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Teil 1:

Olga Romanowa: In den Reihen des Feindes

„So viel zu deinem glorreichen Plan, William“, schnauzte ich meinen Verbündeten an. Dieser dachte jedoch nicht daran, sich zu verteidigen, was mich nur noch wütender und geladener werden ließ. Er hob lediglich kurz den Blick von seiner Arbeit und der Ausdruck in seinen Augen sprach Bände der Gleichgültigkeit. Jetzt reichte es mir. Mit voller Wucht schleuderte ich die Fläschchen und Tiegelchen auf Williams Arbeitstisch herunter und alles zerschellte mit einem ohrenbetäubenden Schallen auf dem harten Steinboden in Williams kleinem Labor.

„Geht's dir jetzt besser, Olga?“, fragte William scheinbar immer noch gleichgültig. Doch ich kannte ihn besser als jeder andere dies tat. Ich konnte die Wut in seinen Augen und den Hass in seinen Gedanken genau lesen. Und das verschaffte mir zumindest vorübergehende Genugtuung. Ein Blick hinter William zerstörte diesen Moment jedoch jäh wieder.

Denn dort befand sich ein Spiegel und erneut musste ich mitansehen, was dieses Menschengewürm mit mir angestellt hatte. Ich war nun die Lachnummer bei all meinen Untergebenen. Hatte mich einfach so von einem Herrscherbalg, das noch dazu unter Menschen aufgewachsen war, KO schlagen lassen. Die gebrochene Nase hatte operiert werden müssen, was eine unschöne Narbe hinterlassen hatte. Tja, die Narbe würde wohl so schnell nicht verblassen. Sie zog sich einmal die Nase entlang von der Stirn bis zur Nasenspitze und einmal quer darüber von einer Wange bis zur anderen.

Sie hatte aufwendig genäht werden müssen, überall hatten Knochensplitter gesteckt. Nicht gerade schön und auch nicht gut für mein Image.

Oh dieses kleine Gör würde schon noch dafür bezahlen. In Gedanken malte ich mir bereits Foltermethoden aus, wie ich sie am besten ganz langsam ihrem Ende entgegenbringen könnte.

Ein diabolisches Grinsen schlich sich in mein entstelltes Gesicht. Also nicht, dass ich nicht stolz wäre auf meine Narben. Die hatte ich mir alle in glorreichen Kämpfen für den dunklen Drachen, meinen Herrn und Gebieter verdient. Jede einzelne schilderte eine Heldentat für meinen Meister. Aber die gebrochene, um nicht zu sagen zertrümmerte Nase durch dieses Balg war beschämend. Eine Schande für Unseresgleichen.

„Wie gedenkst du sie nun auszuschalten?“, lenkte ich mein Gespräch mit William wieder in die eigentlich relevante Richtung. Dieser blickte nicht einmal von seinem jüngsten Experiment an Waldelfen auf. Wieder einmal schien er mich zu ignorieren und er konnte von Glück reden, dass ich in diesem Moment nicht wieder eines seiner Fläschchen warf und zwar gegen seinen Dickschädel.

Wütend und gereizt räusperte ich mich lauthals.

„Ich hab dich schon gehört“, erwiderte William nach einer Weile monoton und vollkommen emotionslos. Bevor ich dazu noch irgendetwas erwidern könnte, das ich wohl niemals bereuen würde, fuhr William fort: „Aber vielleicht können wir sie uns noch zunutze machen.“

„Worüber sinnierst du denn jetzt schon wieder nach?“, fragte ich aufgebracht, doch ich ahnte bereits, dass ich den nun kommenden Plan fast genauso genießen würde wie die tatsächliche Ausführung ebendessen.

Jacob: Im Turm des Windes

Ich lief durch einen finsteren Wald. Es war still, viel zu still. Nicht einmal das sanfte Surren der kleinen Flügelchen von Waldelfen war zu hören, geschweige denn das Scharren und laufen anderer Waldbewohner.

Sie alle hatten sich schon längst versteckt oder waren weit von hier fortgegangen.

Allein das jagte mir schon eiskalte Schauer über den Rücken. Doch das Blut, das sich auf dem Boden in Bächen dahinzog, bewirkte, dass sich meine Eingeweide angstvoll zusammenzogen. Galle stieg meinen Hals hinauf und das Blut rauschte in meinen Ohren. Schrille Schreie ertönten, die mir den Atem stocken ließen.

Diese Stimme kannte ich nur zu gut. In den vergangenen paar Monaten war sie mir so vertraut geworden wie meine eigene oder die meines Partners. Diese wundervolle Stimme hatte mir stets so viel Liebevolles zugeraunt und mich so zärtlich umschwärmt, dass ich sie überall wiedererkennen würde, auch wenn sie von Furcht und Schmerz derartig verzerrt wurde. Es war Soras Stimme. Sie litt unvorstellbare Qualen.

Mein Sprint beschleunigte sich noch. Mein Atem bildete weiße Wölkchen in der Luft. Doch es war alles sinnlos. Die Landschaft um mich herum veränderte sich kaum. Das Blut auf dem Boden wurde nur noch mehr und immer mehr. Aber mein Ziel konnte ich einfach nicht erreichen. Immer wieder hörte ich die schmerzerfüllte Stimme von Sora aufschreien und das kalte, kehlige Lachen einer Frau, Olga Romanowas Lachen. Ich versuchte noch schneller zu laufen. Immer den verzweifelten Schreien des Mädchens entgegen, das ich über alles liebte, doch es war sinnlos. Meine Finger krallten sich an die beiden gezogenen Schwerter, sodass meine Knöchel weiß wurden.

Das kalte Metall blitzte im Schein des hellen Vollmondes und ich schwor, Olga Romanowa jede Wunde, die sie Sora zugefügt hatte, tausendfach heimzuzahlen. Sie würde dafür büßen, dass sie meiner Sora wehgetan hatte.

Endlich wurden die Bäume vor mir weniger. Der Wald lichtete sich und ich fand mich auf einer weiten Ebene wieder. Überall standen Wächter des dunklen Drachen, doch sie beachteten mich kaum. Ihre Aufmerksamkeit war auf etwas in ihrer Mitte gerichtet. Olga Romanowa stand genau dort. Vor ihr lag ein lebloser, blutüberströmter Körper.

Die Anführerin der dunklen Wächter hielt irgendetwas in der Hand.

Genau in dem Augenblick, da ich meinen Blick auf besagten Gegenstand warf, wurde er vom Vollmond hell erleuchtet, sodass jeder hier auf der Lichtung erkennen konnte, was es war. Die dunklen Wächter fielen in Jubelchöre ein, während meine Welt für einen Augenblick stillstand, als Olga Romanowa Soras abgetrennten Schädel an den Haaren herumschwenkte, sodass alle ihn sehen konnten.

Wutentbrannt schrie ich mir die Seele aus dem Leib und stürmte auf die Horde unaufmerksamer, dunkler Wächter zu, um sie alle hinzuschlachten.

Irgendjemand rief meinen Namen, zuerst glaubte ich, ich würde mir das nur einbilden, weil es von so weit entfernt klang, dass es fast schon geisterhaft anmutete. Doch das Rufen wurde lauter, eindringlicher und erst jetzt erkannte ich die Stimme wieder. Sora! Aber sie war doch tot!

Blinzelnd öffnete ich meine Augen. Aber da waren kein Wald, kein Blut, keine Olga und auch keine tote Sora.

Stattdessen blickte mir die echte, lebendige Sora besorgt in die Augen.

Ihre Haare waren zerzaust und ihre Hände waren in dicke Bandagen gehüllt, ganz zu schweigen von ihrem gebrochenen Unterschenkel, der geschient werden musste, doch sie war am Leben! Und da fiel es mir wieder ein. Sora war gar nicht gestorben. Ja, sie hatte gegen die dunklen Erwählten kämpfen müssen, aber sie hatte dank der Greifen entkommen können. Yoshi, ihr Partner, hatte mir alles ganz genau berichtet.

Das änderte nichts an der Tatsache, dass ich vor Angst um sie fast gestorben wäre. Noch immer konnte ich nicht so recht glauben, dass sie tatsächlich hier vor mir saß und mich besorgt musterte. Bis ein trockener Husten diesen Moment unterbrach.

Auf dem Nachttisch neben ihrem Bett stand schon ein Glas Wasser für sie bereit. Ich nahm es und bog ihr den Strohhalm so hin, dass sie leichter trinken konnte.

