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Inhalt

 

ein echt mieser Plan

Der zweite Fall für die Redakteure der Schülerzeitung Agrippina-News.

 

Erpressung. Fake-News. England. Auf Klassenfahrt in das englische Küstenstädtchen Worthing schliddern David, Heidi, Marie und Rufus in ein neues Verbrechen. Der beliebte Serienstar Giselle Paradiso wird erpresst, und plötzlich haben die vier jungen Redakteure einen Rucksack mit 25.000 Euro am Hals. Außerdem ist das neue Redaktionsmitglied Agrippina, die römische Ex-Kaiserin, spurlos verschwunden.

Entspannte Ferien sehen anders aus ...

 

Das Online-Magazin Agrippina-News ist die Schülerzeitung der Kölner Agrippina-Gesamtschule. Unser Redaktionsteam besteht aus fünf gleichberechtigten Mitgliedern: Rufus, Marie, Heidi, Agrippina und mir, David. Unser Redaktionsbüro liegt im Keller unter der Schulturnhalle. Den Raum hat Heidi im letzten Winter dem Hausmeister abgeschwatzt. (Mittlerweile Ex-Hausmeister, da er wegen des Diebstahls der Agrippina-Büste verhaftet wurde.) Und seit April sind wir mit allem, was das Herz eines Schulreporters begehrt, ausgestattet. Das Team:

 

Rufus Reich, genannt der Rote,

und mein bester Freund. 14 Jahre. Geht in die 8a. Leicht explosiv, wenn ihn jemand blöd anmacht. Grüne Augen, kupferrote Haare.

 

Heidi Schneider,

14, aus der 8d. Hat immer eine gute Idee, nervt aber mit ihrem Klamottentick. Kurze hellblonde Haare, blaue Augen. Ihr Markenzeichen: eine bunte Augenbraue.

 

Marie Dupont,

13, ebenfalls 8d. Supernett, lustig und für jeden Quatsch zu haben. Lange dunkle Haare, braune Augen. Ihre zahme Ratte Doktor No, genannt der Doktor, hat uns schon öfters aus der Patsche geholfen.

 

Agrippina,

etwas über 2000 Jahre  alt. Römische Ex-Kaiserin und Kölns Stadtgründerin. Klein, knubbelig, rotbraune Locken, graue Augen. Schokoladensüchtig. Reist in einem Zeit-Perpetuum durch die Weltgeschichte.

 

Und ich, David Ladowski,

13, aus der 8c. Braune Augen, blonde Locken. Die Ex-Kaiserin wohnt in meinem Zimmer (in einer rosa Glasvase), wovon mein Vater allerdings nichts wissen darf. Der würde sonst tot umfallen; so viel steht fest!

 

Englandkarte

Hier sind David, Heidi, Marie, Rufus und die Ex-Kaiserin Agrippina unterwegs:

 

I - Die Erpressung

Mittwoch, 28. September

 

Nachmittags in der Kölner Innenstadt:

Erleichtert lässt sie die sündhaft teure Trophäe in ihre Handtasche gleiten und fährt mit schweißnasser Hand durch die schwarzen Strähnen der Perücke. Ein nervöses Lächeln umspielt ihre perfekt geformten Lippen. Die Hochstimmung, die sie durch die Regalreihen der Parfümerie getragen hat, ebbt ab.

Durch die Schildergasse, Kölns bekanntester Einkaufsstraße, schieben sich Menschenmassen im Feierabendbetrieb und auf Schnäppchenjagd.

Das war leichtsinnig, denkt sie. Aber der Nervenkitzel und der damit verbundene Adrenalinstoß versetzen sie bei jedem Diebstahl in einen Rausch mit Suchtfaktor, auf den sie nicht verzichten will.

