Von Mara? …
Bilder? …
für sich?…
für wen?…
für mich?…
warum? ...
Danke, dann mach ich auch was ich will!
Was für eine gequirlte Scheiße war das denn jetzt wieder, in die ich hier hineingeschlittert war? So voll peinlich auch noch, dass diese Alena auch eine Blinde war, die gleich durchschaute, dass ich ein Problem damit hatte, in der Öffentlichkeit zu meinen erblindeten Augen zu stehen. Aus ihrem Mund klang das, was sie sagte, und wie sie auf mich reagierte, fast wie ein Vorwurf. Gerade jetzt, wo ich mich am Berappeln war, pflaumte sie mich an. Ihre Worte wirkten in einer Art und Weise auf mich, dass es sich plötzlich wie eine Schwäche anfühlte, nicht offen damit umzugehen, und dass ich es sonst gewohnt war, meinen offensichtlichen Makel vor den Blicken sehender Menschen verstecken zu wollen. Aber egal wie, da musste ich jetzt durch. In der Liebe sprechen Hände und Augen meist lauter als der Mund, hat Ricarda Huch einmal sehr treffend als Philosophin gesagt. Das traf auf Mara und mich zumindest, was unsere Hände und unsere Lippen anging voll zu. Schließlich war bei uns ja auch eine Form von Liebe zum Sex im Spiel. Zumindest so lange, bis der Stress mit Maras zweifelhaftem Abenteuer begann. Bei dem, was ich heute vorhatte, ging es aber gar nicht um Liebe, sondern allenfalls um Sex. Es war alles perfekt, bis auf meine gruseligen Augen. Aber selbst dafür gab es Dank Amazon ja eine Lösung. Deshalb eilte ich schnurstracks ins Schlafzimmer und wühlte ungeduldig im Papier der fast leeren Kiste, die noch offen vor dem Bett stand. Da musste irgendwo noch eine winzige Schatulle sein. Hm, was heißt Schatulle? So etwas mit Kontaktlinsen drin halt. Glibberige Alternativen für Leute, die sich mit Brillen hässlich fanden oder so ähnlich. Die Welt war echt irre. Ich liebte meine schwarzen Brillen – je größer, desto besser, nur tief schwarz mussten sie sein. Sie mussten verbergen, was mich verfolgte, und Normale frühzeitig davor warnten, dass ich nicht sehen konnte. Markant, provokativ und etwas sexy – solche Brillen fand ich gut. Nur so klein wie die winzige, kreisrunde Nickelbrille mit den pechschwarzen Gläsern, die Mara gelegentlich als Accessoire während unserer Spaziergänge im Sonnenschein trug, durften sie bei mir bisher eigentlich nie sein. Aber egal, wie Mara das sah: So wirklich sexy konnte das, im Vergleich zu echten sinnlichen Blicken, doch eigentlich gar nicht sein. Jedenfalls wollte ich es zumindest heute mal so sehen, dass ich auch mal Leuten schöne Augen machen könnte. Genau deshalb musste ich jetzt auch diesen komischen winzigen Behälter mit meinen neuen Augen finden. Kontaktlinsen, die dir den erotischen Blick arabischer Schönheiten schenken, so stand das in der Beschreibung auf dem Amazon-Portal. Kurz darauf hatte ich das winzige Schächtelchen endlich gefunden. Auf der Box tastete ich ein „R“ für rechts und ein „L“ für links, aber das war mir egal, mir ging es ja nur um die Farbe und nicht um die Dioptrien. Meine neuen schönen Augen waren auf meinen Fingerkuppen fast nicht existent. So weich, klein und unscheinbar wie sie sich anfühlten, waren sie bestimmt auch überteuert. Ich wollte sie heute aber dennoch tragen, so wie viele andere sehende Frauen das auch täglich taten. Das Gefummel war schnell erledigt. Das, was im Internet für die Applikation der Glibberprothesen als problematisches Fremdkörpergefühl beschrieben wurde, war für mich kein Hemmnis, weil mir meine beiden Augen wegen ihrer Vernarbungen dieses Gefühl nicht mehr vermitteln konnten. Deshalb hatte ich die Dinger schneller drin, als ich dachte. Das einzige Accessoire, das jetzt noch fehlte, war die perfekt passende Brille. Schließlich wollte ich ja nicht jedem, der mir über den Weg lief, gleich schöne Augen machen. Die Entscheidung bezüglich der Brille war dennoch einfach. Für den heutigen Anlass kamen nur zwei Stück aus meinem reichhaltigen Sortiment infrage. Da war zum einen die krasse Gletscherbrille, die mit ihren zwei Chromtöpfchen, dem Gummiband und dem weichen Moosgummi, das beide Augen komplett blickdicht umschloss, auch fast als Schweißarbeiterbrille