„Langsam“, mahnte ich, doch sie trank in gierigen Zügen. War auch nicht verwunderlich. Sie war einen ganzen Tag ohnmächtig hier im Bett gelegen, nachdem Professor Cromwell sie verarztet hatte. Ein paar blutige Knöchel, vermutlich von Faustschlägen, die sie ausgeteilt hatte, und ein gebrochenes Bein, das Werk von Olga Romanowa, wie Yoshi erzählt hatte, aber am schlimmsten war, dass sie offenbar eine sehr große Menge an Magie binnen kürzester Zeit aufgebraucht hatte.

So etwas war gerade für einen Anfänger wie Sora sehr gefährlich, um nicht zu sagen lebensbedrohlich.

Die Magie, die uns innewohnt war gewissermaßen auch unsere Lebenskraft. Verbrauchte man sie vollständig, starb man. Und Sora wäre daran gestorben, wenn Yoshi ihr nicht einen Teil seiner Magie abgegeben hätte. Das funktionierte nur zwischen Partnern und Liebenden, weil die Energien hierfür möglichst ähnlich, bestmöglich miteinander kompatibel sein mussten, wie es bei Partnern und Liebenden der Fall war.

„Was ist passiert?“, fragte sie mir kratziger Stimme, nachdem sie den größten Durst vorerst gelöscht hatte. „Du erinnerst dich nicht?“, fragte ich besorgt.

Amnesie.

Daran lag es vermutlich.

So etwas hörte man häufig.

Doch ich konnte an Soras Gesichtsausdruck ablesen, dass sie versuchte, angestrengt über alles nachzudenken und auf einmal blickte sie mich mit tennisballgroßen Augen an. Sie erinnerte sich anscheinend doch. „Der Wald. Olga Romanowa. Ich habe gegen sie gekämpft. Sie war bewusstlos. Aber da waren noch so viele andere.“ „Ganz ruhig, keine Angst. Es ist nochmal alles gut gegangen“, beruhigte ich sie. „Die Greifen“, redete sie weiter, „sie haben mir geholfen zu fliehen. Geht es ihnen gut? Haben es alle geschafft? Wo sind sie?“

Die Fragen sprudelten nur so aus ihr heraus. Sorge und Furcht verfinsterten ihre Miene. Erschrocken fuhr ihr Kopf schließlich zur Balkontür herum, durch die ein gewisser beigefarbener Greif seinen Kopf hereinsteckte. Aus seinem beigefarbenen Schnabel hing eine seltsame Art von Schnur, die verdächtig nach dem Schwanz einer Maus oder einer Ratte aussah. Anscheinend hatte Yoshi gerade gefrühstückt.

Ich konnte spüren, dass die beiden sich gerade unterhielten und Yoshi ihr einen Lagebericht über seine Herde lieferte. Glücklicherweise hatte keiner seiner Familie einen dauerhaften Schaden erlitten, sie hatten alle von Professor Cromwell und deren fleißigen Waldelfen und Blumenelfen behandelt werden können, nachdem die Frau Professor sich um Sora gekümmert hatte.

Sogleich hellte sich Soras Miene auch schon wieder auf und ein gemurmeltes „Gottseidank“ entwich ihren Lippen.

Yoshi zog den lose herabhängenden Mäuseschwanz wie ein Spaghetti in seinen Schnabel und schluckte kräftig, ehe er Sora und mir zunickte und wieder nach draußen verschwand.

„Wo sind wir hier eigentlich?“, fragte Sora mich da auf einmal und beäugte neugierig ihr neues Zimmer. Die Möbel waren alle in hellen Tönen gehalten. Die Farbe an den Wänden war hellblau, fast schon weiß, das große Himmelbett, in dem sie lag, war in ein zartes, waldgrün gebettet. Der Schreibtisch, der Kleiderschrank und die Frisierkommode in der Ecke, ebenso wie das Nachttischkästchen neben dem Himmelbett, waren schwere Holzmöbel, vermutlich Eiche oder etwas ähnliches.

Der fast zwei Meter breite Schreibtisch stand genau neben der Balkontür unter einem breiten Fenster. Seine Beine waren kunstvoll verziert und in aufwendige Formen geschnitzt, überwiegend Vogelkrallen und Federn konnte man darauf entdecken.

Links daneben stand an der Seitenwand die Frisierkommode. Sie war so gestellt, dass man auf die hellblaue Wand blickte. Sie hatte einen großen, breiten Spiegel und mehrere kunstvoll verzierte Schubladen, deren Knüppel, an denen man sie aufzog, die Form einer Feder hatten. Die beiden identischen Stühle, die jeweils vor der Frisierkommode und vor dem Schreibtisch standen, hatten ebenfalls Beine in Form von Vogelkrallen und deren Sitzfläche und die Rückenlehne war mit hellgrauem Leder überzogen und gepolstert, sodass man bequem sitzen konnte.

Links neben der Frisierkommode war noch eine Tür, die ins Badezimmer führte, das nicht weniger luxuriös gestaltet war als das Zimmer selbst. Der große Kleiderschrank stand an der Wand gegenüber der Frisierkommode und nahm die gesamte Wand ein. Er hatte vier Türen und noch allerlei Schubladen unter und neben den Türen. Jeder Griff für die Türen und die Schubladen hatte die Form einer Feder.

Überdies waren die Türen noch aufwendig bemalt.

Die beiden äußeren Türen zeigten einander zugewandte Adler, die respektvoll das Haupt neigten. Die beiden inneren Türen dagegen trugen das Bild zweier stolzer Schwäne, die ebenfalls einander zugeneigt waren, jedoch die Köpfe anmutig gen Himmel erhoben hatten, die Flügel königlich nach hinten und zur Erde gespreizt, als würden sie sich jeden Moment von der Erde abstoßen und hinauf in den Himmel fliegen.

Rechts neben der breiten Balkontür war noch eine Umkleidewand in demselben Grünton, in dem auch das Himmelbett gehalten war. Hinter dieser Umkleidewand stand noch ein mannshoher Spiegel, dessen Rahmen mit Vogelkörpern verschiedener Arten und Gattungen geschmückt war, den man vom Bett aus allerdings nicht sehen konnte. Denn das Himmelbett, in dem Sora lag, stand genau in der Mitte des großen Zimmers. Rechts vom Bett war eine zweite Tür, die hinaus ins Treppenhaus führte und von dort wiederum hinunter zu den Räumen der anderen Schüler. Doch hier oben hatte niemand Zutritt außer ein Mitglied der Herrscherfamilie des Windelementes.

„In deinem Zimmer“, antwortete ich schließlich. Ungläubig musterte sie mich aus großen Augen. Um ihr das jetzt zu erklären, holte ich lieber etwas weiter aus. „Weißt du noch, unser Date in der Stadt?“ Verlegen senkte sie den Blick auf ihre grüne Bettdecke und nickte.

„Du hast mir damals von deiner Adoption erzählt und davon, wie du zu deinem Geburtstag gekommen bist. Ich habe dir dann erklärt, dass Sora Jiyuu an dem Tag verschwunden ist, an dem du Geburtstag hattest, der Tag, an dem du gefunden worden bist. Nun, es hat sich herausgestellt, dass diese verrückte Theorie, die ich damals hatte, tatsächlich der Wahrheit entspricht.“

„Beim lichten Drachen.“

Mehr brachte sie vorerst nicht heraus. Und in ihrem Gesicht konnte ich Verstehen lesen, als sie mir ihre Aufmerksamkeit wieder zuwandte. „Olga Romanowa weiß es auch. Sie hat mich überhaupt erst in die Falle gelockt, weil ich Sora Jiyuu bin“, meinte sie nach einer Weile. „Das hatte ich schon befürchtet.“

Meine Miene musste sich sehr stark verfinstert haben, denn Sora streichelte mir nun mit ihren einbandagierten Händen so zärtlich es ihr möglich war über meine zu Fäusten geballten Hände. Wann hatte ich mich denn derartig verspannt? Sobald ihre Fingerspitzen anfingen, meinen Handrücken zu streicheln, entspannte ich mich sogleich wieder und ich nahm ihre verwundeten Hände so vorsichtig es ging, in meine und hielt sie einfach nur fest, zumindest so fest ich mich traute, ohne ihr wehzutun.

„Das ist also jetzt mein Zimmer“, wiederholte sie nach einer Weile und ließ noch einmal den Blick über ihre gesamte Einrichtung gleiten. „Nicht nur jetzt. Es war eigentlich schon immer dein Zimmer. Deine Eltern, also die Jiyuus, haben es für dich eingerichtet, als du ein Baby warst. Seitdem war es verlassen und niemand hat es seit deinem Verschwinden mehr betreten.“

„Aber warum ist es denn nicht für jemand anders benutzt worden?“ „Weil das hier das Domizil der Herrscher des Windes ist. Nur jemand aus der Ahnenreihe der Jiyuus hat das Recht, überhaupt hier zu sein“, erklärte ich.

