Bei dem Trip zur Oma in Ungarn bekam ich gleich Anfangs zwei Kulturschocks verabreicht. Ich war 17 Jahre alt, zu tiefster DDR-Zeit 1964 per Anhalter zu Oma von Thürngen nach Szombathely/Ungarn unterwegs. Ich war ein jugendlicher Tramp und stand damals mit sehr wenigen anderen langhaarigen Jungs in Osteuropa mit dem ausgestreckten erhobenen Daumen auf der Straße.
Den ersten Schock bekam ich in der Turi-Kneipe „U Fleku“ in Prag. Mir wurde dort die Geldbörse aus der Arschtasche mit 120 Ostmark geklaut. Am Tisch gegenüber saß ein Typ, der sah noch gammeliger aus wie ich. Dieser hatte noch längere Haare und trug schon einen Bart, den verdächtigte ich lauthals. Dann griff er aber in seine Geldbörse am Bauch und reichte mir einen Hunderter, einen Westhunderter. Wenige wissen heute noch was das bedeutet. Für mich war es sehr bedeutsam - die Ostmark stand zur Westmark eins zu zehn. Ich hatte dadurch plötzlich eintausend Ostmark in der Reisekasse.
Zwei Tage später stand ich am Grenzübergang in Komarno, der damaligen Tschechoslowakei in der heutigen Slowakei. Ein Langholzlaster hatte mich aus Bratislava mit genommen und der Fahrer meinte, ich müsste zu Fuß über Grenze nach Ungarn laufen.
Es war ein strahlender Sonnentag, ein Montag im Juni vormittags um elf Uhr, als ich mich auf den Weg machte. Die Zahradnicka Straße ging über die kleine und große Donaubrücke zur ungarischen Grenzstation nach Komarom. In der Mitte der Brücke ist die Grenze und da gab es nicht nur das Staatswappen Ungarns, sondern auch ein Straßenschild Igmandi Ut neben dem weißen Grenzstrich auf der Brücke.
Ich fühlte mich da wie der Liebe Gott persönlich und war ungeheuer stolz über 800 Km per Anhalter gekommen zu sein. Es war meine bisher weiteste Trampreise. Nun war ich ein erfahrener Weltreisender!
Neben dem Staatswappen auf der Brücke saßen zwei Typen. In Jesuslatschen mit zerfetzten Rucksäcken, dreckigen Füßen, braun gebrannt. Beide hatten blaue runde Sonnenbrillen auf der Nase, futterten ein großes ungarisches Weißbrot mit viel Käse und tranken aus einem Kanister Milch. Sie sprachen deutsch und erzählten so ganz nebenbei, als ich mich auch an dem Käse, der Milch und dem Brot gut tat, sie kommen aus dem Hotel Savaria in Szombathely und vorher kommen sie aus Indien per Anhalter.
"Indien per Anhalter? Wie geht denn so was?" dachte ich und lies mir erzählen, wie man per Anhalter von Hamburg aus da hin und zurück kommt. Das war eine total andere Welt für mich, wo junge Leute einfach so durch die Welt mit einem Paß für alle Länder von Land zu Land reisen können. Ich kam aus der DDR und hätte eventuell bis Rumänien oder Bulgarien reisen können. Danach war für mich die Welt zu Ende. Neben der Sache mit Indien fand ich irre, dass sie das Savaria in Szombathely, so wie ich auch, kannten. Sie hätten in Jaipur von einem Hessen gehört, wenn sie heimwärts über Wien reisen, sollten sie sich unbedingt den Korso in Szombathely ansehen und am Freitag Abend nach dem Korso, den Korsoabend im Savaria.
Wir quasselten bis zum Nachmittag über das Hotel Savaria und Indien und gegen Abend war ich bei meiner Oma in Szombathely. Der konnte ich nun das neuste aus Indien erzählen. Oma erzählte das neueste aus dem Hotel Savaria, das damals so was wie der Balkon von Szombathely war. Und Oma erzählte vom korzó. Der korzó ’Korso’ war damals kein Autokorso, sondern ein Zustand auf mehreren Straßen, der regelmäßig am Samstag statt fand. Da liefen praktisch alle jungen Leute langsam durch mehrere Straßen um das Stadtzentrum von Szombathely. Mit Corso bezeichnete man früher vor dem 18. Jahrhundert ein Wettrennen reiterloser Pferde, wie sie vor allem in Italien auf Straßen und Plätzen stattfanden oder die Schaufahrt von oft geschmückten Wagen bei Hochzeiten oder Sportsiegen.
