus ihm herauszuquetschen.

„So, das wär’s …“, sagte ich zufrieden, nachdem ich den letzten Prozess gestartet hatte, der eine ähnliche Funktion wie die Return-Taste auf dem Keyboard hatte, mit dem sich Pawel, der sich in meiner Wohnung noch sicher und unbeobachtet glaubte, an meinen privatesten Geheimnissen ergötzte. Den Trojaner, den er ursprünglich dafür genutzt hatte, um Ronja und mich zu bespitzeln, hatte ich schon so umkonfiguriert, dass er jetzt für Susi und mich anstatt für Pawel und dessen Terroristen wertvolle Erkenntnisse lieferte. Ohne zu ahnen, was ihm bald blühen würde, las Pawel noch immer in meinem Tagebuch, an dessen Ende ich soeben noch eine besondere Schlinge als finale Falle für ihn eingebaut hatte.

„Wenn die Russen Kälte als Waffe nutzen, dürfen wir das auch“, sagte ich zu Alex, der uns, sobald Susi und ich die Situation in meiner Wohnung unter Kontrolle hatten, das Eis hinaufbringen würde.

„Und was ist, wenn er euch doch zu früh bemerkt?“, warnte Alex ein letztes Mal, während Susi sich die Kabelbinder, die wir aus dem Geräteschuppen des Gärtners geholt hatten, griff und ich nach dem Leinensack mit dem Folterspielzeug tastete. Mit der anderen, noch freien Hand hob ich meinen mit einer Wachshaut wasserdicht präparierten Outdoor-Schlafsack hoch und warf ihn mir über meine linke Schulter. Er war ebenfalls im Gartenhaus bei meinen anderen Trekking-Sachen und meinen Skiern verstaut gewesen. Erst während meines Aufstehens antwortete ich Alex auf seine hoffentlich letzte überfürsorgliche Frage.

„In der ganzen Wohnung gibt es keine einzige Glühbirne, weil Ronja und ich so etwas nicht brauchen, und wenn er Verdacht geschöpft hätte, wäre er längst geflohen oder hätte zumindest die Rollläden hochgezogen“, sagte ich kühl. Nachdem endlich auch die letzte Frage beantwortet und jedem von uns seine Aufgabe klar war, konnten wir zur Tat schreiten und uns alle flink unsere Schuhe abstreifen. Dann schlüpften wir nacheinander aus der leise geöffneten Tür der Stretch-Limo ins Freie hinaus und huschten nur mit Strümpfen an den Füßen nahezu lautlos zur Haustüre, an der wir Alex wie besprochen alleine zurückließen.

 

***

 

„Klick, klack.. klack. klack … klack …“, hörte ich Pawel in meinem In-Ear auf meinem Keyboard klackern, und durch die noch geschlossene Wohnungstür hindurch drangen zusätzlich erste Originalgeräusche aus meinem Wohnzimmer. Die Geräusche von Pawel, die sich wie Echos zu meiner digitalen Wahrnehmung hinzumischten, verrieten mir genau, wo er sich aufhielt. Wie abgesprochen bedeutete ich Susi, während ich schon vorsichtig meine Abschlusstür öffnete, mit einem Handzeichen, dass sie sich hinter meinem Rücken verstecken und mir wie ein lautloser Schatten folgen sollte. Die Tür zum Wohnzimmer war, wie ich gleich hörte, weit offen. Der Geruch von Pawels saurem Schweiß beleidigte meine Nase und ich befürchtete, dass er mein laut pochendes Herz doch zu früh hören könnte. Schweißnass krampften sich meine Hände um die Öffnung des Leinenbeutels, in dem sich unter anderem die schweren Handschellen befanden. Erst als ich ihm so nah war, dass ich die Wärmestrahlung, die Pawels ungepflegter Körper abstrahlte, auf der Haut meines Gesichtes spürte, hob ich den Schlagsack langsam so weit an, bis der schwere Beutel wie ein Damoklesschwert vor mir aufragte. Pawels Mief stach mir wie ein Leitstrahl in meine Nase, als ich mit aller Wucht Schwung holte, um ihn einen Sekundenbruchteil später mit dem ersten Schlag von seinem Stuhl zu fegen.

„Knirsch!“ … Verflucht, was war das denn? … fragte ich mich entsetzt, bis mir klar wurde, dass Pawel während des Spannens an meinem PC Erdnüsse gemampft und die Nussschalen auf dem Boden um sich herum verteilt hatte. Das Geräusch schreckte Pawel sofort auf und ließ ihn so schnell wie eine Abfangrakete aus meinem PC-Drehsessel aufsteigen. Susi und ich hatten den Kampf zum Glück noch nicht ganz verloren, aber durch die Erdnussschalen, die uns zu früh verraten hatten, war unser Überraschungsangriff in Sekundenbruchteilen dahin und unsere Chancen hatten sich plötzlich ungeplant deutlich zu unserem Nachteil verändert. Der Leberhaken, der aus meiner ersten Attacke geworden war, lenkte ihn wenigstens in der Schrecksekunde noch schmerzhaft von uns ab.

„Menschen geben achtzig Prozent ihrer Körperwärme über den Kopf ab“, hatte Marc Mila und mir im Selbstverteidigungstraining in unserem Sportverein immer wieder eingebläut. An der Wärmestrahlung eurer Gegner könnt ihr euch so auch während des Kampfes immer noch gut orientieren. Das ist wichtig, wenn es mehrere sind, mit denen ihr es gleichzeitig aufnehmen müsst, und hilft auch, wenn mal ein Schlag daneben ging.

„Runter mit euch!“, schrie ich so laut ich konnte. … alle flach auf den Boden … sofort!“, und hoffte, dass Susi verstand, dass sie sich wegducken sollte. Dass Pawel sich nicht auf dem Boden liegend ergeben, sondern einen Gegenangriff starten würde, war mir sonnenklar. Deshalb sprang ich mit drei großen Sätzen in Richtung Küchentüre und duckte mich so tief hinter den Esstisch, dass ich den Beutel wie einen Hammer beim Hammerwurf über meinem Kopf kreisen und Fahrt aufnehmen lassen konnte. Mit meinem gestreckten linken Fuß klapperte ich mit einem Stuhl, der weit links von mir stand, und hoffte, dass Pawel mir dort erneut in die Flugbahn laufen würde. Ich hoffte, dass Susi die Nerven behalten und so lange in der Deckung bleiben würde, bis ich Pawel niedergestreckt hatte, weil sie mit einer Hand nicht einmal die Kabelbinder einsetzen konnte und die Handschellen sich dummerweise noch in meinem Beutel befanden.

„Knack!“, tönte es krachend durch die Luft, als mein Hammer Pawel endlich am Kopf traf, und ich dachte im ersten Moment, dass ich ihm seinen Kiefer zertrümmert hätte, bis ich hörte, dass ein kleiner Gegenstand an die Wand geflogen und danach zu Boden gefallen war – „Sieh an“, dachte ich gehässig, „das war’s dann wohl mit Pawels Brille.“ Nach Susi brauchte ich nicht zu rufen, denn sie drückte mir schon, bevor ich den röchelnden Fleischklops vollends auf den Bauch gedreht hatte, den ersten Kabelbinder gegen meinen Handrücken. Als der Troll gerade mit Kabelbindern an Fuß- und Kniegelenken fixiert und mit in Handschellen steckenden Händen auf dem Rücken wie in einem Leichensack in meinem noch offenen Schlafsack lag, erschien Alex mit der ersten Ladung Eis.

 

***

 

„Wenn er stirbt, haben wir ein Problem“, sagte Alex, der schon wieder weiche Knie bekam.

„Dann stirbt er eben nicht hier“, antworte ich trocken und schnitt weiter Limetten in kleine Stücke.

„Mehr als zehn Minuten gebe ich ihm nicht mehr“, sagte Alex und verließ die Küche, um im Bad nach unserem Delinquenten zu sehen, der dort in meinem Schlafsack wie eine Mumie im Eiswasser feststeckte. Ich hörte, dass Susi, so wie ich sie gebeten hatte, ein mit Eiswürfeln gefülltes Puddingförmchen mit Wasser aufgoss und es danach in meiner Tiefkühltruhe versenkte.

„Er hat schon ganz blaue Lippen", sagte Alex, der zügig wieder zurück war.

„Er sieht aus, als ob er schon reden will.“

„Passt doch! …", antwortete ich, während ich mit einem Holzstempel den Saft aus den Zitrusfrüchten herauspresste und im letzten Glas mit braunem Zucker zu Brei zerstampfte. Es fehlen nur noch Rum und Crushed-Ice, dann bin ich auch so weit. Ich wollte euch eh vorschlagen, dass wir drüben im Bad auf unseren Erfolg anstoßen. Zum Glück hatte ich früh gelernt, recht glaubhaft zu überspielen, wenn es mir nicht gut ging, und mir war wirklich elend zumute, weil ich fühlte, dass Alex nicht nur Angst hatte, sondern auch noch aus einem anderen Grund litt. Aus dem gleichen Grund wie ich, nur dass er diesmal seine Zähne nicht mehr auseinanderbekam, um mit mir über seine Gefühle zu reden.

„Wie oft haben wir schon die Erfahrung gemacht, dass deine kalte Schulter tödlicher als tödliche Blicke wirken kann?“, sagte meine innere Stimme in diesem vorwurfsvollen Ton, den ich überhaupt nicht an mir leiden konnte, zu mir.

„Geht es dir nicht gut, Mara?“, fragte Alex in diesem Moment und streifte wie zufällig meinen Handrücken, als er mir vorsichtig sein Glas aus meiner Hand nahm.

„Ist schon viel besser, jetzt“, antwortete ich ihm weich und versöhnlich. Dann griff ich vorsichtig nach seinem Arm und schob ihn vor mir durch die Tür ins Esszimmer hinaus.

„Kennt ihr das Tropical Island? Dort ist es fast so schön wie im Urlaub in der Südsee und es liegt fast vor unserer Haustür. Nur eine knappe Stunde mit dem Auto von hier draußen, in Krausnick, und es gibt dort sogar Saunen zum Aufwärmen und Wasser zum sanften Abkühlen ist auch im Überfluss da“, sagte ich, während ich Susi und Alex rechts und links von mir untergehakt hatte.

„Und was ist mit Pawel?“, fragte Alex, der natürlich nicht ahnen konnte, was ich mit dem Puddingförmchen in der Kühltruhe noch vorhatte.

 

***

 

„Fühlt sich richtig cool an, der Coole“, bemerkte ich sachlich kühl, während meine Fingerkuppen Pawels Gesicht erkundeten. Seine Lippen kamen mir zwar dünn, aber trotzdem irgendwie aufgedunsen, vielleicht sogar ein bisschen wie mit Hyaluronsäure aufgespritzt vor, obwohl sie nur noch ein schmaler, zittriger Spalt zu sein schienen.

„Nur, dass wir uns gleich richtig verstehen, du Opfer …, wir wissen schon jetzt mehr über dich, als wir ertragen können. Schon dafür, dass du Susi im Auftrag skrupelloser Russen vergiftet hast, wäre es viel zu human, dich hier einfach nur erfrieren zu lassen“, sagte ich ganz leise, in einem mehr als bedrohlichen Ton. Die Kälte, die von Pawel zu mir aufstieg, fühlte sich auf meinem Gesicht klirrend eisig an und ließ mich genauso frostig lächeln.

„Perfektes Timing, da haben wir ja genau den richtigen Zeitpunkt zum Weichkochen erwischt“, sagte ich kühl und griff nach meiner Brause. Kurz danach schoss schon der erste Schwall heißes Wasser aus den Düsen, die ich mit einem geübten Dreh am Duschkopf noch auf Massagestrahl eingestellt hatte, bevor ich die Armatur bis zum Anschlag aufdrehte. Einen Moment später quoll so viel heißer Nebel aus der Wanne, dass alle außer mir ihre Orientierung komplett verloren hatten.
Im selben Moment, in welchem der heiße Strahl Pawels Gesicht traf, schrie er wie am Spieß auf, wimmerte um Gnade und bettelte um einen schnellen Tod.

„In wessen Auftrag hast du das getan?“, zischte ich ihn an, drehte die Brause ab und gab mich auf dem Rand meiner Badewanne sitzend von dem Geschehen völlig ungerührt, während ich genüsslich an meinem Caipirinha nippte.

„Er heißt Vsevolod, aber alle nennen ihn Wissi, weil sein Name in die deutsche Sprache übersetzt Wissewald ist“, sprudelte es aus Pawel, trotz seiner vor Kälte zitternden Stimme, gerade so heraus.

„Und warum Ronja und ich? Wehe, du streitest etwas ab, aber auch die halbe Wahrheit ist uns nicht genug“, brummte ich und ließ, um Pawel zu zeigen, dass ich zu allem entschlossen war, noch einen weiteren Schwall dampfendes Wasser aus der Brause mitten in sein Gesicht platschen.

„Von Ronja wusste ich doch am Anfang gar nichts. Erst als ich die Spyware auf deinem Computer installiert hatte und in deinem Tagebuch lesen konnte, fand ich über dich die Verbindung zu ihr“, verteidigte sich Pawel verzweifelt.

„Und warum ich?“, setzte ich nach.

„Wegen deiner Augen, aber dafür kann ich nichts, das war Wissi. Ich bin doch gar nicht so wie die und das mit Susi war ein Unfall, ich wusste doch selbst nicht, was los ist, außerdem wurde ich ja selbst vergiftet“, winselte Pawel und fing dann plötzlich auch noch zu flennen an.

„Wegen meiner Augen? Das soll ich dir glauben? Ich kenne überhaupt keinen Wissi …", blaffte ich den Widerling verächtlich an und wollte ihn, so sauer wie ich jetzt war, am liebsten gleich mit der Brause blanchieren. Eigentlich hatte ich seit dem späten Morgen vor, heute irgendwo nach getaner Arbeit nur zu zweit mit Alex den Nachmittag zu genießen, was sich leider zerschlagen hatte und stattdessen hatte ich dieses unterkühlte Geschwür, das vor mir in meiner Wanne lag, an der Backe. Aber dann fiel mir plötzlich Ronja wieder ein, die, solange dieser Wissi noch irgendwo sein Unwesen treiben konnte, nur meinetwegen genauso wie ich in Gefahr geraten und sich zur Stunde sogar noch drain befinden könnte.

„Was hat Wissi mit meinen Augen zu tun? Überlege dir gut, was du sagst. Du hast Glück, dass ich jetzt erst mal kurz telefonieren gehen muss, aber danach will ich die volle Wahrheit von dir hören“, sagte ich und verließ das Bad, um Ronja mitzuteilen, dass wir sie doch nicht abholen kommen, sondern uns mit ihr und Yasu besser im Tropical-Island treffen würden.

„Jetzt oder nie mehr!“, sagte ich entschlossen, als ich das Bad nach dem Telefonat wieder betrat und zuerst Alex‘ Bedenken hörte. Er bezweifelte, dass Pawel das Eiswasser, das ihn wie die Schiffbrüchigen der Titanic schon viel zu lange umflutete, noch lange lebend aushalten könne.

„Kein Problem …“, sagte ich und bückte mich in die Wanne, in der Pawel leblos lag und nur noch sehr flach atmete. Mit einem lauten „Ratsch“ öffnete ich meinen guten Schlafsack, der fast zu Pawels Leichensack mutiert wäre, und tastete in dem Schränkchen, das sich links von mir unter meinem Waschbecken befand, nach meiner Nagelschere. Nachdem ich Pawel wieder von den Kabelbindern befreit hatte, drehte ich ihn auf den Rücken und legte ihm vor seinem Bauch die Handschellen an, deren Schlüssel ich nach dem Verriegeln von Pawels Fesseln an mein Armkettchen gehängt hatte, bevor ich erneut zur Brause griff.

„Woher wusste Wissi von meinen Augen!“, schnauzte ich Pawel böse an, während ich ihn mit dem fast kochend heißen Wasser vollends weichkochte. Die Eiswürfel knackten frostig, weil sie in der Hitze zerplatzten, während sich Pawel schreiend wie eine Krabbe im Kessel verkrümmte und sich in der Wanne polternd hin und her warf.

„Wissi hat sich bei einer Frau Krassmann mit einem falschen Pass als ein vor den Russen aus der Ukraine Geflüchteter eingeschlichen und dort deinen Namen in deiner Patientenakte entdeckt. Deine Akte befand sich auf dem Computer der Frau, den er in ihrer Abwesenheit durchschnüffelte“, presste Pawel hervor. Dass er inzwischen bestimmt schon am ganzen Körper krebsrot angelaufen war, konnte ich mir auch ohne diesen Jämmerling sehen zu können gut vorstellen, erstarrte im selben Moment aber aus einem ganz anderen Grund. Der Name Krassmann war der Name der Ärztin, die mir als Kind wegen meines Krebses meine beiden Augen entfernt hatte. Die Nennung dieses Namens aus Pawels Mund traf mich derart unvorbereitet, dass mich mein altes Trauma, das ich glaubte, seit vielen Jahren souverän im Griff zu haben, so eiskalt erwischte, dass mir plötzlich alles egal war. Wie in Trance, wollte ich in diesem Augenblick nur noch weg. Weg von hier. Mit Alex und Susi weg, an einen schönen Ort, an dem ich das, was ich gerade gehört hatte, in Ruhe verdauen konnte.

„Professorin Krassmann?", fragte Susi, genauso entsetzt wie ich, und ich ahnte noch Schlimmeres.

„Das ist genau die Ärztin, die mich anfänglich so blind wie Mara gemacht hätte, wenn Pawel mich nicht gerade noch rechtzeitig in dieses mysteriöse Sanatorium gebracht hätte. Es war der furchtbarste Ort, den ich je erlebt habe, den die Russen auf dem von der Ukraine anektierten Gebiet betrieben haben, von wo wir Hals über Kopf flüchten mussten, kurz nachdem ich gerade wieder sehen konnte", ergänzte Susi mit bebender Stimme und wurde kreidebleich.

„Die Krassmann …, die Professorin und die Russen … Und wenn da doch mehr dahintersteckt, als Pawel uns gerade gebeichtet hat?", fragte ich mehr mich selbst als in die Runde und war über mich selbst überrascht, wie schnell ich mich nach dieser Wendung der Dinge wieder gefasst hatte.

„Das kann ich mir wirklich nicht vorstellen, Mara", sagte Susi und berichtete, dass die Ärztin sich sehr engagiert um den Erhalt ihres letzten Auges eingebracht habe.

„Ach nee, jetzt plötzlich die Krassmann und doch nicht mehr die Russen", hakte ich ein, da ich von den Geschehnissen des Tages so frustriert und verunsichert war, dass ich niemandem mehr glauben und mich nur noch auf mich selbst verlassen wollte.

„Eigentlich darf ich gar nicht darüber reden, dass sich der BND eingeschaltet hatte, weil der Verdacht im Raum stand, dass die Russen mir mein Auge so geschickt vergiftet haben könnten, dass ich damit zu einer Art lebendiger Biowaffe geworden sein könnte", sagte Susi mit einem Klos im Hals und konnte ihre Tränen nicht mehr halten.

„Willst du damit sagen, dass unsere eigenen Agenten dich nochmal zu ihr gebracht haben, um im zweiten Anlauf auf Nummer sicher zu gehen?", fragte ich verblüfft und ergänzte: „Aber beim zweiten Mal dann nicht mehr, um dir deinen Körper vor dem Krebs zu schützen, oder? Wenn ich dich richtig verstehe, meinst du, dass es darum ging, um dich herum befindliche Menschen vor der Ansteckungsgefahr des Restgiftes zu schützen, das sie in deinem gerade wieder sehenden Auge vermuteten?", und begegnete Susis Horrorbericht eisig mit kühler Nüchternheit.

„Das hatten sie nie so gesagt, aber zwischen den Zeilen sah wenigstens ich es zu diesem Zeitpunkt so, dass sie die Ärztin dazu instrumentalisieren wollten, mir als die einfachste und schnellste Lösung für eine bombensichere Entgiftung mein anderes Auge einfach auch noch herausschneiden zu lassen. Welche Angst ich davor hatte, dann doch noch so wie du Mara zu enden, brauche ich dir jetzt bestimmt nicht näher zu erklären", schniefte Susi und ergänzte, „ … zumal ich die Haltung der Krassmann zu dem Thema ja noch von meinem ersten Besuch bei ihr kannte und mich das allein schon panisch werden ließ, bevor wir dort ankamen."

„Du sagtest gerade, dass dir das zum damaligen Zeitpunkt so schien?" Weil ich Susi aufmerksam zugehört hatte und weil die Beschreibung ihrer Angst mich kritisch stimmte, hakte ich nocheinmal deutlich tiefer nach.

„Das ist der springende Punkt, weil nämlich in der Rückschau, also aus heutiger Sicht, alles ganz anders war", antwortete Susi mir erstaunt und fragte mich, „… aber wie kommst du denn darauf, Mara, dass dann alles ganz anders lief als bei dir und meinem ersten Termin bei ihr?"

„Weil Angst immer der schlechteste Begleiter von allen ist und sie uns, wenn sie da ist, nicht nur träge werden lässt, sondern uns Zerrbilder vorgaukelt, die den Blick auf die Fakten verschleiern, und sie uns zu falschen Schlussfolgerungen verleitet, die am Ende dann zu falschen Entscheidungen führen oder uns ungerecht urteilen lassen“, sprudelte alles aus mir heraus, was ich im Selbstverteidigungstraining von Marc über unsere Amygdala gelernt hatte.

„Amygdala?", fragte Susi stirnrunzelnd.

„Ja, das ist eine kleine mandelförmige Struktur in unserem Gehirn, die vereinfacht auch als Angstzentrum bekannt ist, und was die wenigsten wissen, ist, dass wir Menschen sie durch entsprechendes Training so beeinflussen können, dass wir in solchen Stressituationen, wie du sie erlebt hast, nicht durch unsere Angst fehlgeleitet werden“, erklärte ich auf die Schnelle das Wesentliche, weil das auch mittelbar etwas mit dem Plan zu tun hatte, den wir für Pawel noch vollenden wollten.

„Das ist ja unglaublich und echt genial wie recht du hast, Mara", sagte Susi und berichtete dann kurz darüber wie sie das damalige Geschehen aus heutiger Sicht sah: „Die Krassmann war diejenige, die sich vor mich stellte und argumentierte, dass eine Therapie meines Auges aus wissenschaftlicher Sicht völlig neue Aspekte für sehkrafterhaltende zukünftige Retinoblastom-Therapien im Frühstadium eröffne. Alle Nachsorgetermine, die ich bei ihr hatte, waren absolut ok, und den Persilschein, dass ich sicher doch nicht zu einer lebendigen Biowaffe manipuliert worden war, bekam ich von ihr erst, als ganz sicher war, dass meine Vergiftung restlos ausgeheilt war."

 

***

 

„Ein Zeitschloss aus Eis, unglaublich, auf was für Ideen du kommst, Mara“, sagte Alex, als er mir dabei zugesehen hatte, wie ich in der Wohnung den Schlüssel für die Handschellen in dem dafür vorbereiteten Eiswasser, das sich in dem Puddingförmchen befand, versenkte. Der Schlüssel versank im Nu in dem wenigen Wasser, in dem fast nur noch dicke Eisbrocken herumschwammen. Nachdem alles zu einem Eisblock durchgefroren war und ich Pawel so, wie ich mir das vorgestellt hatte, im Bad eingeschlossen hatte, verließen wir in aller Ruhe meine Wohnung und gingen zurück zum Wagen. Während Susi die Limo aus dem Versteck herausrangierte, ließen Alex und ich schon einen Sektkorken knallen und eiskalten Sekt in drei frische Sektflöten sprudeln.

„Ja, aber das Eistörtchen, das wir auf dem Tisch unter die Klinke der Badezimmertür geklemmt haben, wird schnell geschmolzen sein und dann ist Pawel über alle Berge“, bemerkte Susi angefressen, weil sie befürchtete, dass er seiner gerechten Strafe doch noch entkommen könnte. Vermutlich lenkte sie mit einem Knie, während sie ihren Oberkörper einen Moment zu uns nach hinten drehte und Alex mit ihrer Linken das Sektglas abnahm, das er ihr durch die geöffnete Trennscheibe nach vorne durchreichte.

„Alkohol am Steuer, Abenteuer!“, neckte ich Susi und kuschelte mich zufrieden an Alex‘ Schulter, die sich muskulös und männlich, aber nicht mehr so prickelnd erotisch wie der Sekt aus dem Glas auf meiner Zunge anfühlte, der nicht nur in meiner Hand leise sprudelnd perlte.

„Wenn Maras Plan aufgeht, wird Pawel, nachdem das letzte Eis geschmolzen ist, in ihrem Tagebuch die Spur finden, die zu uns ins Tropical Island führt. Ich bin gespannt, ob er noch einmal auf seine Art versuchen wird, den Rest seiner Haut zu retten, den Mara ihm noch unverbrüht auf seinen Knochen gelassen hat“, antwortete Alex Susi und zog mich etwas dichter an sich heran. Auch er war über alles glücklich, dass ich ihm nicht mehr meine kalte Schulter zeigte, sondern es sichtlich genoss, mit ihm wie mit einem guten alten Freund im Wagen zu plaudern und dazu prickelnden Sekt zu schlürfen, der eiskalt gekühlt war. Susi lenkte den weich gefederten Schlitten in melancholisch-depressiver Stimmung, war aber auch froh darüber, dass sie Zeit zum Nachdenken hatte. Dass sie mich und Alex während des Fahrens den Umständen entsprechend glücklich im Rückspiegel beobachten konnte, ohne etwas dazu sagen zu müssen, schien sie dabei kein bisschen zu stören.

„Eigentlich war ich schon immer gern so mit diesem Wagen mit Liebespärchen unterwegs, weil ich dann alleine war und den stressigen Pawel nicht an ihrer Backe hatte", sagte sie dann doch irgendwann, während sie mit gemäßigtem Tempo durch eine langgezogene Kurve fuhr. „Irgendwie tut er mir trotz allem, was vorgefallen ist, dennoch etwas leid", sprach sie nachdenklich weiter. „Dass er wegen des Russengifts in jungen Jahren Hodenkrebs bekam und ihm die Teufel auf solch grausame Art und Weise seine Männlichkeit nahmen, hat ihn erst zu dem Ungeheuer werden lassen, so wie ihr ihn kennenlerntet. Früher war er ganz anders. Das hatte das Leben mit ihm für uns beide nicht leicht gemacht. Schließlich waren er und ich unfreiwillig zu Versuchskaninchen des Bösen geworden, das noch lange nicht besiegt ist. Armer Pawel, aber daran wird auch deine anstehende Erlösung jetzt nichts mehr ändern“, murmelte Susi, während sie den Blinker setzte und auf die riesige Halle zufuhr, in der sich das Resort befand, in dem wir uns mit Ronja und Yasu treffen wollten.

Himmelfahrt

Ronja

 

Schon bevor Yasu mich durch den letzten Vorhang der Lichtschleuse hindurch führte, hörte ich wieder das Plätschern des Wassers in der Lobby, tastete nach meinem Rucksack, ließ meinen Langstock wieder aufklackern und schob mir erneut die kleine verspiegelte Nickelbrille auf meine Nase. Mir war klar, dass wir mit dem Passieren des letzten Vorhangs die vertraute Dunkelheit der Schattenwelt wieder verlassen würden. Zum Glück hatte ich mittlerweile Yasu als Guide an meiner Seite. Meine neue Freundin, dessen war ich mir mittlerweile sicher, würde mich auch im Licht in keiner noch so blöden Situation dumm dastehen lassen und mein Stock war ja auch noch da.

„Auf dem Weg zur Schattenbar, die sich im oberen Stockwerk befindet, kommen wir auch an einem der bekanntesten Werke von Laurent Benaïm vorbei. Es hängt gleich nach der Treppe links in einer Reihe, in der noch weitere Bilder von ihm ausgestellt sind“, erklärte mir Yasu. „Wir nennen diese lichtüberflutete Empore die Galerie der Schattenbilder. Möchtest du, dass ich dir seine Bilder beschreibe? Du kannst sie, wenn du dich für seine Kunst interessierst, natürlich auch anfassen und zuerst einmal selbst erkunden."