„Meine Eltern haben das alles für mich ausgesucht?“, sprach sie mir mit schwacher, brüchiger Stimme nach und ihre Augen wurden wässrig. Eine einzelne Träne fand ihren Weg ihre Wange hinunter, ehe sie sie wegblinzeln konnte. Behutsam streichelte ich ihr über die Wange und wischte ihre Träne fort.

Sie dachte vermutlich gerade an das, was hätte sein können, an das, was passiert wäre, wie ihr Leben ausgesehen hätte, wenn ihre Eltern nicht gestorben wären oder wenn sie nicht verschwunden wäre. Tja, das war immer noch ein Rätsel, das es zu lösen galt.

„Die Hausgnomen haben saubergemacht, als du bewusstlos warst. Die Möbel hatten ein bisschen Hingabe nötig, aber sie haben ganze Arbeit geleistet“, fuhr ich fort.

„Nur die Wiege, in der du früher immer gelegen hast, haben sie rausgetragen. Aber vielleicht brauchen wir sie ja nochmal.“

Bei diesem Satz wurde sie plötzlich knallrot und schaute mich geschockt aus tennisballgroßen Augen heraus an. „Ich meinte damit nicht jetzt, nur irgendwann einmal“, versuchte ich abzuwinken, doch ihre Röte blieb und sie wich verlegen meinem Blick aus, konnte aber ein nachdenkliches, seliges Lächeln nicht verbergen. „Ja, irgendwann einmal“, gab sie schließlich zu. Irgendwie tat es gut, mich mit diesem alltäglichen Reden mit dem Mädchen, das ich liebte, davon abzulenken, in welch großer Gefahr sie schwebte.

Viel hatte ich zwar nicht von den Lehrern aufschnappen können, als sie sich beratschlagt hatten, doch nachdem sie hin und wieder hier nach Sora gesehen hatten, hatten sie gegenüber mir diese Befürchtung ebenfalls geäußert: dass die dunklen Wächter hinter ihr her waren, weil sie Sora Jiyuu war, weil die dunklen Wächter glaubten, sie wäre das Kind aus der Prophezeiung, das der Sage nach den finsteren Drachen vernichten sollte. Gerade deswegen hatten sie bereits Maßnahmen zu Soras Schutz getroffen.

Eine dieser Maßnahmen streckte den blonden, fast weißen Haarschopf nun zur Tür herein. „Tut mir leid, ich habe Stimmen gehört. Ich wollte euch beide nicht stören“, entschuldigte sich Ljudmila Wolkowa, die zwar genau wie ich selber noch Schülerin hier war, aber bereits eine herausragende Wächterin abgab und die man deswegen zu Soras Schutz eingeteilt hatte.

„Ich muss dem Lehrkörper melden, dass Sora bei Bewusstsein ist.“ Nachdem ich ihr knapp zugenickt hatte, war sie auch schon wieder verschwunden und schnelle, zielgerichtete Schritte entfernten sich von der Tür.

„Wer war das?“ „Ljudmila. Ljudmila Wolkowa. Sie ist in meinem Jahrgang und vorerst zusammen mit mir zu deinem Schutz hier“, erklärte ich. „Zu meinem Schutz? Das ist nicht nötig“, versuchte sie abzuwehren.

Und ich glaubte, mich verhört zu haben.

„Sora. Die dunklen Wächter hatten dich in ihrer Gewalt. Sie sind hinter dir her. Und ob du Schutz nötig hast.“

„Aber, wenn sie hinter mir her sind, dann macht dich und die anderen das auch zu Zielscheiben. Ihr wärt dann schon in großer Gefahr, wenn ihr einfach nur in meiner Nähe wärt“, gab sie zu bedenken. „Und ich will nicht, dass irgendjemand meinetwegen verletzt wird“, flüsterte sie noch kaum hörbar und wieder standen ihr Tränen in den Augen, diesmal jedoch nicht Tränen der Sehnsucht nach einem verlorenen Menschen, sondern Tränen der Angst.

Angst um ihre Freunde.

Angst um mich.

In dem Moment, in dem ich gerade meine Arme um sie legen wollte, um sie zu trösten, öffnete sich erneut die Eingangstür zu Soras Zimmer und Professor Cromwell, Professor Jones, Professor Yuujou und Professor Campillo traten ein.

Professor Cromwell war wie eh und je von einem guten Dutzend Waldelfen und Blumenelfen umschwirrt und setzte sich sogleich an Soras Bettkante, mir gegenüber. Besorgt fasste sie meiner Freundin an die Stirn, um etwaiges Fieber zu erfühlen, ehe sie mit ihrer sanften Stimme fragte: „Wie geht es dir, Liebes? Siehst du verschwommen? Oder ist dir schwindlig? Oder schlecht vielleicht?“

Sora verneinte alles und meinte, ihr gehe es hervorragend.

Auch Schmerz nahm sie im Moment keinen wahr, weil ihr gebrochenes Bein mit sehr starken Heilpflanzen behandelt wurde, welches jedwedes Schmerzempfinden lähmte. In der Menschenwelt würde man wohl Schmerzmittel dazu sagen. Die anderen drei Professoren standen unterdessen nur neben dem Bett und blickten immer wieder besorgt zwischen Sora, Professor Cromwell und mir hin und her.

Irgendetwas bereitete ihnen Sorge und das jagte mir einen eiskalten Schauer über den Rücken.

Sora: Tod

Professor Cromwell stellte mir die ganze Zeit über immer wieder Fragen über mein Befinden und tastete vorsichtig mein Bein ab. Zwar spürte ich keinen Schmerz, dennoch pulsierte ein leichtes Pochen in meinem gebrochenen Unterschenkel, das ich bestmöglich auszublenden versuchte.

Dafür war jetzt keine Zeit.

Olga Romanowa würde so schnell keine Ruhe geben, das spürte ich ganz deutlich. Immerhin hatte ich sie ja outgeknockt, das würde sie ganz bestimmt nicht auf sich sitzen lassen.

Früher oder später würde sie mich angreifen und dann wären alle in meiner Nähe in größter Gefahr.

„Professor Jones“, setzte ich an, als Professor Cromwell endlich aufgehört hatte, mich zu untersuchen.

Sie huschte sogleich auf den Balkon hinaus, vermutlich um nach den Greifen zu sehen. Yoshi hatte mir ihr tolles, neues Refugium hier im Turm bereits in unseren Gedanken gezeigt. Der Balkon führte nämlich um den Turm herum und endete in einer großen Voliere, die den Greifen vorbehalten war.

Dort drinnen bewirkte eine starke Magie, dass es stets gleich warm war und in der Mitte stand ein großer, steinerner Brunnen, aus dem die Greifen trinken und in dem sie sich baden konnten. Futter konnten sie sich selbst im Wald fangen, aber wohnen und schlafen würden sie fortan hier, ganz nah bei mir.

„Ich weiß, was du sagen wirst“, unterbrach mich Professor Jones, „Und die Antwort lautet nein. Olga Romanowa würde sich der Schule niemals nähern. Nicht einmal, wenn sie direkten Zugang zu dir hätte. Denn hier an der Schule sind nicht nur zahlreiche Wächter, die die Schüler beschützen sollen, sondern auch der Drache des Lichts ist hier heimisch. Die dunklen Wächter würden sich ohne ihren Herrn nicht einmal in die Nähe der Schule wagen.“

„Aber sie waren doch schon in der Stadt und ich glaube, da wussten sie noch gar nicht, wer ich bin“, versuchte ich zu erklären. „Die Stadt ist ein gutes Stück weit entfernt, auf den Schulcampus würde sich kein dunkler Wächter jemals…“ Professor Jones wurde von einem dumpfen Schlag von draußen aus dem Treppenhaus unterbrochen.

Etwas polterte gegen die Tür, die sich schließlich ganz langsam öffnete und eine schwarze Silhouette erschien an der Türschwelle. Sie war nicht größer als etwa einen Meter.

Rundlich, in einen schwarzen Umhang gehüllt.

Die Kapuze tief über den Kopf gezogen, sodass ich sein Gesicht erst erkennen konnte, als er näher an mein Bett herantrat. Alle anderen im Raum waren genauso gefesselt und stocksteif wie ich beim Anblick dieser fremden Gestalt.