Ihre Kopfhaut kribbelt. Verdammte Perücke! Sie hält inne, beobachtet verstohlen die Umgebung. Im Vorbeigehen wirft sie einen bewundernden Blick auf die gegenüberliegende Kaufhausfront. Umrahmt von einem Kranz langer, schwarzer Wimpern blicken Giselle Paradisos himmelblaue Augen auf die Passanten herab. Und auf die ebenmäßigen weißen Zähne, die sie beim Lächeln zeigt, wäre jeder Kiefernorthopäde stolz. Eine goldblonde Lockenmähne rundet die Ähnlichkeit mit einem Weihnachtsengel ab.

Die Stadt hängt voll mit diesem Plakat. Glossy24, einer der marktführenden britischen Kosmetikkonzerne, macht mit ihrem Gesicht Reklame für eine revolutionäre Wimperntusche. Die Gage hat ihrem Bankkonto ein dickes Plus eingebracht.

Wenn die Pressetypen spitzkriegen, dass der Publikumsliebling und Star der Kult-Krimiserie Mordseeküste klaut? Nein, dazu sind diese Schmierfinken zu doof, überlegt sie, während sie ihre Aufmachung in der Schaufensterscheibe eines Schuhgeschäftes checkt; unförmiger Parka und schäbige Cordhosen, die in klobigen Boots stecken. Zwar kribbelt die Kopfhaut unter der Perücke wieder, aber ihre Tarnung ist perfekt. In dem Outfit erkennt sie kein Mensch.

Durch kühlen Nieselregen hastet Giselle in Richtung U-Bahn Haltestelle Neumarkt.

Den verächtlichen Blick des Mannes, der ihr seit Stunden folgt, bemerkt der Serienstar nicht. Er steckt sich einen Sonnenblumenkern in den Mund, kaut. Starrt auf das Foto, das er vor wenigen Minuten in der Parfümerie gemacht hat. Sein Mund verzieht sich zu einem triumphierenden Grinsen. Dann spuckt er die Schale in den Rinnstein. Zufrieden verstaut er das Smartphone in seiner Jackentasche, zieht den Schirm der Baseballkappe tiefer in die Stirn. und eilt hinter ihr her.

 

Zur selben Zeit bei mir zu Hause:

An der Agrippina Gesamtschule ist mittwochs normalerweise um vier Uhr Schluss. Aber heute ist die letzte Stunde ausgefallen. Einerseits klasse, denn eigentlich sollte ich ein Referat in Geschichte halten, das noch nicht ganz fertig ist. – Um ehrlich zu sein, ich habe bisher nicht mal damit angefangen. – Andererseits aber ziemlich blöd, weil es wie aus Eimern schüttet.

Ich schwinge mich auf mein Mountainbike und gebe Gas. Radele das Sträßchen hinter der Schule entlang durch ein kleines Wäldchen, vorbei an der Pferdekoppel. Mein Schulweg beträgt 672 Meter von der Haustür bis ins Klassenzimmer der 8c. Das habe ich letztes Jahr in einer Anwandlung von Pingeligkeit ausgemessen.

Als ich klatschnass zu Hause ankomme und in mein Zimmer gehe, fläzen sich Agrippina, die römische Ex-Kaiserin, und mein Kater auf dem Bett herum. Beide gähnen mich müde an. Ich glaube nicht, dass sie sich seit dem Frühstück mehr als einen Meter bewegt haben.

Für den Hinweis: „Leute, es ist Nachmittag! Wie wär‘s mit Aufstehen?“, ernte ich nur gelangweiltes Augenblinzeln.

„Na und? Es regnet!“, grunzt Agrippina. Sie klemmt sich eine verfilzte rotbraune Locke hinter das Ohr und deutet auf ihr fleckiges Schlafshirt. „Außerdem habe ich nichts anzuziehen, David“, bemerkt sie anklagend.