„Wenn ich ehrlich sein soll, hätte ich eigentlich auch gleich Lust auf etwas Fetziges“, beantwortete ich Yasus Frage höflich, aber mit mäßiger Begeisterung und fügte noch etwas hinzu. „Wenn du mir das eine sehr bekannte Bild kurz beschreiben würdest, bin ich dir dafür natürlich auch dankbar, aber zu viel Kultur auf einmal muss nicht unbedingt sein. Außerdem würde uns nach dem Sekt und dem entspannten Bad auch wieder etwas Bewegung guttun. Wie ist das denn so mit Musik und Tanzen in eurer Schattenbar?“ Während ich zu Yasu sprach, ließ ich meine Hand um ihren Nacken herum gleiten und schob meine kleine Freundin zärtlich unter meine Armbeuge. Dann stutzte ich und blieb abrupt stehen. „Du sagtest lichtdurchflutet? … – warum spürte ich denn hier keine Wärme vor der Glasfront …?“

„Ja, tausend Blicke aus allen Ecken, deshalb bin ich auch nicht gerne hier. Warum fragst du?“, antwortete mir Yasu, die sofort wie auf Kommando mit mir stehen geblieben war.

„Weil ich die Sonne nicht spüre. … Nordseite, oder?“ sagte ich, klappte dabei kurz entschlossen wieder meinen weißen Verräter zusammen und verstaute ihn erneut in dem kleinen Rucksack, der jetzt sicher alles andere als perfekt zu meinem neuen seidenen Outfit passte. Danach stopfte ich noch die schwarze Nickelbrille dem Stock hinterher und verschloss den praktischen Handtaschenersatz. Rucksäcke hatten eben den Vorteil, dass ich immer zwei Hände frei hatte, ohne dass ungewollt ein Träger von meiner Schulter rutschen konnte. Im Nu hatte ich alles, was mich für Sehende gleich als Blinde hätte erkennbar machen können, gut verstaut und warf mir den Rucksack schräg grinsend erneut auf meinen Rücken. Dann blinzelte ich Yasu, mit den feurigen arabischen Blicken der farbigen Kontaktlinsen, die ich mir extra für diesen Zweck besorgt hatte, so gut ich das damit noch konnte, verführerisch zu.

„Wow, Ronja! Du hast atemberaubend schöne Augen, so pechschwarz wie dein Haar“, schmeichelte mir Yasu, schlüpfte wieder unter meine Schulter und schmiegte sich mit ihrem süßen Körper eng an mich. „Darf ich raten, was ich glaube, woran du gerade denkst?“, fragte mich Yasu leise und streichelte mich dabei zärtlich neckend an meinem Ohr.

„Willst du in meinen Gedanken oder in meinem Herzen lesen?“, antwortete ich ihr mit einer kessen Gegenfrage und küsste sie dabei zärtlich durch ihre atemberaubend gut duftenden Haare auf ihren Hinterkopf.

„In deinen Gedanken lese ich, dass du heute nicht als eine Blinde erkannt werden willst, und in deinem Herzen lese ich, dass ich dich nach dem Tanzen wieder zurück zur Schattenwiese führen soll.“

„Komm her, Süße …“, Yasus Zunge lag warm, weich und friedlich entspannt in ihrem zarten Mund, bis meine sie dort fand … Beim Luftschnappen flüsterte ich Yasu verträumt ins Ohr. „Hellsehen kannst du, wie es scheint, genauso gut wie den Menschen in ihre Herzen sehen.“ Nach einem weiteren, eher längeren Augenblick lösten wir uns und gingen Arm in Arm zusammen los.

„Treppe!“, flüsterte Yasu nahezu unhörbar und kniff mich einen Sekundenbruchteil später zusätzlich mit Daumen und Zeigefinger leicht in meine linke Schulter. So erklommen wir, ohne anzuhalten und ohne zu zögern, nebeneinander die Treppe nach oben bis zur Schattengalerie. Den Boden der Galerie erkannte ich nach der letzten Stufe sofort an dem anderen Belag, aber auch am veränderten Klang unserer Schritte, und schwenkte, schon bevor Yasu mir die Richtungsänderung andeuten musste, aus unserer Bewegung heraus, schwungvoll nach links.

„Die Wand ist rechts von dir“, hauchte Yasu mir ins Ohr.

„Wo sonst? Ich weiß doch, wo die Lobby ist“, flüsterte ich schnippisch grinsend zurück und knuffte meine neue Freundin, die sich ohne weitere Worte auf mein kleines Versteckspiel eingelassen hatte. Es fühlte sich einfach total genial an, wie diskret sie mich, ohne sich unnötig einzumischen, unterstützte. Wir schlenderten schmusend als liebendes Paar nahe an der Wand entlang, an der meine rechte Hand mit dem Handrücken zu einer Raufasertapete gedreht auf den Kanten meiner Fingernägel entlang glitt, bis ich das erste Bild sicher gefunden hatte.

„Jetzt bist du wieder dran“, sagte ich in normaler Lautstärke zu Yasu, die sich zärtlich von oben die drei längsten Finger meiner rechten Hand griff und meine Linke an die untere linke Ecke des Bildes legte, das vor uns an der Wand hing. Dann führte sie die drei Finger meiner rechten Hand von der rechten unteren Ecke mit den Fingerkuppen über die Oberfläche des Bildes zu einem bestimmten Punkt. Was da vor uns hing, konnte kein großes Foto sein, dafür war es zu groß. „Ein gerahmter Plakatdruck?", fragte ich.

„Eine Schwarz-Weiß-Aufnahme, aber bräunlich. Hier befindet sich der Scheitel einer etwa dreißigjährigen mittelblonden Frau mit langem, welligem Haar. Sie wurde nackt, mit zu uns gerichtetem Gesicht fotografiert. Ihr Gesicht ist hier …, in einer aus geflochtenen Hanfseilen geknüpften Liebesschaukel fotografiert und … ja?", unterbrach Yasu ihre Erklärungen, als sie bemerkte, dass ich plötzlich etwas noch genauer wissen zu wollen schien.

„Eine Liebesschaukel? … Was ist das? Von so etwas habe ich noch nie gehört“, fragte ich Yasu neugierig.

„Echt jetzt? Dann führe ich dich nach dem Tanzen gleich noch in unsere Schattenhölle, anstatt zurück zur Schattenwiese, die kennst du ja eh schon. Dort kannst du dir dann unsere Liebesschaukel ansehen und wenn du magst, können wir sie danach auch gleich zusammen ausprobieren.“

„Also wieder zurück in die Schattenwelt zu Alena dann?“, stellte ich kombinierend fest.

„Aber nein, das ist nicht Alenas Niveau. Die Schattenhölle befindet sich gleich hinter der Schattenbar. Dort ist es zwar nicht hell, aber auch nicht dunkel. Die Schattenhölle ist auch mehr ein Fegefeuer als die pure Hölle.“

„Dann sollten wir uns hier aber nicht mehr zu lange mit dem kulturellen Teil aufhalten.“ Während ich das sagte, knuffte ich Yasu, schlang meine Arme um ihren kleinen, mollig-weichen, aber dennoch zierlichen Körper, drückte sie und musste sie einfach zwischendurch mal wieder schön lang knutschen.

„Hast du schon genug von dem Bild gesehen?“

„Nein, nicht ganz. Aber die ganz unwesentlichen Details kannst du ja auch erstmal weglassen. Wir können es uns ja auch später irgendwann mal noch genauer ansehen.“

„Also gut. Sie ist eine Amputierte und hängt nackt in den Seilen. Noch mehr …?“, hörte ich jetzt Yasu schnippisch grinsend sagen.

„Eine nackte Amputierte, hier an der Wand? Igitt, wie scheußlich! Das ist doch taktlos und abstoßend. Bloßgestellt und vorgeführt, das ist ja furchtbar. Also doch ein übler Schuppen. Das hat doch nicht mehr viel mit Kunst zu tun. Ich bin wirklich oft scheißsauer darüber, dass ich schon, als ich erst mal gerade zehn Jahre alt war, stockblind geworden bin. Aber in diesem Fall bin ich ja fast froh, dass ich mir das Übel hier nicht mit meinen eigenen Augen ansehen muss.“

„Komm mal her, Ronja, wäre Wegschauen denn wirklich besser?“, fragte mich Yasu geduldig, schlang mir ihre Arme um meine Hüfte, legte ihren Kopf zwischen meine Brüste und streichelte mir beruhigend und tröstend meinen Rücken. „Die Frau auf dem Foto sieht sehr authentisch und auch nicht unglücklich aus, das darfst du mir wirklich glauben. Sie wirkt eher ernst und stolz als traurig. Das sieht alles sehr ästhetisch und überhaupt nicht gezwungen aus. Man sieht ihr deutlich an, dass sie sich gerne so zeigt. Für mich ist das voll in Ordnung, schließlich ist sie ja das Modell und Benaïm ist kein billiger schmieriger Typ, sondern ein Künstler, den man weltweit schätzt.“

„Würdest du dich hier denn gerne, nackt an Seilen baumelnd fotografiert, im Rampenlicht aufhängen lassen?Blaffte ich Yasu schmollend an, obwohl sie mich noch immer lieb streichelte.

„Aber das ist doch gar nicht der Punkt, um den es geht, Ronja. Die Frau auf dem Bild hat nur noch ihre linke Hand und an ihren Beinen ist sie auch beidseitig amputiert. Sie wird ihre eigenen Gründe dafür haben, dass sie Modell sein will. Der Punkt ist doch, dass sie ohne einen wie Benaïm gar kein Modell sein könnte. Aber deshalb muss ja noch lange nicht jede Frau, die ein Gebrechen hat, auch Modell werden. Du kennst meine Gründe, warum ich trotz all der schönen Farben und Bilder, die ich bei Licht sehen kann, viel lieber bei Alena in der Schattenwelt als hier oben bin. Aber dennoch habe ich mächtig Hochachtung vor der mutigen, amputierten Frau auf dem Bild vor uns. Und deshalb ist es auch gut, dass es hier hängt. Wenn Benaïms Bilder niemand aufhängen würde, dann würde er es auch sein lassen, sie verkaufen zu wollen. Schließlich müssen Fotografen von dem leben, was sie fotografieren.“

„Deshalb verdienen die Normalen aber immer noch an unserem Leid“, brummelte ich stur weiter.

„Plapperst du jetzt schon Maikes Sprüche nach?“

„Das war deutlich, aber nicht schlecht“, gab ich mit einem schrägen Lacher von mir, der mir leicht über die Lippen ging, nachdem ich Yasus frechen Unterton gehört hatte und sie mich dazu noch anfing fies zu kitzeln.

„Jetzt hab ich aber die Schnauze echt gestrichen voll von Kunst und Kultur.“

„Komm, wir gehen tanzen“, sagte Yasu und schlüpfte wieder so unter meine Schulter, dass nicht gleich auffiel, dass ich geführt werden musste. Wir waren gerade drei Schritte weit gekommen, als wieder die “Time to say good bye“ Melodie aus meinem Rucksack heraus schrillte.

„Oh Gott! Mara, ich hatte sie total vergessen. Da muss etwas passiert sein.

 

„Hallo Mara? …“

„…“

„Oh nein! Wie kommst du denn dazu, dich mit korrupten Russen anzulegen?“

„…“

„Tropical Island?“, fragte ich Mara. „In Krausnick …? In diesem Vergnügungspark …? Dort, wo du mit mir im letzten Monat zum Schnuppertauchen in dem Tropenwald-Resort in der 'Südsee' baden warst?“

„Das kenne ich auch“, rief Yasu dazwischen. „Mit meinem Auto könnten wir in einer Stunde dort sein.“

„Wir können in einer Stunde auch dort sein. Könnt ihr euch irgendwo verstecken? “, schrie ich aufgeregt in mein Handy, während ich hinter Yasu her stolperte, die schon die Treppe mit mir erreicht hatte.

„…“

„Ein Maskenball? …"

„Okay, wir kümmern uns drum."

„Ja, in der Lagune. …, in den unterirdischen Grotten!"

„Ok! … 15:00 Uhr! Pass ja gut auf dich auf.“

„…“

„Ciao Mara!“

 

***

 

 „Ja, ein Maskenball, das ist eigentlich ein Event für Kinder, für kleine Seeräuber und Piraten“, sagte ich zu Yasu, während wir erneut die Vorhänge zur Schattenwelt passierten und vor dem Restaurant einen Haken nach links schlugen, wo sich eine weitere Tür befand.

„Willkommen in meinem eigenen kleinen Reich“, sagte Yasu und zeigte mir, dass dort, wo einen Augenblick später das Mahlwerk einer Espressomaschine aufheulte, auch einige hohe, weich gepolsterte Stühle standen. „Wow, eine Kochinsel“, sagte ich, „echt cool!“, und begann sofort damit, Yasus Kaffeeküche genauer zu erforschen, während Yasu in ihr Schlafzimmer verschwand, um uns ein paar passende Badesachen zusammenzusuchen. Auf dem Weg zur Schattenwelt hatte ich Yasu in Stichworten erklärt, dass Mara im Wasser ungewöhnlich mobil ist, weil sie schon als Teenager in einem Sportverein verschiedene Kampfsportarten trainierte.

„Für Mara habe ich einen Zentai eingepackt“, sprühte Yasu vor Begeisterung, setzte sich neben mich und ließ unsere Sporttasche auf den Boden plumpsen.

„Hier, Dein Espresso, Yasu“, wir dürfen keine Zeit verlieren. „Zucker ist schon drin und dort sind zwei Gläser mit frischem Wasser.“

„Danke, Ronja! Auf dich kann man sich offensichtlich auch verlassen, wenn’s mal brennt“, sagte Yasu und knuffte mich.

„Wieso denn ausgerechnet einen Zentai für Mara? Sie ist viel größer als wir. Du hättest besser noch einen weiteren Bikini für sie eingepackt als so einen extravaganten Tanzanzug“, sagte ich etwas besorgt, während ich Yasu durch eine Tür ins Freie folgte.

„Keine Angst, Ronja, der ist von Alena. Ich bin mir sicher, dass er passen wird. Lycra ist ja äußerst elastisch und Alena ist auch groß“, sagte Yasu und ergänzte, dass der Zentai für das, was wir vorhatten, die optimale Farbe habe.

„Er ist so wasserblau wie das Wasser in der Lagune und schimmert in der Sonne genauso türkis.“

„Oh, ein Smart“, das hätte ich mir denken können, dass du so ein lustiges kleines Auto fährst. Das passt echt zu dir“, sagte ich und ließ mich in den sportlichen Beifahrersitz fallen, in dem ich kaum angekommen war, als meine Tür schon ins Schloss fiel. „Wasserblau oder sonnengelb, von mir aus, aber wir fahren ja nicht zur Modenschau“, sagte ich, während Yasu schon wie beim Autoscooter in einem Vergnügungspark beschleunigte.

„Nein, keine Modenschau. Der Zentai macht sie aber unsichtbar“, sagte Yasu pfiffig und schlängelte sich weiter geschickt durch den Verkehr.


***

 

„Einmal ermäßigt mit Begleitperson“, sagte ich an der Kasse und legte fünfzig Euro und meinen grün-orangefarbenen Ausweis mit dem „B“, das mich zur Mitnahme einer Begleitperson berechtigte, auf den Tisch.

„Dass es heute etwas wilder zugehen wird und auch ungemütlich werden kann, wissen sie aber schon, wegen der vielen Kinder …?“, hörte ich die Kassiererin in einem Ton sagen, der so klang, als ob wir an diesem Tag im Tropenresort keine besonders willkommenen Gäste seien.

„Ja, das ist schon okay, so alt sind wir ja auch noch nicht“, antwortete ich der Dame kurz angebunden und wartete auf mein Wechselgeld.

„Hier, zwölf-fünfzig zurück. Wir schließen um 23:30 Uhr. Einen angenehmen Aufenthalt für sie.“

„Komm Ronja, dort vorne um die Ecke ist die Umkleide und Schränke für unsere Sachen sind dort auch“, sagte Yasu.


***

 

 Mara, Susi und Alex mit Ronya und Yasu

 

„Mara? Bist du das?“, rief ich aufgeregt, als Yasu gerade dabei war, unseren Spind abzuschließen und ich schon einzelne Silben von Maras Stimme, die sich offensichtlich schon im selben Raum wie wir befand, aufgeschnappt hatte.

„Ja, Ronja, wir sind hier!“, kam gleich darauf die Antwort aus einer der weiter hinten befindlichen Reihen von Umkleidekabinen zurück.

„Cool! Yasu und ich kommen gleich zu euch“, gab ich noch aufgeregter zurück und hörte, dass Yasu sich noch den Zentai schnappte, bevor sie danach unseren Spind zuschloss. Kurz darauf hatten Yasu und ich die drei Kabinen gefunden, in denen sich Susi, Alex und Mara schon fast fertig umgezogen hatten, und ich schlüpfte zuerst noch kurz zu Mara in ihre Kabine hinein, um ihr zu erklären, was für eine geniale Tarnung sich Yasu mit dem Zentai für sie ausgedacht hatte.

„Kannst du etwa gar nicht schwimmen?“, fragte Alex verstört, als er aus seiner Umkleidekabine trat und sah, dass sich Mara einen gepolsterten Gurt, der ihm wie eine Schwimmhilfe vorkam, um ihren nackten Bauch geschnallt hatte.

„Wow, ein Navigationsgurt“, pfiff Yasu begeistert durch ihre Zähne und verlor, als sie sah, dass Ronjas Freundin Mara offensichtlich auch eine Blinde sein musste, keine weiteren unnötigen Worte zu diesem Thema.

„Ja, es ist sogar ein wasserdichtes Sondermodell, das mir mein Kampfsporttrainer mit seinen Kontakten zu Armeeausrüstern beschafft hat, das auf dem freien Markt so gar nicht angeboten wird. Kampftaucher brauchen sowas auch, wenn sie sich bei Nacht irgendwo ohne Licht unter Wasser anschleichen müssen, um nicht die Orientierung zu verlieren, erklärte Mara. Dass Yasu Mara mit ihrer Feststellung einerseits neugierig darauf gemacht hatte, woher Ronjas neue Begleiterin wusste, was ein Navigationsgurt ist, und sie sich andererseits kritisch fragte, woher Yasu wusste, wozu so ein Hilfsmittel gut ist, irritierte sie einen kurzen Moment. Schließlich waren die Dinger, die im zivilen Leben eigentlich nur Vollblinden dabei halfen, sich auch ohne fremde Hilfe an den Himmelsrichtungen orientieren zu können, ohne dabei eine weitere Orientierungshilfe in einer Hand halten zu müssen, Sehenden sonst nicht bekannt. Nur in Anbetracht dessen, dass sie im Moment keine Zeit verlieren durften, verdrängte sie aufkommende Zweifel an Yasus Zverlässigkeit und entschied sich dazu, das später zu klären, jedoch vorsichtig zu bleiben und ihre Bedenken aus Prioritätsabwägungen heraus zunächst zu überspielen.

„Hallo Alex, so schnell trifft man sich wieder“, grinste Ronja und streckte ihm freundlich ihre Hand entgegen, während sie weitersprach. „Bis zu Maras Anruf dachte ich, dass du ein übler Entführer seist, wie dumm von mir. Natürlich kann Mara schwimmen, noch besser als ein Fisch sogar. Wasser ist das Element, in dem man sich am meisten vor ihr in Acht nehmen sollte, wenn man sie zur Gegnerin hat."

„Ich bin Susi und kann euch gar nicht sagen, wie froh ich darüber bin, dass Mara uns mit eurer Unterstützung hilft, aus dem Schlamassel herauszukommen, in den wir mit diesen skrupellosen Russen hineingeraten sind“, sagte die Dritte im Bunde der drei Leute, die mit Mara im Tropical Island angekommen waren.


***

 

Um uns herum gluckste es dumpf vom leichten Wellenschlag und die schweren Wassertropfen, die von der Decke der Grotte in unregelmäßigen Abständen auf die Wasseroberfläche trommelten, hallten gespenstig durch die feuchtwarme Luft.

„Das mit dem Zentai war eine wirklich clevere Idee von dir, Yasu“, sagte ich, „damit hatte ich gar nicht gerechnet“, und streifte mir die hellblaue Tarnhaut im Schutz der düsteren Grotte über meinen bunten Bikini. Yasu hatte mir vorher erklärt, dass sowohl ihr roter Badeanzug als auch mein orangerot leuchtender Bikini inmitten der vielen Piratenkostüme genauso unauffällig wie die sportliche schwarze Badehose, die Alex trug, wirkten und dass die einarmige Susi die Einzige von uns sei, die alle Blicke auf sich zog. Der Tarnanzug war für die Rolle, die ich in diesem Vorhaben zu übernehmen hatte, jedoch noch um Größenordnungen besser.

„Susi macht für Pawel den Lockvogel. Yasu und Ronja sorgen, bis ich mit ihm fertig bin, für die nötige Ablenkung und ein bisschen Tumult", instruierte ich unsere Crew.

„Da Pawel euch nicht kennt, dürfte er auch keinen Verdacht schöpfen, wenn ihr euch vor meinem Zugriff in seiner Nähe aufhaltet, aber es kann trotzdem gefährlich werden. Seid ihr euch auch wirklich alle ganz sicher, dass ihr dabei sein wollt und das Ganze auch nervlich durchhalten werdet?", fragte ich sicherheitshalber mit klaren Worten in unsere Runde und wartete geduldig ab.

„Klar!", sagte Ronja mit so fester Stimme, wie ich ihr das bis vor wenigen Stunden nicht zugetraut hätte. „Selbst ich kenne meine Freundin Mara so noch nicht, offensichtlich ist sie schon ganz im Kampfmodus, aber ich kenne keine perfektere Teamleaderin als sie, der wir uns in dieser Situation besser als ihr anvertrauen könnten", ergänzte meine kleine Taffe und ließ mich sogar ein wenig verlegen werden, weil ich mit Lob weniger gut als mit kritischem Misstrauen umgehen konnte.

„Okay, toi, toi, toi“, schloss ich konzentriert die taktische Vorbesprechung ab.

„Dann schwimmen wir jetzt raus in die Lagune und üben noch ein bisschen auf den Rutschen und vor allem im Wasser davor. Von Susi, Alex und Yasu würde ich, bevor es losgeht, gerne noch etwas über die Wirksamkeit meiner Tarnung hören. Danach ist der Ball bei Alex und Susi, die uns über das Kennwort dann sofort den Startschuss geben, wenn sie Pawel gesichtet haben und Susi ihn an der Angel hat“, wiederholte ich noch einmal grinsend und schlängelte mich danach wie ein Fisch unter Wasser weg.

„Ahoi Miss Sparrow!“, hörte ich Susi, kurz bevor meine Ohren unter dem Wasser verschwanden, mir noch unseren Schlachtruf nachrufen, den wir als Parole für das Startsignal vereinbart hatten. Wie aus der Pistole geschossen schnappte ich ihre Worte gerade noch auf und wusste, dass die restlichen vier auf dieses Kommando hin ebenfalls in Sekundenschnelle abtauchen würden und sich in den Strudeln meiner Schwimmbewegungen an meine Fersen hefteten, um mir, dicht hinter mir bleibend, zu folgen. Wie ein Rudel bunter Delfine stellte ich mir sie jetzt vor, wie sie unter Wasser so pfeilschnell wie ich dahinschossen, bis sie wie vereinbart an meinen Seiten zu mir aufschlossen. Ronja und Yasu schwammen, bis wir am Fuß der großen Rutschen angekommen waren, links und rechts von mir, und ich war begeistert davon, wie gut unsere Gruppe so schnell richtig perfekt funktionierte.

 


***

 

„Bist du dir wirklich sicher, dass das richtig ist, was wir hier tun, Mara?“, fragte ich meine Freundin. Mara und ich klebten seitlich von den Rutschen zu zweit in einer Nische am Beckenrand und pumpten während einer kleinen Verschnaufpause neue Luft in unsere Lungen. Das Kreischen und Jauchzen auf dem Rutschenturm, der sich in dem riesigen Dom, fast so hoch wie das Brandenburger Tor über Berlin, erhob, ließ Mara und mich das bunte Treiben um uns herum deutlich hören.

„Absolut, Ronja. Als wir meine Badesachen und den Navigurt in unserer Wohnung holten, haben wir den skrupellosen Stümper sogar noch auf frischer Tat bei einem Einbruch bei uns zuhause ertappt. Er hatte sogar unseren PC mit einem Trojaner verwanzt und uns fies ausgespäht. Muss ich noch mehr dazu sagen?“, zischte Mara entschlossen. „Schon das wäre genug, aber das ist noch lange nicht alles, was der auf dem Kerbholz hat“, fuhr sie zähneknirschend fort. „Schon alleine für das, was er Susi alles angetan hat, hätte er schon tausendmal den Tod verdient. Die Arme hat seinetwegen einen Arm und ein Auge verloren, weil er sie, ohne dass sie das wusste, in jungen Jahren russischen Psychopathen ans Messer geliefert hatte.

„Ahoi, Captain Sparrow!“, ertönte in diesem Moment Susis Schrei vom Rutschenturm und Yasu kam Sekunden später wie aus dem Nichts unter Wasser herangeschossen und ergriff Ronjas Hand, die schon nach dem ersten Ton aus dem Becken heraus auf die Platten hinaus gesprungen war.


***

 

„Da vorne sind sie!“, flüsterte Yasu Ronja zu, während sie die letzten Stufen hinter sich ließen und sich von hinten wie zwei Freundinnen, die zusammen rutschen wollten, an ihr Opfer heranpirschten. Susi schwenkte theatralisch den Seeräuberhaken, den sie sich an ihrem Armstumpf geschnallt hatte, und ließ sich mit ihrer gruseligen Augenklappe mit einem lauten Schrei in die Tiefe eines schwarz vor ihr aufklaffenden Schlunds fallen. Kinder und Mütter kreischten vor Schreck auf und verfolgten den gewagten Sprung der Seeräuberbraut, die gelenkig in die Röhre der Rutsche gesprungen war. Die Ampel sprang sofort auf Rot und dazu schrillte kurz darauf noch eine Sirene. Dass zeitgleich zwei weitere Frauen, die einen Mann vor sich herschoben, in eine andere, auch aus Sicherheitsgründen automatisch mit gesperrte Röhre gehechtet und ebenfalls in der Tiefe verschwunden waren, hatte in dem Tumult niemand von den anderen Badegästen mitbekommen.

„Knack … ! Eigentlich ein hässliches Geräusch, wenn unter Wasser in der Nähe sensibler Ohren ein Genick bricht“, dachte Mara und entfernte sich als unsichtbarer blauer Schatten mit vorsichtigen Schwimmbewegungen vom Ort des Geschehens. Im Schutz des über ihr brodelnden Wassers, das unter den Rutschen vom Plantschen der aufgebrachten Menge schäumte, gelang es ihr, wie geplant so ungesehen wieder zu verschwinden, wie sie gekommen war.

 


***

 

„Fünf Prosecco bitte und …“, sagte Alex und deutete auf den Tisch, an dem der Rest seiner Clique saß. „Wäre es vielleicht möglich, dass sie uns die leckeren Brötchenhälften mit dem Eiersalat auf dem Lachs und die Käse-, Salami- und Schinkenschnittchen als Fingerfood servieren? Ein scharfes Messer täte es natürlich auch."

„Aber ja, das ist gar kein Problem“, sagte die Frau an der Kasse, die sofort sah, dass Susi nur noch einen Arm hatte. Aber sie nehmen besser eine ganze Flasche, das ist billiger als fünf einzelne Gläser, und sie haben dann sogar noch einen Rest zum Nachschenken.