Doch als er endlich den Kopf etwas anhob, erkannte ich die Gesichtszüge eines mir vertrauten und befreundeten Hausgnoms. „Cap!“, rief ich freudig, leider hörte sich meine Stimme immer noch viel zu kratzig an, sodass selbst ich sie kaum als meine eigene wiedererkennen konnte.

Plötzlich spürte ich einen festen Handgriff um meine ausgestreckte rechte Hand, es war Jacobs Hand. Erschrocken fuhr ich zu ihm herum. Sein eben vorhin noch so freudiger, warmer Gesichtsausdruck war einer ernsten, misstrauischen Miene gewichen, die mir einen kalten Schauer über den Rücken jagte.

Cap rührte sich nicht, nicht ein einziger Muskel zuckte in seinem Gesicht, als ich ihn ansprach, noch nicht einmal als ich die Hände nach ihm ausgestreckt hatte.

Er stand einfach nur da, vor meinem Bett, wie in Trance, als würde er schlafwandeln oder etwas in der Art.

Seine Augen waren glasig.

Eine Träne fand ihren Weg seine Wange hinab. Vorher war es schon offensichtlich gewesen, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmte, doch nun, als er so weinend vor mir stand und ein kaltes, schauderndes Knistern seinen kleinen Körper einhüllte, war ich mir absolut sicher, dass die Macht des dunklen Drachen ihn umgab und dass er nichts Gutes vorhaben konnte.

„Cap?“, sprach ich ihn erneut, diesmal vorsichtig an.

Seine Hände waren unter seinem langen Mantel versteckt. Irgendetwas blitzte und blinkte in seiner rechten Faust.

Glücklicherweise reagierte Jacob etwas schneller als ich.

In wenigen Sekundenbruchteilen hatte er Cap die Hand auf den Rücken gedreht und ein langes Küchenmesser fiel scheppernd zu Boden.

„Tötet ... mich“, presste Cap aus zusammengebissenen Zähnen hervor. Dieser einstmals so liebe, kleine Kerl hatte gerade versucht, mich zu töten. Und das elektrische Knistern der Magie des dunklen Drachen verstärkte sich noch weiter.

Caps eben noch so reglose, puppenähnliche Miene wandelte sich in eine verzerrte Maske des Schmerzes.

Tränen der Trauer und der Enttäuschung brannten in meinen Augen, doch ich hielt sie zurück. „Warum?“, fragte ich mit brüchiger Stimme. „William...Arm..st...strong“, presste der Hausgnom hervor. Seine Stimme klang brüchig, leidend.

Sein Gesichtsausdruck war das einzige an ihm, was einen vermuten lassen würde, dass der kleine Hausgnom Qualen litt. Sein ganzer Körper stand absolut still im festen Griff von Jacob. Nicht ein einziger Muskel zuckte auch nur verdächtig.

Sein schmerzverzerrtes Gesicht hatte mich leider von seiner Antwort auf meine eigentlich eher rhetorische Frage abgelenkt. Wer? Was? Wen hatte er gemeint? Plötzlich wurden seine Augen kugelrund, fast so als wollten sie aus seinen Höhlen quellen, doch schon im nächsten Moment sackte er leblos in sich zusammen.

„Cap?“, fragte ich in die ohrenbetäubende Stille hinein. Er konnte nicht tot sein, niemals. Ganz sicher war er nur bewusstlos. Der Schock dieser schrecklich starken Magie hatte ihn ohnmächtig werden lassen. Genau: das musste es sein. Mein Herz wollte sich an diese Erklärung klammern, aber mein Verstand sagte mir etwas Anderes.

„Cap?“, fragte ich erneut, diesmal leise, kaum hörbar, obwohl mein Verstand mir sagte, dass der kleine Kerl mir niemals wieder eine Antwort geben würde, er würde niemals wieder irgendetwas sagen oder tun.

Er war tot.

Aber wie beim lichten Drachen war das möglich? Wie konnte er so plötzlich einfach tot sein? „Er ist tot“, erwiderte Jacob fast ebenso leise wie ich, und machte damit die traurige Wahrheit von Caps Tod zur Realität.

Nun rannen mir doch einige Tränen die Wangen hinunter, die ich nicht mehr zurückhalten konnte.

„William Armstrong“, sagte Professor Jones mit kalter Stimme und mein Kopf schnellte zu seiner nachdenklichen Miene herum. Die drei Professoren im Zimmer hatte ich fast völlig vergessen. Sie alle standen vor meinem Bett. Cap hatte mit dem Rücken zu ihnen das Messer gezogen, die Professoren hatten die ganze Zeit über nur den Rücken des Hausgnomen sehen können, nicht aber sein Messer. Deswegen hatten sie auch nichts dagegen tun können. Beinahe hätte der liebe Cap mich vor den Augen von drei Professoren abstechen können. Wenn Jacob nicht da gewesen wäre, wäre es ihm auch gelungen.

„Sie meinen, dieser kranke Bastard hat den Hausgnom verzaubert?“, fragte Jacob, während er den Leichnam von Cap vorsichtig auf dem Boden ablegte.

„Ich versteh das nicht? Warum hat Cap...?“ Ich konnte diese Frage nicht einmal zu Ende denken. Mein Gehirn hatte noch nicht einmal richtig registriert, dass Cap tot war, geschweige denn akzeptiert, was er vorgehabt hatte.

„Das war nicht mehr Cap“, erwiderte Jacob. Seine Miene hatte sich enorm verfinstert. Wütend starrte er den leblosen Körper des Hausgnomen an, der gerade versucht hatte, mich zu töten. „Aber...“, versuchte ich zu widersprechen, doch da wurde ich auch schon wieder von Professor Jones unterbrochen.

„William Armstrong steckt dahinter“, erklärte der Schulleiter. Ich verkniff mir die Frage nach diesem William, da ich mir sicher war, dass Antworten schon noch folgen würden. „Er ist einer der mächtigsten und gefährlichsten dunklen Wächter unserer Zeit. Seine Macht versteht sich darauf, andere Wesen zu kontrollieren.“

„Was?? Aber wie?“, entfleuchte mir, ehe ich die Fragen zurückdrängen könnte.

Was hatte dieser William mit Cap gemacht?!

„Wie das genau funktioniert, wissen wir nicht. Aber William Armstrong braucht dafür Zeit. Er muss ein spezielles Ritual durchführen, um Körper, Geist und Seele einer Person zu unterwerfen. Genau das hat er auch mit dem Hausgnom gemacht und vermutlich noch mit anderen Mitgliedern des Hauspersonals“, fuhr Professor Jones fort.

„Du meine Güte, was ist denn hier passiert?!“, fragte die aufgebrachte Professor Cromwell, die gerade durch die Balkontür wieder in mein Zimmer zurückgekommen war.

„William Armstrong“, erwiderte Professor Yuujou zur Antwort und das schien der anderen Professorin anscheinend zu genügen.

Sofort wurden ihre Augen ernst und Sorge machte sich in ihrer Miene breit. Mehrere kleine Fältchen bildeten sich zwischen ihren Augenbrauen als sie die Stirn runzelte.

„Es ist gut möglich, dass er nicht der einzige war“, sprach sie eine Befürchtung aus, die sich offenbar auch die anderen Professoren gedacht hatten, es aber nicht gewagt hatten, sie auszusprechen.

Fast so, als könnte man vermeiden, etwas real werden zu lassen, indem man darüber schwieg.

Zumindest wirkten die übrigen Professoren nicht allzu geschockt über die Vermutung von Professor Cromwell.

Jacob dagegen versteifte sich merklich und seine Hand suchte die meinigen, er bettete meine kleinen Hände vorsichtig in seine und hielt sie ganz fest, so sehr er es eben wagte, mit den vielen Bandagen, die um meine lädierten Hände gewickelt waren.

„Irene.“ Professor Campillo nickte nur auf die knappe Aufforderung hin und erwiderte: „Ich kümmere mich darum.“ Sie warf sich den kleinen, toten Gnomen über die Schulter ehe sie dicht gefolgt von Professor Cromwell aus dem Zimmer stürmte.