In Szombathely waren damals die reiterlosen Pferde die unverheirateten Mädchen und Jungs. Es war praktisch eine Art Heiratsmarkt, wo man die Jugendlichen schlicht und einfach am späten Samstagnachmittag auf die Straßen scheuchte, damit sie einen Lebenspartner finden. Das geschah aber nur indirekt. Äußerlich verfemten alle Eltern, die flügge Mädchen hatten, schon diese Institution, die sich vor langer Zeit entwickelt hatte und Mitte der Fünfziger Jahre wieder auf lebte. In der katholischen Kirche wetterte man von der Kanzel dagegen, die damals herrschende kommunistische Partei hatte den korzó oft als Parteiversammlungsthema im Sinne der Abwehr bürgerlicher Dekadenz auf dem Tisch. Das Problem der Genossen war aber, Szombathely heißt nichts anderes als Samstagmarktplatz. Der Korso war eine zähe Tradition, die man nicht leicht beseitigen konnte.
Ich kam damals mit der NATO, der NATO-Plane, NATO-Kutte. Eine Bezeichnung für in den 1960er Jahren gebräuchlichen modernen Nylon-Mantel, den es nur über West-Beziehungen gab. Meine NATO Beziehung war meine Tante Hilde in Melsungen bei Kassel. Das ist hier wichtig zu erwähnen für den Fortgang der Story um das Hotel Savaria. Ich sah nämlich in meiner NATO-Plane wie ein Bürger der BRD oder Österreicher aus und nicht wie ein DDR Bürger.
Meine Oma plante "finstere" Absichten mit mir. Weil es ihr seinerzeit nicht gelungen war, ihre Tochter, meine Mutter auf dem Korso zu vermitteln, hegte sie nun die Absicht mich zum Ausgleich in Szombathely zu verheiraten. Meine Mutter haute kurz vor dem zweiten Weltkrieg mit einer Freundin nach Wien ab und kam über Paris nach Guernsey, das dann im Krieg von deutschen Truppen besetzt wurde. Einer der Besatzer war mein künftiger Vater und seine Irma hatte es dann nicht mehr nötig wie ein reiterloses Pferd in Szombathely auf dem Korso herum zu laufen.
Nachdem ich dann geboren wurde und in der Lage war mir Geschichten zu merken, merkte ich mir, dass es im Hotel Savaria die dickste Doboschtorte gäbe, feinste Punschschnitten, schokoladigste Schokoladentorten. Eine Götterspeise wäre die "Gundel palacsinta", benannt nach einem berühmten Budapester Koch des Fin de siècle. Gefüllt mit Haselnusscreme, übergossen mit Schokoladensauce und garniert mit Schlagsahne, wäre sie ein Lobgesang an die ungarische Mehlspeisküche gewesen. Mama konnte mir das in der damaligen Mangel-DDR nicht bieten. Gab es Schokolade, gab es keine Schlagsahne. Haselnusscreme gab es nie!
Nagymama, also Oma hatte schon gut vor gesorgt und am Dienstagabend einen Tisch im Hotel Savaria für eine kleine Feier zu meinen Ehren bestellt. Der Tisch entpuppte sich als zehn zusammengestellte Tische zu einer Tafel in der Lobby. Vorher wurde ich aber am Nachmittag per Kleinbus nach Ják, einem Dorf in der Nähe von Szombathely zur entfernteren Verwandschaft gekarrt. Dort wurden zwei Mädels in meinem Alter und eine Anstandstante und zwei Onkel abgeholt. Es gab dann aber ein Problemchen mit den Mädels. In Szombathely sprach damals fast jeder und jede deutsch, in Ják bellten aber sogar die Hunde ungarisch. Die Mädels waren sprachlich drauf wie die Hunde. Ich kam dann mit der ganzen Gesellschaft gegen Neunzehn Uhr leicht angeschwipst im Hotel an, weil mich die Mädels auf der Rückfahrt mit Palinka abfüllten. Sie waren hübsch und ihre großen dunklen Augen wurden von Kilometer zu Kilometer immer größer.