***

 

„Entschuldigen sie die Störung, mein Name ist Heinberg, Kommissar Heinberg“, hörte Ronja eine Stimme, die zu einem schwer atmenden Mann gehörte, den sie sich übergewichtig und mit dünnen Haaren vorstellte, die an einer fettig glänzenden Kopfhaut klebten.

„Guten Tag, Herr Heinberg“, sagte Mara. „Möchten sie sich nicht setzen?“, wobei sie näher an Ronja heranrückte, hinter sich nach einer Stuhllehne eines Stuhls am leeren Nachbartisch tastete und diesen mit einer einladenden Geste etwas drehte.

„Nun ja … gerne, aber ich werde sie nicht lange aufhalten müssen, sie sind ja …“, sagte er verstört und quetschte sich zwischen Mara und Susi auf den Stuhl, den Mara für den Kommissar mittlerweile bereits fast ganz in die Lücke jongliert hatte.

„Ich glaube zwar auch, dass wir ihnen, obwohl wir hier die ganze Zeit zusammen im Bad waren, wenig weiterhelfen können, aber wenn sie Fragen haben, stehen wir der Polizei natürlich gerne zur Verfügung", erwiderte Mara dem Kommissar, ohne auf seine, wenn auch unbewusst, durch ein zögerliches Unterbrechen seines Satzes ausgedrückte Anspielung auf ein aus seiner Sicht wohl getrübtes Wahrnehmungsvermögen ihrer Gruppe einzugehen. „Als hier plötzlich überall die Panik ausbrach …", begann Mara einen Satz, den sie zunächst unvollendet im Raum stehen ließ, und sah den Kommissar freundlich, mit leerem Blick so an, wie sie wusste, dass Sehende das immer fürchterlich irritierte, und schob nach der Kunstpause den zweiten Teil hinterher, „ … hatten wir natürlich im ersten Moment alle Hände mit uns selbst zu tun."

„Zum Glück ist hier im Lokal eine friedlichere Atmosphäre als da draußen in dem wirren Tumult vorhin", ergänzte Ronja, die mittlerweile wieder eine schwarze Brille trug, weil sie mit den extravaganten Kontaktlinsen, die sie sich inzwischen wieder von ihren vernarbten Augäpfeln heruntergenommen hatte, nicht den Eindruck erwecken wollte, mehr als Mara von den Ereignissen gesehen haben zu können. Mara hatte Ronja schon vorher einmal von dieser Taktik erzählt, mit der sie es trickreich verstand, von sich abzulenken, wenn Sehende sie zur Offenlegung von Wahrnehmungen drängten, die sie lieber für sich behalten wollte. Aber sie erinnerte sich trotzdem noch an die Gänsehaut, die sie bekam, als sie zum ersten Mal miterlebte, mit welcher Unverfrorenheit ihre Freundin ihre Blindheit eiskalt dazu einsetzte, die Oberhand über ein Geschehen zu behalten, wenn sie sich einen Vorteil davon versprach.

„Was ist denn überhaupt genau passiert, Herr Kommissar?“, fragte Alex und sagte, dass bisher nur andeutungsweise das Gerücht von einem Sportunfall durchgesickert sei und er sich frage, warum sich die Polizei dafür interessiere.

„Ja, das zeichnet sich im Moment so ab. Das Opfer scheint zwar zwielichtige Kontakte, über die ich nicht reden darf, gepflegt zu haben, aber die derzeitige Beweislage deutet im Moment in der Tat darauf hin, dass er heute rein privat das Resort hier besuchte. Ihre Personalien muss ich aber trotzdem aufnehmen. Das werden sie sicher verstehen, oder?“

„Aber natürlich, Herr Kommissar“, sagte Yasu und schob dem Beamten ihren Personalausweis über den Tisch, den sie schon während des Zuhörens aus ihrer Sporttasche herausgefummelt hatte. „Ich bin als Begleitperson von ihr dabei“, fügte sie noch hinzu und deutete auf Ronja. Ronja hob ihren Schwerbehindertenausweis, den Yasu ihr so betont fürsorglich in die Hand geschoben hatte, dass der Kommissar es mitbekommen musste, so an, dass der Polizist die Vorderseite sehen konnte. „Den brauchen sie bestimmt auch, oder?“

„Ich bin auch als Begleitperson dabei“, sagte Alex unaufgefordert und deutete auf Mara, die sich eine Haarsträhne aus der Stirn wischte und sich schwungvoll mit einer Kopfbewegung ihre blonden Haare in den Nacken beförderte.

„Hier ist mein Perso“, sagte Susi. „Ich bin mit Mara und Alex befreundet.

„Sagt ihnen der Name Orlejew etwas? Oberst Orlejew …?", fragte der Kommissar und starrte dabei gedankenverloren zuerst auf Susis Armstumpf und musterte danach ihr künstliches Auge, auf das er durch den Eintrag zu den unveränderlichen körperlichen Merkmalen in ihrem Personalausweis aufmerksam geworden war, und ließ dadurch durchblicken, dass er deutlich mehr über die Hintergründe des Falls zu wissen schien, als er im Gespräch offenlegen wollte.

"Nein, nie gehört. Warum fragen sie mich das?“, fragte Susi scheinbar lässig zurück.

„Es war nur ein spontaner Gedanke. Lassen wir es besser gut sein", sagte Heinberg mit gerunzelter Stirn.

„Wenn wir ihnen sonst wie noch helfen können …?“, fügte Mara mit einem bedauernden Schulterzucken hinzu.

„Danke, danke, das genügt fürs Erste allemal. Wir wissen ja, wo wir sie finden können. Ich wünsche noch einen schönen Abend", sagte der Kommissar, tippte sich grüßend an die Stirn und ging einige Tische weiter.

 

 

***

 

„Woher kennst du Orlejev?", zischte Yasu und sah Susi dabei feindselig an.

„Ich kenne ihn nicht", sagte Susi mit dünner Stimme. Ich weiß aber, dass seine Leute Pawel in der Hand hatten. Aber den können wir jetzt nicht mehr nach seinen Hintermännern fragen.

„Also doch kein Einzeltäter", sagte Mara.

„Aber Alena, können wir noch fragen", sagte Yasu grimmig.

„Alena kennt Orlejev?", schrie Susi völlig entsetzt auf.

„Nein, aber seine Terroristen haben sie als wehrlose Verletzte wie ein Stück Holz verbrannt“, sagte Yasu mit erstickter Stimme.

„Wir müssen sofort mit ihr reden", sagte Mara und stand entschlossen auf. „Alex, du fährst uns jetzt bitte auf der Stelle alle zusammen in das Schattenglut."

 

Schwarzwassertrip

Handelnde:

 

Marc (Provinz) (früher Bundeswehr Kampftaucher)

Maika (Provinz) (Sportlerin und Trainerin)

Tim (Provinz) (Motorradfahrer und Milas Exfreund)

Mara (Berlin) (früher Provinz) (Studierende, Abenteurerin)

Alex (Berlin) (Verehrer und guter Freund von Mara)

Ronja (Berlin) (früher Bukarest) (Callcenter-Agent)

(Maras Lebensgefährtin)

Lisha - Geheimnisvolle, die Schöne, die Warmherzige -

(Provinz) (früher Khartum, Sudan)

Binta (Provinz) (Tochter von Lisha)

Fatmata - Enthaltsame, (sich) Entwöhnende -

(Berlin) (früher Freetown, Sierra Leone)

Faith (Berlin) (Tochter von Fatmata)

Wladimir (Düsseldorf) (früher Russland)

Mila (Ort unbekannt) (untergetaucht oder verschollen)

 

 

Im Büro eines provinziellen Sportvereins

 

„Zwanzigtausend Euro Spende?“, brummte Marc, während der Scanner, mit dem er die Eingangspost des Sportvereins digitalisierte, wie ein Kätzchen vor sich hin schnurrte. Nach dem Scannen fummelte er die Papierbogen einen nach dem anderen in den Locher, der vor ihm auf dem Schreibtisch stand, um sie danach in einem Leitzordner abzulegen. Für all die anderen, die hier neben ihm und seiner Freundin Maika ehrenamtlich halfen, war es ein Vorteil, dass Marc die Post ausschließlich digital bearbeiten konnte, weil so alle Mitglieder des Vereins auch aus dem Homeoffice Zugriff auf den gesamten Schriftverkehr hatten.
„Echt? So eine große Spende, das ist ja unglaublich“, antwortete ihm Maika, die auch im Büro war, und fügte noch hinzu: „Wo kommt das Geld denn überhaupt her?“
„Es ist ja gar kein Geld, sondern ein Urlaubsgutschein“, sagte Marc, stand halb auf und streckte Maika mit einem knisternden Rascheln eine Faltbroschüre über eine Reihe Leitzordner hinweg zu deren Arbeitsplatz hinüber. Die Ordner waren so angeordnet, dass sie die Arbeitsflächen der gegenüberliegend aufgestellten Schreibtische voneinander trennten und Marc, der immer genau wusste, wo welcher Ordner vor ihm stand, jeden von ihnen zügig erreichen konnte. Erst wenn die Ordner voll genug waren, wanderten sie dann ins Archiv. Aber außer zur Ablage wurden sie wegen Marcs sorgfältiger Digitalisierung, bis auf die Sachen, die zum Steuerberater weitergegeben werden mussten, eigentlich eh nicht mehr in Papierform gebraucht. „Schau mal, das war auch noch dabei. Aus dem Anschreiben geht schon hervor, dass es sich um ein Resort, also um eine schöne Ferienanlage, handeln muss, und ich weiß sogar, wo das ist“, sagte Marc.
„Wow, auf den ersten Blick sieht das wirklich traumhaft aus“, sagte Maika und schnaufte kurz, nachdem sie sich mit einer Hand auf der Lehne ihres Rollstuhls hochgestemmt hatte, um mit ihrer anderen Hand über die Leitzordner hinweg nach Marcs Post greifen zu können. „Wie? Du kennst Ada Bojana?“ fragte sie Marc erstaunt. „Das ist am Mittelmeer, oder?“
„Ja, klar ist das am Mittelmeer. Das Gebiet liegt in Montenegro, etwas südlich der Bucht von Kotor. Ada Bojana befindet sich auf einer kleinen Insel und die Resorts dort sind bei Menschen, die es lieben, die Natur splitternackt zu genießen, sehr bekannt. Dort ist nämlich das weltweit größte FKK-Gebiet, es verfügt sogar noch über echte Traumstrände“, antwortete Maikas Freund ihr. „Wir, also meine Kameradinnen und Kameraden von der Bundeswehr und ich, waren dort früher oft über die Wochenenden. Das war in der Zeit, in der wir in Kuçova im Landesinneren von Albanien, den Aufbau einer neuen Luftwaffenbasis für die NATO vorbereiteten. Schon damals sah es dort wie im Bilderbuch aus. Grüne Resorts, umflossen von türkisfarbenem Wasser und umrahmt von hellem Sandstrand. Der Sand ist dort zwar nicht ganz so weiß wie der an den Stränden der Südsee, aber auch nicht so golden wie am bulgarischen Goldstrand. Die Strände der kleinen Insel wirken zwar auch weißlich, aber in der Sonne strahlen sie mit einem Hauch eines goldenen Schimmers. In der grellen Mittagssonne ist das Weiß jedoch trotz allem hell genug, um noch einen Teil der Hitze reflektieren zu können. Deshalb wird der Sand dort auch nicht ganz so heiß wie in anderen Gegenden, die ähnlich sonnig sind. Obwohl die Sonne dort extrem viel Kraft hat, verbrennt man sich des hellen Sandes wegen nicht mal um die Mittagszeit die nackten Füße."
„Verbrannte Füße?“, bemerkte Maika mit einem sarkastischen Schmunzeln. „Ich würde das ja nicht spüren, aber haben will ich die trotzdem nicht. Die Bilder sehen übrigens genau so aus, wie du es gerade beschrieben hast, echt heiß! Alles andere wäre gelogen“, antwortete Maika in einem Ton, als würde sie am liebsten gleich davonstürmen, um mit Marc ihre Koffer zu packen, aber dann stutzte sie und ihre Stimme brach.

„Denkst du gerade an Mila?“, fragte Marc seine Freundin fürsorglich.
„Albanien, sagtest du? Ja klar erinnert mich das an Mila. Was meinst du, Marc, ob Mila vielleicht irgendetwas mit dieser mysteriösen Spende zu tun hat?“, aber kaum nachdem sie diese Worte gesprochen hatte, schniefte sie traurig und griff nach einem Tempo.
„Ja, an Mila denke ich auch immer mal wieder und natürlich an Mara, die immer in so aufregende Sachen hineinschlittert, wie die mit Mila“, sagte Marc und stand auf. „Nur gut, dass wir das Selbstverteidigungstraining für Blinde mit den beiden so früh angefangen haben", ergänzte Marc, der seit einem Unfall selbst auch vollblind war.

„An Mila und diese mysteriöse Geschichte muss ich immer noch öfter denken, als es mir guttut. Aber egal, so schlimm wie das damals auch alles war … Es ist vorbei. Als Trost bleibt uns wenigstens die Gewissheit, dass wir wissen, dass das jetzt alles Geschichte ist und am Ende doch alles noch relativ gut ausging. Wenigstens für Mara, Tim und alle die anderen von uns, die da am Rande so wie du auch mit hineingezogen worden waren“, antwortete Maika und stopfte das Tempo, in das sie gerade ihre Nase geschnäuzt hatte, unter ihr Sitzkissen.

„Hoffentlich“, sagte Marc, mit einem leicht zweifelnden, etwas besorgt klingenden Unterton in seiner Stimme, so dass Maika seine Zweifel unmöglich überhört haben konnte. Dann fügte er in einem ganz anderen Tonfall hinzu: „Was heißt schon mithineingezogen? Außer Mara, Mila und Tim sowie Maras Mutter, die nicht einmal Vereinsmitglied bei uns ist, war ja zum Glück niemand von uns aktiv in die Sache involviert. Aber gerade wegen Mila sollten wir auch nirgends schlafende Hunde wecken.“ Das sagte er mit einem schrägen Grinsen und ging um die beiden Schreibtische herum. Kurz darauf kam Marc so hinter Maika an, dass er ihr von hinten seine Hände auf ihre vom vielen Sport gut trainierten Schultern legen konnte. Gleich nachdem er hinter Maikas Rollstuhl angekommen war, begann er damit, seiner Freundin zärtlich den Nacken zu massieren, während Maikas wunderschöne Haare über Marcs sie zärtlich berührenden Händen wallten. Marc hat recht, dachte Maika und schüttelte das Vergangene, ohne dabei zukünftig weder leichtsinnig noch unvorsichtig werden zu wollen, so gut es ging wieder ab.

„Hey, was hast du denn vor?“, quiekte Maika einen Moment später neckisch auf und gab Marc damit zu verstehen, dass sie auch nichts dagegen hätte, sich aus gegebenem Anlass von ihm vernaschen zu lassen. „Du bist wohl auch der Meinung, dass wir gleich hier schon mal ein bisschen damit anfangen sollten, FKK zu üben.“
„Aber bevor wir mit der Büroarbeit für heute aufhören und zusammen hinüber zur Vereinssauna gehen“, sagte Marc, „sollten wir noch kurz bei Mara in Berlin anrufen. Vielleicht hat sie ja etwas Neues von Mila gehört oder sogar, genau so überraschend wie wir, auch geheimnisvolle Post aus Albanien bekommen", und verhoffte plötzlich kurz ... „Hey, Moment mal, wie kommen wir denn eigentlich darauf, dass der Brief aus Albanien abgeschickt worden ist?", fragte Marc stirnrunzelnd. „In dem Anschreiben stand doch gar kein Absender“, und lachte dann, noch bevor Maika etwas dazu sagen konnte, laut schallend auf. „Na klar, die Briefmarke!“ Einen Augenblick später nahm er widerwillig seine Hände von Maikas wundervollem Körper und griff schnell zu seinem Handy. „Oh, Ronja, … Hi! …! Ich hoffe, dass es Mara und dir noch gut geht bei den Preußen. Aber das ist nicht der Grund meines Anrufes. Eigentlich wollte ich Mara sprechen. Ist sie da?“

 

***

 

Wasserballabteilung eines Sportvereins in Köln

 

„Komm, Süße, eine Runde packen wir noch“, tönte Wladimir, räumte das Tablett der Studierenden, die in der Kölner Altstadt kellnerte, komplett ab und stellte die Gläser auf den Tisch. An dem Tisch saßen außer ihm noch seine Sportsfreunde, die sich nach dem schwer errungenen Sieg des heutigen Tages gemeinsam mit ihm in einer Kölschkneipe betranken. Kurz darauf hallten erst ein dumpfes Klatschen, gefolgt von einem hellen Klatschen, durch den von vielen Stimmen erfüllten Gastraum.

„Hey Wladimir, diese Ohrfeige hast du dir redlich verdient“, lallte einen Augenblick später einer von Wladimirs Saufkumpanen und blies dem Russen den Rauch seiner Zigarette hämisch in sein Gesicht. Dabei lehnte er sich über den Tisch und hieb Wladimir roh auf die Schulter seines linken Arms, mit dem sein Mannschaftskollege der Bedienung kurz vorher auf ihren Po geklatscht hatte.

„Ihr seid Spielverderber und keine Freunde“, schrie Wladimir, stand auf und trottete zur Kasse der verrauchten Spelunke. Es war eine der wenigen Kneipen in Köln, in denen es zwar kein Essen gab, aber in der im Gastraum immer noch geraucht werden durfte.
„Zahlen!“, schrie er die junge Frau, die er vorher belästigt hatte, an und knallte ihr, begleitet von feindseligen Blicken, einen Fünfziger auf die Theke.
Danach torkelte er missgelaunt nach Hause und genehmigte sich alleine noch einen Wodka-Orange, mit viel zu viel Vodka. „Immer nur Wiederholungen für das viele Geld, das einem die GEZ von Gesetzes wegen abknöpfen darf“, nuschelte er frustriert vor sich hin und schaltete seinen Fernseher, den er kurz vorher lustlos eingeschaltet hatte, auf Netflix um. Während er den Alkohol in sich hineinschüttete, wanderte seine Hand immer wieder erfolglos zu seiner Brusttasche, in der sich bis vor Kurzem immer seine Zigaretten befunden hatten. Sport und Rauchen, das verträgt sich nicht, aber die verdammte Sucht, dachte er frustriert.

 

***

 

In Maras Wohnung, Berlin

 

„Hey Mara, du bist aber spät dran heute", rief Ronja aus der Küche, nachdem sie gehört hatte, dass sich an der Abschlusstür zu Maras Wohnung, die sich im Obergeschoss einer idyllisch im Grünen gelegenen Villa befand, etwas geregt hatte.

„Sorry, ich war noch beim Sport und muss dir auch gleich etwas Spannendes erzählen", antwortete Mara ihrer Freundin, hängte ihre Jacke an die Garderobe und stellte ihren Blindenstock in der Ecke ab, in der Ronja ihren auch immer abstellte. Die zwei waren es gewohnt, dass alles seinen Stammplatz hatte und sie genau wussten, wo sie hingreifen mussten, wenn sie etwas brauchten. „Hier duftet es ja köstlich. Hast du frische Mici gemacht?", fragte Mara, die Cevapcici, so wie Ronja sie auf rumänische Art zubereitete, besonders gern mochte.

„Kein Problem, ich habe sie im Backofen warmgestellt und unsere beiden Teller stehen schon mit rohen Gurkenscheiben, geachtelten Tomaten und Zwiebelringen fertig angerichtet auf dem Tisch. Auch das frische Zacuscă, das ich uns als Vorspeise zubereitet habe, steht schon neben dem Körbchen, in dem sich knusprige Weißbrotscheiben befinden, und Senf habe ich auch schon hingestellt", sagte Ronja und umarmte Mara, um sie mit einem innigen Drücker gleich zu begrüßen, nachdem sie auch in der Küche erschienen war.

„Bevor du anfängst, mir zu erzählen, was es beim Sport Neues gab, solltest du noch bei Marc anrufen, der schon heute Morgen hier angerufen hat, weil er mit dir sprechen wollte“, sagte Ronja und fügte hinzu: „Obwohl ich gespannt bin, was es Neues gibt, hoffe ich, dass uns nicht wieder ein neues Abenteuer von der Sorte ist, die du wie ein Magnet anziehst, Mara", und knuffte sie leicht zwischen die Rippen.

„Nein, ganz bestimmt nicht, Ronja, aber ich kann mir schon denken, was Marc wollte. Fatmata, die ich beim Sport getroffen habe, hat mir nämlich schon erzählt, dass Maika und Marc dabei sind, einen coolen Urlaub für uns alle in Albanien zu organisieren. Das ist auch der Grund, warum es etwas länger gedauert hat als sonst. Um uns gemütlich über den anstehenden Urlaub auszutauschen, haben wir uns ungeplant noch etwas Zeit für einen Espresso an der Kaffeebar gegönnt", erwiderte Mara und erkundete mit ihrer Gabel, wie schön Ronja schon die leckeren Sachen auf ihren Teller trapiert hatte, während Ronja die Schüssel mit den Mici auf den Tisch stellte, die heiß die Wärme des Backofens abstrahlte.

„Wie kommen die denn auf Albanien?", fragte Ronja und quatschte sich leise blubbernd eine gehörige Portion Senf über die Fleischröllchen, die sie sich auf ihren Teller geladen hatte. „Ist so eine Reise denn nicht schweineteuer?"

„Nein, das Coolste ist nämlich, dass es einen Reisegutschein für alle Mitglieder unseres Sportvereins gibt. Das hat Lisha Fatmata natürlich alles brühwarm am Telefon erzählt, auch dass wir alle unsere Partner und Kinder und, wer will, auch Freunde in den Urlaub mitnehmen dürfen. Ich dich als auch …", sprudelte ich die Neuigkeit heraus und nahm Ronja die Senfflasche aus der Hand, als sie diese gerade wieder an ihren angestammten Platz auf dem Tisch abstellen wollte.

„Euer Verein muss ja im Geld schwimmen", kommentierte Ronja mit halbvollem Mund, „aber ich freu mich natürlich auch drüber, mit dir ans Meer mitdüfen und dort mit deinen Freundinnen und Freunden aus der Provinz die Sonne und das Baden in den Wellen zu genießen."

„Quatsch, doch nicht aus der Vereinskasse. Es gab eine großzügige Spende …", erklärte ich und lobte meine Freundin für das tolle Essen, das sie so lecker für uns beide zubereitet hatte, und dafür, dass es genau zum richtigen Zeitpunkt auf dem Tisch stand, weil ich vom Sport schon richtig viel Hunger hatte.

„Wow, cool, und wer hat da im Lotto gewonnen?", fragte Ronja flapsig und schaufelte sich die nächste Ladung Mici auf ihren Teller.

„Lisha meinte zu Fatmata, dass sowohl Maika als auch Marc keine Idee hätten, woher der Gutschein kam und wer ihn uns geschickt hat. Sie hatten schon Mila in Verdacht, aber überprüfen können wir das, seit sie vor langer Zeit von unserer Bildfläche verschwunden ist, natürlich nicht", kam zwischen leisen Kaugeräuschen Maras Antwort dazu.

„Oje, das hört sich nach einem neuen Abenteuer an“, antwortete ihr Ronja und legte ihr Besteck in den Teller.

„Und wenn schon, wir wissen uns ja zu helfen", sagte Mara so, dass man heraushören konnte, dass sie schon vor Aufregung innerlich glühte. „Ich hoffe mal, dass du deshalb nicht kneifen willst, oder hat dir schon der Gedanke an Mila, die du ja noch gar nicht kennst, plötzlich den Appetit verschlagen?"

„Ich kann mir nicht schlechter als du helfen und bin nur satt", kicherte Ronja, und ich hätte meine Kleine, die mittlerweile so taff und fast genauso abenteuerlustig wie ich geworden war, vor Vergnügen am liebsten gleich fressen wollen.

 

Russisches Roulette

In einer Villa am Meer, Albanien

 

Durch die Fasern der dicken weißen Rollos, die aus Leinen aufwendig nach den Vorgaben der Hauseigentümerin angefertigt worden waren, drangen von der Sonne, die draußen im Zenit stand, nur wenige fein gebrochene Lichtreste in das große Wohnzimmer ein, die es mit diffusem Dämmerlicht erfüllten. Eine Klimaanlage sorgte lautlos für ein laues Lüftchen. Auf dem riesigen Bildschirm einer bogenförmig gekrümmten Heimkinoleinwand, die in leuchtendem Weiß in den Raum strahlte, wurden in riesengroßen rabenschwarzen Buchstaben und ebenso großen schwarzen Zahlen die Buchungen eines Bankkontos angezeigt. Am anderen Ende des Raums saß, konzentriert arbeitend, eine schlanke junge Frau, der lange dunkle Haare über ihre Schultern wallten. Die große Arbeitsfläche aus Milchglas, die zu einem stylischen Schreibtisch gehörte, vermittelte den Eindruck einer perfekt strukturierten Arbeitsweise. Dass die Konzentrierte hier das absolute Sagen hatte, erkannten auch Besucher sofort an der Atmosphäre des Raums und an der Körpersprache der jungen Dame, die hinter der Glasplatte saß und hier aus einem mit schwarzem Leder bespannten Chefsessel heraus residierte. Direkt vor der offensichtlichen Chefin befand sich ein wuchtig und klotzig wirkendes PC-Keyboard, das auf den ersten Blick wie ein Museumsstück aussah, wogegen die von geschwungenen Chromrohren getragene gläserne Arbeitsplatte im Vergleich einen futuristisch modernen und kreativ anmutenden Stilkontrast bildete. Nur einen klassischen PC-Monitor gab es nirgendwo.

„Sogar die Kleinen kommen mit. Die Flüge und all ihre Zimmer sind schon gebucht", sagte die Schwarzhaarige zufrieden zu dem Gorilla, der mit einer Maschinenpistole, die ihm lässig von der Schulter baumelte, im Türrahmen stand und auf Anweisungen der Geschäftsfrau wartete.

„Du und die anderen werdet sie am Flughafen erwarten und euch ungesehen an ihre Fersen heften. Solange sie hier im Land sind, werdet ihr ihnen auf Schritt und Tritt wie Schatten folgen, ohne eine Person der Gruppe auch nur für eine Sekunde aus den Augen zu verlieren", wies die geheimnisumwobene Langhaarige ihren Leibwächter mit freundlichen, aber klaren Worten an und bedankte sich mit einem wohlwollenden Lächeln bei dem Mann mit dem finstern Blick. Der Angesprochene nickte nur kurz und verschwand einen Augenblick später lautlos. Die Finger der Frau flogen wie Daunen im Wind über das Keyboard und das Bild auf der Leinwand wechselte zu einer Weltkarte, auf der in allen Kontinenten der Erde Markierungspunkte in unterschiedlichen Farben blinkten. In Rumänien und in Deutschland waren sie dichter gedrängt als in Lateinamerika oder in Indien und die meisten leuchteten wie die unzähligen Sterne der Milchstraße in Albanien, der Ukraine und in Russland.

 

 

***

 

 

 

Flughafen Podgorica, Montenegro

 

„War das ein toller Flug!“, schwärmte Mara, die mit Ronja und Alex aus Berlin angereist war. Nachdem sie das gesagt hatte, war sie ihren alten Freundinnen und Freunden vom Sportverein voll Freude nacheinander herzlich um den Hals gefallen und hatte jeden von ihnen ganz doll gedrückt.
„Freut ihr euch auch schon auf unseren gemeinsamen Badespaß und die herrliche Balkansonne?“, sagte Mara zu den beiden Kleinen, die sich mit ihren zwölf und dreizehn Jahren alles andere als klein fühlen wollten. „Wow, ihr seid ja richtig lang geworden“ ergänzte sie mit einem herzlichen Lachen und begrüßte auch Fatmata und Lisha, die beiden Mütter der zwei jungen Damen. Binta und Faith, die einzigen Kleinen in der bunten Truppe, fühlten sich nach Maras herzlicher Begrüßung fast wie richtige Erwachsene in die Gemeinschaft der Großen integriert und waren mächtig stolz darauf, dass sie von Mara für voll genommen wurden.
Alex, Tim, Maika, Fatmata, Binta und Faith hatten sich blitzschnell um alle Koffer gekümmert und dafür gesorgt, dass alle genau das vom Band bekommen hatten, was zu jedem von ihnen gehörte. Kurz darauf saßen sie alle verteilt auf zwei Taxis in den Autos, die sie vom Flughafen zum Resort fuhren.