Besorgnis zerfurchte ihre nachdenkliche Miene. Doch darauf konnte ich nur einen kurzen Blick erhaschen, ehe sie mein Zimmer auch schon verlassen hatte. Professor Cromwell dagegen blieb auf der Türschwelle noch einen Augenblick stehen, ehe sie sich wieder zu mir umdrehte und mit einem aufgesetzten Lächeln meinte: „Deinen Freunden geht es übrigens wieder bestens, ich musste nur bei einigen wenigen den Verband wechseln, aber das sind nur ein paar Kratzer, die schon bald verheilt sein werden, du brauchst dir also keine Sorgen zu machen.“

Ich konnte nicht mehr tun als stumm zu nicken. In diesem Augenblick fiel mir ein gigantischer Felsen vom Herzen. Zwar hatte Yoshi mir schon selbst gesagt, dass alles in Ordnung sei, doch es nochmal von der Professorin zu hören, die den Krankenflügel leitete, gab mir doch noch etwas mehr Sicherheit. Ich war froh, dass es wenigstens den Greifen gut ging.

„Wir werden jeden einzelnen überprüfen müssen“, fuhr Professor Jones fort, und riss mich damit aus meinen Gedanken. Professor Cromwell schloss die Tür und ließ Jacob und mich mit Professor Yuujou und Professor Jones allein.

Doch das hatte Professor Jones wohl mehr zu sich selbst, als zu uns gesagt. „Euch beiden geht es gut?“, fragte er nun an Jake und mich gewandt. Jacob antwortete nicht. Stattdessen blickte er nur zu mir. Mein Herz zog sich krampfhaft zusammen, als ich die große Sorge in seinen Augen sah. Ich konnte nicht mehr tun, als stumm zu nicken.

„Warum will Olga Romanowa eigentlich gerade mich töten? Was habe ich denn getan?“, fragte ich mit heiserer Stimme. „Es ist weniger das, was du getan hast, Sora, vielmehr ist es das, was du tun wirst, was den dunklen Wächtern solche Angst macht“, erwiderte Professor Yuujou und erntete dafür einen vorwurfsvollen Blick des Schulleiters. „Kyo“, raunte Professor Jones vielsagend. „Sie hat ein Recht darauf, es zu erfahren. Früher oder später würde sie auch selbst darauf kommen. Du kannst sie nicht vor der Wahrheit schützen. Da ist es doch besser, wenn sie es jetzt gleich hört und zwar von uns“, entgegnete Professor Yuujou.

„Na schön“, ergab sich Professor Jones schließlich der Überzeugungskraft seines Kollegen.

Professor Yuujou: Die Prophezeiung

Ich konnte es immer noch nicht glauben, selbst jetzt als ich hier vor ihr stand. Die Tochter meines besten Freundes und Herrschers.

Taiki Jiyuu.

Die ganze Zeit über hatte mich schon so ein merkwürdiges Gefühl gequält, eine Ahnung, die mich einfach nicht mehr loslassen wollte.

Doch nun da ich die Gewissheit hatte, dass sie tatsächlich seine Tochter war, die Prinzessin des Windes, konnte oder wollte ich es einfach nicht so recht glauben.

Nichtsdestotrotz war sie nun die Prinzessin des Windes, sie war Sora Jiyuu und die Tochter meines besten Freundes, jemand, der fast wie ein großer Bruder für mich gewesen war. Taiki hatte sein Leben gegeben, um seine Leute und vor allem seine Tochter zu beschützen. Dieses Werk würde ich fortführen, nicht zuletzt wegen der Prophezeiung.

„Vor vielen hundert, wenn nicht sogar tausend Jahren wurde eine mächtige Prophezeiung gesprochen. Der Sage nach entstand sie ursprünglich bei der Geburt des großen grauen Drachens.“

„Der große graue Drache?“, unterbrach mich Sora.

„Als die Zeit selbst geboren wurde, schlüpfte aus einem Ei der große graue Drache. Der Drache des Lichts und der Drache der Dunkelheit haben sich aus diesem grauen Drachen der Einheit abgespalten. In ihm hat sich etwas geregt. So hat sich dieser eine Drache in zwei Seelen aufgespalten. Zwei Drachen, geboren aus demselben Ei.“

Sora nickte verstehend. Die Stirn gerunzelt.

„Der Drache des Lichts und der Drache der Finsternis. Sie beide sind an das Schicksal durch diese Prophezeiung gebunden. Obwohl sie nun zwei Seelen in zwei Körpern sind, bleiben sie dennoch miteinander verbunden. Ihrer beider Schicksale sind verknüpft.“

„Was ist das für eine Prophezeiung?“

„Sie besagt folgendes:

Die eine, noch ungekrönt,

gezeichnet von Schmerz und Trauer,

getragen von großer Macht,

ebenbürtig den Großen Zwei, dazu bestimmt,

nach bestandener Prüfung

durch den Rat einer Prinzessin

und der Hilfe eines Wolfes

mit der Kraft des Todes

und der Magie im Inneren

ihre Liebe zu überwinden

und getragen von Flügeln

Harmonie oder Tod zu bringen."

Ich ließ diese kryptischen Worte eine Weile wirken. Eine nachdenkliche Falte bildete sich genau zwischen den Augenbrauen von Sora. Genauso hatte Taiki auch immer ausgesehen, wenn er über irgendetwas nachgedacht hatte. Und erst jetzt fielen mir die ganzen äußerlichen Gemeinsamkeiten zwischen Taiki und Sora auf.

Sie hatte genau dieselben tiefschwarzen Haare und dieselben ozeanblauen Augen wie ihr Vater.

Ihre Gesichtszüge dagegen erinnerten eher an ihre Mutter Aiko. Ihre asiatischen Wurzeln waren darin erkennbar. Sie hatte dieselben feinen Gesichtszüge, die hohen Wangenknochen, sowie die süße, kleine Stubsnase wie ihre Mutter.

Die Augen ihres Vaters in dem Gesicht ihrer Mutter richteten sich nun nachdenklich auf mich.

„Aber nichts in dieser Prophezeiung würde direkt auf mich hindeuten, wie kommt der dunkle Drache also ausgerechnet auf mich?“

„Der dunkle Drache macht von jeher Jagd auf weibliche Nachkommen der Herrscher“, fuhr Ethan Jones fort, „Dass er dich im Visier hatte, lag nur daran, dass du ein Mädchen warst. Denn die Prophezeiung spricht ausdrücklich von einer weiblichen Person. Und die eine, noch ungekrönt, bedeutet eindeutig, dass besagte junge Frau aus einer der Herrscherfamilien stammt. Und du bist im richtigen Jahr geboren. Im chinesischen Jahr des Drachen. Gezeichnet von Schmerz und Trauer, bist du das etwa nicht, nachdem du erfahren musstest, dass der Drache der Finsternis dir deine leiblichen Eltern weggenommen hat, indem er sie vor 15 Jahren tötete?“, fasste ich zusammen.

Es war eindeutig eine rhetorische Frage, aber sie traf ins Schwarze. Sora zuckte merklich zusammen und die wunderschönen, ozeanblauen Augen ihres Vaters richteten sich in tiefer Trauer auf ihre Bettdecke.

„Aber was hat es dann mit dem Rest auf sich? Davon ergibt doch nichts einen Sinn“, fragte Jacob vollkommen unvermittelt. „Das wissen wir nicht. Noch nicht. Wir können nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob Sora wirklich das Mädchen aus dieser Prophezeiung ist. Ob es stimmt oder nicht, das muss die Zeit zeigen. Bis es soweit ist, müssen wir jedenfalls alles daransetzen, sie zu beschützen“, erwiderte Ethan.

„Ich würde gerne kurz alleine mit Sora sprechen.“ Ich hörte meine eigene Stimme sprechen, noch bevor ich darüber nachgedacht hatte, was ich eigentlich sagen wollte.

Mit einem knappen Nicken verließ Ethan das Zimmer, als er an Jacob vorbeigehen musste, fasste er ihn fast schon väterlich an der Schulter. Jacob Warren warf noch einen unsicheren Blick auf Sora. Erst als diese ihm mit einem Nicken zu verstehen gab, dass es schon in Ordnung ginge, ließ er sich von Ethan nach draußen führen.

Und ich war allein mit Sora.

Sora: Der Pate

Der Drache der Finsternis war hinter mir her, weil er glaubte, dass ich Teil einer uralten Prophezeiung wäre, die entweder Harmonie oder Tod bringen würde. Auf mich hatte er es abgesehen, einfach nur, weil ich ein Mädchen und in einem bestimmten Jahr zur Welt gekommen war?! Das wollte mir einfach nicht in den Kopf.

Während ich so über mein Schicksal nachgrübelte, räusperte sich jemand.

Professor Yuujou.

Ich hatte schon fast vergessen, dass er noch immer in meinem Zimmer war. Eine drückende Stille machte sich breit.