durchgegangen wäre. Nur die schicken blau-golden verspiegelten Designgläser verrieten, dass es sich um eine modische Kreation handeln musste. Die zweite Option war die von Mara, die kleine, schicke Nickelbrille, die ich mich bisher draußen nie zu tragen getraut hatte. Diese hatte nur den Nachteil, dass fremde Leute mir durch den Spalt zwischen der Brille und meinen Schläfen von der Seite auf meine weiß vernarbten Augäpfel genau da hineinschielen konnten, wo mein Gesicht ohne künstliche Linsen offensichtlich beschädigt aussah. Mit einem Lachen griff ich entschlossen die süße, runde Nickelbrille. Mit meinen so makellos hübsch aussehenden Kontaktlinsen, die bestimmt so schön wie Maras Augen strahlten, konnte ich auch bedenkenlos mit der kleinen Brille losziehen. Heute war meine schwarze Brille nur eine kesse Dekoration, unter der ich meine sinnlichen Augen, die ausnahmsweise denen arabischer Schönheiten glichen, vor unliebsamen Gaffern verstecken musste. Ohne noch länger unnötige Gedanken an mögliche Gaffer zu verschwenden, griff ich mir meinen langen, weisen Stock und ging endlich auch los – auf meine Tour.
Kurz darauf saß ich entgegen der Fahrtrichtung in der S6. Gegen die Fahrtrichtung deshalb, weil ich das ständige Nicken beim Bremsen hasste. Auf das Beschleunigen der Züge konnte ich mich wegen des Zischens und des Klackens der Türen, die sich kurz vor dem Anfahren immer noch selbst verriegelten, viel besser an die Geschwindigkeit anpassen als beim Bremsen. Alena kam mir noch taffer als meine Mara vor, die sich jetzt mit ihrer Augenbinde, so blind wie ich, durch die selbstgewählte Höhle ihrer Löwen alleine durch den Tag tasten musste. Mara, … manchmal kam es mir sogar so vor, dass sie in der Öffentlichkeit fast schon gern als Blinde wahrgenommen werden wollte. Ich hatte sie allerdings im Verdacht, dass sie mir damit beibringen wollte, dass Frauen wie ich auch ohne eigenes Augenlicht ein respektiertes Mitglied der Gesellschaft sein durften. Es war ja lieb von ihr, was sie alles für mich getan hatte, aber ihre Unternehmung heute wäre ohne diese schwarze Augenbinde bestimmt auch irgendwie gut gegangen. Aber wenn es schiefgehen würde, dann wohl am wenigsten deshalb, weil ich ihr vor dem Gehen, auf ihren eigenen Wunsch hin, noch schnell dieses blöde Seidentuch um ihren Kopf geknotet hatte. Sie bestand nun mal selbst darauf, diesem mysteriösen Alex, der sie mit diesem fetten Schlitten abgeholt hatte, als Blinde mit dieser billigen SM-Maskerade die Tür zu öffnen. Zum Glück war es nicht mein Problem, mit welchen Accessoires meine Freundin in einer vielleicht sogar plüschigen Hollywood-Bude mehr oder weniger erfolgreich ihre billige Show als blindes Engelchen für notgeile Männer abziehen wollte. Im Gegensatz zu ihr befand ich mich auf dem Weg in eine ganz andere Art von Hölle. Meine Angst war seit dem Moment, an dem ich damit begonnen hatte, mich als Akteurin in mein eigenes Abenteuer zu stürzen, wie weggeblasen. Selbst der peinliche Patzer mit Alena trug jetzt sogar noch dazu bei, dass ich vor lauter Neugier und Ungeduld von Haltestelle zu Haltestelle noch kribbeliger wurde. Ich war schon total gespannt auf Alenas körperliche Hitze, die mich dort mit großer Sicherheit erwarten würde. Alenas Stimme alleine war schon eine Wucht. Obwohl sie freundlich und verbindlich klang, war sie so fest und kräftig, dass sie nur so vor Energie und Selbstbewusstsein strotzte. Das Rumpeln der Bahn ließ die Sitzbank unter mir inzwischen schon seit zwanzig Minuten vibrieren. Die Schwingungen fühlten sich auf und vor allem unter meiner Lederjeans viel intensiver an, als das bis jetzt für die anderen Fahrgäste von außen erkennbar sein konnte. Aber das Kitzeln, das sich von Minute zu Minute mehr und mehr durch das schwarze Leder meiner engen Jeans hindurch auf meinem enthaarten Schamhügel verteilte, war unbeschreiblich schön. Unaufhörlich zog es immer tiefer in meinen Bauch hinein und schlich sich von dort tief in mir drin lustvoll hoch zu der Stelle, wo mein Bauchnäbelchen von einem Piercing verziert war. Die S-Bahn stimulierte mich jetzt