Ich öffne den Kleiderschrank, werfe ihr meine Jogginghose und ein Sweatshirt zu. „Rufus, Heidi und Marie kommen nachher!“, sage ich, schnappe mir meinen Lieblingspulli, der frisch gewaschen im Regal liegt und gehe ins Bad. Dort steige ich aus dem nassen Zeug und schlüpfe in trockene Klamotten. „Ich hab Hunger! Wollt ihr auch?“

„Logo! Was gibt’s denn?“, krakelt Agrippina.

Endlich kommt Bewegung in die beiden Pennsusen. Sie stehen auf und trotten Richtung Küche, wo Agrippina an und Kater Carlo auf der Küchentheke Platz nehmen. Erwartungsvolle blinzeln sie mich an.

Na toll! Jetzt darf ich nach einem anstrengenden Schultag auch noch Koch und Kellner für die verfresse Miezekatze und die olle Giftmischerin spielen. – Bloß gut, dass Papa unterwegs ist und erst morgen von seiner Dienstreise zurückkommt, denke ich amüsiert.

Mein Vater ist Historiker mit dem Spezialgebiet Römische Geschichte. Er arbeitet als Berater für verschiedene Museen und verehrt die zweitausend Jahre alte ehemalige Kaiserin sehr. Aber wenn er wüsste, dass sie leibhaftig in unserer Küche sitzt und auf einen Imbiss wartet, würde er tot umfallen, soviel steht fest.

Uns ist es zumindest fast so ergangen, als Agrippina vor zweieinhalb Monaten aus ihrer roten Qualmwolke stieg und unser bisheriges Leben komplett durcheinander brachte. Erst nachdem wir die Sommerferien gemeinsam in der Eifel verlebt und dabei die Einbrecher der Kölner Domschatzkammer geschnappt haben, ist uns die knubbelige Frau mit der Kreissägenstimme ans Herz gewachsen. Wir haben uns geschworen, ihre Existenz geheim zu halten; ebenso die magischen Kräfte ihrer Amulette und der antiken Agrippina-Büste, die im Foyer unserer Schule steht. Ganz zu schweigen von ihrer Qualmwolke, einem Zeit-Perpetuum-Mobile, das sie einer Mischung aus römischer Bildhauerkunst, vestalischer Magie und der Formula Secreta einer altägyptischen Geheimgesellschaft verdankt. Der Spaß kostete sie damals eine kleine Karawane voll Gold und zwei ihrer Lieblingssklavinnen, wie sie uns erzählte. – Aber davon abgesehen, würde uns sowieso jeder für total bekloppt halten, wenn wir damit rüber kämen, dass die römische Ex-Kaiserin Agrippina in meinem Zimmer wohnt, schokoladensüchtig ist und bei unserer Schülerzeitung mitmischt. – Was ich wirklich niemandem verübeln würde.

Besagte römische Ex-Kaiserin angelt gerade eine Tafel ihrer heißgeliebten Vollmilch-Nuss aus dem Vorratsschrank und schlägt die Zähne hinein, als es an der Haustür läutet.

„Tür ist offen!“, rufe ich, schütte Trockenfutter in Kater Carlos Fressnapf und mache ein Tütchen Katzenfutter auf. Ich inspiziere den Inhalt des Kühlschranks. Mein Magen knurrt. In der Schulmensa gab es heute Linsensuppe! Alleine bei dem Anblick ist mir der Appetit vergangen! Aber verdammt, hier sieht es ebenfalls trostlos aus. Um nicht zu sagen: extrem trostlos. Das einzige, was unsere Vorräte hergeben, ist ein Hauch von Nichts.

Mein bester Freund Rufus, wegen seiner Haare der Rote genannt, schlägt mir die Kühlschranktür vor der Nase zu, knallt Kuchencontainer und Einkaufskorb auf die Küchentheke. „Viele Grüße von Frevelchen. Sie hat mich eben vor eurem Haus abgefangen und wünscht guten Appetit und einen entspannten Nachmittag.“

Der verlockende Duft von frisch gebackenem Apfelkuchen weht mir um die Nase. Ich strahle: „Ist es das, was ich glaube?“

„Keine Ahnung, was du so glaubst, wenn der Tag lang ist, aber dein Vater hat unsere Haushälterin gebeten, dich zu füttern, solange er unterwegs ist. Er hat wohl …“

„Vergessen einzukaufen! Hab ich gerade gemerkt! Super, Danke! Frau Frevel und du seid meine Rettung!“

„Dito! Meine ebenfalls! Hmm, lecker wie immer“, schmatzt Agrippina, die sich bereits das zweite Stück Kuchen in den Rachen schiebt.