Der blonde, groß gewachsene Japaner in meinem Zimmer hatte sich zwar geräuspert, machte aber keinerlei Anstalten, zu reden. „Worüber wollten Sie mit mir sprechen, Professor?“, brach ich schließlich dieses ohrenbetäubende Schweigen.

Noch eine ganze Weile sagte Professor Yuujou gar nichts. Er schien um die richtigen Worte zu ringen. Immer wieder machte er den Mund auf und klappte ihn sogleich wortlos wieder zu. Irgendwann stieß er angestrengt die angehaltene Luft auf einmal aus, zog sich den Stuhl vom Schreibtisch heran und setzte sich neben mein Bett.

„Weißt du, Sora, ich habe deine Eltern sehr gut gekannt. Dein Vater war wie ein großer Bruder für mich“, begann er endlich.

Mein Vater.

Taiki Jiyuu.

Dieser Mann war doch eigentlich ein Fremder für mich. Ich hatte ihn nie richtig kennenlernen können. Und dennoch füllte allein schon der Klang seines Namens meine Brust mit einer angenehmen Wärme.

„Sora, an dem Tag, an dem du geboren wurdest“, fuhr er fort, und wieder kämpfte er um die richtigen Worte, „an diesem Tag haben deine Eltern… sie waren der Ansicht, dass ich… dass du, dass... Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll.“

Seine hellbraunen Augen rasten ruhelos durch das ganze Zimmer, ehe sie schließlich auf mir liegen blieben. Gebannt hielt ich den Blick seiner warmen Augen stand, bis er weitersprach: „Taiki und Aiko haben mich zu deinem Paten bestimmt.“

Professor Yuujou blickte mich einen langen Augenblick etwas betreten an. Fast so, als stünde eine mir unbekannte Bedeutung hinter diesen Worten.

„Das bedeutet, mein leiblicher Vater wollte, dass sie auf mich aufpassen, wenn sie es nicht mehr können?“

„So ist es vielleicht bei den Menschen“, begann Professor Yuujou zu erklären.

„Wenn man in unserer Welt eine Patenschaft für ein neugeborenes Leben übernimmt, dann tritt man in eine Verpflichtung, die über Familienbande hinausgeht. Diese Verbindung wird mit Blut besiegelt und man ist auf ewig an sein Patenkind gebunden. Es ist meine Verpflichtung, dich zu beschützen. Denn wenn du auf gewaltsame Weise sterben solltest, werde ich dein Schicksal teilen.“

Eine Bombe hätte eine ähnliche Wirkung gehabt und Professor Yuujou machte auch keine Anstalten, das alles als schlechten Scherz aufzulösen. Im Übrigen bezweifelte ich auch stark, dass Professor Yuujou überhaupt über derartige Dinge scherzen würde.

Er schaute mich einfach nur ausdruckslos an, so als würde er auf irgendeine Reaktion meinerseits warten. Aber ich hatte absolut keine Ahnung, was ich sagen sollte.

Das würde bedeuten, dass Professor Yuujou meinem Vater, meinem leiblichen Vater sehr nahegestanden hatte. Wie er selbst bereits betont hatte, waren die beiden vermutlich wie Brüder gewesen.

„Daher wusste ich auch die ganze Zeit über, dass du noch am Leben sein musst. Glaube mir, Kleines. Ich habe nie die Suche nach dir aufgegeben“, setzte er noch nach und zog mich in eine enge Umarmung.

Steif vor Erstaunen ließ ich es zu.

Irgendwann sickerten seine Worte in mein Bewusstsein.

Tränen quollen in meinen Augen heran, bis sie so dick waren, dass sie unaufhörlich meine Wangen hinunterliefen.

Ich erwiderte die Umarmung meines Paten. Krallte mich fast schon an ihn.

Als mein Pate, war er sozusagen das Letzte an Familie, was mir geblieben war. „Ich weiß, dass das alles ziemlich viel für dich sein muss. Zu erfahren, dass du Sora Jiyuu, die Tochter von Aiko und Taiki Jiyuu, bist und dass der Drache der Finsternis es auf dich abgesehen hat, und dass du noch einen Patenonkel hast. Aber ich will, dass du weißt, dass ich immer für dich da bin, wann immer du mich brauchst.“

Mit diesen Worten drückte er mich noch einmal ganz fest, bevor er mich sanft von sich schob und mir tief und eindringlich in die Augen blickte. „Danke.“ Meine Stimme klang heiser und mehr als dieses eine Wort traute ich mich nicht zu sagen, aus Angst, der versiegte Fluss meiner Tränen würde wieder zu einem reißenden Mahlstrom werden. Aber er erwartete wohl auch nicht mehr. Mit einem schwachen Lächeln verließ er schließlich mein Zimmer und an seiner Stelle stand nun wieder Jacob neben meinem Bett.

Ich brauchte nichts zu sagen. Wir blickten einander einfach nur an und schon hatte sich Jacob die Schuhe von den Füßen gezogen und legte sich neben mich aufs Bett. Beide Arme fest um mich geschlungen und ich kuschelte mich an seine Brust, sodass er wenigstens nicht sehen musste, wie ich den Tränen freien Lauf ließ.

Natascha: Familien

Die Gerüchteküche brodelte und dampfte so stark, dass man meinen konnte, die ganze Schule wäre in heißen Nebel gehüllt. Gleich nachdem ich meine erfolgreich bestandene Prüfung hinter mir gelassen hatte und mein neues Zimmer hatte einräumen können, hatte alles angefangen. Anastasia Polumya, meine neue Zimmergenossin, war nur ein paar Minuten nach mir gekommen.

Eigentlich war ich zu dieser Zeit darauf vorbereitet gewesen, früher oder später zu erfahren, Sora wäre wieder da, wo sie hingehörte: zu Hause in Deutschland, bei ihren langweiligen Menscheneltern in ihrer langweiligen Menschenstadt und wieder auf ihrer langweiligen Menschenschule.

Aber nein, genau das Gegenteil war der Fall.

Am Abend desselben Tages, an dem die Prüfung stattgefunden hatte, hatte es angefangen.

Die Gnome und Elfen hatten Alarm geschlagen und wuselten aufgeregt hin und her, fast so wie Ameisen, in deren Haufen jemand einen brennenden Stock geworfen hatte. Nicht dass ich Erfahrungen auf diesem Gebiet hätte… Naja, jetzt könnte ich genau das sogar ganz ohne Feuerzeug machen, da mein Bestimmungselement - ganz wie es bei fast jedem aus meiner Familie der Fall war - das Feuer war.

Aber sei es drum.

Von dem aufgeregten Hauspersonal konnte man hier und da Wortfetzen aufschnappen.

„Sora.“

„Olga Romanowa.“

„Wieder da.“

„Prinzessin Sora Jiyuu.“

Und von da ab war es nur noch ein kleiner Sprung zu haarsträubenden Gerüchten.

Doch irgendetwas war tatsächlich im Gange.

Denn eigentlich hätten wir gleich am Tag nach unserer Prüfung unsere neuen Stundenpläne bekommen sollen und mit dem neuen Unterricht beginnen müssen.

Stattdessen war dieser Tag angebrochen und nichts war geschehen.

Wortwörtlich.

Kein Unterricht hatte stattgefunden.

Die Lehrer waren alle in einer Konferenz. Was sie dort besprechen wollten, war uns allen ein Rätsel und die Gerüchteküche wurde davon nur noch mehr angeheizt.

So verbrachten wir alle den Tag, ohne zu wissen, was denn nun eigentlich geschehen war.

Irgendetwas musste allerdings im Argen liegen.

Die dunklen Wächter hatten einen Zug gemacht.

Wie wir darauf reagieren würden, dass war für uns Schüler allerdings noch ein Mysterium.

Erst am Abend nach unserer Zwischenprüfung wurden wir aufgeklärt.

Professor Jones hatte die gesamte Schülerschaft in den großen Saal einberufen.

An den Ort, der gleichzeitig noch vor etwa 36 Stunden unser Wartezimmer gewesen war, unser Zwischenstopp zur Zwischenprüfung.

Professor Jones hatte uns zu Beginn dieses Treffens nur wenig mitgeteilt. Eigentlich hatte er uns nur darauf vorbereitet, dass wir ab sofort regelmäßig auf etwaige Einflüsse durch William Armstrong überprüft werden sollten.

Glücklicherweise war dies bei keinem von uns Schülern der Fall gewesen.