mit ihrem Rattern und Rollen, dem Wanken und Grollen und ihrem Pfeifen und Kreischen noch mehr, als das die Klingen von Maras Elektrorasierer heute Morgen schon einmal unter der Dusche mit mir taten. Außerdem hatte mich Mara ja auch keine zwanzig Minuten am Stück an meinen inzwischen von der Bahnfahrt schon wieder im eigenen Saft weich gekochten Pussylippchen bearbeitet. Und dann kamen da ja noch all die anderen sündigen Gedanken hinzu, die mir während der Fahrt schon wieder durch meinen Kopf gegangen waren. Eigentlich hatte alles mit diesem Franzosen, diesem Fotografen, Laurent Benaïm, dessen Kunstwerke mittlerweile weltweit berühmt wurden, angefangen. Die ganze Welt sprach über ihn, weil er mit Bildern von Menschen, denen Gliedmaßen fehlten, oder mit Fotos von Alten künstlerisch provozierte. Dabei hatte er aus den runzeligen Hüllen der Gebrechlichen und aus den verstümmelten Körpern der Amputierten mit seiner Kamera nur ganz gewöhnliche Akte in Schwarzweiß geschaffen. Menschen, von denen die normalen Leute früher scheu ihre Blicke abgewendet hätten, standen im Licht seiner sexuellen Inszenierungen plötzlich im Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion. Benaïm wurde in Künstlerkreisen inzwischen sogar schon fast dafür vergöttert, dass er Menschen mit Behinderungen gesellschaftlich etablierte. Der Fotograf war mir, bis auf die Kleinigkeit, dass ich total scharf darauf war, selbst auch einmal so richtig heiße Sachen mit einer Kamera aufnehmen zu dürfen, aber eigentlich recht egal. Was mich reizte, war weniger das Etablieren als das Etablissement, das das Schattenglutteam als Trittbrettfahrer seiner Kunst aus seiner Idee gezaubert hatte. Alena hatte es wohl schon geschafft, sie war schon mitten drin in dieser Welt der Schönen und Reichen. Alena, die Frau mit der aufregenden Stimme, die so taff mit mir telefoniert hatte, war wie ich ein Kind der Nacht. Mein Herz schlug schon wieder schneller, als ich mir vorstellte, sie nicht nur zu hören, sondern sie auch zu riechen, sie zu berühren und sie zu schmecken. Meine Hände waren schon wieder zwischen das weiche Leder meiner Schenkel gerutscht. Sollten die anderen Fahrgäste doch sehen, was sie wollten! Zum Glück war Deutschland noch ein freies Land. Das Leder in meinem Schritt, das ich mir anfangs noch eher unauffällig zwischen meinen zusammen gekniffenen Oberschenkeln gestreichelt hatte, war von meiner neuen Feuchte schon wieder schön warm und weich geworden. Meine Lust steigerte sich von Schwelle zu Schwelle, die die S-Bahn neu überrollte, und ließ mich mehr und mehr alle Hemmungen vergessen. Während ich mich immer heftiger an meinem Sitz rieb, überlegte ich mir, dass das, was ich hier gerade mit mir selbst trieb, für die mich immer umgebenden Gaffer auch ganz anders aussehen könnte. Vielleicht dachten sie ja nur, dass die blinde Ledermaus doch selbst schuld ist, wenn sie vor dem S-Bahnfahren so viel getrunken hatte, dass sie jetzt wie verrückt pinkeln musste. Inzwischen biss ich mir schon selbst in meine Lippen, um mich von dem Drang, wild loszustöhnen, abzulenken. Blind, aber ohne Scheiße, so hatte Alena mir ganz locker zu verstehen gegeben, dass ich doch mit allem, auch so wie es ist, froh sein kann. Ohne Zweifel war diese Frau bestimmt auch beim Sex ein ungezügelter, leidenschaftlicher Vulkan, ohne jegliche Hemmungen für alles, was Spaß und Freude macht. Mit diesem Gedanken wallten meine leidenschaftlichen Gefühle so heftig auf, dass ich mich zur Seite drehen und mich mit nur noch einer Pobacke auf die Sitzkante drücken musste – so erregt war ich inzwischen. Verkrampft räkelte ich mich mit meiner Wange an dem kalten Fenster des S-Bahnwagens am Kondensat atmender Menschen an kühlendem Nass entlang. Meine beiden Hände klemmten so fest zwischen meinen Beinen, dass es für Außenstehende jetzt doch schon so aussehen musste, dass ich jeden Moment jegliche Beherrschung verlierend nichts mehr halten könnte. Zum Glück bewahrte mich gerade noch rechtzeitig die Ansage aus dem Lautsprecher davor, den S-Bahn-Wagen mit meinen Schreien zu einer Varieté-Bühne zu verwandeln.