„Die Mädchen schließen noch die Räder ab. Mach dich auf was gefasst!“, grinst der Rote.

„Autsch!“ Angesichts des flauschigen Monstrums in Froschgrün und Pink, das mindestens drei Nummern zu groß ist, weiche ich entsetzt zurück und kneife die Augen zusammen. „Beißt der?“

„Nur, wenn man blöde Bemerkungen macht“, erwidert Heidi schnippisch. Ihre passend zum Outfit gefärbte neongrüne Augenbraue schnellt in Richtung Haaransatz.

Marie presst die Lippen zusammen, um nicht laut loszuprusten, während mein Kater fauchend den Schwanz einzieht und sich in die obere Etage verdrückt. – Dabei habe ich gelesen, dass Katzen nur Schwarz-Weiß sehen können. Schwachsinn.

Unsere halbe Jahrgangsstufe ist in Heidi verknallt, denn sie ist clever, witzig und verdammt hübsch. Außerdem hat sie immer eine gute Idee auf Lager. Aber mit ihrem Klamottentick geht sie uns echt auf die Nerven. Zwar sind manche ihrer Entwürfe ganz okay, aber das Teil, das ihr heute um den Körper schlottert, ist Geisterbahn-Deko pur.

„Ha, ha! Sehr witzig, David! Selten so gelacht!“ Die Ex-Kaiserin betrachtet mich wie ein lästiges Insekt.

Verflixt. Agrippinas Fähigkeit, meine Gedanken zu lesen, habe ich mal wieder völlig vergessen.

„Beachte die Blödmänner gar nicht. Unsere drei Mode-Analphabeten stellen damit nur ihre totale Ahnungslosigkeit unter Beweis! Das Pulloverkleid steht dir ausgezeichnet, Liebes. Wunderschöne Farben! – Wenn ihr ausgekichert habt, können wir vielleicht endlich anfangen?“ Sie schnippt einen Krümel in meine Richtung. „Der Kuchen war ja höchstens Vorspeise. Ich habe Kohldampf!“

„Sicher!“, erwidere ich friedfertig und decke den Tisch.

 

Währenddessen in der U-Bahn Station Neumarkt:

Schon wieder kribbelt die Kopfhaut. Durch die ungewohnt schwarzen Strähnen der Perücke mustert Giselle Paradiso angestrengt die Umstehenden: Ein junges Pärchen ist bei einem Straßenmusiker stehen geblieben, der sich an einer Rap-Version von 99 Luftballons versucht. Ein Mann mit Baseballcap und beigefarbener Jacke kniet neben dem Fahrkartenautomat, um sich die Schuhe zuzubinden. Eine beleibte Frau spielt an ihrem Handy herum, während ihr ebenso fetter Dackel an die Rolltreppe pinkelt. – Harmlose Passanten, stellt Giselle beruhigt fest. Niemand darunter, der ihr besondere Aufmerksamkeit schenkt.

Das Kribbeln muss an der Perücke liegen. Morgen am Set wird sie ein ernstes Wörtchen mit der Maskenbildnerin wechseln. Ihr so ein juckendes Billigteil anzudrehen! Was für eine Unverschämtheit! Dafür wird sie bezahlen! Giselles Pulsschlag beruhigt sich.