„Ist es noch weit bis zum Meer?“, fragte Binta ihre Mutter Lisha. Aber bevor die ihr antworten konnte, platzte schon Faith, die Tochter von Fatmata, damit heraus, dass sie die Fahrt auf ihrem Handy mit Google Maps mitverfolge und es nur noch 83 km Autofahrt bis zur FKK-Insel seien. Kurz darauf ergänzte Faith noch, dass sie ihr Ziel, wenn nicht noch etwas Unvorhergesehenes dazwischenkam, in weniger als eineinhalb Stunden erreichen könnten.

 

***

 
„Was für eine Scheiße“, brummelte Wladimir, der fast zur gleichen Zeit wie die Truppe des provinziellen Sportvereins in Podgorica gelandet war. Er hatte noch immer einen dicken Kopf vom Vorabend und sich obendrein im Flieger mal wieder übergeben müssen. Der klapprige Bus, in dem er dann endlich nach einigem Suchen saß, rüttelte ihn bei jedem neuen Schlagloch, das sich auf der holprigen Straße fand, immer wieder aus seinem leichten Schlaf. Es war ein wirklich marodes Vehikel, in dem er saß, und es kurvte grunzend und knarzend, so lahm, wie sich ein alter Maulesel beim mühsamen Überschreiten ausgewaschener Eselsstufen vorwärts arbeitete, durch die Serpentinen und schüttelte ihn fortwährend kräftig durch. Das alte Gefährt war ihm schon vor dem Einsteigen zuwider gewesen, aber es schien ihm die einzige Möglichkeit gewesen zu sein, ohne auch noch einen Aufpreis bezahlen zu müssen beizeiten in sein Bett zu kommen.

Wie immer dachte Wladimir, die Discounter versprechen Kaviar, und wenn sie einen in ihren Klauen haben, wird man mit trockenem Brot und schalem Wasser abgespeist. Aber das war ja immer so im Leben, dachte er schon wieder voll frustriert. Genau das Gleiche wie mit den Frauen: Die wollen auch alle nur mein Bestes. Mein Geld, genau das wollen sie, sie wollen nur mein Geld.

Wladimir sinnierte so vertieft weiter, dass er weder das im Licht des Vollmondes silbrig glitzernde Meer noch den schönen Sternenhimmel am wolkenlosen Himmel über sich wahrnahm. Während er unlustig vor sich hin döste, fuhr sein Bus einige Zeit später, es war schon kurz nach Mitternacht, über einen staubigen Küstenpfad und schaukelte gemächlich auf das schöne Resort zu. Erst als sich die Türen zischend öffneten und die Türblätter von außen federnd mit lautem Krachen gegen die Karosserie unter seinem Fenster schlugen, merkte er, dass er sein Feriendomizil erreicht hatte. „Jetzt brauche ich zuerst einen doppelten Wodka“, sagte er zu sich selbst, schnappte sich seinen Rollkoffer und stürmte zur Rezeption, wo er beim Einchecken erfuhr, dass die Bar um 24:00 Uhr geschlossen worden war, dass sich in seinem Zimmer aber eine Minibar befände, aus der er sich gegen Gebühr auch nach Mitternacht nach Herzenslust bedienen dürfe. „Ein Frust nach dem anderen, das ist einfach mal wieder ein Scheißtag“, blaffte er die Frau an der Rezeption an und stapfte, ohne ihr eine gute Nacht zu wünschen, einfach davon.

 

***

 

In der Villa

 

Die Chefin ließ den Blick ihres einen echten Auges über den riesigen Bildschirm gleiten. Im Gegensatz zu dem Glasauge, das sie in ihrer anderen Augenhöhle trug, hatte sie auf diesem noch einen winzigen Sehrest in Form eines Tunnelblicks, der es ihr trotz ihrer Blindheit ermöglichte, weit in der Ferne liegende kleine Details visuell zu erfassen. Nur deshalb befand sich der riesige Heimkinobildschirm, auf dem sie gerade als Monitorersatz in die Region rund um Moskau hineinzoomte, weit entfernt am anderen Ende des Raums. Mitten in dem Geflecht von Straßen, die wie die klebrigen Fäden eines Spinnennetzes aussahen, klickte sie auf einen rot blinkenden Punkt. Zeitgleich las die Schwarzhaarige mit ihren Fingerkuppen auf der Braillezeile ihres Keyboards, das es blinden Menschen ermöglichte, sich mit dem Computer Details aus der digitalen Welt zugänglich zu machen, was den Alarm ausgelöst hatte.

„Ah, ein Sedan von Taras, dem kriegerisch und skrupellos agierenden russischen Präsidenten", brummelte sie interessiert vor sich hin, „er bewegt sich …“ Ob er selbst in dem Wagen sitzt oder ob es nur einer seiner Doubles ist, spielt für mich im Moment keine Rolle. Schon die kleinste Chance, Orlejev auf so subtile Art durch bloßes Stochern im Nebel zu erwischen, ist den Aufwand wert …, sinnierte die Blinde und aktivierte ohne zu zögern den Sprengsatz, den ihre Leute in der Staatskarosse platziert hatten. Selbst wenn ich ihn nicht gleich selbst erwische, wird es wenigstens Taras Nowikov ängstigen. Auch das ist es schon wert, die Ladung jetzt hochgehen zu lassen, und löste die Sprengung aus.

 

 

***

 

 Katerfrühstück

 

Der Frühstücksraum des Resorts glich einem luxuriösen Wintergarten. Durch die aufgeschobene Fensterfront fächelte eine kühle Brise vom Meer herein, die das romantische Brausen der Brandung mit sich in den feudal hergerichteten Raum trug. Als Wladimir kurz vor neun Uhr in der Früh in den Raum eintrat, um sein Frühstück zu sich zu nehmen, sah er zunächst nur die vielen kleinen, liebevoll gedeckten Tische, die alle blitzsauber waren, weil die meisten Gäste noch schliefen. Sein Blick konzentrierte sich nämlich sofort auf den Brunch. „Lecker“, murmelte der Russe und nahm sich den größten Teller, den er finden konnte. „Scheiße!“, schrie er auf dem Weg zu einem der kleinen Tische halblaut, als einige der Köstlichkeiten von seinem Teller auf den wasserblauen Teppich fielen, weil er sich diesen zu voll geladen hatte. Auf Kaffee hatte er verzichtet und sich stattdessen für den Sekt entschieden, der in einem silbernen Kübel, umflossen von Eiswasser, in dem Eiswürfel klirrten, als er die Flasche herausnahm, für die Gäste bereitstand. Zum Glück gab es für Leute wie ihn, die es am Vorabend nicht mehr an die Bar geschafft hatten, außer den albernen Sektflöten auch große Wassergläser, in die man sich gleich mehr von dem Sekt einschenken konnte. Erst als er schon saß, fiel ihm dann aber doch noch ein großer Tisch für zehn Personen auf, der zwar aufgeräumt aussah, aber an dem offensichtlich schon bevor er kam eine Reisegruppe ihr Frühstück vor ihm beendet hatte. Im selben Moment sah er dann aber noch einen Schatten auf die Tür zur Poolterrasse zu huschen. „Wow, eine schwarze Schokoschnitte“, japste Wladimir und heftete seinen Blick an Lishas süßen Po, der nur von einem weißen Bikinistring umhüllt war. Die Teenagerin, die ihre schwarze Mutter hinter sich herzog und es offensichtlich sehr eilig hatte, nach draußen zum Pool zu kommen, beachtete er zunächst überhaupt nicht. Erst als ihm der alberne Ball, den die Kleine immer wieder in die Luft warf, um ihn danach wieder aufzufangen, auffiel, hatte er ganz spontan eine Idee für einen dummen Spruch, mit dem er die beiden dann auch gleich anquatschte. „Ein Ball mit einem Glöckchen drin?“, schrie er verächtlich lachend durch den Speisesaal. „Dafür bist du doch schon viel zu alt.“, aber weder die Mutter noch ihr Kind beachteten ihn und verschwanden wortlos nach draußen. Aus dem Pool drang ein zunehmend lauter werdendes Platschen und Jauchzen durch die offene Tür herein. „Plantschen, Badespaß, wie bäh ist das denn“, nuschelte Wladimir schon wieder frustriert vor sich hin. Dann aß er noch ein paar Happen von dem Speck, den er vorher in die aufgestochenen Dotter seiner Spiegeleier getaucht hatte, und schüttete den Sekt aus dem großen Wasserglas auf Ex hinterher. Während die viele Kohlensäure noch in ihm rumorte, stand er dann schneller, als er das vorgehabt hatte, auf, rülpste und ging. Den restlichen Berg der vielen unangetasteten leckeren Speisen, die er sich völlig unnötig auf seinen Teller geladen hatte, ließ er einfach stehen. „So ein beschissener Morgen“, sagte er halblaut. Kein Wunder, dass einem hier der Appetit vergeht.

 

 

***

 

 Im Pool

 

Lisha und Binta waren die letzten der großen Sportgemeinschaft, die sich heute im Pool zu ihrem ersten Spiel einfanden. Das Spiel, das sie statt des sonst üblichen Frühsports immer dann gerne zusammen spielten, wenn sie einen Pool zur Verfügung hatten, war eine Art Wasserball. Der Pool in der Anlage war sogar viel größer als der viel kleinere Tauchsportpool, den sie sich bei sich zuhause auf dem Gelände des Sportvereins zusammen mit den Rettungsschwimmern des DLRG teilen mussten, die dort auch immer trainierten. „Oh, ich muss nochmal schnell rauf zu unserem Zimmer“, rief Binta, kurz bevor Mara anspielen wollte. „Ich hab mein Kopfband vergessen, bin aber gleich wieder zurück.“
„Lass dir Zeit, Binta“, rief ihr Mara nach. „Wir wollten uns doch eh erst nur zur Gaudi ein bisschen warmspielen. Noch ein paar Minuten länger locker im herrlichen Wasser zu plantschen, um den schönen Urlaub zu genießen, kann nicht schaden, bevor wir mit unserem ersten richtigen Spiel beginnen und mit unseren Mannschaften ernsthaft um Punkte ringen.“

***

 

„Wie soll ich denn hier trainieren, mit dem ganzen blöden Volk im Wasser?“, fragte sich Wladimir, als er zum Pool kam. Mürrisch sah er, dass es im Becken von dem Badespaß der bunten Truppe so brodelte, als wäre es mit siedendem Wasser gefüllt und, angeheizt von der Freude der Badenden, im wahrsten Sinne des Wortes so aussah, als ob es tatsächlich kochen würde. Kurz bevor er sich umdrehen und weggehen wollte, um der Bar einen frühen Besuch abzustatten, hielt er dann plötzlich inne. Gerade noch rechtzeitig glaubte er, den Schatten seiner Schokoperle wiederentdeckt zu haben, die offensichtlich die ganze Zeit abgetaucht über den Grund des Beckens tauchte. Er trat näher, ganz nah bis an den Beckenrand, und runzelte die Stirn. „Wieso sieht die denn plötzlich wie ein Fisch aus?“, fragte sich der Russe selbst und wollte gerade herausfinden, was das für Flossen waren, mit denen sie ihren Oberkörper so flink wie ein Hai durch das tiefe Wasser steuerte. Aber dann fiel ihm Maikas silberner Rollstuhl neben dem einen Leiterchen auf und lenkte ihn von Neuem ab. „Oje, so viel habe ich heute doch noch gar nicht getrunken“, sprach er wie in Trance zu sich selbst, nachdem er sich die Badenden genauer angesehen hatte. Zuerst dachte er, das, was er hier sah, seien Halluzinationen. Alle im Becken trugen die gleichen Kopfbänder, deren Regenbogenfarben in der Morgensonne wie bunte Schmetterlinge über dem glitzernden Wasser des Pools hin und her zuckten. Dann sah er, dass es sogar zwei Schokoperlen im Becken gab und dass eine von den beiden, nämlich die, die jetzt senkrecht vom Grund hinauf durch die Wasseroberfläche hinderschoss, wirklich nur noch zwei Stummelflossen statt normaler Arme an ihren Schultern hatte. Aber bevor er sich, so geschockt wie er war, abwenden konnte, spürte er einen Schubs in seinem Rücken, der ihn so aus dem Gleichgewicht brachte, dass er völlig unvorbereitet vornüber in den Pool purzelte und mit einem Bauchplatscher unsanft zwischen den Badenden im Wasser landete.

 

***

 

„Binta! Nein! …“, schrie Fatmata entsetzt, als sie sah, dass die Freundin ihrer Tochter einen wildfremden Mann zu ihnen ins Becken geschubst hatte.
„Warum nein, Mama?“, mischte sich Faith ein und sagte: „Wenn er gaffen kann, muss er auch mitspielen wollen, sonst ist er ein Spielverderber.“
„Wie gaffen? …", fragte Lisha und rief Binta mit einem strengen Ton, der keine Widerrede duldete, zu sich.
„Alles ok?“, fragte Marc, der sein Kopfband wie alle anderen auch so trug, dass es die Augen aller, wie Augenbinden bei blindekuhspielenden Kindern, überdeckte, den Fremden. Im selben Moment wie Alex und Tim war er auch mit wenigen kräftigen Zügen zu dem Mann, der ins Wasser geschubst worden war, hingeschwommen, um den kleinen Zwischenfall als einen nicht böse gemeinten Mädchenstreich herunterzuspielen.
„Ok? Sie sind ja wirklich lustig … Eigentlich wollte ich nur ein bisschen trainieren. Aber sie waren ja schon vor mir da“, stammelte Wladimir und starrte dem Muskelprotz, denn als solchen nahm er Marc wahr, auf das ihm albern vorkommende Kopfband, dessen Sinn er nicht verstehen konnte.

„Das trifft sich gut, wir wollten auch gerade mit unserem Training anfangen, genauer gesagt mit einem Spiel. Das Spiel, das wir spielen wollen, trainiert sogar noch mehr Muskelgruppen als das öde Bahnenziehen auf Zeit. Außerdem ist es kurzweiliger und macht dazu noch sehr viel Spaß“, sagte Marc freundlich, mit einladender Stimme, zu dem Unbekannten, der auch Leistungssportler zu sein schien.
„Ein Spiel?“, fragte Wladimir zweifelnd.
„Ja, es ist eine Art Wasserball. Wir spielen es mit Augenbinden, damit alle mit ähnlichen Chancen mitspielen können.
„Mit Augenbinden?“, fragte Wladimir verstört. „Ich versteh’ nicht, wie eine ohne Arme, nur weil sie ’ne Augenbinde trägt, plötzlich einen Ball fangen können sollte?“
„Wollen wir wetten, dass du Probleme damit bekommen wirst, Fatmatas‘ Kopfbälle zu halten?“, sagte Marc und streckte dem Fremden freundlich seine rechte, nasse Hand hin. „Ich heiße Marc.“
„Wladimir!“, sagte der Russe kernig und schlug laut hörbar ein, während er noch leise vor sich hinmurmelte: „Vielleicht doch kein so ein Scheißtag wie gestern.“

Nach dem dritten Seitenwechsel hörte er dann plötzlich ein Geräusch, das im ersten Moment wie ein sehr harter Aufschlag klang, der von der gegnerischen Mannschaft ausgeführt wurde. Im selben Moment wurde ihm bewusst, dass es gar kein Aufschlag sein konnte, weil sich der Ball noch im Spiel befand. Das Klingeln des Glöckchens verhallte in Bruchteilen von Sekunden und verwandelte sich urplötzlich in ein unheilvolles Zischen, das die Flugbahn des Balls ankündigte, der unerwartet wie eine Granate auf ihn zuschoss. Wladimir fiel nichts Besseres ein, als sich wegzuducken und für einen Moment unter die sichere Wasseroberfläche abzutauchen. Marc, der sich auf ihn verlassen hatte, verlor deshalb aber seine Deckung. Das konnte Wladimir in diesem Moment aber schon deshalb nicht realisieren, weil er Probleme damit hatte, sich blind die Position aller Mitspieler seiner Mannschaft zu merken. Nur deshalb erwischte der Ball, den Fatmata in das Spielfeld der gegnerischen Mannschaft herübergeköpft hatte, Marc mit voller Wucht am Kopf und riss diesem nicht nur seine Augenbinde vom Kopf. Als Wladimir wieder auftauchte, bemerkte er sofort, dass das Spiel unterbrochen worden war und sich ein kleiner Tumult entwickelt hatte.
„Was ist denn passiert?“, rief der Russe und riss sich seine Augenbinde vom Kopf.
„Fatmata hat Marc voll abgeschossen, weil er deinetwegen seine Deckung verloren hat“, keifte Binta, die sich wegen des Zwischenfalls auch ihre Augenbinde vom Kopf genommen hatte, Wladimir an. Der Russe war zwar noch vom grellen Licht der Sonne geblendet, aber er konnte trotzdem schemenhaft sehen, dass der Hüne Marc plötzlich wie ein Monster aussah. Da, wo er Marcs Augen erwartet hatte, war nämlich nur vernarbtes Gewebe zu sehen, aus dem silberne Metallstifte herausragten.
„Hier, Marc, deine Epithese“, sagte Alex, der im selben Moment vor Marc aus dem Wasser herausschoss, nachdem er das protetische Kunstwerk, das nach einem schweren Motorradunfall ein Teil von Marcs Gesicht geworden war, vom Grund des Beckens heraufgetaucht hatte.

„Danke“, sagte Marc und klebte sich sein Silikongesicht wieder mit einem leisen Klacken auf die Magnete, die offensichtlich nicht stark genug für ein so hartes Spiel im Rahmen eines anspruchsvollen Wassersporttrainings waren.
„Ich kann nicht mehr …“, keuchte Wladimir drei Stunden später und schleppte sich mit letzter Kraft zu dem Leiterchen, neben dem noch immer Maikas Rollstuhl stand. Die Sonne blendete ihn plötzlich so grell, dass er sich jetzt selbst fast so blind wie Marc fühlte, nachdem er sich seine Augenbinde endlich wieder abnehmen durfte. Alles war auf einmal so gleißend hell, dass er jetzt auch ohne das bunte Kopfband, das er während des kompletten Trainings bis auf den Zwischenfall mit Fatmatas Kopfball tapfer getragen hatte, fast nichts mehr sehen konnte.
„Doch schon wieder ein weiterer beschissener Tag“, brummte er und gab sich alle Mühe, damit er sich, so hilflos, wie er sich in diesem Moment fühlte, wenigstens nicht auch noch vor anderen blamierte.

 

***

 Am Strand

 

„Hey, nicht so wild, das ist doch kein Strandsegler“, rief Maika, die von ihren Freunden wie in einem römischen Streitwagen mit einem Affenzahn über den Sand gezogen und geschoben wurde. Sie waren alle splitternackt in Richtung Brandung unterwegs und Maika saß in einem Baderolli, der mit großen Ballonrädern ausgestattet war. Die Sonne stach mit gleißend grellem Strahlen auf die badelustige Gruppe nieder, die ihre Sachen einfach in den Sand fallen ließ, um sich sofort in die schäumenden Wellen zu werfen. Die Abkühlung tat allen gut, und sie jauchzten und kreischten vor Vergnügen, bis sie zu frieren begannen und sich danach sehnten, es sich auf ihren Decken oder direkt im feinen Sand gemütlich zu machen.

„Dieser Wladimir kommt mir irgendwie komisch vor. Es ist nichts Konkretes, nur so ein Bauchgefühl …“, sagte Mara, zu deren besonderen Stärken die Wahrnehmung von nonvisuellen Auffälligkeiten gehörte, während sie Ronja liebevoll deren Rücken eincremte.
„Ja, er hätte sich bei Marc entschuldigen müssen. Anstand hat er auf jeden Fall nicht. Ein Russe halt …“, warf Maika dazu ein. Ihr Kopf lag auf Marcs Bauch und sie reckte dabei, auf dem Rücken liegend, ihre Arme so weit nach hinten, bis sie den heißen Sand erreicht hatten.
„Schön siehst du aus“, sagte Marc, dessen Hand dabei den Ansatz von Maikas Busen umrundete, und fügte noch an, dass er keine Entschuldigung dafür erwarte, weil es eben nur ein Spiel gewesen sei. Darüber hinaus müsse man berücksichtigen, dass Wladimir damit keine Übung hatte, sich so wie sie das Spiel spielten so gut wie die anderen Mitspieler orientieren zu können. Deshalb müsse man auch besonders würdigen und ihm zugutehalten, dass er überhaupt mitgespielt hatte.
„Außerdem war es ja auch ich und nicht er gewesen, die Marc abgeschossen hat“, bemerkte Fatmata und sagte noch: „Er kommt mir irgendwie einsam, nein, nicht einsam, eher einzelgängerisch als einsam vor. Vielleicht wirkt er nur deshalb komisch, weil er keine guten Freunde hat. Ich glaube, er ist als Single hier.“
„Der ist nicht nett ... Binta hat mir erzählt, wie blöd er sie und Lisha wegen unseres Balles angelabert hat“, blaffte Faith dazwischen, drehte sich im weichen Sand auf den Bauch und stemmte sich mit ihren Ellenbogen so auf, dass sie jeden, der sich an dem Gespräch beteiligte, besser sehen konnte.
„Ach, das war nur ein dummer Spruch. Männer halt …“, sagte Fatmata und fuhr fort: „Spruch hin oder her … Ich finde ihn gar nicht so übel, und sportlich ist er auch.“
„Ja klar, voll der faire Sportler …", zischte Faith und schnitt dazu eine Grimasse.
„Wo ist der eigentlich hin nach dem Spiel?“, fragte Lisha, drehte ihren Kopf in Fatmatas Richtung und fragte: „Sieht er gut aus?“
„Mama!“, schrie Binta entsetzt und setzte sich ruckartig auf. „Der Typ ist ein Macho, der keinen Respekt vor Frauen hat. Was spielt es da noch für eine Rolle, wie er aussieht?“
„Komm her, Süße, und lass dich nicht immer so schnell von Vorurteilen leiten“, sagte Lisha und breitete einladend ihre Arme aus.
„Nein Mama, ich brauch jetzt erstmal wieder eine Abkühlung“, sagte Binta bockig zu ihrer Mutter und danach ganz knapp zu Faith: „Kommst du mit ins Wasser?“

 

 

***

 

An der Bar

 

„Endlich mal offen?“, sagte Wladimir zu der jungen Frau mit den schönen langen schwarzen Haaren, die um diese Zeit selten Gäste mit harten Sachen oder mit alkoholischen Cocktails versorgen musste.
„Von zwölf Uhr mittags bis vierundzwanzig Uhr in der Nacht ist die Bar geöffnet, das sind zwölf Stunden. Was möchten sie denn gerne trinken?“, fragte sie mit einem kühl, aber freundlich wirkenden Lächeln den frühen Gast und ließ dabei ihr Handy dezent unter dem Bartisch verschwinden.
„Wirklich zwölf Stunden? Was du nicht sagst. Hast du O-Saft und Wodka da?“, brummte Wladimir mit seinem dumpf klingenden russischen Bass etwas mürrisch.
„Wodka-Orange, aber gerne“, sagte die junge Frau und bückte sich zu dem Kühlschrank, der unter der Theke untergebracht war, hinunter, um den Glaskrug mit dem frisch gepressten Orangensaft für den frühen Besucher heraufzuholen.

„Mehr Wodka …!“ blaffte der Russe und wippte mit Faust und Daumen nach unten, bis das große, schlanke Glas fast halb mit dem hochprozentigen Schnaps gefüllt war. Dabei starrte er der Frau, die oben nur ein weites, etwas tiefer ausgeschnittenes schwarzes Tanktop mit einem V-förmigen Ausschnitt zu einer engen, sehr kurzen weißen Hotpants trug, völlig ungeniert auf ihr De­kolle­té. Schon kurz vorher, als sie sich hatte bücken müssen, um den gekühlten Orangensaft für ihn heraufzuholen, hatte er ihr schon völlig ungehobelt und absolut frech in ihren Ausschnitt gestiert.
„Stopp, nicht zu viel Saft, mach noch Eis rein, dann ist gut“, sagte er gelangweilt und lümmelte sich so hin, dass klar war, dass er jetzt mit Konversation unterhalten werden wollte.
„Für dich auch!“, sagte er, als sie ihm sein Glas hinstellte. Es schien seine Art zu sein, sich nicht ordentlich für etwas zu bedanken, wenn er es nicht für nötig befand, sich etwas mehr anzustrengen.
„Ich darf nicht, aber ich trinke gerne einen Espresso mit ihnen“, sagte die Schwarzhaarige, die schöne große dunkle Augen hatte, brav zu ihrem frühen Gast. Einen kurzen Moment später griff dieser dann wortlos nach seinem Glas, das er daraufhin mit dem ersten Zug gleich halb leer trank.
„Kaffee ist auch nix für Leute, die noch zu jung zum Alkoholtrinken sind“, sagte er, wischte sich mit seinem haarigen Unterarm den Mund ab und schob seiner Gesprächspartnerin sein leeres Glas wieder hin, „… Füll nochmal auf.“
„Alkohol erlaubt uns unser Glaube nicht“, sagte die Cocktailmixerin und bückte sich erneut nach dem Orangensaft.