Im Hotel Savaria war inzwischen die komplette Verwandschaft versammelt. Das waren verwandtschaftlich gesehen so um zwanzig Personen. Nur die Gesellschaft war doppelt so groß, weil Oma Maria noch irgendwelche Bekannte mit Töchtern heimtückisch dazu geladen hatte. Also die Hälfte der Lobby war voll. Nach kurzer Rede von Oma Maria, die offiziell einem entferntem Onkel galt, der vor 14 Tagen Geburtstag hatte, spielte eine Zigeunerkapelle auf. Um mal ein Klischee zu bedienen, wie die Ungarn so sind, war es so, wie manchmal in der Literatur beschrieben. Am Anfang spielten sie unsäglich traurige Weisen vom Mütterlein, das sein Töchterlein in ein fremdes Land veriert und das Kind der Tochter ganz alleine wieder kehrt, um das alte arme Mütterlein zu pflegen. Nur, Oma Maria war zwar alt, arm war sie nicht. Oma Maria war sehr wohlhabend und Oma war sehr dominant und heimtückisch.
Dann bogen sich die Tische von der kompletten Küche des Hotel Savaria. Backhähnchen, Pörkölt konnte ich als halber Ungar identifizieren. Der Rest der Speisen war mir unbekannt. Mitten in der Heulerei kommt ein älterer Mann, der erst an der Rezeption stand heulend an unseren Tisch und entpuppt sich als ungarischer Jude, der das erste mal nach der Auswanderung in die USA, wieder in seiner ehemaligen Heimatstadt zu Besuch weilt. Nun ging das laute Weinen von allen eine Oktave höher und einige Dezibel lauter weiter. Man fiel sich in die Arme und wer sich noch nicht umarmend weinend verbrüdert hatte, der verbrüderte sich schulterklopfend heulend nochmals.
Dann langsam, aber sicher begann der lustige Teil des Abends. Es wurde getanzt und es flogen buchstäblich die Fetzen. Es ist so, wenn die Magyaren, die Ungarn in Stimmung kommen, dann haben sie Paprika im Arsch. Die Männer zogen alle ihre Jacken aus und tanzten wie in kitschigen UFA Ungarn-Filmen Csárdás, aber die jüngeren dann auch Rock and Roll und Twist. Sogar die Kellner des Hotels Savaria tanzten mit und die Köche auch, nachdem sie ein Spanferkel auf die Tafel gewuchtet hatten. Einige Männer der Verwandschaft kletterten dann mit der Zigeunerkapelle zu einem Balkon über der Lobby und fingen an ungarische Heldenballaden zu singen. Die
Lobby, die sich inzwischen um zusätzlich 100 Gäste addierte, sangen fleißig mit. Es war ein lustiger Abend, Oma Maria zahlte alles. Wie ich dann zu Oma nach Hause kam, weis ich auch heute nicht mehr.
Nur Oma wusste, das ich mich mit zwei Mädels verabredet hatte. Ildikó und Martha. Mit Ildikó traf ich mich am Mittwoch und mit Martha am Donnerstag. Am Freitag Vormittag sagte mir Ildikó aus Ják mit den großen runden Augen am Szombathelyer Bahnhof, dass es nix mit uns wird, weil ich mich am Donnerstag mit Martha getroffen hätte. Am Freitag Mittag kam per Eisenbahn meine Mutter aus Bad Salzungen in Szombathely an und beim Abholen vom Bahnhof sagte Oma Maria zu ihrer Tochter, dass es am Abend eventuell eine Verlobung mit Martha und mir zu feiern gäbe.
Meine Mutter nahm mich dann ins Gebet und flehte inständig mich nicht von meiner Großmutter austricksen zu lassen. Freilich wäre es ihre Mutter, die sie lieb hat und viel zu selten sähe, nur was ihre Kuppelverhalten anbelangt, wäre sie eine Hexe. "Die hat da absolut finstere Absichten! Wenn du das Mädchen nicht wirklich lieb hast, lass bitte die Finger davon! Und, was noch viel wichtiger ist, du kannst am Sonnabend nicht beim Korso mit laufen. Du kannst mit der Martha das dann nur noch vom Trottoire als Zuschauer betrachten!"