„Nächster Halt … Savignyplatz, der Ausstieg befindet sich links!“ Beim Aufstehen musste ich mich mit einer Hand an der Sitzlehne festhalten und mich zunächst qualvoll strecken. Mein erregter Körper brannte wie nach einem Krampf, wie ich ihn schmerzhaft vom Schwimmen im oft zu kalten Wasser des Schwarzen Meeres kannte. Aber wenigstens stand ich schon mal wieder auf meinen eigenen zwei Beinen. Ein netter Mensch, der nach jungem Mann klang, half mir unaufgefordert in die zweite Schlinge meines Rucksacks. Nur weil ich von dem, was vor mir lag, abgelenkt war und den folgenden Ereignissen des Tages aufgeregt entgegenfieberte, brummelte ich, anstatt ihn zickig anzublaffen, ein viel zu nettes Danke. Die Blicke, die mich zeitgleich mit dem lauten Klackern meines sich entfaltenden Blindenstocks trafen, konnte ich nicht sehen. Aber ich hörte an der Atmung und dem Versiegen des flüsternden Gemurmels der Umstehenden, dass die Menge mitleidig jeden meiner Schritte neugierig beobachtete. Als ich die große Tastkugel, die am anderen Ende meines weißen Langstocks befestigt war, meinen Füßen weit voran in die Menge der stehenden Fahrgäste hinein gleiten ließ, stoben sie erschrocken auseinander. Mehr als nötig teilten sie sich nach rechts und links. Der Korridor zwischen ihren stumm wartenden Leibern war so breit, dass sie ihre Berührungsängste vor einer wie mir deutlich offenbarten. Dass das tatsächlich wieder so war, konnte ich auch ohne Augenlicht, wie sooft zuvor, deutlich und schmerzlich mit meinem Taststock durch meine Hände sehen. Von links nach rechts und wieder zurück, vor mir hin und her schwingend, so sah ich die Menschen in meiner Welt. Mein sorgsam für mich umherblickender, langer, weiser Freund ließ mich die peinliche Breite der gähnenden Leere vor mir deutlich sehen.
„Tack …, tack …, tack …, tack, …“, hörte ich aufmerksam in die pechschwarze Nacht, die ich zügig in Richtung Tür durchschritt. Remple dann aber doch noch jemand an …
„Sorry!“ Das „Hey du Arsch, siehst du denn nicht, dass ich blind bin?“, hatte ich mir gerade noch verkniffen.
„Kein Problem, bitte nach Ihnen!“, die Stimme klang nach Weichei – Idiot! Wie eine Flüchtende hetzte ich, so schnell ich konnte, durch all die Normalen hindurch auf die Tür zu, die schon wieder zu zischen begann.
„Halt, ich will auch noch raus!“, alles, nur kein mitleidiger Sabbel jetzt oder dumme Kommentare, dachte ich panisch. Ich wollte nur noch weg. Raus aus diesem stickigen Wagen, wieder hinaus an die frische Luft.
Die Abkühlung tat zwar richtig gut, dennoch hätte ich auch noch etwas mehr Genussvolles mit meiner jetzt wieder abklingenden Erregung anzufangen gewusst. Doch dann hörte ich das Abrollen von Fahrradreifen. Es konnte aber kein Fahrrad sein, weil das leise Klicken der Gangschaltung fehlte. Reflexartig, einer Intuition folgend, drehte ich flink meinen Kopf genau in die Richtung, aus der das Geräusch kam, und schrie mitten in das geschäftige Treiben auf dem Bahnsteig hinein.
„Maike, bist du das?“
„Hi Ronja, ja, das bin ich. Das ist ja wieder typisch, die Alena sieht mit ihrem Stock und ihren Ohren auch oft schneller, als ich mit meinen Glasbausteinen, wo's gut weiter lang geht.“
„Schulter oder Schieben?“, fragte mich Maike und ich kam zu dem Schluss, dass sie genauso locker über den Dingen zu stehen schien wie meine Freundin Mara.