„Ach ’ne, aber freizügig mit den Titten schaukeln ist erlaubt?“, lachte der Russe auf. Dazu hatte er auch noch seinen rechten Arm ausgestreckt und der Hotelangestellten mit seinem Zeigefinger genau in deren Ausschnitt hinein zwischen ihre kleinen Brüste gedeutet. Der Busen der nach vorne geneigten Frau war, weil sie keinen BH trug, splitternackt und hing gut einsehbar von oben nach unten in dem leichten Shirt herunter. Das schien der Gläubigen jedoch nicht das geringste auszumachen, weil es ihr offensichtlich selbst gefiel, sich so natürlich zu zeigen, wie Gott sie geschaffen hatte. „Aber ja, warum soll das denn verboten sein? Hier gehen ja mittlerweile auch die meisten der jungen Einheimischen, also auch die aus unserer früher unvorstellbar konservativ geprägten Gesellschaft, so wie Gott unsere Körper geschaffen hat, nackt zum Baden. Gerade in einer Umgebung, in der sich außerhalb der Gebäude eh alles nackt abspielt, sollte, so dachte ich, dieser Einblick nicht wirklich die Gäste irritieren, oder?" Während sie das sagte, deutete sie sich jetzt selbst mit ihrem eigenen Zeigefinger vorne auf ihr Shirt auf die Stelle, unter der ihr Busen jetzt wieder vom Stoff bedeckt war. „Oder halten Sie das für unmoralisch?“, sagte die Frau und schob ihm seinen nächsten Drink über den Tisch. „Ich hoffe, es ist genug Wodka drin. Wenn sie noch einen weiteren Schuss dazu haben wollen, ist das kein Problem."
„Danke“, sagte der Russe auf einmal viel freundlicher als vorher. Irgendwie fing er sich langsam doch an, wohlzufühlen. Das lag vielleicht daran, weil man ihn hier so nahm, wie er war, oder es lag daran, dass der Alkohol langsam wirkte. Der stimmte ihn immer sanftmütig, außer er fühlte sich gereizt, dann schlug er auch gerne mal schneller als nötig mit seinen Fäusten zu. Vor allem dann, wenn er genug getrunken hatte, war das halt manchmal dann so.
„Bitte, sehr gerne. Meine Frage möchten sie lieber nicht beantworten, oder?“, sagte die Barmixerin höflich und nippte an ihrer winzigen Espressotasse, die sehr dickwandig war und massiv aussah.
„Pah, Moral, die stecken euch doch nur alle in Burkas, dass die Männer nicht sehen können, was ihr zu bieten habt“, sagte Wladimir und trank wieder einen großen Schluck. „Viel zu verstecken hast du ja eh nicht“, schob er dann noch hinterher und feixte dazu so, als hätte er seiner Gesprächspartnerin gerade ein schönes Kompliment gemacht.
„Oh, das tut mir leid, ich wollte auf keinen Fall ihre Augen beleidigen“, antwortete sie ihm völlig gelassen, nahm sein leeres Glas und bückte sich wieder, genauso wie die beiden vorausgegangenen Male auch das dritte Mal nach dem Orangensaft.
„Danke“, sagte Wladimir jetzt noch weicher, „ach was, ist doch auch Geschmackssache, ich wollte dich ja auch nicht beleidigen und du kannst ja auch nichts dafür, dass du nur so kleine Titten abbekommen hast.“
„Ich bin auch nicht traurig darüber oder gar unzufrieden, weil mir mein Mann ganz oft zu verstehen gibt, wie sehr er mich so mag, wie ich bin“, sagte sie zu ihrem Gast. Im selben Moment, in dem sie das sagte, schob sie ihm mit einem ehrlichen, gelösten Lächeln, das etwas verträumt wirkte, einen weiteren Cocktail über die Theke.
„Du bist schon verheiratet?“, fragte Wladimir so, dass die Dunkelhaarige, die offensichtlich viel jünger aussah, als sie tatsächlich war, eine gewisse Enttäuschung aus der Mimik auf seinem Gesicht erkennen konnte.
„Ja, aber erst seit etwas mehr als zwei Jahren. Vor dem Kinderbekommen wollte ich erst noch mein Bachelorstudium beenden“, erzählte sie Wladimir weiter, um ihn, der offensichtlich menschliche Nähe suchte, nicht noch mehr zu frustrieren.
„Was hast du denn studiert? Etwas Nützliches kann es ja nicht gewesen sein, wenn du hier noch an der Bar malochen musst“, sagte er mit einem mitleidigen Unterton in seiner Stimme und merkte, dass er langsam müde wurde.
„Mir hat mein Psychologiestudium viel Spaß, aber auch viel Arbeit gemacht, und nützlich ist es vor allem dann, wenn man mal unglücklich ist. In gewissen Grenzen kann man sich dann sogar auch selbst besser helfen. Mir ist es zum Beispiel nicht leichtgefallen, als ich von meinen Eltern Abschied nehmen musste, aber ich habe es mittlerweile geschafft, mein Gleichgewicht wiederzufinden. Möchten sie noch einen weiteren Cocktail?“, fragte die Frau mit dem glücklichen Händchen für schwierige Gäste und griff nach dem leeren Glas.
„Psychologin? Als Barmixerin verdienst du doch hier nix …?“, sagte Wladimir, stand auf und kratzte sich träge am Hinterkopf. „Nein danke, jetzt keinen Drink mehr … „Ich mache jetzt Mittagsschlaf.“
„Ich mache das hier ja nicht nur wegen des Geldes, sondern weil ich meine Gäste kennenlernen und mich so um sie kümmern will, dass sie gerne wiederkommen. Und das geht nur, wenn ich mit ihnen rede“, sagte die Schwarzhaarige und lächelte den Russen entspannt an.
„Deine Gäste?“, fragte der Russe stirnrunzelnd.
„Ja, ich habe von meinen Eltern leider viel zu früh, aber das ist nun mal nicht zu ändern, dieses Resort geerbt. Mein Mann ist gelernter Koch. Früher hat er in den besten Hotels gekocht und heute kocht er für unsere kleine Tochter, unsere Gäste und für mich. Wir sind beide sehr glücklich darüber, dass wir hier so zusammenleben und auch zusammenarbeiten können. So können wir auch beide die Entwicklung unserer Tochter miterleben und sie gemeinsam fördern und erziehen. Das Leben kann echt schön sein, aber man muss eben was daraus machen. Schlafen Sie gut, die schönsten Plätze zum Dösen finden sie hier links um die Ecke. Die Sonnenterrasse ist natürlich auch textilfrei, aber dort ist es nicht so laut wie am Pool“, sagte die Hotelbetreiberin zu ihrem Gast und schenkte ihm noch ein Lächeln.

 

***

 

Im Wasser

 

„Komm, Binta, jetzt entspann dich doch einfach in den schönen Wellen und lass dich wiegen“, sagte Faith zu ihrer Freundin.
„Ach, Faith, das sagst du so einfach. Das ist nicht so einfach mit einer blinden Mutter, die immer meint, sich alles nur gefallen lassen zu müssen. Ich kann doch auch nichts dafür, dass sie nichts sehen kann. Aber das ist ja noch nicht das Schlimmste. Das Schlimmste ist, dass sie meint, dass ich mich auch so seicht verhalten soll, wie sie es immer tut, wenn andere blöd zu uns werden. Ich habe einfach keinen Bock darauf, dass ich mich nicht wehren soll, wenn jemand, der so wie dieser schmierige Russe drauf ist, seine Grenzen nicht einhalten will.“
„Hey, komm …“, sagte Faith, Fatmata ist genauso, sie fühlen sich eben als Menschen zweiter Klasse. Sei doch froh, dass du mehr Glück gehabt hast als deine Mutter und wenigstens eines deiner beiden Augen noch rechtzeitig gerettet werden konnte.“
„Klar bin ich froh, dass ich noch sehen kann“, gab Binta ihrer Freundin zur Antwort und sagte: „Ich bin mit meinem einen Glasauge ja auch nicht wirklich eingeschränkt, aber genau das ist eben das Problem, das Lisha nicht verstehen will. Schau mal, Mara hatte als Kind auch ein bilaterales Retinoblastom, aber die ist, obwohl sie sogar schon als kleines Mädchen ebenfalls völlig erblindet ist, auch nicht so einfältig wie unsere beiden Mütter drauf.
„Siehst du“, sagte Faith, „das ist ja genau das, was ich dir sagen will: Es liegt nämlich gar nicht an der Beeinträchtigung, sondern daran, wie wir als Betroffene damit umgehen. Es liegt nur am Selbstbewusstsein, das sagen Maika und Marc ja auch immer.
„Du hast gut reden, weil du nicht selbst betroffen bist. Du hast ja selbst auch nichts, genauso wenig wie Alex und Tim, die sind ja auch normal“, blaffte Binta ihre Freundin an.
„Ja, das stimmt, ich hab selbst auch nichts. Aber egal, wo ich mit meiner armlosen Mutter aufschlage, bin ich auch immer gleich mit abgestempelt, sagte Faith und sprach gleich nach einer großen Welle weiter. „Außerdem hast du eben noch gesagt, dass du dich selbst ja auch als eine Normale siehst. Ist es nicht so, dass wir von Leuten, die uns nicht kennen, alle zuerst in den gleichen Sack gestopft werden?“ Alex und Tim bekommen die gleichen schrägen Blicke wie wir zugeworfen, wenn sie mit uns zusammen gesehen werden, deshalb müssen wir uns ja selbstbewusst unserer Haut wehren und gemeinsam gegen Vorurteile und Ausgrenzung kämpfen.

„Hm …, kann ja sein, dass du recht hast“, sagte Binta und grübelte darüber, wie sie wohl geworden wäre, wenn das Gen, das sie von ihrer Mutter erbte, so wie bei Lisha und bei Mara auch bei ihr beide Augen krank gemacht hätte. Da hat Faith absolut recht … Mit einem entfernten Auge bin ich ja nicht blind und auch nicht wirklich behindert, so wie meine Mutter, die, so wie Mara, auch beide Augäpfel entfernt bekommen musste, weil sie rechts und links verkrebst war. Aber Mara ist auch als Blinde trotzdem ganz anders. Sie lässt sich ja trotz ihrer Einschränkung auch von niemandem auf der Nase herumtanzen …

„Wer zuerst bei den anderen zurück am Strand ist, hat gewonnen!“, sagte sie blubbernd, weil sie, bevor sie den Satz fertig gesprochen hatte, schon mit ihrem Kopf unter Wasser war und so schnell sie konnte losschwamm.

 

***

 

Auf der Sonnenterrasse

 

„Der jungen Schlampe mit den behinderten Titten geht es viel besser als mir“, sagte Wladimir zu sich selbst, als er die Sonnenterrasse betrat und eine der vielen Liegen ansteuerte, die größtenteils im Halbschatten unter Strohschirmen aufgestellt waren und dort auf Gäste warteten. Die hängt gemütlich an ihrer Bar herum und hat nicht mehr zu tun, als Leuten, die wie ich malochen müssen, ihr sauer verdientes Geld aus deren Taschen zu ziehen, dachte er, während er sich, so wie er gekleidet war, auf die Liege plumpsen ließ, die er sich ausgesucht hatte.
„Hey, ist das hier nicht auch ein textilfreier Bereich?“, rief ihm eine ältere Dame freundlich zu, die gerade ihre Zigarette in einem Aschenbecher ausdrückte, der neben ihrer Liege auf einem kleinen Tisch stand.
„Willst wohl bisschen gaffen, Schnecke?“, rief er der Frau zu, die sich daraufhin wortlos umdrehte, und streifte sich seine Badehose ab. „Ich hab nichts zu verbergen“, sagte er erwartungsvoll und gab sich frustriert, als er merkte, dass sie die Unterhaltung mit ihm schon wieder eingestellt hatte, bevor sie richtig begonnen hatte. Der Rauch, der zu ihm herübergezogen war, hatte ihm Lust auf eine Zigarette gemacht, aber dass er die Alte jetzt nicht mehr erfolgreich um eine Kippe anbetteln brauchte, war selbst Wladimir klar. Kurz darauf döste er auch ein. Es war aber kein richtiger Schlaf. Im Halbschlaf musste er zwischen Traum und Wirklichkeit immer wieder an die Reisegruppe denken, die sich mit drei Krüppeln, einer Armlosen, einer Gelähmten und einem Blinden, der nicht mal mehr Augen im Kopf hatte, vergnügte. Eigentlich alles richtig nette junge Leute, dachte er. Sogar die Krüppel, die nicht mal neidisch auf mich waren, weil ich selbst kein Gebrechen habe, waren nett zu mir, träumte er unruhig weiter. Die waren sogar gegenüber einem Fremden wie mir genauso nett wie zu den anderen Normalen, mit denen sie sich umgaben, und benahmen sich dabei einfach so, als ob sie so normal wie wir seien, grübelte er. Dann kam ihm eine Idee. Vielleicht sollte er es einfach auch so wie die Kleintittige es mit ihm an der Bar gemacht hatte, mit ihnen probieren. Die hatte ihm ja auch nur Freundlichkeit vorgespielt, weil sie etwas von ihm wollte. Das Dumme war nur, dass er wegen des blöden Kopfbandes, zu dem sie ihn als Preis für das Mitspielen gezwungen hatten, von den Normalen unter ihnen so gut wie überhaupt nichts wusste. Aber diese Mara … Er versuchte, sich an sie zu erinnern. Möglicherweise war das die mit den schulterlangen blonden Haaren. Die wäre genau die Richtige für ihn. Die wäre sogar noch besser als die armlose Schokomaus. Die Stimme von der Blonden hatte er noch genau im Ohr. Das war diese Stimme, die so energiegeladen und sympathisch war, dass er die scharfe Braut am liebsten gleich abgeschleppt hätte. Aber so sehr er sich bemühte, konnte er sich nur an eine schemenhafte Silhouette erinnern, die ihn angemacht hatte, bevor er das Kopfband aufsetzen musste. Vielleicht lag es daran, dass die Sonne ihn, als er wieder halbwegs normal sehen konnte, noch für eine Weile schneeblind gemacht hatte. Er träumte davon, dass er noch einmal an den Pool zurückgegangen sei, der dann aber leer gewesen sei und die Gruppe ohne ihn zum Baden an den Strand verschwunden sein könnte. Plötzlich ängstigte ihn das Alleinsein und dass alle Bilder, die er in seiner Erinnerung suchte, wie ausgelöscht waren und nur noch die Geräusche da waren, die sich während des stundenlangen Blindseins in seinem Kopf festgesetzt hatten. Bestimmt waren sie ihm schon davongelaufen gewesen, bevor er wieder alle Details sehen konnte. „Die machen auch nur auf sozial und sind genauso egoistisch wie alle anderen Menschen auch", hörte er seine innere Stimme zu sich sprechen und dachte während des Aufwachens: Sonst hätten sie ja auf mich gewartet und mich auch zum Baden an den Strand mitgenommen.
„Einen schönen Tag noch für sie“, rief Wladimir, um eine nette Sprachmelodie bemüht, der älteren Dame zu, nachdem er sich entschlossen hatte, die Sonnenterrasse zu verlassen und lieber noch ein bisschen in seinem Zimmer zu verschwinden.
„Danke“, antwortete die Frau überrascht, die gerade ihre nächste Zigarette am Ausdrücken war, als Wladimir sich schon zum Verlassen der Ruhezone anschickte.
„Verzeihen Sie mir bitte, dass ich mich zunächst im Ton vergriffen hatte, das war nicht böse gemeint“, sagte Wladimir mit einer für ihn selten sympathischen Sprachmelodie.
„Schon gut, ich sah ja, dass sie direkt von der Bar kamen, an der sie sich zu früher Stunde vielleicht etwas zu lange aufgehalten hatten“, schmunzelte die Frau und griff nach ihrem Zigarettenpäckchen. „Möchten sie auch eine?“
„Oh, wie liebenswürdig, aber danke, nein. Ich bin Leistungssportler“, sagte er schnell, winkte ihr freundlich zu und verschwand mit seiner Badehose in der Hand durch die Tür ins Wohngebäude.

„Würde es ihnen etwas ausmachen, im Gebäude ihre Badehose zu tragen?“, hörte er kurz darauf wieder die Stimme der Hotelbesitzerin, die jetzt, wo sie ihn tadelte, nicht mehr so warmherzig wie vorher, sondern eher freundlich kühl klang.

„Oh, Verzeihung, ja natürlich“, sagte er schnell und schlüpfte durch die Tür, durch die er gerade gekommen war, zurück auf die Sonnenterrasse, um sich, wie sich das gehörte, vor dem Betreten des Gebäudes wenigstens mit Badesachen zu bekleiden. Dabei dachte er sich: Oje, da schaukelt sie zahlenden Gästen wie mir ihre dünnen Schlauchtitten nackt vor der Nase herum und furzt mich dann noch dumm an, nur weil ich ihr mal einen ordentlichen Männerschwanz gezeigt habe. Alles Neid. Jetzt wird es echt Zeit, dass ich in meinem Zimmer etwas zocke, um mich abzureagieren, dachte er und stürmte auf die Treppe zu.

 

 

***

 

In der Sauna

 

„Wow, so ein ganzer Tag im Wasser, zuerst das Spiel im Pool, dann die salzige Brandung und fast die ganze Zeit in der prallen Sonne, das schlaucht zwar, aber es tat auch richtig gut“, sagte Mara.

„Da ist so ein Saunagang zum Abschluss vor dem Abendessen genau richtig zur Entspannung“, sagte Marc, klickte sich seine Silikonepithese von den Magneten, die ihm Gesichtschirurgen nach seiner Genesung in seinen Schädelknochen verankert hatten, und reichte seine künstliche Gesichtspartie Maika. Maika wickelte ihrem Freund den Frotteeschal, den sie ihm extra für das Saunieren genäht hatte, locker um seinen Kopf. So konnte er gut atmen und der heiße Dampf kam nicht in direkten Kontakt mit den Schleimhäuten, die wegen seiner fehlenden Nase sonst schutzlos offen gelegen hätten. Mara, Lisha und Binta verstauten ihre fünf Glasaugen in drei kleinen Döschen und griffen zu denselben regenbogenfarbenen Kopfbändern, die sie auch schon während ihres Wasserballspiels getragen hatten.

Kurz darauf machte Mara den ersten Aufguss und noch bevor das Zischen verklungen war, atmeten alle genussvoll durch. Nur Tim reagierte etwas verunsichert darauf, dass sie und die anderen beiden, die ihre Glasprothesen aus ihren Augenhöhlen herausgenommen hatten, sich auch so ähnlich wie Mark vermummt hatten.

„Habt ihr mit euren Augen plötzlich auch Probleme mit dem heißen Dampf?“, fragte er, der die drei Sportsfreundinnen zu Hause im Sportverein immer nur ohne Kopfbinden in der Sauna angetroffen hatte.

„Mit dem Dampf nicht“, antwortete ihm Lisha, „aber mit der Hitze. Die 110 °C, die hier eingestellt sind, mögen zwar bei so hohen Außentemperaturen als eine Art Kontrast gut passen, aber so aufgeheizt in den Holzbotich mit dem eiskalten Wasser einzutauchen, kommt nicht gut für Körperteile, die nicht angewachsen sind. Hinzu kommen die Blicke fremder Leute, denen wir vielleicht erklären müssten, warum wir unsere Prothesen aus dem gleichen Grund wie andere ihre Halskettchen oder auch wasserdichte Uhren mit wärmeleitenden, metallenen Armbändern vor dem Saunagang besser auch ablegen sollten. Die Kopfbänder nehmen wir hier nur deshalb, weil wir niemanden von den anderen Gästen erschrecken wollen. Bei euch ist das was anderes. Vor euch haben wir ja keinen Grund, etwas zu verbergen, solange wir unter uns sind.

„Dann brauchen wir noch mehr Dampf“, sagte Fatmata und griff mit ihren Zehen geschickt nach der Holzkelle, die sich in einem hölzernen Eimer befand, der mit kaltem Wasser befüllt worden war. Der Sud war mit einem ätherischen Öl versetzt, das intensiv nach Eukalyptus roch, und Fatmata fügte mit einem schelmischen Grinsen hinzu: „Anders als im dichten Nebel kann ich meine fehlenden Arme nämlich nicht vor fremden Blicken verbergen."

Maika kuschelte sich indes an Marc und keiner störte sich daran, dass sie in der Sauna am liebsten quer auf seinem Schoß saß. Dabei schlang sie ihre Arme immer gern um seinen Hals, weil sie so genauso bequem wie die anderen sitzen konnte, die ihre Körper aufrecht auf untergelegten Handtüchern ohne fremde Hilfe selbst auf den Holzbohlen ausbalancieren konnten.

 

***

 

Im Darknet

 

„Rauschgift, Waffen, Spiele, Medikamente, Killer …“, dröhnte es aus dem Lautsprecher von Wladimirs Notebook, auf dem er einen Tor-Browser gestartet hatte.
„Ja, Spiele, sowas brauche ich jetzt“, schrie er auf und tippte mit zittrigen Händen Luhansk ein.
„Russisches Roulette, das klingt spannend, ja!“, schrie er einen Augenblick später schon wieder begeistert auf.
„In Level 1 musst du möglichst viele Nazis mit einer russischen Offizierspistole erwischen“, tönte es blechern aus dem Lautsprecher, und Wladimir murmelte frustriert: „Mit einer Pistole, wie langweilig“, vor sich hin. Aber dann sah er ein rotes Fenster aufblinken.
„Direkt zu Level 6, oder willst du nicht gleich mit westlichen Waffen auf Frauen aus der Ukraine schießen?“, tönte es wieder aus dem Lautsprecher. Wow, genau so etwas habe ich gesucht“, dachte sich Wladimir. Ohne zu zögern gab er seine Handynummer, seinen Namen sowie seine Kreditkartennummer ein und dachte sich dabei: Ist ja klar, die guten Spiele sind ja immer teuer. Aber kurz darauf stürzte sein PC ab. Schnell einen Neustart, dachte sich Wladimir, es ist bald Zeit für das Abendessen.
„Dein Computer wurde gehackt. Du darfst ihn erst wieder benutzen, wenn das Lösegeld vollständig von deiner Kreditkarte zu uns umgebucht wurde. Keine Polizei, sonst bist du tot.
„Alles Verbrecher!“, schrie Wladimir wie von Sinnen und trat sein Notebook so heftig vom Tisch, dass es an der Wand seines Zimmers, begleitet von einem kreischenden Knarzen, zerschellte.
„Das wird mir die blonde Schlampe gleich nach dem Abendessen büßen müssen. Schließlich will ich auch mal Spaß“, brummte er zähneknirschend vor sich hin. Aber erst mal schön nett sein, die Belohnung hole ich mir später.

 

***

 

Beim Abendessen

 

„Was für ein toller Tag“, sagte Wladimir zu den Sporttreibenden aus der Provinz und genoss die Anerkennung, die er als spontane Reaktion auf seine Freundlichkeit erfuhr, in vollen Zügen. Sofort spürte er, dass der Trick mit dem aufgesetzten Lächeln ihm auch in dieser Gruppe, die ihn schon vorher, so wie er war, ohne Scheu akzeptierte, weitere Vorteile brachte. Offensichtlich fanden ihn die Leute, die ihm schon am Vormittag freundschaftlich begegnet waren, nachdem er sich angestrengt hatte, sogar richtig nett. So einfach ging das also, dachte er und behielt das, was er wirklich dachte, für sich: Zu dumm, dass die flotte Blonde und die nur auf den ersten Blick normal aussehende Schokoschnitte beide auch nur noch unbrauchbare Blindschleichen sind. So wie der Muskelprotz, alle komplett das Licht aus. Was kann ich schon mit welchen anfangen, die mit falschen Augen und Schminke auf sehende Püppchen machen? Weiber, die nur besser als der Mann mit dem falschen Gesicht vertuschen, dass sie allesamt auch Blindgänger sind. Für welche, die meinen durchtrainierten Körper gar nicht sehen können, wäre ich mit meinem harten Training wie Perlen für die Säue. Klar, verweichlichte Schnecken halt eben, die mir, obwohl sie so blind wie Maulwürfe sind, mit fiesen Tricks schöne Augen machen wollen. Selbst die osteuropäische Lesbe, die immer an der Blonden hängt, ist eine weitere Blindschleiche. Eine, die nicht mal Fake­eyes tragen kann und ihre grässlich vernarbten Augäpfel hinter einer schwarzen Nickelbrille vor mir verstecken will. Diesen Schwindel kann sie gern mit anderen, aber nicht mit mir, versuchen. Hinzukommt, dass die Bebrillte gar keine richtige Lesbe sein kann, weil die Blonde, die sie anhimmelt, ihr Outfit mit ihren falschen Augen gar nicht mehr sehen kann. Sie muss eine bisexuell gepolte Schlampe sein, die sich nur, um Eindruck bei mir zu schinden, Schminke und einen aufreizenden Lippenstift aufgelegt hat. Nur um ordentliche Augen hat sie sich nicht für mich gekümmert, weil sie offensichtlich zu blind ist, um zu raffen, dass ich ihre Brillenmaskerade von der Seite sofort enttarnen kann und mit einem Blick genau sehe, dass ihre verödeten Augapfelreste weder eine Augenfarbe noch Pupillen haben. Da bleibt dann halt als letzter fauler Kompromiss doch nur noch die andere Schwarze für mich übrig, die zwar keine Arme mehr hat, der ich aber wenigstens noch meinen mächtigen Prachtschwanz zeigen kann, den die andern, die alle ihre eigenen Augen aus ihren Köpfen rausgemacht bekommen haben, ja leider nicht mehr sehen können. Wladimir schlich sich deshalb an Fatmata, als das für ihn geringste Übel, heran und schleimte sich bei ihr ein. Fatmata, die sich ihm gegenüber für ihn überraschend unbeschwert und offen zeigte, schmiegte sich, seine Offerte erwidernd, an seine Seite und sagte: „Wie wär’s denn nach dem Abendessen mit einem Badespaß zu zweit?“ Während des Essens schlang Wladimir seine Arme ganz liebevoll um Fatmata und spielte, so glaubwürdig, wie er es bei der alten Dame schon erfolgreich ausprobiert hatte, den Bekehrten, drückte sie immer wieder zärtlich und kuschelte sich wie ein frisch verliebter Schuljunge verträumt an ihre Hüften.

 

 

***

 

In der Villa

 

„… Badespaß zu zweit! Das ist eine tolle Idee, Fatmata. Da lasse ich mich sicher nicht zweimal fragen", plärrte Wladimirs Stimme, etwas kratzig säuselnd, aus der Soundleiste, die sich unter der Heimkinoleinwand befand. Die noch während ihrer Schulzeit in Deutschland als gesetzlich blind eingestufte junge Frau saß hinter dem Schreibtisch mit der futuristischen Milchglasplatte und verfolgte das ferne Geschehen aufmerksam. Der eng an ihrem Körper anliegende Sommerkampfanzug, den sie trug, bedeckte nur einige cm ihrer Oberschenkel, und das so ärmellos wie ein Muscleshirt geschnittene Jacket verlieh den mit gut trainierten Muskeln bepackten Armen der Sonnengebräunten etwas Bedrohliches. Konzentriert achtete die kampfbereit Gekleidete mit der zwar drahtigen, aber dennoch attraktiv wirkenden Figur auf jede Nuance der Livetonübertragung und prägte sich wichtige Details ein, für die Sehende meist kein gut trainiertes Gespür hatten.

„Das ist meine Angelegenheit und ihr haltet euch nur zur Sicherheit mit drei Teams im Hintergrund zum Eingreifen bereit", wies die Schwarzhaarige den Gorilla und die drei Frauen an, die mit der jeweiligen Teamleitung der mit modernster Technik ausgerüsteten Reserve betraut waren.

„Selbst du, Mila, könntest im Zweikampf mit ihm schnell die Oberhand verlieren", gab die weißblonde Teamleiterin zu bedenken, die eine extrem kurze Stoppelfrisur trug und mit eisblauen Augen in die Runde blickte. „Gerade haben wir uns eindrücklich davon überzeugen können, dass Vesevolod weder sich selbst noch Mara oder Ronja wiedererkennt, obwohl er das heimlich aufgezeichnete Bildmaterial, das Pawel ihm von den beiden besorgt hatte, damals eigenhändig für viel Geld an Orlejev verkauft hat."

„Die Gehirnwäsche, die sie ihm in Russland verpasst haben, kann ihn nicht zu einem unbesiegbaren Supermann gemacht haben", antwortete die Chefin kühl und deutete grimig auf die Waffen, die sie in speziellen Halftern über dem Jacket trug. Unter ihrer linken Achsel lugte ergonomisch auf den Körperbau der Kämpferin für den schnellen Zugriff mit ihrer rechten Hand angepasst die Kevlar-Schulterstütze der Sonderanfertigung eines Scharfschützengewehrs heraus. In dem Gurt, den sie auf ihren Hüften trug, befanden sich zwei spezielle automatische Faustfeuerwaffen, die, so wie das Gewehr, auch mit Laserzieleinrichtungen ausgestattet waren, die so ähnlich wie bei den Sportwaffen funktionierten, die sehbehinderten Biathlon-Sporttreibenden bei den paralympischen Spielen das Zielen ermöglichten. Ähnlich war jedoch nur die akustische Übertragung der Zielinformationen und der wesentlichste Unterschied bestand darin, dass die Waffen, die Mila trug, noch tödlicher konstruiert waren, als das bei modernen Jagdgewehren der Fall war. Jagdwaffen mit Zielfernrohren, die mit Restlichtverstärkern arbeiten, waren einerseits für blinde Kämpfende unbrauchbar und andererseits war das KI-basierte Bilderkennungssystem, das in Waffen, die zum Töten von Menschen konstruiert waren, nicht nur für Blinde, viel treffsicherer.