Freitag Abend hat dann meine ausgebuffte Oma bei den Eltern von Martha trotzdem ein Treffen arrangiert. Meine zwei verrückten ungarischen Cousinen Marika und Judith waren mit, sogar meine Mutter und meine Tante. Irgendwann saß ich dann sogar mit Martha im Schlafzimmer ihrer Eltern und Martha sagte, „wenn jetzt die Türe auf geht und wir beide sitzen beieinander zusammen und halten unsere Hände, sind wir so gut wie verheiratet. Meine Mutter will das so und deine Oma.“ Dabei heulte sie und sagte, sie hätte ja noch neben mir einen anderen Jungen gern, der sie aber eventuell nicht will. Heul, heul, heul. Ich bin dan aufgestanden und habe das Fenster auf gemacht. Die Türe zum Schlafzimmer ging dann auf und ich konnte ohne schlechtes Gewissen ohne Martha am Samstag zum Korso.
Es ist viele Jahre her. Sicher sehe ich das alles heute ein wenig genau so verklärt und fast genau so wie in dem Film "Ich denke oft an Piroska" aus Hódmezovásárhelykutasipuszta."Ich denke oft an Piroschka" ist ein deutscher Film aus dem Jahr 1955 und basiert auf dem Roman "Ich denke oft an Piroschka" von Hugo Hartung. Den Ort gibt es wirklich, die deutsche Übersetzung des Namens lautet so viel wie Marktplatz auf dem Biberfeld. Die Stadt liegt etwa 25 km nordöstlich von Szeged.
Wikipediatext zum Film: "Andreas, ein in die Jahre gekommener Schriftsteller, erinnert sich bei einer Zugfahrt an seine Jugendliebe aus Ungarn: Als junger Mann fährt er 1925 als Austauschstudent auf der Donau nach Budapest. Er verliebt sich auf dem Schiff in die junge hübsche Greta. Mit ihr zieht er die Nacht lang durch Budapest. Am nächsten Tag aber muss er mit dem Zug zu seiner „Ferienfamilie“ in einen entlegenen Ort in der Puszta („Hódmezovásárhelykutasipuszta“) fahren, Greta dagegen zu einem Urlaubsaufenthalt nach Siofok am Balaton.Andreas lernt in der Puszta die fröhliche 17-jährige Piroschka kennen, die Tochter des Stationsvorstehers. Sie verlieben sich bei einem Tanzfest und verbringen romantische Tage - bis eine Karte von Greta eintrifft.Andreas beschließt, zu Greta an den Balaton zu fahren. Piroschka, die durch ihre Mutter vom Inhalt der Karte weiß, folgt Andreas und bringt ihn in eine prekäre Lage, als sie mit Greta und ihm zusammentrifft. Als Andreas endlich begreift, für wen sein Herz tatsächlich schlägt, ist es beinahe zu spät. Er kehrt zurück nach Hódmezovásárhelykutasipuszta, aber Piri will ihn zunächst nicht mehr sehen. Erst beim Maisrebel-Fest versöhnen sie sich wieder. Aber es bleibt ihnen nur noch ein Tag bis zu seiner geplanten Abfahrt. Beim abenteuerlichen Abschied - Piroschka hält zuletzt seinen Zug an - verspricht er, wieder zu kommen. Aber aus diesem Happy End wird nichts, da er Piroschka "nie mehr wieder" sieht."
Eigentlich beginnt erst hier meine ungarische "Piroska" Geschichte, die mit den vorherigen Verwicklungen sehr wenig zu tun hat. Naja, der Nylonmantel spielt noch eine Rolle. Ich hoffe, sie sind von Abschnitt zu Abschnitt in diesem Text gehüpft, um zu erkunden, wie die Geschichte weiter geht.
Alleine, die Abläufe auf dem Korso zu beschreiben, müsste ich jetzt noch 4 Kapitel einfügen. Denke aber wenige Sätze reichen erst mal aus das zu beschreiben.