„Schulter ist kuscheliger und vom Schieben werde ich zu fett“, bemerkte Maike und steckte mir damit durch die Blume, dass sie vermutlich nicht die Schlankeste unter den Hübschen war.
„Wollten wir uns nicht vor dem Marjellchen treffen?“, antworte ich, um von dem Thema, das ihr möglicherweise ein bisschen peinlich war, abzulenken.
„Ich war früher dran und ein bisschen mehr Bewegung kann nie schaden. Hier links ist übrigens auch eine Treppe, wenn du willst, … du kannst gern auch oben auf mich warten. Die Aufzüge hier stinken nämlich immer nach … na ja, du weißt, was ich sagen wollte, oder?“ Auf dem Spaziergang erfuhr ich von Maike, dass das „Schattenglut“ tatsächlich von einer Innenarchitektin nach Entwürfen von Laurent Benaïm und mit Bildern von ihm komplett durchgestylt worden war. Aber dann fing sie plötzlich damit an, dass wir Krüppel schließlich zusammenhalten müssten. Im Plauderton erzählte sie mir, dass es leicht verdientes Geld sei, das wir mit der Vermarktung unserer lädierten Körper den Leuten jetzt endlich auch mal selbst aus deren Taschen ziehen könnten. Meine eine Hand lag auf dem Griff des Rollstuhls, der mich lenkte, und mit der anderen verfolgte ich mit meinem Stock unseren Weg. Von dem, was ich da gerade aus Maikes Mund hörte, war ich so geschockt, dass mir spontane Worte fehlten. Offensichtlich spürte auch die Rollstuhlfahrerin, dass sie sich total im Ton vergriffen hatte, oder sie sah mir meine Abneigung gegen ihre Worte in meinem Gesicht an.
„Also den Leuten, die uns lange Zeit ja eh nur verachtend gemieden hatten“, schob sie dann zögerlich nach. Mit dem Schattenglut ginge das jetzt auch ganz einfach und alles sei absolut legal – Sie nannte die Masche verniedlichend: „Einfach ein bisschen abzocken!“ – Ich meinte, aus Ihrem Tonfall dazu auch noch ein schiefes Grinsen herausgehört zu haben. Mittlerweile war mir von dem Gehörten innerlich schon speiübel geworden und ich schaffte es gerade noch, mich zu beherrschen. Meine eigene, für mich bisher eher harmlose Wortspielerei, dass Benaïm mit seinen Fotostrecken Beeinträchtigte gesellschaftsfähig etabliert hatte und sich aus seiner Idee hier in Berlin ein Etablissement mit Spaß und Kultur bis hin zum Sex für alle entwickelt haben könnte, war übelste Realität geworden. Übelste Realität, mit der ich so am wenigsten gerechnet hätte. Dass es sich um eine Art Höllenclub, natürlich nur für Erwachsene, handeln musste, war mir vorher schon klar gewesen. Deshalb hatte ich mir ja auch passende Kleidung für diesen Besuch besorgt, die meine Interessen und Absichten für Sehende auf den ersten Blick klar erkennen ließen. Aber ich dachte dabei mehr an so etwas Stilvolles, eher etwas Exklusives, mit einem Galerie- und einem niveauvollen Barbetrieb. Aber das, was Maike da gerade beschrieb, hörte sich für mich jetzt mehr nach einem schmierigen, mafiösen Schwarzgeldschuppen an. Eine konkretere Vorstellung hatte ich natürlich nicht. Deshalb war ich ja auch hier, um mir das Ganze einfach einmal selbst anzuschauen. Schließlich war ich auch neugierig auf diese Swingerclubs, von denen ich im Internet las. Aber auf das, was diese Maike da gerade von sich gab, hatte ich wirklich überhaupt keinen Bock. Dafür hatte ich weder Verständnis noch wollte ich für Dinge wie Abzocke, Menschenhandel und arbeitsscheue Goldkettchenmachos sowie deren Gefolge jeglichen Geschlechts einen Hauch von Toleranz aufbringen. Das ging mir aufgrund meiner eigenen bitteren Erfahrungen mit Unterdrückung, Zwang und Prostitution dann wirklich schnell ein gehöriges Stück zu weit. Auch wenn hier skrupellose Leute aus Laurent Benaïms wunderbarer Idee einen Taschenspielertrick entwickelt hatten, der ausschließlich Menschen mit Beeinträchtigungen bereicherte, war das für mich auch eine zu verachtende Form von Diskriminierung und Kriminalität, mit der ich nichts zu tun haben wollte. Die Normalen zu betrügen war moralisch schließlich dasselbe wie sich an uns Schwachen zu bereichern. Wie hatte sich meine Begleiterin da gerade ausgedrückt? „… Ein für uns Krüppel recht profitables Geschäft!“, glaubte ich da gerade, so unkonzentriert und schockiert, wie ich von ihren ersten Ausführungen noch war, von ihr gehört zu haben. Konnte das wirklich der Ernst dieser Frau sein? War sie so verbittert von ihrem Schicksal, oder war sie frei von jeder Moral, wirklich so skrupellos und gierig, wie sich das alles aus ihrem Mund gerade anhörte? Ich entschied mich, obwohl mir das im Moment recht schwerfiel, gegen eine vorgreifliche Vorverurteilung und beschloss, so gut es geht, zunächst noch weiter eine gute Miene zu einem möglicherweise sehr bösen Spiel zu machen.