Lautlos fliegt eine Taube über ihren Kopf hinweg; streift die Perücke. Sie zuckt zusammen. Verdammt, heute ist wirklich nicht ihr Tag! Verdammte U-Bahn und verdammte Taxifahrer! Warum müssen die ausgerechnet heute streiken? Wütend stampft die Schauspielerin mit dem Fuß auf. Dann wendet sie ihre Aufmerksamkeit der Anzeigetafel zu und studiert die Zugfolge.

Linie 4 fährt ein.

Der Mann erhebt sich, klopft den Schmutz von den Knien seiner Jeans und schlängelt sich hinter Giselle in den zweiten Wagon. Die Bahn ist brechend voll. Im Gehen zieht er die beigefarbene Jacke aus, legt sie über den Arm. Er nimmt das Baseballcap ab und stopft ein paar Sonnenblumenkerne in den Mund, was ihm das Aussehen eines Hamsters verleiht.

Obwohl Giselle in die Richtung des Mannes blickt, und seine roten Haare sehr markant sind, erkennt sie ihn nicht wieder. Zwei Stationen später steigt sie aus und nimmt die Rolltreppe hinauf zum Friesenplatz.

Seit sie die Parfümerie verlassen hat, fühlt sie sich unwohl. Ihre Nerven flattern. Das überlegene Triumpfgefühl, das Prickeln, das sich sonst nach ihren Raubzügen einstellt, ist ausgeblieben. Sie fühlt sich betrogen, ist fahrig, gereizt.

Normalerweise feiert der Serienstar einen erfolgreichen Diebstahl mit Champagner in einer exklusiven Bar. Doch heute braucht sie etwas Hochprozentigeres. Zielstrebig steuert sie eine Kneipe an. An der Theke ordert sie einen doppelten Kräuterschnaps, den sie in einem Zug hinunterkippt. Sie tupft sich Schweißperlen von der Stirn, legt einen Geldschein auf den Tresen und tritt zurück auf die Straße.

 

Im Schatten der Alleebäume folgt ihr der Mann bis zu einem vierstöckigen Jugendstilhaus, dessen Fassade zartgelb gestrichen ist. Weiße Stuckverzierungen rahmen die Fenster ein und unterstreichen den eleganten Eindruck.

Nachdem Giselle die Haustür geöffnet und das Marmor-Treppenhaus betreten hat, reißt sie erleichtert die Perücke vom Kopf. Sie lehnt sich gegen die Wand, wuschelt durch die goldblonden Locken.

Klick. Klick. Klick.

Der Mann mit der beigefarbenen Jacke wischt ein paar Regentropfen vom Display seines Mobiltelefons. Dann begutachtet er die Fotos.

„Got it!“, flüstert er höhnisch, spuckt die Schale eines Sonnenblumenkerns auf den Bürgersteig und verstaut das Smartphone in der Jackentasche.

Ein heftiger Stoß gegen die Schulter bringt ihn aus dem Gleichgewicht.

„Wirst du wohl das Fräulein … in Ruhe lassen! Du, du …! Für welches miese Schmierblatt arbeitest du, hä?“, keift eine aufgebrachte Stimme in sein Ohr.

Verblüfft dreht sich der Mann um. „Pardon?“

„Pardon? Ich geb‘ dir gleich Pardon, du … du …! Du Paparazzo! Zieh Leine! Hau ab! Lass dich hier nie wieder blicken!“

Eine füllige Seniorin fuchtelt wütend mit einem tropfnassen Regenschirm vor seiner Nase herum, bevor sie Schwung holt. Schläge prasseln auf ihn ein und lassen sein linkes Auge binnen weniger Sekunden zuschwellen.

„Wenn ich dich noch einmal dabei erwische, dass du hinter ihr her spionierst, dann … dann mache ich …“ Sie tritt ihm mit voller Wucht gegen das Schienbein und lässt den Schirm erneut über ihrem Kopf kreisen. „Ich mach Hackfleisch aus dir! Zisch ab!“

Der Mann hält den Rucksack schützend vor sein Gesicht, stolpert. Stürzt in eine Pfütze. Rappelt sich auf, humpelt davon. Die Dicke brüllt Schimpfwörter hinter ihm her, die ihm die Schamröte ins Gesicht treiben.