Anschließend hatte uns Professor Jones dann in knappen Zügen geschildert, was wohl geschehen wäre. Dass unsere liebe Sora Krüger in Wahrheit Sora Jiyuu wäre und dass Olga Romanowa, die berüchtigte Anführerin der dunklen Wächter hinter ihr her wäre.

Professor Jones war schon von Zeit zu Zeit etwas melodramatisch, doch seine abgedrehten Abschlussworte wollten selbst mir, einer Pragmatikerin, wie sie im Buche stand, einfach nicht aus dem Kopf gehen.

Noch immer geisterten sie in meinen Gedanken herum: „Bald schon wird ein großer Kampf kommen, der vermutlich das Schicksal der ganzen Welt entscheiden wird. Wir wissen nicht, wie unsere Zukunft aussehen wird. Aber die dunklen Wächter werden kommen. Und ich möchte, dass ihr alle bereit seid, wenn dieser Tag da ist.“

Er ist danach einfach mit Professor Campillo dicht an seinen Fersen an der Bühne vorbei nach draußen gestürmt. Sein Kollege Professor Yuujou war dann eingesprungen und hatte uns angewiesen, in unsere Schlafzimmern zurückzugehen.

Soweit so gut, doch schon vorher hatte mich Professor Jones ganz schön durcheinandergebracht. Er hatte uns nämlich gesagt, es werde vorerst kein Unterricht stattfinden, bis sich die Schule wieder gesammelt hätte.

Was zum Henker sollte das denn heißen?

Wieso kein Unterricht?

Nur wegen Sora?

Dieser Intrigantin von einer Betrügerin?!

Nie und nimmer war die Sora, die ich kannte die verschollene Sora Jiyuu!

Das war absolut unmöglich!

Undenkbar!

Selbst jetzt war die Gerüchteküche noch am Brodeln, da die offizielle Version der gestrigen Ereignisse lautete: Sora war als letzte in die Prüfung gegangen und von den dunklen Wächtern in eine Falle gelockt worden, wobei sich herausgestellt hatte, dass Sora die verschollene Wind-Prinzessin wäre.

„Glaubst du, Sora ist dann wirklich auch das Mädchen aus der Prophezeiung?“, fragte mich meine neue Zimmergenossin, Anastasia Polumya. Die Ukrainerin war mindestens genauso aufgeregt und aus dem Häuschen wie alle anderen, nur ich wusste es besser: es waren alles Lügen oder ein Missverständnis.

„Sie ist nicht Sora Jiyuu!“, fuhr ich Ana an. „Sora Krüger stammt aus Deutschland, ihre Eltern sind Menschen. Sie ist nicht die Prinzessin des Windelements!“

Schon den halben Tag lang musste ich mir dieses Gerede über Sora anhören. Gerade Ana hatte ich nicht für so leichtgläubig gehalten. Es war neun Uhr abends, der Tag nach unserer Prüfung und schon den ganzen Tag lang waren diese verdammten Gnomen auf und ab gelaufen. Hatten irgendwelches Zeugs von einem Anschlag gefaselt, was die Gerüchteküche noch weiter angeheizt hatte.

Meine Zimmergenossin hatte jetzt sogar davon angefangen, Sora könnte das Mädchen aus der Prophezeiung sein. Der dunkle Drache hatte vor 15 Jahren die damalige Sora, die echte Sora Jiyuu für das Mädchen der Prophezeiung gehalten und Jagd auf sie gemacht. Alle Welt hielt sie für verschollen, vermutlich weil sie einfach die Wahrheit nicht akzeptieren wollten: nämlich, dass Sora Jiyuu vor 15 Jahren von den dunklen Wächtern getötet worden war.

Jedenfalls war Sora Krüger ganz sicher nicht die leibliche Tochter von Taiki und Aiko Jiyuu.

Auch wenn ich die einzige war, die das dachte, ich hielt daran fest, woran ich glaubte.

Allerdings raubte mir Anas Gerede allmählich den letzten Nerv.

Schnellen Schrittes ging ich zur Zimmertür, durch den Luftzug, den ich dabei verursachte wurden einige Blätter auf dem Schreibtisch, den ich mir mit Ana zu teilen hatte, zur Seite geweht und einige schwebten gen Boden, schwungvoll öffnete ich die Tür und schlug sie mit einem lauten Knall wieder hinter mir zu. Jetzt würde ich in die Bibliothek gehen. Zu lernen hatte mir in Situationen wie dieser schon häufig weitergeholfen.

Die Bibliothek hier an der Schule war einfach gigantisch. Dieser weite, offene, hohe Raum war vom Boden bis zur Decke mit Büchern und Schriftrollen vollgestopft. Die Angestellten hier (natürlich auch wieder Gnome) hatten ein genaues System, das ich noch nicht ganz durchschaut hatte, aber sei es drum.

Die vielen rappelvollen Bücherregale waren auf insgesamt fünf Stockwerke verteilt. Hier im Erdgeschoss gab es in der Mitte des Raumes einen großen Thresen, wo immer mindestens ein Gnom bereitstand, um Auskunft zu geben.

Die Gnomen hatten den gesamten Bestand so perfekt kartografiert, dass sie den genauen Aufenthaltsort eines jeden Werkes auswendig wussten und einen sofort hinführen konnten.

Von hier unten aus konnte man überdies auch auf die oberen Stockwerke blicken, die alle in offenen Galerien endeten, an deren Rand wiederum ein Ebenholzgeländer einen davor bewahrte, in die Tiefe zu stürzen.

Hinter dem Thresen, wo normalerweise immer Arbeiter herumwuselten, führte eine breite Treppe in die oberen Stockwerke. Allerdings waren heute keinerlei Arbeiter hier, jeder einzelne von ihnen musste im Moment überprüft werden.

Ob dieses angebliche Attentat auf Sora nun tatsächlich stattgefunden hatte, oder nicht, konnte ich nicht sagen, aber bei den Angestellten war definitiv etwas am Brodeln.

Sollte wirklich einer der Angestellten von William Armstrong besessen worden sein, konnte es nicht schaden, jeden einzelnen von ihnen zu überprüfen. Denn es gab hier an unserer Schule noch viel mehr Geheimnisse, an denen Olga Romanowa interessiert sein könnte, als dass sie darauf versessen wäre, die falsche Wind-Prinzessin zu töten.

Die gänzliche Abwesenheit von Hauspersonal störte mich nicht im mindesten.

Auch sonst war niemand hier.

Keiner der Schüler nutzte die neue freie Zeit, um zu studieren. Nein. Die meisten waren entweder in ihren Zimmern geblieben oder sie trainierten ihre Kampfkünste.

Völliger Blödsinn.

Man konnte nicht immer alles mit der Methode "mit-dem-Kopf-durch-die-Wand" lösen oder nach dem Motto "erst-draufhauen-und-dann-Fragen-stellen".

Aber sei es drum.

Ich war alleine hier. Und das war mir gerade recht.

Liebevoll nannte ich diese Bibliothek immer das Paradies der Bücher und ich kannte mich inzwischen doch recht gut aus hier drinnen.

Zwar durchschaute ich das System der Gnomen nicht, wie sie hier alles geordnet hatten, doch kannte ich inzwischen die Orte und Stellen, an denen die Bücher standen, die mir bisher am besten beim Lernen geholfen hatten.

Doch im Paradies der Bücher angekommen trugen mich meine Schritte wie von selbst zu einer ganz bestimmten Abteilung im dritten Stockwerk dieser gigantischen Bibliothek. Normalerweise hielt ich mich meistens im zweiten oder im vierten Stock auf, wo viele Bücher über magische Geschichte, magische Gegenstände und den Gebrauch von magischen Waffen und Gegenständen und den Gebrauch der Elementarmagie standen.

Meine Lieblingslektüren.

Doch heute zog mich eine unsichtbare Macht, fast so wie ein Marionettenspieler seine Puppe, in den dritten Stock, dann in der vierten Reihe die Regale entlang und am siebten Regal blieb ich schlagartig stehen.

Meine Finger, die ebenfalls von einer überirdischen Macht besessen waren, fuhren an den Einbänden entlang und blieben genau an einem dicken Wälzer stehen, der in hellblaues, inzwischen etwas vergrautes, Leder gebunden war.

Eine dichte Schicht Staub flog mir entgegen, als ich den Band herausnahm. Grob fuhr ich mit den Fingern über das Buch, um es vom meisten Dreck und Staub zu befreien und wischte mir schließlich meine Finger an meiner braunen Jacke ab.

Was auch immer es mit diesem Buch auf sich hatte, es war wichtig, für mich. Vielleicht hatte der Drache des Lichts mich hierhergeführt, zu diesem Buch. Ich konnte mich noch ganz genau daran erinnern, als ich am Nebelbach seine Magie hatte spüren können.