„Sagt dir denn die Micheli Correia aus Brasilien etwas?“, fragte ich meine Begleiterin, um das Gespräch in eine passendere Richtung zu lenken.
„Nicht wirklich, was ist denn mit der?“
„Die ist eine erfolgreiche Fotografin, eine Frau, eine wie wir. Sie ist blind und sie fotografiert.“
„Warum nicht? Wenn die damit Kohle macht, find’ ich das voll ok.“
„Und was findest du nicht so voll, ok?“, hakte ich scharf nach und fuhr damit fort, ihr die Meinung zu geigen.
„Jede soll das, was sie will, solange machen, wie sie es will. Dann ist doch immer alles voll ok, oder?“
„Arbeiten bei euch im Team eigentlich nur Frauen, mit der gleichen Einstellung wie du?“
„Aber nein, was denkst du denn? Diskriminierung geht gar nicht, das wäre total tödlich für unser ganzes Konzept. Nur weil ich die Dinge gern klar beim Namen nenne, sind wir noch lange keine Unmenschen.“
„Nun ja, Krüppel, die abzocken, hört sich trotzdem weder fair noch angemessen an“, fasste ich das, was mich an ihren Äußerungen aufregte, noch einmal zusammen.
„Hey, bist du immer so empfindlich? Schau dich doch erst mal in Ruhe bei uns um.“
„Hört sich so an, als ob wir schon da wären?“, sagte ich kühl, als neben mir Räder auf eine Rampe polterten.
„Ja, warte noch einen Moment in der Lobby, Alena wird dich sicher gleich abholen lassen, wir treffen uns dann bestimmt später noch einmal an der Bar.“
„Schauen wir mal, Maike. Aber trotzdem, danke fürs Abholen“, sagte ich und riss mich zusammen, dass mein Tonfall nicht verriet, wie froh ich darüber war, dass ich sie wieder los war.
„Hey, aber dafür doch bitte nicht“, sagte Maike, und ihre Sprachmelodie verriet mir, dass sie gar nicht verstanden hatte, wie abstoßend ich das fand, was sie mir erzählt hatte.
Ich hörte, dass ich mich in einem großen Raum befand. Einem Raum, der eine Weite und eine Ruhe ausstrahlte, die in krassem Widerspruch zu dem stand, was Maike mir gerade so Schockierendes über das „Schattenglut-Projekt“ erzählt hatte. Irgendwo plätscherte ein Wasserfall. Er toste nicht wild, aber er war da und verbreitete, zumindest akustisch, mehr Harmonie, als ich das erwartet hatte. Das Quietschen von Maikes Rolli hatte sich in der Weite schnell verloren. Aber erst als ich aus der Richtung, in die ich sie entschwinden hörte, das leise Klicken eines Türriegels vernahm, war ich mir recht sicher, dass sie wirklich weg war.
„Was für ein Glück, dass ich die vorerst los bin“, flüsterte ich leise in die gemütliche Stille, mit dem schönen Plätschern im Hintergrund, vor mich hin.
„Hey! Du musst Ronja sein, hab ich recht?“, hörte ich, hell und klar, eine Stimme, rein wie ein Glöckchen klingen, und kurz danach kleine, schnelle, leichte Schritte, die zügig, mit federnd klingenden Laufgeräuschen, auf mich zuhuschten.
„Ja, das stimmt, aber du bist nicht Alena. Weißt du, wo ich sie finden kann?“
„Aber ich bin Alena’s Assistentin!“, hörte ich die weiche Stimme, diesmal dicht vor mir, unaufdringlich von unten nach oben zu meinen Ohren hoch schallen.