Ich bin mit meinen beiden Cousinen Marika und Judith am Sonnabend gegen 16.00 Uhr auf den Szombathelyer Korso gegangen. Es war einfach, sie wohnten direkt an einer Straße, die zum Korso gehörte. Marika war ein Jahr älter als ich, also 18 und Judka, Judith war 14 Jahre alt damals. Judka kicherte immer nur und Marika erklärte mir, was damals da so abging. Kaum waren wir auf der Straße, kamen mir zwei Mädchen, die sich eingehakt hatten entgegen und eine hielt mir ein blaues Schulheft unter die Nase und sprachen auf mich ein. Ich verstand kein Wort. Ich sprach ja kein ungarisch. Cousine Marika klärte mich auf. "Schreibe deinen Namen und Adresse in das Heft, nach ca. einer Stunde sehen wir sie wieder. Wieder? Es war praktisch so, dass die Mädels in Uhrzeigerrichtung um den Korso liefen und die Jungen, die Männer entgegen der Uhrzeigerrichtung. In manchen Straßen wäre es auch umgekehrt. Fünfzig Meter weiter kommt eine kleine mollige Blonde auf mich zu gerannt und sagt laut fordernd "edj pussit!". Marika meint, "das heißt einen Kuss", also ich soll die kleine Dicke küssen. Na, und meinen Namen und Adresse in das Heft schreiben. Ich habe sie dann auf die Wange geküsst und die kleine Blonde hat einfach ihren spitzen Mund nochmal hin gehalten. Da hab ich sie auf den spitzen Mund halt geküsst und gedacht ihr Ungarinnen habt doch nicht mehr alle Tassen im Schrank. So um die zehn mal ging das dann noch so. Mit dem Heft und der Küsserei. Selber auf die Idee jemand aufzufordern, was in mein Heft zu schreiben bin ich nicht gekommen. Ich hatte ja kein Heft und kannte diese Rituale nicht und konnte damit absolut nichts anfangen. Merkwürdig fand ich nur, das eigentlich sonst die Jungen die Aktiven waren bei diesen komischen Zeremonien.
Cousine Marika klärte mich auf. "Es hat mit deinem Mantel zu tun. Der "NATO-Plane, NATO-Kutte", die mich als Österreicher, als Westler identifizierte. Besonders aus dem Burgenland um Eisenstadt schwärmten junge Männer damals oft nach Nordungarn zur Brautschau oder zur schnellen Nummer aus. Man sagte zwar allgemein damals , Ungarn wäre die lustigste Baracke im Sozialismus, doch seit dem Aufstand von 1956 galt die Regel für junge ungarische Frauen, die lustigste Baracke ist kein Vergleich zu einem stabilen wohlhabenden Haus aus roten Backsteinen im Burgenland Österreich. Die rote Baracke mochte in Ungarn fast niemand, außer den überzeugten Kommunisten. Viele Mädels wollten raus aus Ungarn in den Westen!
Trotzdem, was ich damals noch nicht so richtig wusste, das Phänomen Korso stand unter Auflösung. Weniger wegen dem Druck der Eltern, der Kirche oder der Kommunisten. Es hatte was mit Musikverstärkern zu tun. In Österreich entstanden damals die ersten Diskotheken, was relativ schnell nach Ungarn hinüber schwappte. Man brauchte nicht mehr mit blauen Heftern auf der Straße herum zu irren, man ging zur Partnersuche in die Diskothek.
Die ersten Diskotheken waren damals im Hotel Savaria oder im Kaffee Keringö oder in der Ruby-Bar. Sei es wie es sei, das Hotel Savaria war damals in Szombathely/Steinamanger die Nummer EINS. Auf dem Balkon über der Lobby konnte man die Röhrenvererstärkertechnik aufbauen und die Beats in die Lobby knallen.
Am Sonnabend Abend nach dem Korso flog ich wie eine Schwalbe dort ein. Das mit der Schwalbe ist fast wörtlich gemeint. Das damals irre modische Nylonmäntelchen wedelte bei jedem leichten Windzug nach allen Seiten. Marika und meiner Mutter erzählte ich damals nicht, das ich Westgeld in der Hosentasche hatte. Mit einer Westmark Eintritt kam ich locker an einen Sondertisch der Österreicher, die besonders am Samstag nach dem Korso dort ein flogen. Dann kannten mich die ja von der Forint verschlingenden Fete von Oma und der dortigen Erkenntnis, dass ich die Verrückten auch persönlich kannte, die vor wenigen Tagen direkt aus Indien dort Quartier nahmen.