Zwei Straßenecken weiter lehnt er sich stöhnend gegen eine Hauswand. Er sinkt zu Boden, während Tränen des Zorns über sein lädiertes Gesicht laufen.

„Auch dafür wirst du bezahlen, Giselle“, faucht er zähneknirschend.

II

Abends in meinem Zimmer:

Während wir auf dem Fußboden in meinem Zimmer chillen, hören wir die alten Rolling-Stones-Platten meines Vaters.

Ich rappele mich mühsam auf. „Kann mir jemand den Laptop holen?“

„Nö“, erwidern Rufus, Heidi und Marie einstimmig.

Faules Pack, denke ich, sage aber nur: „Schade!“ Und lasse mich zurückfallen. Eventuell habe ich ein oder zwei Schippchen zu viel gegessen. Kartoffelsalat, Frikadellen und Apfelkuchen zum Nachtisch waren superlecker, aber jetzt bin ich platt.

Agrippina hat sich mit einem Schokoriegel in ihre neue Behausung zurückgezogen, eine zarte, rosa marmorierte Glasamphore, die unter der Fensterbank steht.

Nachdem Rufus ihr altes Zuhause zerdeppert hat, das wir monatelang als Redaktionsmülleimer und Schirmständer benutzt haben, (damals noch völlig ahnungslos, dass sie darin wohnt), schenkte er sie ihr am ersten Tag des neuen Schuljahres; quasi als Wiedergutmachung.

„Wow! Cooler Sound!“ Roter Rauch quillt aus besagtem rosa Glasteil und unser fünftes Redaktionsmitglied materialisiert sich aus ihrer Qualmwolke. Sie pustet die Backen auf und stößt grauenhafte Pfiffe aus, dabei zuckt sie und lässt die gut gepolsterten Hüften kreisen.

Ich frage mich, was das werden soll, wenn es fertig ist. Geistervertreibung? Zumba für Anfänger?

„Satisfactio-ho-hon!“, grölt Agrippina. Sie schleudert die verfilzten Locken nach vorne.

Headbanging?

„Kinder! Wie in alten Zeiten!“

Die Mädchen kichern albern.

Der Rote verdreht entsetzt die Augen.

Der Arm des Plattenspielers hüpft kreischend über die Rillen.

Oh Gott! Sie tanzt! Hab ich es nicht geahnt? Wie peinlich ist das denn?

„David! Das habe ich genau gehört! Mehr Respekt vor Alter und Anmut, wenn ich bitten darf! – Zu meiner Zeit war ich eine der berühmtesten Tänzerinnen Roms! Die Edelleute haben sich darum gerissen, mir beim Tanzen zuzusehen!“, kommentiert Agrippina eingeschnappt.

„Kein Wunder, dass das Römische Reich untergegangen ist“, bemerke ich trocken und gehe zum Schreibtisch, klappe den Rechner auf. Klick auf Google Earth. „Aber jetzt vergessen wir Rom und denken an England, wenn es recht ist, okay?“, lenke ich ein.

„Bitte sehr! Wie du meinst!“ Beleidigt quillt Agrippina zurück in ihr Vasendomizil.

 

Seit dem 40-jährigen Bestehen unserer Schule machen alle achten Klassen in der Woche vor den Herbstferien eine gemeinsame Klassenfahrt nach England. Genauer gesagt: In das Küstenstädtchen Worthing, um dort die typisch englische Lebensart kennenzulernen. Normalerweise würden wir – brav nach Geschlechtern – getrennt untergebracht werden. Aber da Heidi, Marie, der Rote und ich eine Reportage über die Fahrt machen wollen, hat Herr Kaiser beide Augen zugedrückt und erlaubt, dass wir zusammen bei einer Gastfamilie wohnen dürfen. Wenn es um die Agrippina-News geht, frisst uns unser Schulleiter aus der Hand.