„Klar, weiß ich das. Deshalb soll ich dich ja auch hier abholen und zu ihr bringen.“
„Na gut, aber Alena’s Assistentin?“ – Ein Kind, hier? Einen Augenblick später ergriff mich eine winzig kleine, sehr zarte, weiche Hand um ein Handgelenk. Das zarte Wesen nahm meine Rechte und legte sie sich, ohne Worte, mit einer fließenden Bewegung auf seine Schulter. Ich erschrak zwar kurz, aber dann hörte und spürte ich, dass das zierliche Geschöpf, einfach geduldig wartend weiter vor mir stand und ruhig weiter atmete.
„Ihre Assistentin? So, so …“, sagte ich misstrauisch und führte den mysteriösen Dialog, wie zu einer Salzsäule erstarrt, kritisch fort. „Ich weiß aber noch gar nicht, ob ich mit dir mitgehen will. Vorher musst du mir zuerst sagen, wie alt du bist und wie du heißt.“
„Ja, richtig, ihre Assistentin. Ich bin sechsundzwanzig Jahre alt und mein Name ist Yasu. In meiner Landessprache bedeutet Yasu ‚Die Friedliche‘ und arabische Christen nennen Jesus auch Yasu. Ich wurde in Japan geboren und bin dann dort aufgewachsen. Später habe ich aber aus persönlichen Gründen mit meinem Heimatland gebrochen. Mittlerweile verstehe ich mich seit einigen Jahren als freie europäische Frau.“ Die Schulter des kleinen Wesens, das sich gerade als Alenas Assistentin vorgestellt hatte, fühlte sich dennoch so weich, zart und zerbrechlich an, wie eigentlich nur die eines zierlichen Kindes sein kann. Obwohl sich alles, was das frauliche Wesen sagte, zwar glaubhaft anhörte, hatte ich immer noch Bedenken. Irgendetwas schien hier komisch zu laufen. Leider hatte ich im Moment nur keine weiteren Anhaltspunkte, um die immer zahlreicher werdenden Rätsel jetzt schon alle lösen zu können. Meine Neugier war aber deutlich größer, als mir meine Zweifel wert waren. Ohne eigene Assistentin an meiner Seite machte es für mich im Moment auch wenig Sinn, Yasu noch zum Vorzeigen ihres Personalausweises aufzufordern. Aber ich war ja auch wegen Alena und nicht wegen ihrer Assistentin hier.
„Also gut, Yasu, danke, das war sehr nett von dir, dass du mir auch, ohne dass ich dich danach fragte, so viel mehr von dir erzählt hast“, sagte ich freundlich, aber fragte dann doch noch einmal weiter kritisch nach. „Wer hat dir denn eigentlich gesagt, wie ich heiße?“
„Das weiß ich von dir selbst, seit du mit Alena telefoniert hast. Ich stand ja daneben, weil ich fast immer bei Alena bin, meistens sogar auch in der Nacht, also selbst dann, wenn sonst alle schlafen“, sagte Yasu. Dann legte sie mir, weich und warm, ihre eine Hand auf den Rücken, meiner Hand, die noch immer auf ihrer Schulter lag. Yasu signalisierte mir damit wortlos, dass sie gekommen war, um mich, ohne dass ich Ängste in mir aufkeimen lassen müsste, durch die fremde Umgebung zu führen.
„Also gut, von mir aus kann's losgehen. Du darfst mich jetzt führen“, beendete ich mein kritisches Hinterfragen vorläufig. Yasu setzte sich so, als ob sie schwebte, in einer Art und Weise, als wolle sie mit mir tanzen, in Bewegung. Wortlos, aber leise ein Lied in einer fremden Sprache vor sich hin summend, zog sie mit mir los. Ich fühlte mich wieder sicher. Yasu führte mich durch die weite Halle weg in einen anderen Bereich der Schattenglut. Wir erreichten diesen durch eine Art Schleuse, die aus einer Abfolge von mehreren schweren Vorhängen gebildet wurde, und ließen die eindrucksvolle Lobby hinter uns. Die neue Atmosphäre war plötzlich ganz anders. Der Raum, in dem wir uns jetzt befanden, wirkte deutlich kleiner, obwohl er sich immer noch sehr groß anhörte. Im Hintergrund säuselte dezent eine unaufdringliche Melodie aus Lautsprechern, die sich nach der besten Qualität anhörten, die man kaufen konnte. Eine stilvolle Gediegenheit vermischte sich mit einem zarten Duft von frischen Kräutern und fruchtigen Aromen, die auf Obst in Schalen oder Körben schließen ließen, in den sich flüchtige Alkohole, die ebenfalls in der Luft lagen, mischten.