Ich, der kleine harmlose Huzi aus der DDR war da im Haus Nummer eins von Szomathely zum außerordentlichem Star mutiert. Gegen zweiundzwanzig Uhr hing mir eine Ersibeth in einem dünnen Kunstseidenkleid am Hals. "Una lacrima sul viso" - "Du hast ja Tränen in den Augen" tönte Bobby Solo, ein italienischer Schlagersänger durch den Röhrenverstärker vom Balkon über der Lobby.
Bobby hieß eigentlich Roberto Satti und war ein Jahr älter als ich.Ersibeth wippte beim Tanzen im Takt der Schnulze von Bobby Solo mit ihrem Becken gegen meinen Schritt und machte mich ganz schön scharf. Kurze Rede langer Sinn, gegen Ein Uhr bat mich Ersibeth um Begleitung nach Hause. Es wäre nicht weit. Hab ich dann im Laufen knutschend mit gemacht. Vor ihrem Haus fragte mich Ersibeth aus. Woher ich den schönen Mantel hätte. Ich hab alles erzählt, von Tante und DDR. Bekam dann aber wegen DDR kurzes Küsschen auf Wange und Ersibeth war auf der Treppe nach oben verschwunden.
Ich trollte mich dann zu Oma und wollte nur schlafen, schlafen, schlafen. Neues Problem, ich hatte nicht den Haustürschlüssel von Oma. Ich wollte Oma nicht wecken und trollte mich zurück zum Hotel Savaria. Inzwischen war es gegen zwei Uhr. Ich komme in die Lobby und was sehe ich, höre ich? "Una lacrima sul viso" - "Du hast ja Tränen in den Augen" tönt es vom Verstärker des Balkons und Ersibeth war vor mir wieder da und tanzt in den Armen eines Österreichers und wippt ebenso mit ihrem Becken gegen seine Hose.
Mein Dusel aber war, der Österreicher war schon sehr voll mit Alkohol abgefüllt und zu keiner wichtigen Gegenregung mehr fähig. Ersibeth war auch nicht mehr ganz nüchtern und schleppte mich schließlich in ihre kleine Wohnung in der Nähe der Schuhfabrik.
Ersibeth war Schuhnäherin am Schuhfabrikfließband und beseitigte damals meine sogenannte Jungfräulichkeit bis die Sonne in Szombathely wieder auf ging mit der Präzision einer Nähmaschine. Ihr war es wohl nun scheißegal, was ich für einen Mantel an hatte. Ob ich aus der komischen DDR komme oder aus Österreich. Ich hatte das erste mal in meinem Leben Sex. Auch noch im einzigstem Land der Welt, wo man Sex, szex schreibt!
Oma grinste gönnerhaft, als ich mit einem mittelschweren Kater zum Frühstück erschien. Sie grinste dann nicht mehr, als ich erzählte, dass ich die Nacht bei einem Mädchen aus der Schuhfabrik verbracht hatte. Das wären doch alles Ribanc kurva, also Huren, die im Hotel Savaria verkehren, um sich einen Ausländer zu angeln. Meine Mutter beendete dann die Frühstückszeremonie mit einem handfesten Familienstreit. Drei Tage später war ich wieder in Thüringen ohne ungarische Verlobte. Brauchte nicht trampen. Oma zahlte die Rückreise über Budapest per Eisenbahn.
42 Jahre später im Jahr 2006 stehe ich wieder vor dem Hotel Savaria. Das Hotel hatte schon längere Zeit geschlossen. Ich drückte meine Digitalkamera an die halb blinden Fensterscheiben der Lobby. Es sah dort aus, wie vor 42 Jahren. Nichts hatte sich verändert. Die Wandtäfelung war noch da, die Rezeption und der Balkon, die Galerie. Ich vermeinte dann Bobby Solo zu hören mit "Una lacrima sul viso" - "Du hast ja Tränen in den Augen".
Vorher war ich auf dem Friedhof, wo neben Omas Grab auf einen Zettel folgender Spruch stand: "Extra Hungariam non est vita: si est vita, non est ita" Außerhalb Ungarns gibt es kein Leben; und wenn doch, ist es ein anderes.
© 05.03.2010 Richard Hebstreit
PS: Tramper gibt es auch noch heute:
http://www.abgefahren-ev.de/
http://de.wikipedia.org/wiki/Trampen
Texte: FOTOS: © Richard Hebstreit
Tag der Veröffentlichung: 03.12.2010
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