„Worthing, West Sussex, 100.000 Einwohner und“, ich zoome das Satellitenbild heran, „ein langer Amüsier-Pier am Strand.“ 

„Strand ist mir wurst. Hauptsache es gibt ein paar Fish-and-Chips-Läden“, meint der Rote. „Ich liebe dieses fetttriefende Zeug.“ Er tätschelt seinen nicht vorhandenen Bauch. „Das einzige, worauf ich bei der Englandreise gut verzichten könnte, sind die Lehrer. Die stören sowas von! Aber das tun sie ja eigentlich immer. Wenigstens ist kein Unterricht.“

„Schön wär‘s!“ Marie klatscht in die Hände, während sie die schrille Stimme ihrer Englischlehrerin nachahmt und ein geziertes Lächeln aufsetzt: „Kinder, ich habe eine ganz, ganz tolle Überraschung für euch! Als einzige Klasse bekommen wir die Gelegenheit, einen Tag an unserer Partnerschule, der Worthing Comprehensive School, zu verbringen! Wir dürfen am Unterricht teilnehmen und werden anschließend in der Schulmensa bewirtet!“

„Ich hätte fast gekotzt, als ich das gehört habe“, stellt Heidi fest.

„Ihr Armen! Meinem Englischlehrer geht es wie mir. Er meinte, dass er sich freuen würde, wenn er uns so selten wie möglich zu Gesicht bekäme.“ Der Rote grinst.

„Auch nicht nett. – Habt ihr beim Kaiser die Genehmigung eurer Eltern abgegeben?“, will ich wissen.

Heidi und Rufus nicken.

„Wegen der Gastfamilie? Warum? Das ist doch längst geklärt.“ Marie steht mal wieder voll auf der Leitung.

„Quatsch! Wegen der Rückfahrt. Dass wir in England bleiben und nicht mit den anderen zurückfahren.“

„Ach so! Die! Ja, klar! Meine Mutter war schwer beeindruckt, dass Mrs Cackle Literatur-Professorin ist. Das hört sich schön seriös an. Apropos: Ist Sie das?“

„Was?“ Jetzt stehe ich auf der Leitung.

„Seriös.“

Zu Jennifer Cackle fallen mir viele Eigenschaften ein, aber seriös? „Kein bisschen. Nett, witzig, schräg. Very british! Sie ist klasse. Ich bin sicher, dass ihr sie mögen werdet. Besonders du, denn Jenny hat einen halben Zoo in Chelwood Gate. Als wir sie das letzte Mal besucht haben, teilte sie sich ihr Cottage mit einer Papageiendame, zwei Schafen, einem Hund und drei Hühnern. – Und meine Eltern waren noch nicht getrennt. Sie und mein Vater sind alte Studienfreunde. Damals fuhr sie einen klapperigen Geländewagen, den wir erst anschieben mussten, bevor er angesprungen ist.“

„Erzähl das bloß nicht meinen Eltern! – Katzen?“, erkundigt sich Marie.

„Hab ich sie extra gefragt: nein, keine Katzen oder andere wilde Tiere, die dem Doktor gefährlich werden könnten.“

Doktor No ist Maries zahme Ratte, die verletzt im Tierheim abgegeben und von ihr liebevoll aufgepäppelt wurde. Seitdem nimmt sie ihn überall mit hin, – außer in die Schule oder zu mir, denn hier wäre der Doktor im wahrsten Sinne des Wortes ein gefundenes Fressen für Kater Carlo.