„Fühlst du dich wohl, Ronja?“, hörte ich Yasus Stimme fast zärtlich hauchen und nahm am Echo ihrer Stimme wahr, dass der Raum, in dem wir uns jetzt befanden, mit Stühlen und Tischen, auf denen vermutlich Tischdecken aus Stoff lagen, ausgestattet sein musste.
„Angst habe ich keine, falls du das meinst. Aber ich bin unendlich neugierig darauf, zu erfahren, wo du mich hingeführt hast und was das hier für ein Raum ist. Außerdem hoffe ich, dass wir bald bei Alena eintreffen, ohne das Telefonat, das sie mit mir geführt hatte, hätte ich mich nämlich gar nicht darauf eingelassen, so tief in die Schattenglut vorzudringen.“
„Hat Maike dich so erschreckt?“
„Kannst du Hellsehen, Yasu?“
„Ja, hell und dunkel, schwarz und weiß, alle Farben der Welt, so schillernd wie sie ist, aber ich mag trotzdem kein Licht.“
„Warum weichst du mir mit der Antwort auf meine Frage so aus, Yasu?“
„Sie ist dir doch gar nicht ausgewichen, Ronja!“, Alenas Stimme klang sehr mächtig und flutete den großen Saal, mit einer unglaublichen Energie. Es hörte sich fast so an, als spräche sie, gerade als Orakel.
„Ohh Alena, wie schön dich zu hören“, mit diesen Worten löste ich mich von Yasu und drehte mich in die Richtung, aus der mich Alenas wundervolle Stimme, die in echt noch viel eindrucksvoller als am Telefon klang, gerade angesprochen hatte. Zwischen Alena und mir stand nur noch ein großer, runder Tisch. Dass er da war, hatte ich gehört, das Tischtuch, das ihn bedeckte, war schon am Klang des Echos erahnt, und dass er groß und rund sein musste, war schnell ertastet. Kurz bevor ich losstürmen konnte, um Alena zur Begrüßung zu umarmen, umgriff mich die kleine Yasu zärtlich um meine Taille und hielt mich mit ihrer liebenswerten Art vorsichtig zurück.
„Hey Yasu, was soll das?“
„Setze dich bitte dort, wo du stehst, mit uns an den Tisch, du stehst schon genau vor deinem Stuhl, Ronja“, antwortete schon wieder Alena. In ihrer Stimme lag zwar Freundlichkeit und Zuneigung, aber, dass sie zwischen uns mehr Distanz als ich wahren wollte, machte sie mit diesem einen Satz mehr als unmissverständlich klar. Wie aufgefordert nahm ich Platz. Schließlich war ich hier zu Gast und wusste, was sich gehörte. Rechts von mir wurde ein Stuhl gerückt. Kurz darauf spurte ich zuerst die Wärme von Yasus kleinem Körper und einen Augenblick später auch wieder ihre zarte Hand auf meinem Unterarm, der vor mir auf der Tischdecke lag.
Himmelfahrt - Die Kurzgeschichte
Danke an alle Lesenden, alle geduldig Fördernde und die ausdauernd Lektorierenden
Ich freue mich über Kritik, Tadel und Lob aller Art sowohl in Form von PNs, Kommentaren als auch über das eine oder andere BX Herzchen. Wenn ihr wollt dürft ihr mich auch gerne nach Lust und Laune lektorieren. Hilfe ist auch gerne für Verbesserungsvorschläge und Erklärungen zum Ausdruck, dem Satzbau und der Zeichensetzung willkommen.
Lisa Mondschein am 23. März 2022,
dem 28. Kriegstag, nach Putins Überfall auf die Ukraine
Mir tun von Tag zu Tag all die Menschen in diesem unsinnigen Krieg immer mehr leid. Aber außer an sie zu denken, ihnen Gesundheit, Glück und baldigen Frieden zu wünschen fällt mir noch immer nicht viel mehr ein, was ich für sie tun könnte, außer zu schreiben. Schreiben um mit Ablenkung zu trösten, aber auch um zu erinnern und zu mahnen.
Texte: ©Lisa Mondschein
Bildmaterialien: ©horror-shop.com
Cover: ©horror-shop.com
Lektorat: ©Fizzy Lemon
Tag der Veröffentlichung: 23.03.2022
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für die vielen Sternenflieger der https://lunaria-galaxie.de/ die mich als Schreibende, so wie ich bin, aufgenommen und unterstützt haben.