 

 

***

 

Badespaß zu zweit

 

„Das Meer sieht von Deinem Zimmer noch schöner aus als von meinem. Obwohl wir alle den gleichen Meerblick haben, ist er nicht derselbe“, sagte Fatmata nachdenklich, während Wladimir schon lauwarmes Wasser in seine übergroße Badewanne prasseln ließ. Fatmata hatte einen wahren Prachtkörper, aber da schimmerte etwas, das nicht passte in Wladimiers Augen, das sie als Mitleid deutete, und das schmerzte sie mehr als ihre fehlenden Arme.
„Du musst mich einfach so annehmen, wie ich bin, so mache ich es auch, und es funktioniert besser, als du dir das vorstellen kannst. Nur weil ich meine Arme verloren habe, die mir Kindersoldaten, als ich noch ein kleines Mädchen war, während des Bürgerkrieges und wegen des Geldes für die Blutdiamanten in meinem Heimatland mit Macheten abgehackt haben, bin ich kein traurigerer Mensch als du. Mara, Ronja, Lisha und Marc sind nur deshalb auf den ersten Blick besser dran als ich, weil man ihnen nicht schon von Weitem ansieht, dass sie behindert sind – sie sind halt nur blind. Aber egal, ich wollte mich auch so, wie ich bin, noch nie verstecken. Mir tut nur Mitleid noch weh, alles andere ist vorbei, und so wie es ist, ist alles für mich voll okay", sagte Fatmata zu dem jetzt etwas verklemmt wirkenden Russen, der sie noch vor wenigen Minuten so gentlemanlike angemacht hatte.
„So, und jetzt machst du dich einfach mal schön locker und setzt dich da auf den Rand der Badewanne“, sagte sie danach mit ihrer weich klingenden Stimme zu Wladimir. Dann setzte sie sich vor ihm auf ihren runden Po und gab ihm mit ihrer Ferse einen sanften Schubs auf seinen muskulösen Bauch.
„Aaahh …“, stöhnte Wladimir auf, als er ihre weichen Zehen spürte, die sich unter seine Badehose schoben und ihn sowohl an seinem pochenden Glied als auch an seinen Eiern so stimulierten, wie er es vorher noch mit keiner anderen Frau erlebt hatte.
„Und jetzt Du bei mir“, sagte Fatmata, drückte ihm ihren String, der schon von ihrer Feuchte durchweicht war, auf seinen Mund und fing an, ihr Becken über seinem Gesicht kreisen zu lassen.
„Oh Fatmata …“, stöhnte Wladimir, während seine Hände nach oben zuckten und Fatmata nur schweigsam mit dem Kopf schüttelte und dazu mit den Zähnen klapperte.
„Wie, ich soll auch ganz ohne Hände …?“, fragte Wladimir etwas hilflos und schaffte es dann schneller als gedacht, Fatmata mit seinem Mund splitternackt auszuziehen.

 

***

 

In der Nacht

 

Fatmata war in dieser Nacht noch viel länger als Wladimir wach und es beunruhigte sie, dass er im Schlaf sprach, sich wand und sogar aufbäumte und schrie, aber dann überwältigte sie irgendwann doch auch ihr Schlaf.
„Sie schläft“, flüsterte Wladimir zu sich selbst und stand leise auf. In den Taschen seiner Jeans hatte er zwei Paar Handschellen und drei schwarze Seidentücher versteckt und dachte, dass er für das, was er jetzt mit Fatmata vorhatte, wie viele Male zuvor auch gut ausgerüstet sei. Eine Schusswaffe, wie in den Computerspielen, die er so liebte, hätte er auch dann nicht verwendet, wenn er im Flugzeug einen Revolver hätte mitnehmen dürfen. Ja, einen schönen Revolver, mit dem man russisches Roulette mit den Frauen spielen konnte, bis das Spiel zu Ende war, aber das war zu laut. Da waren die Seidenschals viel besser. Der erste für den Mund, der nächste für die Augen und zum Finale der letzte für den Hals, so machte er das immer. Aber dann wurde er zornig auf sich selbst.
„Ich hätte doch die Blonde nehmen sollen, ich Dummkopf“, sagte er leise, während er auf die Handschellen starrte, die er, vom fahlen Mondlicht beleuchtet, in seinen Händen hielt. „Oder die schwarze Blindschleiche, selbst mit der wäre es besser gegangen als mit meiner Krüppelin.“

 

 

***

 

 

Am Morgen

 

„Wie bitte, Herr Kommissar, sie wollen uns allen Ernstes verkaufen, dass es weder Spuren noch Hinweise auf den Mörder oder die Mörder gibt? Schließlich haben die Täter in der Nacht versucht, zwei unserer Freunde zu töten. Das ist ein Kapitalverbrechen“, fuhr Marc ganz außer sich den albanischen Ermittler an.
„Nein, das nicht, aber wir wissen, wer Fatmata töten wollte“, antwortete der Kommissar ihm emotionslos.
„Wie, sie kann wieder sprechen?“, brauste Marc unbeherrscht auf, „dann verlange ich, dass sie uns sofort zu ihr bringen.“
„Das wird nicht nötig sein, sie wird in zehn Minuten den Umständen entsprechend wohlauf mit einer Funkstreife hier eintreffen“, sagte der Polizist. „Die Identität des Mannes, den sie unter dem Namen Wladimir kannten, kennen wir noch nicht, aber wir konnten die Festplatte seines Notebooks entschlüsseln. Es besteht kein Zweifel daran, dass er ein Psychopath war, der andernorts schon unzählige Verbrechen ähnlicher Art begangen hatte, bevor er hier heute Nacht von wem auch immer gerichtet wurde. Fatmata hatte einfach nur Glück, dass der Täter mit einem Kopfschuss getötet wurde, bevor er ihr Leid antun konnte.“
„Aber wer hat ihn denn erschossen? Was ist mit dem Motiv?“, hakte Marc nach.

„Auf seinem Notebook haben wir einen Hinweis gefunden, dass er im Darknet mit falschen Freunden ein russisches Roulette gespielt haben könnte, bei dem er vermutlich mehr Geld verlor, als er bezahlen konnte. Wer sich auf so etwas einlässt, muss damit rechnen, dass die Syndikate, die sich hinter solchen Angeboten verstecken, keinen Spaß verstehen und mit den Zechprellern kurzen Prozess machen. Mehr kann ich ihnen nicht dazu sagen. Da Fatmata von dem oder auch von den Schützen verschont, ja sogar eher gerettet wurde und der gefährliche Psychopath tot ist, werden wir auch die Ermittlungen nicht mehr weiterführen“, sagte der Polizist, legte seine Hand zum Gruß an seine Mütze und empfahl sich.
„Hey Marc, dort vorne kommt der Wagen mit Fatmata!“, riefen Binta und Faith im Chor und spurteten Hand in Hand los, weil sie die ersten sein wollten, die Fatmata begrüßen durften.

Traumwelten

„Mila, bist du das wirklich?", stieß Mara schlaftrunken hervor und fragte sich, ob der Körper, der sich unerwartet zu ihr und Ronja unter die Decke gekuschelt hatte, real oder nur eine Fiktion unterbewusster Träume sei.

„Ja, ich bin hier, um wenigstens euch beiden reinen Wein einzuschenken", antwortete die Besucherin, die sich kurz zuvor nahezu lautlos durch das Ressort geschlichen hatte, in dem Mara und Mila mit der Inklusionssportgruppe ihres Turnvereins einen gesponserten Urlaub in Albanien verbrachten. Ohne dass sie von anderen Gästen bemerkt wurde, war die Blinde, die sich in stockdunkler Nacht prima ohne Licht orientieren konnte, durch die nur einen schmalen Spalt breit geöffnete Tür in das unbeleuchtete Zimmer der beiden Frauen geschlüpft, die beide das gleiche Handicap wie sie hatten. „Habt wegen meines Überraschungsbesuchs, von dem hier außer euch niemand etwas mitbekommen darf, bitte keine Angst."

„Mila …? Die Verschollene? …", meldete sich Ronja, die von Maras schlaftrunkener Frage ebenfalls geweckt und jäh aus ihren Träumen gerissen worden war. Im Gegensatz zu Mara klangen ihre ersten Worte trotz des überraschend unterbrochenen Schlafs und der vielen mysteriösen Ereignisse, die sie in den vergangenen Tagen zusammen mit ihrer Freundin erlebt hatte, hellwach, unerschrocken und von kritischem Misstrauen begleitet.

„Was das alles zu bedeuten hat, muss ich gar nicht verstehen", schluchzte Mara vor Freude und umarmte Mila innig. „Zuerst will ich dich nur ganz doll drücken und mich darüber freuen, dass du lebst, Mila. Das muss einfach sein, nachdem ich mir so viele Jahre Sorgen um dich gemacht habe. So gesund, wie du dich anfühlst, geht es dir entgegen meiner schlimmsten Befürchtungen offensichtlich ganz hervorragend, und das reicht mir voll und ganz", nuschelte Mara durch einen Schwall Freudetränen, die ihre Rührung mehr als die gesprochenen Worte zum Ausdruck brachten.

„Reinen Wein, bezüglich der Hintergründe dieser rätselhaften Reise und der mysteriösen Geschehnisse der letzten Tage?", fragte Ronja kühl und gefasst dazwischen.

„Ja, Ronja, gut kombiniert. Nicht nur die Reise geht auf mein Konto, aber das, was alles dahintersteckt, ist so viel größer, dass ich euch das, selbst wenn ich wollte, nicht einfach erklären könnte", antwortete Mila, löste sich sanft aus Maras Umarmung und begab sich auf der Matratze in den Schneidersitz.

„Deine Kleidung macht mir Angst", sagte Ronja, während ihre Fingerkuppen über den seidig glatten Catsuit glitten, den Mila trug.

„Das mag sein, aber sie ist nützlich, um sich in der Nacht vor Blicken Sehender zu verbergen", antwortete Mila sanft und sprach gleich in noch größeren Rätseln weiter. „Auf deinem nächtlichen Ausflug mit Akasha war dir der Dress so nützlich, wie er Mara als gute Tarnung während des Finales im Wasser bei Pawels Ende diente."

„Mila …! Woher weißt du das alles?", hauchte Mara, die inzwischen auch im Schneidersitz schräg gegenüber von Mila auf der Bettdecke saß und nach den Händen ihrer Jugendfreundin tastete, fast ehrfürchtig.

„Euch alles zu erzählen, wäre unnütz und würde euch und die anderen nur zusätzlich gefährden. Dennoch bin ich zu euch gekommen, um das Wichtigste klarzustellen, weil ich insbesondere dir, Mara, mehr als allen anderen Menschen auf der Welt dankbar dafür bin, was du für mich getan hast“, erklärte Mila so, dass ein mildes Lächeln ihre Stimme begleitete, während sie Maras Hände hielt. „Kurz nach der Tragödie im Moor", erzählte die nächtliche Besucherin in Ronjas Richtung weiter, „aus der mir Mara so geschickt, wie wir sie kennen und schätzen, herausgeholfen hat, tauchte ich, wie ihr beide wisst, unter. Gleich danach baute ich die Geschäfte, die ich von meiner korrupten Familie übernommen und nur noch kurz in deren altem Geschäftsmodell weitergeführt hatte, auf meine Weise zu einem Unternehmen um, das ähnlich eines Geheimdienstes bis heute erfolgreich mit sensiblen Informationen handelt. Nur wenn es sich nicht vermeiden lässt, greife ich mit Interventionen ein. So, wie das in der vergangenen Nacht auch bei Wladimir unvermeidbar notwendig geworden war …"

„Du warst das …?", fragten Mara und Ronja fast im Chor, „ … aber warum …?"

„Weil er ein Schläfer der Russen war, der bald den Auftrag erhalten hätte, die meisten von euch zu töten", erklärte Mila kühl.

„Dazu hätte er in den vergangenen Tagen unzählige Chancen gehabt …", wand Ronja zweifelnd ein. „Als wir am Strand waren, zum Beispiel, und was sollte die Russenmafia, mit der er sich angelegt hatte, überhaupt für ein Interesse daran haben, welche von uns von ihm töten zu lassen?"

„Gegen deine Schlussfolgerung, Ronja, spricht einiges und mindestens zwei Aspekte, die du nicht wissen kannst", entgegnete Mila. „Zum einen war Wladimir eine Art menschliche Drohne, die nur auf Anweisung handelte, und zum anderen hätte der Rest von euch erst nach Maras erfolgreicher Entführung eliminiert werden sollen.“

„Wie ...? Die Russenmafia wollte mich entführen?", schrie Mara auf. „Warum das denn und wohin?"

„Nicht die Russenmafia", erklärte Mila, „sondern der russische Geheimdienst, der mit einer Vielzahl perfider Ideen längst damit begonnen hat, zu versuchen, unsere westliche Welt zu destabilisieren. Aber nicht alle Aktionen, die auf den ersten Blick so scheinen, sind Teil der hybriden Kriegsführung, und nicht alle Aktionen, die mittlerweile gern auch der Russenmafia in die Schuhe geschoben werden, wurden tatsächlich von dort initiiert. Hinter dem Plan, dich zu entführen, Mara, steckt kein Geringerer als Oberst Orlejev. Susis Pawel war das letzte und auch das schwächste Glied in einer längeren Kette dunkler Gestalten. Seinen Verbindungsoffizier nach Russland war Vesevolod Orlejev. Diesen erfolglosen Sohn des eigentlichen Drahtziehers, dem Oberst Sergej Orlejev, lerntet ihr unter seinem Decknamen Wladimir kennen. Zur Strafe für die Misere, die eigentlich Pawel zu verantworten hatte, wurde ihm in Russland nicht nur eine Gehirnwäsche verpasst. Einige Zeit später hat ihn sein eigener Vater zu seiner letzten Mission losgeschickt und ihn als ferngesteuerte Marionette hier auf dich und deine Freunde angesetzt."

„Rache für Pawel?", stieß Mara aus. „Dann schwebt Susi in Berlin in viel größerer Gefahr als wir hier, und ich bin an allem schuld."

„Keine Sorge, das habe ich alles im Blick", antwortete Mila mit einer Formulierung, die in diesem Zusammenhang unter blinden Menschen so normal wie unter sehenden Gesprächspartnern war. „Schuld trifft dich, Mara, kein Fünkchen. Genau das Gegenteil ist der Fall, aber das ist einer der Gründe, warum du diejenige bist, die auf Oberst Orlejevs schwarzer Liste ganz oben steht. Deshalb solltest du besonders wachsam und aufmerksam bleiben und die Fähigkeiten, die wir beide Marc zu verdanken haben, auch zukünftig so konsequent wie gegen Pawel zu deinem eigenen Schutz und auch für den deiner Freunde einsetzen. Wegen unserer besonderen Fähigkeiten mache ich mir übrigens weder um Alena noch um dich oder um mich ernsthafte Sorgen. Alena ist ebenfalls eine starke Frau, die, so wie wir, über gut trainierte Kampftechniken verfügt und in Berlin nicht nur auf sich selbst gut aufpassen kann. Solange Susi im Schattenglut in Alenas Umfeld bleibt, denke ich, dass dort niemand nah genug an sie herankommt, um ihr ein Haar zu krümmen."

„Aber warum Rache für Pawel?", griff Ronja Maras Frage noch einmal recht schroff auf und fügte den zweiten Teil des angefangenen Satzes mit einem nach bockiger Ungeduld klingenden Unterton hinzu. „… und das mit dem Orlejev-Sohn als Marionette im Zusammenhang mit einer Gehirnwäsche klingt für mich mehr wie ein aus einer utopischen Traumwelt kommendes Hirngespinst als nach einem glaubwürdigen Fakt."

„Möglicherweise denkst du, Ronja, dass ich mir anmaße, über übersinnliche Fähigkeiten zu verfügen, oder ich euch glauben machen will, in die Gedanken anderer Menschen lesen zu können, aber das ist nicht so, wie es auf den ersten Blick aussieht", sagte Mila beruhigend und tastete auch nach einer Hand von Ronja. „Übrigens ist es wenig hilfreich, so viele Fragen auf einmal zu stellen. Noch weniger clever wäre es, sie alle auf einmal im Stakkato beantworten zu wollen."

„Okay, dann erkläre uns doch erst einmal, was und woher du etwas von Akasha und mir weißt", erwiderte Ronja, die inzwischen noch misstrauischer als vorher geworden war.

„Das ist ein guter Anknüpfungspunkt, Ronja", antwortete Mila ausgleichend, „weil deine Geschichte sogar schon vor Maras Freundschaft mit mir begann.

Deine Story in Rumänien nahm ihren Anfang in einer Zeit, in der die Welt sich noch überwiegend analog organisierte, was aber nichts daran ändert, dass sich auch darüber üppige Spuren bis in unsere heutige digitale Transparenz hinein verewigt haben. Kurz nach meiner Flucht aus Deutschland stolperte einer meiner ersten KI-Bots über die Kurzinfo einer unbedeutenden Anzeigenzeitung, die in Bukarest verteilt wurde. Diese, auf den ersten Blick unscheinbare Randnotiz machte mich auf eine obdachlose Teenagerin aufmerksam, die durch den Elektroblitz einer explodierten Trafostation erblindete."

„Auf mich …?", hauchte Ronja, mit einem Zittern in ihrer Stimme.

„Ja, Ronja, auf dich", bestätigte Mila. „Danach fiel mir der Rest deiner Geschichte, der eigentlich der Anfang war: die Sache mit deinem Großvater, der dich an einen Drogendealer verkauft hat, und alles, was danach mit Akasha kam, ohne dass ich noch viel dafür tun musste, quasi automatisiert, wie von selbst, in den Schoß. Das Potenzial, das in meinen ersten neuen Suchmaschinen steckte, die ich mit ein paar eigenen Algorithmen und dem Anschluss an kostenfreie Opensourcedatenbanken zu einem wissensbasierten System aufgepeppt hatte, verblüffte mich zunächst selbst. Ohne dass ich dich kannte, Ronja, hatte ich plötzlich alle Details deiner Vita auf meiner Festplatte, die ich brauchte, um zu erkennen, dass Mara dir genauso wie mir und damit sogar sich selbst helfen könnte."

„Moment mal …", meldete sich Mara zu Wort. „Soll das heißen, dass du auch die Arbeitsplätze lanciert hast, die Ronja und mich, bevor die Pandemie kam, zusammengebracht hat?"

„Ja, Mara, auch deine Zeit in Marburg ist mir nicht verborgen geblieben, und da ich aus eigener Erfahrung weiß, was in dir und unserer Clique rund um Marc steckt, war die Lösung von Ronjas Problemen die optimale Aufgabe, um dir in Berlin etwas beim Wurzeln schlagen zu helfen", sagte Mila mit einem Grinsen.

„Das Stipendium und die Sache mit der Villa", fragte Mara, „da steckst dann wohl auch du, Mila, dahinter, oder täusche ich mich?"

„Ja, es war alles gut, sogar der ganze Covid-Mist hätte noch nicht genug durcheinandergebracht“, sagte Mila grimmig. „Aber mit dem Überfall der Russen auf die Ukraine war die Welt über Nacht total aus den Fugen."

„Hat das Ganze denn etwa auch etwas mit Wladimir, der Entführung und dem ganzen Töten zu tun, von dem du vorhin gesprochen hast?", fragte Mara.

„Und ob, und mit Susi …", bemerkte Mila, die Maras Fähigkeiten nur zu gut kannte und die Vermutung ihrer Freundin nur mit einer vagen Andeutung zwischen den Zeilen bestätigte.

„Ich verstehe nur Bahnhof", warf Ronja unwirsch ein.

„Milas Hellseherei hat nichts mit Traumwelten zu tun, Ronja. Es geht um die Hirnimplantate, von denen Susi uns berichtet hat. Die Russen haben sie entwickelt, um Menschen zu manipulieren, ihre Gefühle wie die von Wladimir zu steuern, sie zu Kampfmaschinen zu degradieren und um sich überall auf der Welt unbemerkt ihrer Augen und Ohren bedienen zu können. Mila scheint sich irgendwie Zugriff auf deren teuflisches System verschafft zu haben und offensichtlich nutzt sie es jetzt, um noch Schlimmeres zu verhindern …“

„Nach Oberst Orlejev hat sich die Polizei kurz nach Pawels Tod im Spaßbad in einem Nebensatz auch bei uns erkundigt", erinnerte sich Ronja nachdenklich und brachte mit dem ganz anderen Ton, der soeben in ihrer Stimme mitschwang, zum Ausdruck, dass sie plötzlich auch begann, die Zusammenhänge zu verstehen, und sich ihr Misstrauen fortan nicht mehr gegen Mila richtete.

„Auch Susi hat seinen Namen mehrfach in Verbindung mit einer Uljana Konowalowa genannt", ergänzte Mara, die zwar neugierig auf die Hintergründe, aber alles andere als froh über die ganze Entwicklung war. – Was will dieser russische Oberst überhaupt von mir, wenn es nicht die Rache für Pawels Tod ist, die ihn antreibt? –, fragte sich Mara, ohne ihre Gedanken auszusprechen, im Stillen. – Selbst wenn nicht alles so zusammengehört, wie Milas KI die Geschehnisse zu einem neuen, immer größer und skurriler werdenden Bild zusammengesetzt hat, fügen sich erschreckend viele der unglaublichen Aspekte, von denen Susi uns an Pawels Todestag in Berlin erzählt hat, in Milas Szenario ein. Ein Szenario, das nur auf den ersten Blick wie eine irreale Traumwelt wirkt und auch nur vordergründig den ersten Anschein erweckt, als erdachte Fata Morgana den Rahmen eines frei erfundenen Thrillers zu beschreiben. Die unterschiedlichen Erlebnisse aller Beteiligten fügen sich viel zu passgenau zu dem grauenhaften Bild zusammen, das nicht nur unsere kleine Clique, sondern die gesamte Ordnung aller Werte der westlichen Welt bedroht. Vieles deutet darauf hin, im alles entscheidenden Kern größtenteils wahr zu sein und die Perspektive auf eine völlig andere reale Welt, eine Albtraumwelt, zu eröffnen … –

 „Droht Mara hier denn überhaupt noch Gefahr von diesem russischen Offizier?", fragte Ronja, der es in dem albanischen Resort mit Strand, Sonne und Meer vor der Tür noch viel besser als in Maras Wohnung in der Berliner Villa gefiel, ins Blaue.

„Und Susi …?", warf Mara mit einem strafenden Zischen in Ronjas Richtung ein.

„Mila sagt doch, dass sie bei Alena sicher ist", schmollte Ronja zurück. „Wenn wir alle einfach hierbleiben würden, bis Mila das Problem mit dem Russen auf die gleiche Art, wie du, Mara, das mit Pawel gelöst hast, beseitigt hat, wäre die Welt wieder in Ordnung und wir würden auch keinen von uns neuen Gefahren aussetzen müssen."

„Alena traue ich nicht. Sie wirkt auf mich fast so unergründlich wie Pawel", brummte Mara unzufrieden und rang mit in ihr gegenüber Ronja aufkeimendem Ärger.

„Dein Bauchgefühl war auch schon besser, Mara", lachte Mila streitschlichtend auf. „Susis und Alenas Bindung ist der zwischen uns sehr ähnlich und ich weiß auch, warum sie euch darüber nie etwas erzählt haben.“

„Wie? … Die beiden waren auch mal ein Paar, so wie du und ich?", fragte Mara ihre Jugendfreundin Mila total verblüfft. „Warum sie uns gegenüber dann nicht dazu stehen, verstehe ich aber wirklich nicht. Deshalb stellt sich für mich an dieser Stelle mehr die Frage, ob diese Information tatsächlich wahr sein kann oder ob deine Tools hier irgendwelchen Fakenews aufgesessen sind.“

„Mir ging es anfangs wie dir, Mara, und ich dachte zunächst auch, dass das Schattenglut mitsamt der mysteriösen Alena zu Orlejevs Schläfernetzwerk gehört. Erst als meine neueren Bots auch auf die Server des BND zugreifen konnten, fand ich dort die Erklärung, die Alena entlastet hat", erklärte Mila und erzählte ihren beiden Zuhörerinnen eine Geschichte, die Mirjam als spätere Alena, nach Susis Rettung aus den Fängen der Russen in ein Zeugenschutzprogramm, gebracht hatte.

„Wow", sagte Mara baff. „Das deckt sich genau mit dem Unglaublichen, das Susi mir aus ihren Erlebnissen in einem geheimen Sanatorium erzählte, das die Russen in der Ukraine betrieben, bevor sie es selbst schleiften und danach versuchten, der Ukraine dafür die Schuld in die Schuhe zu schieben.“

„Natürlich dürft ihr hier alle so lange, wie ihr wollt, bleiben", griff Mila Ronjas Vorschlag auf. „Was kann es Schöneres geben, als gesund und ohne finanzielle Sorgen, umgeben von besten Freunden, in einem Land wie meinem Heimatland am Meer zu leben. Das Vergnügen, die Sonne täglich auf wiegenden Wellen vom Wasser getragen und mit salziger Gischt kühl besprüht zu genießen, teile ich gerne mit euch und freue mich über jeden weiteren Tag, den ihr mir hier Gesellschaft leisten wollt.“

„Das ist mega lieb von dir, Mila, und ich freue mich unbeschreiblich darüber, dass ich jetzt weiß, wie gut es dir hier geht und dass du einen Ort gefunden hast, an dem du dich in Sicherheit selbst verwirklichen und dein Leben wie verdient genießen kannst", knüpfte Mara dankend an Milas Vorschlag an. „Es ist nur so, dass ich es in meinem Heimatland auch schön finde und ich meinen Beitrag dafür leisten will, dass wir auch dort so wie du hier noch viele Jahre weiter wie gewohnt in Freiheit leben können."

„Mara, du lebst in einer Traumwelt", klinkte sich Ronja wieder in das Gespräch ein, die ihre Freundin so gut kannte, dass sie schon ahnte, was sich in Maras Hirn gerade am Entwickeln war. „Nur entspricht die Realität, die sich gerade neu definiert, nicht deiner grenzenlosen Vorstellung von Selbstverwirklichung, die dir vorgaukelt, dass eine Handvoll Leute wie wir das gerade ins Wanken geratende Weltgeschehen wieder einbalancieren könnte."

„Nein, Ronja. Nein, nein und nochmal nein", widersprach Mara vehement und erinnerte Ronja aufbrausend daran, dass Susi auch von Experimenten mit regenerierten Cyborgs berichtet hatte, von denen sich die russische Regierung deutlich mehr Vorteile auf den ukrainischen Schlachtfeldern als von unversehrten Kämpfenden versprach.

„Über die koexistenten Traumwelten zu streiten, deren Schöpfer gegenwärtig fast täglich neue, leider immer zweifelhaftere Realitäten schaffen, bringt uns alle nicht weiter", griff Mila mild lächelnd ein. „Schauen wir uns die Welt doch einfach mal aus der Perspektive unserer Augen an und lasst uns diese Blicke auf das wirklich Wesentliche konzentrieren. Auf die Fakten, die wir mit unseren Wahrnehmungsmöglichkeiten besser als die vermeintlich mächtigen Akteure erfassen können. Die Gestalter der Zukunft, die nur das sehen können, an das sie selbst glauben, liefern uns in der digitalen Welt wie auf einem Fließband all das auf die Sekunde genau, was wir brauchen, um sie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen."

„Soll das etwa heißen, dass ihr beiden unsere kleine Truppe wirklich dazu in der Lage seht, mithilfe von Milas KI die noch freiheitlich geordneten Teile unserer Welt zu retten?“, fragte Ronja mit einem Hauch in ihr aufwallender Abenteuerlust in die Runde und atmete, wie von einer plötzlichen Hitzewallung ergriffen, heftig durch.

„Mit eurer Befreiung aus den Schlingen, die Pawel für euch ausgelegt hatte, habt ihr beide, Mara und du Ronja, schon vor mir und ohne meine Hilfe längst damit begonnen", erklärte Mila. „Ihr seid diejenigen, die die entscheidenden Verbindungen zu Susi und Alena gefunden haben, deren Geschichten ich erst danach mit der Unterstützung der von mir gesammelten anderen Informationen zu dem Bild zusammenfügen konnte, das bisher nur wir drei sehen."