Der Rote tippt Chelwood Gate in den Rechner und grinst: „Das Cottage sieht echt Hänsel-und-Gretel-mäßig aus. Mitten im Wald wird der Name Programm; to cackle heißt gackern oder kichern.“

Heidi starrt auf das Satellitenbild. „Wald? Es gibt keine Bahnhaltestelle oder wenigstens einen Bus oder so? David, davon hast du nichts gesagt! Da hängen wir tot überm Zaun! Am 14. Oktober findet der Design Award statt. Ich muss nach London!“

„Entspann dich. Das Cottage liegt zwar ab vom Schuss, aber Jenny kann uns morgens zum Bahnhof nach Uckfield mitnehmen. Das habe ich mit ihr besprochen. Von da aus nehmen wir den Zug nach London – und sie fährt in ihre Königliche Bibliothek nach Windsor Castle. Und abends holt sie uns …“

„Bitte was?“ Tatendurstig quillt Agrippina aus ihrer rosa Vase. „Was vernehmen meine zarten Ohren? Königlich? Hab ich richtig gehört? London? Ich komme mit nach England! – Kinder, da war ich nicht mehr, seit mein dritter Gemahl im Jahre 43 Teile der schönen Insel erobert hat. Ihr wisst schon: Kaiser Claudius. Der mit dem kränklichen Magen, dem mein liebevoll zubereitetes Giftpilzragout nicht bekommen ist. Unsere Ehe wurde allerdings erst fünf Jahre nach der Eroberung Britanniens legalisiert. Vorher musste ich noch seine aktuelle Gattin Messalina abmurksen, meine Konkurrentin um die Kaiserkrone.“

Haarstäubende Sitten waren das im alten Rom. Mord, Totschlag und angebliche Unfälle. Wir kennen das bereits von anderen Zeitzeugen Berichten Agrippinas. Denn sie war eine der Schlimmsten! Als talentierte Giftmischerin sind ihr vor zwei Jahrtausenden einige prominente Römer zum Opfer gefallen. Aber wie sie uns glaubhaft versicherte, war – und ist – das üblich in den Zentren der Macht. Und wenn ich mir die aktuelle Tagespolitik in den Nachrichten anschaue, muss ich ihr leider recht geben.

Allerdings haben wir ihr das Versprechen abgenommen, in Zukunft die Finger von Pilzen zu lassen.

„Hallo? Träumst du?“ Agrippina schnipst mit den Fingern vor meiner Nase herum. „Aufwachen! Sitz nicht so faul rum! Komm endlich! Wir machen einen Ausflug. – Das muss ich euch unbedingt zeigen!“ Sie kommandiert: „Ich will keinen Mucks hören! Ihr wisst Bescheid! Fasst euch an den Händen!“

Bevor ich etwas erwidern kann, reicht sie mir ihre speckige Linke und nebelt uns mit rotem Qualm ein, der mich prompt zum Husten reizt.

„Halt die Klappe, David!“

 

Im Zeit-Perpetuum:

Ich falle, stürze, schwebe. Und wie jedes Mal in Agrippinas Zeit-Perpetuum, genieße ich das Gefühl völliger Freiheit. Gewöhnungsbedürftig, aber großartig!  

Eine frische Brise weht mir um die Nase. Ich schnuppere, rieche die salzige Gischt des Meeres, das sich tief unter mir an einem Felsen bricht. Durch das Zwielicht feuchter Dunstschwaden werden die Umrisse eines Küstenstreifens erkennbar. Dann lichtet sich der Nebel, und die Sonne kommt hervor, taucht die Landschaft in ein eigenartiges, unwirkliches Licht.

Vom Strand dringen unverständliche Wortfetzen und das Rasseln einer Ankerkette an mein Ohr. Galeeren schaukeln in der Brandung, die seitlich herausragenden Ruderblätter werden gerade eingezogen.

Ich blinzele. Es muss eine römische Flotte sein, die hier die Anker geworfen hat und sich auf die Landung vorbereitet, denn ich erkenne die Standarte des Adlerträgers. Hunderte Legionäre, angetan mit

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Antje Hansen
Bildmaterialien: Antje Hansen
Lektorat: Psst Hörmal Verlag
Tag der Veröffentlichung: 07.07.2017
ISBN: 978-3-7438-2160-6

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