„Klar, das ist es! …", entfuhr Mara ein kurzer Aufschrei, als sie das Gesamtbild mit all den giftigen Tentakeln erkannte, mit denen jede Traumwelt sich vor den Einflüssen der sie umgebenden Welten schützte. Jetzt sehe ich sie auch, die Traumwelten, denen nur ihre Eigenwahrnehmung verblieben ist, weil sie sich selbst mit ihrem eigenen Gift geblendet haben und sich für alles Schöne, das anders als sie ist, so blind wie Maulwürfe gemacht haben. Die Amerikaner, die nur noch Deals sehen und seit kurzem zu blind sind, um den Schaden, den sie durch enttäuschtes Vertrauen angerichtet haben, noch selbst erkennen zu können. Die Russen, die sich mit imperialistischen Strategien und Träumereien um die Vereinnahmung verbrannter Erde bemühen, die nuklear verseucht und mit Blut getränkt ist. Die Iraner, die von sich als Atommacht in einer Welt ohne Menschenrechte träumen, in der nur männliches Leben einen Wert hat und wo nur Männer mit der Macht ausgestattet sind, die Auslegung von richtig gelebter Religion zu diktieren. Dort sehe ich ein grausames Gesellschaftsbild, das von Zwang und Unterdrückung geprägt ist und in dem Menschen von Gerichten zur Strafe Glieder abgetrennt werden. Eine Welt, in der andersdenkenden Demonstrierenden von der Polizei zur Abschreckung von der Teilnahme an friedlichen Demonstrationen öffentlich mit gezielten Gummigeschossen die Augen ausgeschossen und Inhaftierten hinter dicken Gefängnismauern mit Säure Sinne geraubt werden."

„Wir können den Blick, den wir aus unserer Perspektive auf die Welt haben, genauso auf China richten, wo es um die Menschenrechte auch nicht viel besser bestellt ist als im Iran, in Südamerika und in vielen Staaten Afrikas", steuerte Ronja mit vor Aufregung rot glühenden Wangen bei. „Selbst in Indien, dem bevölkerungsreichsten Land der Erde, sind Muslime und Christen ungeachtet dessen, dass die Mehrheit sich dort als Demokratie sieht, vielerorts Repressalien ausgesetzt, die manche Betroffene sogar bis zum heutigen Tag mit ihrem Leben bezahlen müssen. Auch die Kooperation der Russen mit Nordkorea wirft interessante Fragen auf, aber die wichtigste Frage von allen scheint mir die zu sein, die für uns Europäer bisher unbeantwortet geblieben ist: Warum leisten wir uns in stoischer Ruhe über Jahre hinweg diese in unserer Selbstvernichtung enden könnende Feigheit? Nur durch unser Unterlassen befähigen wir die Russen, uns über das Ende des Krieges in der Ukraine hinaus in naher Zukunft an anderen Stellen angreifen zu können. Anstatt unsere eigene Rüstungsproduktion mit höchster Priorität und maximal möglicher Geschwindigkeit auf Hochtouren zu bringen, bekommen wir weiche Knie, wenn Russland uns mit atomaren Interkontinentalraketen droht, obwohl wir wissen, dass selbst China ihm deren Einsatz nie erlauben würde. Warum nur bekommen wir Europäer es nicht einmal hin, den Russen im Hinblick auf die Unterstützung der Ukraine mutig mit ausreichenden Waffenlieferungen wenigstens einen kleinen Teil unserer Stirn zu bieten? “

„Richtig, Ronja, genau das ist der Punkt, an dem wir gemeinsam mit unserem kleinen Team wirksam ansetzen können", lobte Mila. „Wir mischen uns gezielt so ein, dass die Verblendeten den Unterschied zwischen Freund und Feind einfach nicht mehr erkennen können. Ein einfaches Beispiel dazu: Solange Russland nicht weiß, wer hinter der jüngsten Sprengung einer seiner protzigen Staatskarossen steckt, mit der wir hofften, Orlejev zu erwischen, werden sie solange die ganze Welt verdächtigen müssen, bis sie den wahren Täter überführt haben. Täter, die hinter hybriden Offensiven stecken, die aus unserer Welt kommen, werden sie nicht sehen können, weil sie uns nicht sehen wollen. Dass wir in ihren Augen schwach, gebrechlich und bedürftig sind, gibt uns schon einen guten Schutz, aber wenn sie dazu gezwungen sind, mit uns im Dunkeln zu kämpfen, sind wir doppelt im Vorteil, weil wir das viel besser als sie können.

„Das europäische Problem wird leider nicht so einfach zu lösen sein, da es weit schwieriger ist, einen Täter für etwas zu finden, was längst überfällig ist, aber einfach nicht getan wird“, fügte Mara hinzu.

„Das sehe ich ganz anders“, ergänzte Mila mit einem schelmisch klingenden Unterton. „Was denkt ihr, was passieren wird, wenn eine KI morgen alle in Europa herstellbaren Waffensysteme in ausreichenden Mengen bestellt, die von der freien Welt benötigt werden, um Russland in die Schranken zu weisen? Alle Waffen, die Europa braucht, um dem Rest der Welt neben der Aufrechterhaltung der ukrainischen Wehrfähigkeit auch binnen kürzester Zeit die Kompetenz des europäischen Militärs zu beweisen?

„Das könnte die Traumwelt der Russen im Hinblick auf eine unverhofft erstarkte NATO spontan massiv eintrüben", sinnierte Mara leise. „Mir stellt sich jedoch die Frage, wie lange es dauern würde, bis der Bluff aufflöge.“

„Was für ein Bluff?", fragte Mila vergnügt. „Wir lassen unsere KI die für die Korrektur benötigte Historie in Form von geheimen Besprechungsprotokollen generieren und speisen sie zeitgleich in allen relevanten Knoten vom Beschaffungsamt der Bundeswehr sowie den wichtigen Netzwerken des Finanzministeriums bis hin zu den Produktionsplanungssystemen unserer Schwerindustrie so ein, dass alle Handelnden dort persönlich von dem Erfolg profitieren können."

„Das würde sowohl die europäische als auch insbesondere die deutsche Wirtschaft wie ein Turbo auf Maximalleistung triggern und in China Hoffnungen auf einen steigerbaren Verkauf rüstungsrelevanter Zukaufprodukte in die europäische Union wecken“, brach die Begeisterung für Milas Plan aus Ronja heraus.

„Alles gut soweit", stimmte Mara zwar zu, aber meldete auch Bedenken an. „Wo willst du denn so schnell neue, an diesen Systemen gut ausgebildete Kämpfende herbekommen, Mila? Mit deinem Plan hätten wir unsere Wirtschaft zwar endlich richtigerweise auch auf Kriegswirtschaft umgestellt, aber im Gegensatz zu Russland wollten und könnten wir uns nicht Menschen wie Sklaven als Kanonenfutter aus anderen Regionen der Welt beschaffen.

„Hast du den Trend hin zu Drohnen und zu dem Einsatz von Kampfrobotern als Infantriersatz nicht mitbekommen, Mara?", fragte Mila spitz. „… und die Inklusion scheint dir gerade auch vom Schirm gerutscht zu sein."

„Meinst du mit Inklusion uns?", fragte Ronja zaghaft, während sie angestrengt darüber nachdachte, was Mila in dem großen Bild sah, das ihr und Mara noch immer verborgen war.

„Oh, wie dumm von mir", schoss der nächste Satz wie aus einer Pistole geschossen aus Mara heraus. „Echt cool, Ronja, du hast noch vor mir gerafft, auf was sie hinaus will."

„Sind wir acht Akteure mit Beeinträchtigung nicht viel zu wenig, um erfolgreich die Freiheit retten zu können?", ergänzte Ronja. „Hinzu kommt, dass Mila die Einzige von uns ist, die KI gut genug beherrscht, um die Geister dieser virtuellen Armee, über die wir gerade reden, aus unserem Mikrokosmos heraus als hybride Friedenstruppe wie Robin Hood gegen die Mächtigen der Welt in eine David-gegen-Goliath-Schlacht zu führen."

„Nein Ronja, wir sind doch viel mehr“, lachte Mara auf, die plötzlich zum Scherzen aufgelegt war, nachdem sie in Milas Weltbild endlich auch die größte Community der Gegenwart sah, deren Armee nur darauf wartete, in das Geschehen eingreifen zu dürfen, um sich endlich auch den verdienten Respekt und die seit Jahrhunderten überfällige Autorität gegenüber den anderen zu verschaffen. „Du hast falsch gerechnet, Ronja. Wenn Du Inklusion sagst Darfst du weder Binta und Faith noch Alex und Tim aus unserer Gruppe herausrechnen, und unsere beiden in Berlin hast du auch vergessen. Wenn ich richtig gerechnet habe, heißt das, dass wir aus ca. 1,3 Milliarden Menschen einen großen Teil viel schneller mobilisieren, ausbilden und einsatzfähig machen können, als Russland genügend Panzer gebaut haben wird, um die Entschlossenheit der europäischen NATO durch einen Einmarsch im Baltikum oder in Finnland antesten zu können.

„Klar, mit dem Blick auf das große Ganze sehe ich es nun auch, und nein, Mara, ich glaube nicht, dass du dich verrechnet hast", stimmte Ronja ein, hob die Hand und schnippte kurz mit Daumen und Zeigefinger. „Gib mir fünf, Mara!", und einen Moment später klatschte das Geräusch von zwei sich exakt getroffenen Handflächen wie ein Weckruf durch den nachtschwarzen Raum, in dem die drei ihren ersten inklusiven Kriegsrat hielten.

„Prima, genau so sehe ich das auch", sagte Mila zufrieden und schnippte zuerst in Maras Richtung und nach dem Patschgeräusch auch zu Ronja hin ein zweites Mal mit dem Daumen und dem Zeigefinger ihrer rechten Hand. „Marc als Diplomaten für die Kommunikation aller nach außen zu richtenden Gespräche und als Verhandler für die Ziele unserer Mission zu gewinnen, könnte eure erste Aufgabe werden, die ihr morgen ohne mich zu erledigen hättet.“

„Ja, Marc ist derjenige von uns, der am besten dafür ausgebildet wurde, klare Ziele zu entwickeln, und nicht wie die Europäer sehenden Auges tatenlos durch das Weltgeschehen zu irren", sagte Mara mit einem Kloß im Hals, als ihr wieder bewusst wurde, dass sie Mila bald wieder verlassen und, viel schlimmer noch, dann wieder vergessen muss, dass es sie noch gibt. Milas Traumwelt war dazu verurteilt, weiter in der Dunkelheit zu gedeihen, weil nur das ihre Existenz garantierte, die vor den Blicken der restlichen Welt für immer im Verborgenen bleiben musste.

„Ihr werdet das auf der hellen Seite auch ohne mich besser als mit mir schaffen, liebe Mara, denn das ist deine Berufung, der du nicht nur in Bezug auf mich, sondern auch an der Seite von Ronja treu gefolgt bist", sagte Mila zu Mara, um den Abschied einzuleiten, und drückte zuerst Ronja lang und fest.

„Danke, liebe Mila, und das nicht nur für das schöne Bild, das du uns als glaubhafte Vision von einer freien und glücklichen Zukunft geschenkt hast“, schluchzte Ronja, der der Abschied von Mila fast genauso schwer wie Mara fiel. „Die Zuversicht, die unserer Rechnung in deinem Weltbild zugrunde liegt, in dem die Ressourcen von weltweit einer Milliarde Menschen mit Behinderung brachliegen und wir durch ihre Mobilisierung tatsächlich stark genug sein könnten, um neuen Frieden zu schaffen, ist Ausdruck der schönsten Traumwelt, die sich Betroffene und auch nicht von Einschränkungen betroffene Menschen zusammen wünschen könnten.

„Der inklusive Korrekturfaktor, der sich abgeleitet aus unserer Sportgruppe mit einem 4/12-tel-Zuschlag auf unsere Reccourccen-Prognose ergibt, dürfte sich nach einem erfolgreichen Ende unserer Mission noch gewaltig nach oben weiterentwickeln", sagte Mila zu Mara, die sie durch die nachtschwarze Ferienanlage ohne Ronja noch bis zum Strand begleitet hatte.

„Im Jahr 2083 soll entsprechend aktueller Prognosen die Weltbevölkerung mit 10,3 Milliarden Menschen auf der Erde ihren Zenit erreicht haben, das ist ausgehend von den derzeit etwas mehr als 8,2 Milliarden ein Zuwachs von etwa fünfundzwanzig Prozent in den vor uns liegenden nächsten 50 Jahren - die Effekte des Klimawandels bereits eingerechnet", sagte Mara, während sie Mila umarmte und sich wünschte, dass die Inklusion bis dahin Weltkulturerbe geworden sein könnte.

„Wir müssen sehen, was kommt", sagte Mila und wandte sich bereit zum Gehen von Mara ab. Sie ging schon über den Strand auf die tosenden Wellen zu, als sie sich noch einmal zu Mara umdrehte: „Nimm dich vor Orlejev in Acht", rief sie ihr über die Schulter durch den auffrischenden Wind noch zu, bevor sich das durch den Sand stapfende Geräusch ihrer nackten Füße in Maras Ohren schon wie eine schwindende Silhouette im Nebel verlor.

„Mila! … Was will Orlejev von mir?“, schrie Mara ihrer Freundin verzweifelt hinterher, aber sie hörte nur noch das Tosen der Wellen und den pfeifenden Wind.

Wargames

Mai 2025

 

„Guten Morgen, Alena", sagte Enzo zu der Frau, mit der er in Berlin ein Dunkelrestaurant betrieb, das für italienische Köstlichkeiten bekannt war.

„Guten Morgen, wie schön, dass heute Feiertag ist und wir länger schlafen dürfen, weil wir erst zum Abendessen öffnen", antwortete die Schwarzhaarige mit dem entstellten Gesicht und umarmte ihren Partner liebevoll.

„Geschlossene Gesellschaften hatten wir schon öfter, eine Lesung über ein neu erschienenes Buch noch nie", sagte der Mann.

„Das Buch heißt wie der heutige Feiertag "Himmelfahrt" und erzählt die Geschichte einer Blinden, die in einen männlichen Körper geboren wurde", antwortete sie und küsste ihn zärtlich.

 

Juni 2025

 

„Boah! … Echt jetzt, ein neues Spiel, und du bist Beta-Testende?", sagte Sven zu Kim.

„Ja, es ist barrierefrei und unbeschreiblich spannend", antwortete das blinde Mädchen dem Jungen, der im Rollstuhl neben ihr saß und darüber staunte, was sich auf dem Bildschirm abspielte.

„Es ist ein Strategiespiel, in dem es darum geht, wie Europa sich mit der NATO ohne die USA gegen die Bedrohung aus Russland wehrhaft positionieren kann", erklärte sie. „Magst du mitspielen? Die Rolle des neuen deutschen Bundeskanzlers ist sogar noch frei."

„Wow, cool, die hatten schon einen Minister im Rolli, wer bist du?“

„Yaryna, Charkiw, Ukraine …“

 

Juli 2025

 

Als Taras Nowikow, der russische Präsident, in Begleitung seiner ukrainischen und amerikanischen Amtskollegen den Saal betrat, wurde es still.

Nach der Unterzeichnung des Vertrages, in dem auf drei Jahre befristet eine Waffenruhe des überfallenen Landes mit Russland geregelt wurde, knallte gleich nach dem obligatorischen Händeschütteln ein Sektkorken und die Vertragspartner bestätigten sich vor den laufenden Kameras der Fernsehsender, dass es eine gute Sache sei, das Blutvergießen zu beenden.

Zum gleichen Zeitpunkt heulten in der Ukraine Sirenen auf, die vor russischen Raketen warnten.

Die Menschen in der Ukraine hofften auf einen Fehlalarm und verschwanden wie vorher in schützenden Bunkern.

 

August 2025

 

„Oh, das Mittagessen ist fertig“, dachte Holly, als die Lampe, die in ihrem Zimmer die Wohnungstürklingel ersetzte, kurz aufleuchtete.

„Hast du wieder gespielt?“, gebärdete die Mutter ihrer gehörlosen Tochter, die gerade durch das Abi gefallen war. „Dein Essen ist inzwischen kalt."

„Tut mir leid.“ Hollys Löffel klirrte, halb umwickelt von Spaghetti, am Tellerrand.

„Das Kriegsspiel wieder …, du würdest besser Latein lernen“, sagten die Hände der Mutter.

„Es heißt 'Si vis pacem, para bellum', Mama."

„Ich kann kein Latein."

„Wer den Frieden will, muss den Krieg vorbereiten", übersetzte Holly.

„Mit vollem Mund spricht man nicht", antwortete die Mutter.

 

September 2025

 

„Wenn die lieber Verbrenner fahren, panzern wir die Ladenhüter und verkaufen sie als autonome Selbstfahrer mit Rohr zum doppelten Preis an das Militär", sagte der Manager des Werks, das zur Produktion von Elektroautos neu gebaut worden war, zu seinem Marketing-Chef, der zu den wenigen Mitarbeitern gehörte, die noch nicht auf Kurzarbeit gesetzt worden waren.

„Unser Markt ist USA", gab der Vertriebsmann zur Antwort.

„Wir produzieren in der EU", grinste der Reiche.

„Zollfrei!", lachte der andere und ließ die neuen Angebote per E-Mail versenden.

„Das klappt! Weitere Werke kaufen wir in Bayern, Stuttgart, Neckarsulm und Wolfsburg“, lachten beide.

 

Oktober 2025

 

Si vis pacem, para bellum, las Otto in einer Mitteilung der Jusos, der er auf einem halb vergessenen Außenposten der SPD als Russlanddeutscher und Vertreter einer unterdrückten Minderheit in Transnistrien angehörte.

- Kein gutes Spiel, aber vielleicht die beste Option - ,dachte er, als er sich mit gemischten Gefühlen auf dem Portal bei den Mitspielenden anmeldete.

Als bekennendem Pazifisten war ihm so mulmig zumute, dass er sich gleich wieder abmelden wollte. Aber dann poppte eine Chatnachricht auf, die ihn aufhielt.

„Ich bin Holly", las er …

„Ich bin Otto …"

„Cool, wollen wir zusammenspielen?", schrieb ihm Holly.

„Gern, aber nicht kämpfen!"

Holly: „Muss sein!"

 

November 2025

 

„Guten Morgen, Herr Bundeskanzler", las Sven auf seinem Monitor und freute sich über die Punkte, die ihn unerwartet zu Deutschlands beliebtestem Politiker hochgepusht hatten.

„Aus Wolfsburg, München, Neckarsulm und von den sieben wichtigsten Zulieferern sind Auftragsbestätigungen eingegangen, nur aus Stuttgart warten wir noch auf den Termin für die Auslieferung der ersten Tranche Schwerfahrzeuge, die für die Logistik gebraucht werden", schrieb Holly, die sich zu seiner Assistentin hochgearbeitet hatte.

„Das ist noch nicht alles", tickerte Holly.

„Yaryna, unsere Korrespondentin aus Kiew, hat noch die Inbetriebnahme von drei weiteren Luftabwehrsystemen gemeldet, die von den USA, aus Israel und aus Deutschland geliefert wurden.“

 

1. Dezember 2025, 4:07 Uhr

 

„Holly, ich hab Angst", schrieb Otto um 3:23 Uhr aus Tiraspol und nutzte das Spiel, um sich von der Realität abzulenken. „Hier dröhnen schon seit fast drei Stunden russische Militärkolonnen durch die Straßen und seit einer halben Stunde lässt das Rasseln von schweren Kettenfahrzeugen die ganze Stadt erzittern.“

„Keine Angst, Otto, wir sind doch gut vorbereitet und wussten, dass aus dem Spiel irgendwann Ernst werden würde. Was siehst du?"

„Die Soldaten sammeln sich alle am Bahnhof, Holly.“

„Geh in den Keller und vergiss dein iPad nicht", schrieb Holly mit einem Smiley und informierte den Bundeskanzler.

 

1. Dezember 2025, 4:09 Uhr

 

„Mila, das Spiel geht in seine erste heiße Phase", sagte der Sherpa seiner Chefin, als er die Administratorin weckte, die aus ihrer Villa in Albanien alles Erforderliche lenkte und koordinierte.

„Wo?", fragte die Geweckte auf dem Weg zu ihrem Arbeitsplatz, der seit Monaten für diesen Moment vorbereitet auf sie wartete.

„Tiraspol"

„Gut! … wie erwartet", sagte sie mit einem grimmigen Lächeln.

„Kaffee steht hier", erwiderte der Gorilla, der schwarzhaarigen Taffen, die sich im Spiel "Schwarze Witwe“ nannte und die hier alle trotz ihrer Blindheit respektierten. „Es sind schon 17.713 Spielende aktiv, …"

„Der Kaffee riecht stark, danke!"

 

1. Dezember 2025, 5:03 Uhr

 

„Der Luftraum ist so sauber wie selten. Selbst die wenigen Wolken am Himmel sehen auf dem Radar wie frisch gewaschen aus", meldete die Front, die es in der russischen Propaganda noch nicht geben durfte, von vernichtendem Explosionslärm begleitet, sichtlich verzweifelt an den Kreml.

„Was ist das für ein Lärm?", fragte der Funker ängstlich zurück.

„Ein Feuerwerk aus Papier, das ohne Vorwarnung aus dem Himmel auf uns niederprasselt."

„Luftabwehr?"

„Geht nicht, wir sind blind wie Maulwürfe.“

"Störsender?"

„Nein, nichts …, ein übles Spiel", drang eine verzweifelte Stimme durch den Äther.

„Stellung halten, wir informieren den Präsidenten.“

 

 

1. Dezember 2025, 9:00 Uhr

 

„Otto meldet aus Tiraspol, dass die europäische NATO heute Nacht ihren ersten Stresstest wie von uns vorbereitet unerwartet gut bestanden hat, Herr Bundeskanzler", sagte Holly und nahm sich einen Schluck aus ihrem Kaffeebecher.

"Verluste?"

„Nicht bei uns, und es ist bis auf ein paar Schrammen auch wenig russisches Blut geflossen", erwiderte Holly.

„Konkret?"

„Der Dax ist auf 25.713 geklettert. Paperdrone GmbH, Eilenburg in Sachsen, ist Hauptprofiteur.

„Das Papierwerk, das den Markt für Kampfdrohnen erkannt hat, die für das Radar unsichtbar sind?" fragte Sven.

„Ja, Yaryna hat das Potential der chemischen Industrie in Eilenburg richtig eingeschätzt.“

 

1. Dezember 2025, 9:30 Uhr

 

„Das war die Retourkutsche des CIA dafür, dass wir im Mai verpasst haben, alles, was ging, aus den Friedensverhandlungen für uns mitzunehmen", polterte ein Offizier im Kreml.

„Nein, es war nur ein billiger Bluff, der Europäer", entgegnete ein Militärfunktionär. „Die Drohnen waren aus Papier.“

„Mag sein, aber es waren unzählig viele und sie wurden alle gelenkt.“

„Ein Spiel ohne Grenzen, und wir wissen weder, wie sie das schaffen, noch, wie wir das, was wir nicht sehen, bekämpfen könnten", ergänzte ein Diplomat. „Unseren Strategen fehlen jegliche Argumente, um die Soldaten vom Sieg zu überzeugen."

Präsident: „Angstmacherei"

 

1. Dezember 2025, 10:00 Uhr

 

„Holly, jetzt hab ich noch mehr Angst", schrieb Otto, dem der gespenstisch leere Bahnhofsplatz, der wie nach einer Silvesterparty aussah, mulmig vorkam.

„Wir haben sie mit ihren eigenen Waffen geschlagen."

„Sie könnten Atomraketen einsetzen", schrieb Otto.

„Die wir mit Lametta von ihren Zielen ablenken können", beruhigte ihn Holly.

„Glaubst du an Wunder?"

„Nein, ich vertraue auf uns und auf die neuen Weihnachtsgeschenke, auf die wir in diesem Jahr nicht nur aus Eilenburg hoffen dürfen", schickte ihm Holly mit einem Smily zurück.

„Du hast ja recht, aber du kennst ja auch keine Angst", kam zweifelnd zurück.

 

1. Dezember 2025, 11:00 Uhr

 

„Die schwarze Witwe meldet aus Moskau, dass die Sicherheitsberater des Präsidenten Angst vor Europas neuen Feuerleit-Kompetenzen bekommen haben und sich nicht erklären können, wie die neue KI der NATO funktioniert", informierte das barrierefreie Informationssystem alle Mitspielenden und belohnte alle beteiligten Akteure mit einem Bonus von zehntausend Punkten für jeden, der mitgespielt hatte.

„Bingo", sagte Kim zu Sven, die die erfreuliche Nachricht auf ihrer Braillezeile schneller gelesen hatte, als er ihr die Neuigkeit vom Monitor hätte vorlesen können, und tippte ‚Schwarmintelligenz‘ in den Chatbot ein.

"Einhundert Punkte für Yaryna", las Holly in der Fußzeile ihres Bildschirms.

 

24. Dezember 2025, 19:45 Uhr

 

„Wir begrüßen sie zur Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten. Um 20:00 Uhr folgt die Tagesschau", tönte es aus den Lautsprechern vieler Fernsehgeräte in Deutschland.

„Das Wollen erkennt man am Tun, liebe Mitbürger*innen“, sagte der Bundespräsident und lobte nicht nur die große Koalition für ihr mutiges Handeln. Der überraschende Aufschwung der deutschen Wirtschaft sei für alle ein schönes Weihnachtsgeschenk, aber dass mit Beginn der Adventszeit nach über drei Jahren Krieg in Europa wieder Friede eingekehrt sei, sei der Beweis dafür, dass Angst ein so schlechter Ratgeber wie Resignation und Trägheit sei.

"Si vis pacem, para bellum: Frohe Weihnachten!"

Selbstverwirklichung

„Hast du was?“, fragte Mara, die Stimmungen wie die meisten blinden Menschen sehr feinfühlig wahrnahm.

„Mir ist dieses Jahr nicht so wirklich nach einer ausgelassenen Silvesterparty“, antwortete Ronja, die so blind wie ihre Lebensgefährtin war, und wand sich etwas steif aus Maras Umarmung. „Außerdem finde ich die Vorbereitung einer so großen Party, zu der du jede Menge Leute in deine Villa eingeladen hast, viel anstrengender, als ich mir das vorgestellt hatte.“

„Was heißt meine Villa und meine Party, Ronja?", hakte Mara nach, die sofort spürte, dass bei Ronja mehr dahintersteckte, als sie preisgeben wollte.

„Das ist doch alles deins hier“, zischte Ronja feindselig. „Deine Wohnung, deine Freunde, dein Leben … Und ich?“

„Hey Süße, was ist denn schon wieder los mit dir?“, sagte Mara und zog sich in die Küche zurück, um ihre Gedanken zu ordnen. Während sie sich um die letzten Details des kalt-warmen Buffets kümmerte, das dort schon aufgebaut war, überlegte sie, was die Ursache für das zunehmend aggressive Verhalten sein könnte, mit dem die feurige Rumänin ihr in den vergangenen Wochen begegnete: Seit dem Urlaub in Albanien kommt mir Ronja von Woche zu Woche unzufriedener vor. Es ist zwar schon einige Monate her, dass wir gemeinsam mit unseren Freunden, die ich schon eine gefühlte Ewigkeit aus der Inklusionssportgruppe meiner alten Heimat kenne, unterwegs waren, aber da hat es angefangen. Irgendwie herrscht seit dem Zeitpunkt, zu dem dort überraschend meine alte Jugendfreundin Mila, die jahrelang als verschollen galt, wieder in meinem Leben auftauchte, eine entfremdende Aufbruchstimmung in Ronjas Verhalten mir gegenüber. Ich frage mich nur warum? Eifersucht kann ich wohl ausschließen. Bei Milas nächtlichem Überraschungsbesuch in unserem Zimmer, von dem außer Ronja und mir niemand aus unserer Reisegruppe etwas erfahren durfte, war Ronja die ganze Zeit dabei und hätte mitbekommen, wenn zwischen Mila und mir mehr als freundschaftliche Berührungen stattgefunden hätten. Die Sache mit Wladimier, dem Russen, den Mila töten musste, um Fatmata zu retten, könnte auch dahinterstecken. Ein Trauma als Urlaubsmitbringsel wäre eine Erklärung. Oder liegt es an den abenteuerlichen Dingen, die sie im Schattenglut ohne mich erlebte? Mit dem Schattenglut hat sie ohne mein Zutun hier in Berlin ein kulturelles Begegnungszentrum entdeckt, das vor dem Hintergrund der Inklusion ein Treffpunkt für Menschen ohne Behinderung mit Betroffenen wie uns sein will. Das war an dem Tag, an dem ich sie zum ersten Mal alleine ließ, weil Alex mich zu dem Abenteuer mit dem Filmteam abholen kam, das mit einem ungleichen Kampf in einem Spaßbad endete. Die Eingeladenen, die heute aus dem Schattenglut zum Feiern kommen, sind aber doch auch meine Freunde und nicht nur Ronjas …

Quando sono solo sogno all’orizzonte e mancan le parole …", ertönte Con te partirò aus Maras Handy, aber die Verbindung war schon wieder beendet, bevor sie den Anruf entgegengenommen hatte.

„Nanu, das war Alex“, murmelte sie leise vor sich hin, nachdem sie sich die Anrufeingangsliste hatte vorlesen lassen. Das Handy hatte sie noch in der Hand, als ein „Bing" den Eingang einer neuen Sprachnachricht meldete. Die Sprachnachricht von Alex, dem Schauspieler, mit dem sie an dem Tag, als Ronja das Schattenglut entdeckte, zum ersten Mal in ihrem Leben Sex mit einem Mann ausprobieren wollte und der mittlerweile einer ihrer besten Freunde geworden war, gab ihr den Rest.

„Das ist es also, Ronja …", schniefte sie, nachdem sie das Schlafzimmer erreicht hatte, und hörte, dass Ronja dabei war, alle großen und kleinen Habseeligkeiten, die sie besaß, mit beiden Händen in den riesengroßen Koffer zu werfen, den sie am Vortag vom Shoppen mitgebracht hatte.

„Wenn du es mir vorher selbst gesagt hättest, wäre ich auch traurig gewesen, aber dann hätte sich meine Enttäuschung in vertretbaren Grenzen gehalten. Aber so, auf diese feige Art …, da muss ich echt aufpassen, dass ich dich nicht irgendwann anfange zu hassen.“

 

***

 

„Ach Susi, was für ein Glück, dass ihr drei die ersten Gäste seid", begrüßte die Gastgeberin zuerst die hübsche junge Frau, die rechts eine Oberarmprothese trug und schon viel Schlimmeres als sie durchgestanden hatte. Danach umarmte sie Alena, die aus der Ukraine stammte und wegen der Russen nicht nur erblindete, sondern auch mit entstellenden Verbrennungen ihres ganzen Kopfes leben musste. Enzo, den Mara als Letzten begrüßte, war als Inhaber eines italienischen Gourmetrestaurants für seine ausgezeichneten Weine so stadtbekannt wie Alena, die in der Küche traumhafte Köstlichkeiten zubereitete und im Schattenglut noch ein Dunkelrestaurant betrieb.

„Was ist denn passiert, Mara? … Wo ist Ronja …?", fragte Susi, die seit geraumer Zeit immer weniger Perücken trug, und kuschelte ihren Kopf, der sich so blank wie eine polierte Billardkugel anfühlte, zur Begrüßung freundschaftlich an Milas Wangen.

„Weg …", gluckste Mara, „… weg mit Alex …"

„Oje, das tut weh“, sagte Alena und drückte ihr maskenhaftes Gesicht an fast die gleiche Stelle, die vorher Susi berührt hatte, aber weniger zur Begrüßung, sondern mehr, um Mara einfühlsam Trost zu spenden. Susis glatte Kopfhaut und das weiche Plastik, aus dem ein Epithetiker Alenas Gesicht modelliert hatte, weckten Maras Erinnerung an eine andere Aufbruchstimmung, die sich nach den ersten Tagen hier in ihrer Wohnung zwischen Ronja und ihr entwickelt hatte. Eine, die sich gut anfühlte, weil sie in jener Zeit beide voller Tatendrang waren. Die glatte Haut erinnerte sie an das morgendliche Ritual unter der Dusche, mit dem sie damals erotisch in jeden neuen Tag starteten. Der Hautkontakt mit der Weichplastikhaube, die Alena in der Öffentlichkeit wegen der Sehenden trug, hatte für Alena die gleiche Funktion wie der Silikonhandschuh, der Susis rechter Hand die Optik eines natürlichen Körperteils verlieh, und wie die beiden Augenprothesen, die Mara seit ihrer frühesten Kindheit in ihren entleerten Augenhöhlen trug. Die Berührungen hatten Mara von ihrem Kummer abgelenkt und auf andere Gedanken gebracht. Die Oberfläche der Körperteilattrappe aus Silikon, mit der Ronja sie von dem Abenteuer mit Alex abbringen wollte, fühlte sich in ihrer Erinnerung sehr ähnlich an. Susis kahler Kopf erinnerte sie an zeitlich viel weiter zurückliegende Erlebnisse, die sie zusammen mit Mila in ihrem zu dieser Zeit noch männlichen Körper gehabt hatte.

„Ja, es schmerzt, aber die Krise mit Ronja ist ja nicht die erste Krise, die ich bewältigen muss. Damit hab' ich ja schon einiges an Übung. Über den Verlust von Mila, die vor meiner Zeit mit Ronja urplötzlich und ohne Vorankündigung wie ausgelöscht aus meinem Leben verschwunden war, bin ich ja auch hinweggekommen", erwiderte Mara ihren drei Freunden, die von Milas nächtlichem Besuch im Urlaubsresort nichts wissen durften. „Schließlich folgt auch nach dem heftigsten Sturm immer wieder Sonnenschein."

„Die Zuversicht zu behalten ist das Wichtigste, Mara", sagte Enzos Lebensgefährtin, die mit dem hübschen Ausgehgesicht, mit dem ihr Epithetiker ihr ihre Würde zurückgegeben hatte, bezaubernd aussah. Nur wenn sie alleine in der Küche arbeitete oder mit Enzo alleine war, verzichtete sie auf diese Verwandlung.

„An was denkst du denn gerade, Mara?", fragte Enzo, der auf dem Gesicht der Verlassenen plötzlich ein unerwartet verklärt wirkendes Lächeln entdeckte, und nahm sie als letzter der drei Neuankömmlinge auch in den Arm.

„An Mila und daran, wie wichtig es ist, so gute Freunde wie euch zu haben", antwortete Mara, ohne etwas von dem geheimen Überraschungsbesuch zu verraten, und schüttelte ihren Frust so gut es ging ab.

„Wollt ihr nicht ablegen und mit mir darauf anstoßen, dass das Leben auch schön bleiben kann, wenn gerade etwas, das man liebte, abhanden gekommen ist?“, sagte Mara und führte ihre Gäste in die Küche.

„Vielleicht muss Ronja Verpasstes nachholen", bemerkte Alena nachdenklich, mit einem noch immer tröstlichen Ton in der Stimme. „Sie ist eine Späterblindete, die erst in der gemeinsamen Zeit mit dir, Mara, wieder selbstständig und mobil geworden ist. Flügge, so wie du, raus in die Welt, um sich selbst zu verwirklichen", ergänzte Alena, während sie gemeinsam zur Küche gingen und sie sich von Enzos Ellenbogen leiten ließ, weil sie sich in Maras Wohnung noch nicht gut genug auskannte, um den Weg mit ihrem Blindenstock ohne fremde Hilfe finden zu können.

„Schön, dass ihr da seid", sagte Mara, nachdem Enzo den Champagner mit einem stilvollen Zischen so perfekt geöffnet hatte, dass ein leises Plopp wie ein Echo folgte, bevor er die Sektflöten füllte und jedem die seine in die Hand drückte. „In dieser Situation an Silvester allein zu sein, wäre jetzt der Super-GAU gewesen."

„In Albanien soll es auch im Januar recht gut sein und viel gemütlicher als im Sommer. Bisschen wie in Holland im Frühjahr …", sagte Alena, ohne deutlicher zu werden.

„Gute Idee, die Wintersemesterferien beginnen zwar erst im Februar, aber ’ne Woche hätte ich locker noch, um nocheinmal dort hinzufahren wo ich mit Ronja bevor der Ärger losging am Meer war", sprach Mara und nippte nochmal an ihrem Glas.

„War das mit dem Etwas verloren zu haben, um das man trauern will, es aber nicht ewig tun sollte, vorhin eigentlich mehrdeutig von dir gemeint, Mara?", fragte Alena und sprach nach der rhetorischen Frage gleich weiter. „Wir Blinde haben alle eine sehr besondere Wahrnehmung und du ganz besonders, Mara", und nippte, ohne weiterzusprechen, auch wieder an ihrem Glas.

„Du meinst, da herausgehört zu haben, dass ich die Schuld an der Sache mit Alex und Ronja schon bei mir selbst gefunden hätte, Alena?", sinnierte Mara leise in ihr Sektglas flüsternd so vor sich hin, als wolle sie ein Orakel befragen. „Das könnte passen, Alena, weil Ronja im Gegensatz zu uns eine Späterblindete ist, die mit ihrem Augenlicht etwas verloren hat, was wir beide gar nicht kennen. Mit dem Mobilitätstraining, das ich mit ihr machte, habe ich ihr erst das Tor zur Welt geöffnet, das sie brauchte, um mich verlassen zu können. Dass Ronja anders als wir ewig um ihren Sehsinn trauern muss und jetzt meint, mit Selbstzwang alles nachholen zu müssen, was sie verpasst hat?", fragte Mara nachdenklich. „Das war vielleicht dumm von mir …"

„Wenn du Verdienst anstatt Schuld gesagt hättest, wäre es das gewesen, was ich dachte", sagte Alena und nickte Enzo, der ihr unaufgefordert nachschenkte, dankbar zu. „Gerade blind geworden durch die Pubertät, ist kein Spaß, und es war alles andere als dumm von dir, dass du ihr ihre Freiheit geschenkt hast.“

„Für mich war meine Pubertät auch kein Spaß", brummte Mara und trank auf Ex ihr Glas aus.

„Wegen deiner Glasaugen?", fragte Alena.

„Quatsch, mit meinen Augen war ich immer okay, es waren die Klöten und der olle Pimmel, die nie zu mir passten", kam die Antwort ganz spontan so aus Maras Mund zurück, wie Alena es erwartet hatte.

„Nimm’s ihr nicht übel und freu dich drüber, vielleicht taucht ja Mila oder eine wie sie irgendwann mal wieder in deinem Leben auf", sagte Alena und schnüffelte nach etwas Herzhaftem zum Knabbern. „Sind das Käsesticks mit Salami?"

„Ihr meldet euch ja, wenn ihr Hilfe braucht", kommentierte Enzo Alenas Neugier, weil er längst verstanden hatte, dass Blinde Hilfe hassten, um die sie nicht gebeten hatten, während Mila zur Tür huschte, um die nächsten Gäste willkommen zu heißen.

 

***

 

„Haben alle Sekt? Es ist schon fünf vor zwölf“, rief Mara, die schon gut beschwipst und wieder bestens gelaunt war, mit kräftiger Stimme in das Wohnzimmer, in dem die meisten Gäste lautstark in Grüppchen lachten und einige sogar schon ansatzweise lallten. Enzo und Tim waren noch nicht ganz mit der Tastführung durch, die sie sich für Mara und Alena überlegt hatten, und ganz im Element der Hobbyfeuerwerker unterwegs, die sich mit den beiden blinden Frauen noch durch die improvisierte Abschussrampe hindurchbewegten, als von den Nachbargrundstücken schon das Zischen der ersten Abschüsse, begleitet von Donnerschlägen, zu hören war. Mara hielt gerade interessiert eine Rakete mit einer besonders dicken und auch sehr langen Treibladung in der Hand und erkundete das Schutzrohr, das über die Zündschnur gestülpt war. Tim hatte ihr eine Übersetzung des Etiketts, das den Feuerregen der Rakete beschrieb, an der Uni in Braille ausgedruckt und ihr vorher in die Hände gegeben. Dieses und die Rakete in der einen Hand und mit der anderen den Feuerwerkskörper abtastend, lauschte sie, was Tim ihr über die Kapsel und über die kirschroten Leuchtkörper, die sie enthielt, erzählte. Die leuchtenden Kirschen durften sich erst sehr hoch, weit über den tiefer explodierenden Feuerschweifen, entfalten, die gleich grün, gelb und weiß vom Himmel fallen werden, während das Rot zeitgleich von oben in das Bunt hineinrieseln wird.

Mit geröteten Wangen unterhielten sich Alena und Mara zu dem fortwährenden Zischen, das in ihren Ohren so filigran wie die Vielfalt der Farben klang, über die Pracht des Feuerwerks, als sich plötzlich ein total enthaarter Kopf von hinten zwischen die beiden schob. Alena kicherte und glitt zur Seite, während Mara fast das Herz stehen blieb, als zwei Hände, die sie sofort erkannte, wie heiße Flammen um ihren Hals züngelten. Mara spürte das Bedürfnis, den Namen der Frau, der ihr sofort auf der Zunge lag, voller Freude laut herausschreien zu wollen, was ihr jedoch nicht mehr gelang. Das Organ, das sie nicht nur zum Sprechen brauchte, war vorher schon zu tief in einem Mund gelandet, der sie mit Haut und Haaren zu verschlingen suchte.

 

***

 

„Mila, ich bin so glücklich", hauchte Mara, die sich schweißnass an ihre Jugendfreundin kuschelte, die wieder so überraschend in ihrem Leben auftauchte, wie sie Jahre zuvor verschwunden war. „Du fühlst dich noch schöner als früher und wahnsinnig erregend an.“

„Dass dir das gefallen würde, machte mir die Entscheidung, mich von meiner Körperbehaarung zu verabschieden, etwas leichter", antwortete die Frau, die vor fünf Jahren noch herrlich lange Haare hatte. „Das war das letzte Mal, wo wir Sex zusammen hatten. Eine lange Zeit, in der viel geschehen ist, war das, und ganz anders als in dieser provinziellen Kleinstadt, wo es so abrupt zum Abschieb kam, weil ich fliehen musste“, antwortete Mila. Wie die flauschige Decke, unter der die Liebenden sich gerade neu entdeckten, wallte Milas pechschwarze Haarpracht damals nach dem Liebesspiel über beide Körper.

„Denkst du auch gerade an die winzige Kammer auf dem Dachboden über der Wohnung meiner Mutter, die vollgestopft mit alten Kissen und Decken unser erstes kleines Reich war?“, fragte die Blonde, die zu diesem Zeitpunkt noch den Umzug in den für sie richtigen Körper vor sich hatte, und stöhnte vor Lust auf, als Milas Fingerkuppen hauchzart über ihren Kitzler glitten, der nach der Geschlechtsangleichung heute sogar noch besser als früher ihre Eichel funktionierte.

„Als ob ich unser gemütliches Liebesnest je vergessen könnte, in dem ich dir, meiner besten Freundin, damals noch deinen kleinen Kerl gestreichelt habe, den du immer so gehasst hast, weil du lieber gleich so wie ich auf die Welt gekommen wärst“, antwortete die Kahle. „Auch, wie sehr du schon, seit ich dich kenne, auf erotische Vorspiele mit duftendem Rasierschaum und scharfen Klingen unter der Dusche stehst, wollte ich nie vergessen.“

„Ja, glatte Haut, da steh ich wirklich mega drauf", hauchte Mara, die sich mit ihren Händen gerade sehr zärtlich und so neugierig, als seien ihre Finger sensible Fühler eines Insekts, jeden Millimeter von Milas Kopf ganz genau ansah. „Eine so perfekte Ganzkörperenthaarung hätte ich mir bei dir nichteinmal in meinen gewagtesten Träumen vorstellen können", schwärmte Mara, die gerade entdeckt hatte, dass Mila zwischenzeitlich weder Augenbrauen noch Wimpern hatte und auf keinem Fleck ihrer Haut von Kopf bis Fuß ein einziges Härchen mehr wuchs. „Hast du auch wo Tattoos?“, fragte sie, während sie nach den Piercings tastete, die Mila früher schon hatte, und ließ ihre Hände auf dem frischen Schweißfilm über Milas Brüste hinweg auf samtweicher Haut weiter abwärtsgleiten.

 

***

 

„Ein Urlaubsmittbringsel?", fragte Mara nachdenklich und ließ dabei die Ampulle, die Mila für ihre Freunde aus ihrer Heimat Albanien mitgebracht hatte, nachdenklich balancierend auf den Fingerkuppen ihrer rechten Hand rotieren.

„Der neueste Impfstoff gegen die Biowaffen, die Russland plant, in den nächsten Monaten gegen die westliche Welt einzusetzen", sagte Mila, die gekommen war, um Mara mit sich in ihre sichere Villa nach Albanien mitzunehmen und das Leben all der Freunde zu schützen, die sie im Kampf um den Erhalt der freien Welt unterstützten. „Sie werden zwar alle wie Susi ihre Haare verlieren, aber der Impfstoff wird ihnen ihre Fortpflanzungsfähigkeit und ihre Sehkraft erhalten", sagte die Agentin, die auf eigene Rechnung arbeitete und die in Mara die erste Freundin ihres Lebens gefunden hatte und der sie, wie Ronja aus ähnlichen Gründen, zu ganz viel Dank verpflichtet war.

„Mila, mit Worten kann ich gar nicht hinreichend beschreiben, wie glücklich ich darüber bin, dass wir eine zweite Chance zusammen haben könnten, aber mein Platz ist hier in Berlin bei meinen Freunden, die offensichtlich auch deine Freunde sind. Obwohl ich die Zusammenhänge noch nicht überblicke, sehe ich keinen Grund zu fliehen.“

„Dann lass dir von mir helfen", sagte Mia und streichelte ihre Freundin liebevoll. „Seit unserem nächtlichen Geheimtreffen weißt du, dass die wichtigsten Geheimdienste der Welt bei mir Informationen kaufen, die sie nirgends anders bekommen können, und ich werde dir alles sagen, was ich meinen Datenbanken zu deinen Fragen entlocken kann. Alles, was ich weiß, gehört auch dir.“

„Kurz vor Mitternacht kam es mir gestern mal so vor, als ob Alena etwas von unserem Treffen, das ja eigentlich geheim bleiben sollte, gewusst haben könnte", sagte Mara und wartete dann schweigend auf Milas Antwort.

„Dass Susi wegen eines korrumpierten russischen Offiziers ihren rechten Arm und ein Auge verloren hat, weißt du von ihr schon aus ihrem eigenen Mund, seit dem Tag, an dem du Alex ausprobieren wolltest", begann Mila nüchtern ihren aufklärenden Bericht. Dass Alena und Enzo sich in einem Zeugenschutzprogramm des BND befinden, dürfte dir hingegen neu sein. Aber Susi hat dir von Mirjam erzählt, die sie aus den Klauen der Russen befreit hat", entwickelte Mila weiter und gab Mara mit einer Denkpause eine Chance, selbst weiter zu kombinieren.

„Das kann nur heißen, dass Alena die neue Identität von Mirjam ist und sich hinter Enzo der BND-Mitarbeiter verbirgt, der sich während des Einsatzes nach ihrer erfolgreichen Flucht aus der Ukraine in sie verliebt hat. Den Staatsdienst dürfte er quittiert haben, um hier mit ihr zusammenzuleben und für den Rest ihres Lebens rund um die Uhr gut auf sie aufpassen zu können. Deshalb auch das Schattenglutprojekt … Du hast dich ihnen allen vor mir zu erkennen gegeben und ihr habt zusammen immer auf mich aufgepasst", sprudelten die Worte, die für Mara Licht ins Dunkel brachten, nur so aus ihr heraus. „Für mich bleibt jetzt nur noch eine letzte Frage offen, Mila."

„Die nach der Rolle des korrupten Oberst Orlejev? Der Name, nach dem dich erstmals der ermittelnde deutsche Kommissar nach Pawels Tod im Spaßbad fragte und vor dem ich dich bei unserem Abschied aus deinem Albanienurlaub noch persönlich gewarnt habe“, erwiderte Mila wissend und setzte ihren Bericht fort. " Er ist einer der gefährlichsten Männer, die der russische Präsident Taras Nowikow in seinem Portfolio hat, und er ist der Projektleiter des Biowaffenprogramms, mit dem der Wille der freien Welt in den kommenden Monaten für immer gebrochen werden soll. China hat kein Interesse an einer atomar verseuchten Welt, aber zusammen mit Indien genug immer besser ausgebildete junge Menschen, die das demografische Problem in den Fabriken der freien Welt lösen könnten."

„Dann macht Taras Nowikov mit seinen Biowaffen, die Orlejev entwickelt hat, nur die Drecksarbeit für China?", fragte ich sugestiv und nickte zur Bestätigung der von mir festgestellten Tatsache vor mich hin.

„Nowikov ist schon jetzt Chinas Vasalle und in den letzten Monaten unheimlich unter Druck der Europäer geraten, die ihm vor wenigen Tagen die Leistungsfähigkeit eines neuen europäischen Feuerleitsystems bewiesen, hinter dem seine Berater eine neue KI vermuten. Der Erfolg ist in Wahrheit aber dem Spieltrieb der Wissenschaften in Verbindung mit neu umgesetzter Inklusion geschuldet. Freigeistige Gamer haben den roten Betonköpfen, die noch immer von einer für sie längst unerreichbaren Weltordnung träumen, mit Hirn und Papier ihre Schranken aufgezeigt. Das neue System kann für uns nicht nur eine Chance zur Selbstverwirklichung, verbunden mit dem Erhalt der europäischen Welt, eröffnen, sondern auch die Autorität Europas auf ein Niveau heben, das der Ukraine langfristige Sicherheitsgarantien ermöglicht“, beendete Mila ihre Ausführungen.

„Das einzige, was ich noch nicht verstehe, ist, warum du mich bei unserem Abschied persönlich so eindringlich vor Orlejev gewarnt hast“, fragte Mara nach. die zum Rest keine weiteren Fragen mehr hatte.

„Weil er ein Psychopath ist, der auf taffe Frauen wie seine giftmischende Hexe Ulijana, Susi, Alena, dich und mich steht“, sagte Mila mit klirrend kalter Stimme. „Du stehst auf seiner schwarzen Liste wegen deines Erfolgs im Spaßbadabenteuer jetzt noch vor Susi ganz oben."

„Warum nur, etwa weil ich trotz meiner Einschränkung selbständig genug bin, um selbstbewusst mein Leben zu leben und mich meiner Haut zu wehren, wenn es erforderlich ist?", fragte sich Mara laut.

„Nein, wegen deiner Augen und wegen deiner Stärke. Da kommen zwei Dinge zusammen, die ihm fast den Verstand rauben, und er sieht sich als Jäger, der sich durch dich selbst um seine Beute gebracht fühlt, nachdem ihm Pawel, den du im Spaßbad getötet hast, vorher noch Details über dich mitteilen konnte.

„Was für Details, verdammt nochmal, Mila?“, brauste Mara auf. „Ich bin doch nicht die einzige Blinde auf dieser gottverdammten Welt, die gut klarkommt und sich wehren kann."

„Aber du bist diejenige, die er haben will und nicht haben kann, das macht ihn total kirre", war Milas leise Erklärung.

„Aber wie kommt er gerade auf mich?", seufzte Mara und ließ ihr Gesicht in ihre Hände fallen.

„Weil Vesevolod, den du als Wladimir kennst, ihm, seinem Vater, schon lange vor seinem Tod deine Krankenakte geschickt hatte, die er sich aus dem gehackten Computer der Ärztin verschafte, die dir wegen deines bilateralen Augenkrebses als Kind deine Augäpfel entfernen musste", presste Mila heraus, die es anwiderte, Mara erklären zu müssen, dass Orlejev nur auf ihr Handicap geil war und sich nicht die Bohne für Mara als Mensch interessierte.

„Willst …, willst du damit sagen, dass er es nur wegen meiner beiden enukleierten Augenhöhlen, in denen bei mir zwei blinde Glasaugen stecken, auf mich abgesehen hat?", stotterte Mara entsetzt.

„Nicht nur, dass du sehr jung blind gemacht werden musstest, kommt noch als besonderer Reiz für ihn hinzu. Du weißt noch nicht genug von Orlejevs Partnerin, Ulijana", erklärte Mila und holte weiter aus, als die geschockte Mara das eigentlich wollte. „Susi hat dir am Tag deiner Filmaufnahmen im Auto auf dem Weg ins Schattenglut von ihren Erlebnissen in dem geheimen Sanatorium erzählt …"

„Die verrückten Geschichten über diesen Psychopathen und was er mit wem hat, jucken mich überhaupt nicht. Ich will nur wissen, was das mit meinen Augen zu tun hat", fiel sie Mila ungeduldig ins Wort.

„Geduld, Mara", beruhigte Mila. Ich fasse mich so kurz wie möglich. Ulijana war die Direktorin der Forschungsanstalt und Susi konnte nicht wissen, dass die Frau ihre zwei Glasaugen nicht wegen des Laborunfalls trug, der auch in ihrer gefälschten Personalakte stand. Die Wahrheit ist, dass sie ihre Sehkraft für einen frühen Selbstversuch bei der Entwicklung des Giftes und für Orlejev gegeben hat, dessen Fetisch im Laufe der Zeit immer extremer wurde. Ulijana tischte ihm vor dem Liebesspiel immer neue Geschichten aus den Versuchsreihen auf, unter anderen auch die von Susis amputiertem Arm und dem ihr entnommenen Auge. So hat sie es auch mit deiner Geschichte gemacht und jetzt will er alles von der Frau, die keinerlei Erinnerung an ihr eigenes Sehen hat. Ulijana hat sich dabei verzockt, weil sie nicht damit gerechnet hatte, dass seine fanatische Gier auf dich, die sie selbst geweckt hat, so weit gehen würde, wie sich die Dinge bis heute entwickelt haben. Damit, dass ihr Lover sich wegen deiner Geschichte plötzlich nicht mehr für sie, seine für ihn geblendete Hexe Ulijana, und auch nicht mehr für ihre Geschichten wie die über Susi und die über die anderen Probandinnen interessieren würde, hatte sie nicht gerechnet. Die im Dienst der Wissenschaft und als Cyborgs für das russische Vaterland in chirurgisch modifizierten Körpern Lebenden wurden nach Susis Flucht, die Mirjam, also heute Alena, geplant und durchgeführt hat, an einen anderen geheimen Ort verlegt, von dem ich weiß, wo er ist, und den mein Agentennetz im Blick behält.

„Das ist ja noch grässlicher als alles, was ich befürchtet habe, seit ich die Berichte von Susi kenne", sagte Mara. „Susi und ich sind demnach auch hier in Gefahr."

„Nun verstehst du, warum ich gekommen bin und euch alle zu mir ans Meer mitnehmen will", sagte Mila und zog ihre beste Freundin zu sich heran, um sie zu umarmen.

"Darüber muss ich noch nachdenken, aber du könntest auch hier zu mir in meine Villa einziehen", erwiderte Mara, deren Lippen gerade Milas Mund gefunden hatten.

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Historie zur Schattenglut-Trilogie und die Kurzgeschichten im Überblick

Schattenglut-Trilogie:

 

 

 

Impressum

Texte: © Lisa Mondschein
Bildmaterialien: © Ali Saadat / unsplash.com
Cover: © Fizzy Lemon
Tag der Veröffentlichung: 19.12.2022

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für: ... Frieden, Respekt und Toleranz ... ... selbstbestimmte Freiheit ... ... gelebte Inklusion ... ... mutige Kritik ... ... die Macht der Gefühle ... ... Humor und Sarkasmus ... ... Trost nach Leid ... ... Mitgefühl statt Mitleid ... Gegen: ... Krieg und Gewalt ... ... Fremdbestimmung ... ... Diktat und Zwang ... ... Unterdrückung und Schmerz ... ... Vorverurteilung und Oberflächlichkeit ... ... Brutalität und Gefühlskälte... ... Anpassung und Zensur ... ... Durst, Hungersnot, Diebstahl, Energie- und Klimafrevel

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