Als ich in diese Erinnerung eintauchte, kam es mir so vor, als wäre es gestern gewesen. Damals hatte ich vor einer niedergebrannten Ruine gestanden. Um mich herum lagen die Trümmer. Ich konnte beinahe wieder den mehligen Rauch in meiner Lunge kratzen spüren und die Hitze des erst kürzlich abgeklungenen Feuers fühlen, genauso wie ich die Leichen vor mir sehen konnte.

Und genau wie damals zog sich mein Herz schmerzhaft zusammen.

Das Haus meiner Eltern war niedergebrannt worden und inmitten der Trümmer lagen die beinahe bis zur Unkenntlichkeit verkohlten Leichname meiner Eltern, meiner großen Brüder und meiner Onkel, Tanten, Cousins, Cousinen, einfach meine gesamte Familie war mit einem Schlag ausradiert und ich war mutterseelenallein.

Die Letzte meiner Ahnenreihe.

Die Letzte meiner Familie.

Einsam.

Alleingelassen.

Und wer hatte sie mir genommen?

Die dunklen Wächter?

Nein!

Ich war es gewesen. Wut und Angst hatten mich gepackt und die Kontrolle über meine Fähigkeiten übernommen.

Einmal.

Ein einziges Mal hatte ich in einem meiner Bücher darüber gelesen, dass es durchaus vorkommen konnte, dass ein lichter Erwählter sosehr in Wut geriet, dass er Unschuldige dabei verletzen konnte, denn in jedem von uns wohnte Magie und die hatte sich in einem einzigen Augenblick vollständig entfesselt und hatte sich gegen meine Familie gerichtet.

Nicht nur in dieser horrorhaften Vision.

Es war tatsächlich geschehen.

In meiner kindlichen Wut hatte ich einen Sturm entfesselt, der die Möbelstücke im Salon meiner Eltern umhergewirbelt hatte. Meine Mutter und einige Bedienstete waren dabei schwer verwundet worden.

Ich selbst hatte den Vorfall nur knapp überlebt, da ich beinahe meine gesamte Magie, also beinahe meine gesamte Lebenskraft gebraucht hatte.

Natürlich kannte ich mein inzwischen wohl wörtlich wie sprichwörtlich feuriges Temperament. Und in dem Moment, da ich darüber gelesen hatte, war in meinem Inneren schleichend die Angst hervorgekrochen, dass meine Wut eines Tages solche Ausmaße annehmen könnte, dass ich meine Familie verletzen könnte.

Ob ich auch Freunde verletzt hatte?

Freunde hatte ich nicht.

Selbst hier an der Schule gab es nur wenige, die ich überhaupt als Kameraden bezeichnen würde. Es war gefährlich in unserer Welt, Freunde zu haben. Sie bringen nur Schmerz und Leid. Ich brauchte keine Freunde. Doch meine Familie ging mir über alles. Sie zu verletzen, ob nun absichtlich oder aus Versehen, das würde ich mir niemals verzeihen.

Genauso wie ich mir dieses einmalige Ereignis niemals vergeben würde.

Sei stark, das hatte der Drache des Lichts damals zu mir gesagt, ehe ich von seiner tröstenden, wärmenden Macht eingenommen worden war. Dieselbe Wärme spürte ich auch jetzt, als sich meine Finger in das Leder dieses verschmutzten Buches krallten.

Sieh genau hin. Der Drache des Lichts! Das war seine Stimme! Es war beinahe so, als wollte er mir bestätigen, dass er es gewesen war, der mich hierhergeführt hatte und da wusste ich, was auch immer in diesem Buch geschrieben stand, war wahrhaftig, die reine unverfälschte Wahrheit. Und ich würde sie akzeptieren müssen.

Statt mir einen Tisch zum Lesen zu suchen kniete ich mich neben das Regal hin und schlug das Buch auf meinem Schoß auf.

Wie von selbst blätterten meine Finger Seiten um Seiten weiter und im Überfliegen des Textes verstand ich, dass hier drinnen die Ahnenreihe der Wind-Herrscher aufgelistet war. Jeder einzelne Herrscher des Windes stand hier in diesem Buch, zusammen mit den Taten, die er vollbracht hatte. Jahrhundert um Jahrhundert arbeitete ich mich vor.

Bis ich etwa drei Viertel des Buches durch hatte, da kamen dann Aiko und Taiki Jiyuu, Sora Jiyuus Eltern.

In groben Zügen wurde von der letzten Schlacht vor 15 Jahren berichtet, der Eintrag der beiden Herrscher endete mit ihrem ehrenvollen Tod während der Schlacht. Gebannt hielt ich den Atem an, als mein Finger wie in Trance auf die nächste Seite blätterte.

Dort erblickte ich sogleich ein gemaltes Bildnis von Sora, meiner Sora Krüger. Doch das war absolut undenkbar!

Dann war Sora Krüger also doch Sora Jiyuu?!

Über ihrem Bild stand auch ihr Name: Sora Krüger/Jiyuu. Der Name ihrer Adoptiveltern und der Name ihrer leiblichen Eltern und ich wollte es nicht glauben, doch es war die unverfälschte Wahrheit. Der Drache des Lichts, das überirdische Wesen, das uns alle anleitete sagte mir hier und heute, dass Sora Krüger die zukünftige Herrscherin des Windes war.

Tatsächlich war hier bereits eine grobe Zusammenfassung ihrer beiden bisherigen "Heldentaten", als sie in den Kampf mit Olga Romanowa und deren Schergen am Strand in der Stadt verwickelt worden war, was uns die Ausgangssperre beschert hatte und ihr kürzliches Aufeinandertreffen mit Olga Romanowa und ich konnte einfach nicht fassen, was ich da las. Doch eine winzige Ecke in meinem Herzen war auch stolz darauf, dass es tatsächlich jemandem gelungen war, Olga Romanowa KO gehen zu lassen.

Gerade deswegen würde ich Sora als zukünftige Herrscherin akzeptieren müssen, doch das bedeutete noch lange nicht, dass ich sie mögen müsste oder dass ich es ihr leicht machen würde.

Sora: Gebrochen

„Sora!“ Dieses eine Wort war es nicht, was mich durchrüttelte, es war vielmehr die Stimme, die gesprochen hatte. Selten hatte ich diesen besorgten, hysterischen Unterton bei ihr gehört.

Die wenigen Male konnte ich an einer Hand abzählen.

Zum Beispiel als ich mit sieben allein auf den Baum in unserem Garten geklettert und heruntergefallen war. Damals hatte sie mich sofort gepackt und ins Krankenhaus verfrachtet. Oder als meine Eltern mir schwimmen beigebracht hatten und ich zum ersten Mal alleine durch das kühle Nass gleiten sollte.

Ich war gesunken wie ein Stein.

Ja, damals war sie um mein Wohlergehen besorgt gewesen.

Doch diesmal.

Meine Mutter, oder vielleicht besser gesagt: die Frau, die mich adoptiert hatte, als ich noch ein Baby gewesen war: Linda Krüger.

Diesmal bestand doch keine Gefahrsituation. Zumindest keine, die sie erahnen könnte. Oder hatten ihr die Lehrer alles erzählt?!

„Mama“, brachte ich mit tonloser Stimme hervor.

Sie fiel mir so stürmisch um den Hals, dass Jacob wie von der Tarantel gestochen aufsprang. Wäre er bewaffnet, läge sein Dolch schon längst in seiner Hand, die Klinge drohend gegen meine Mutter gerichtet.

Stattdessen beobachtete er die Szene misstrauisch, wie ich von meiner Mutter fest im Arm gehalten wurde. Sehen konnte ich ihn nicht, da meine Augen geschlossen waren und ich mein Gesicht im roten Schal meiner Mutter vergrub, dennoch spürte ich seinen abschätzenden Blick auf uns spüren.

„Keine Sorge“, das war Professor Campillos Stimme, „sie wurden bereits überprüft.“

Soweit ich es mitbekommen hatte, waren alle in der Schule: Lehrer, Schüler, sowie Hauspersonal daraufhin überprüft worden, ob sie von William Armstrong kontrolliert wurden. Bisher hatten nur eine Handvoll Mitglieder des Hauspersonals überführt werden können. Alle anderen waren „sauber“. Nach dem Vorfall mit Cap hatte Professor Jones diese Massenprüfung angeordnet. Aus Angst, ein erneuter Anschlag könnte geschehen.

Niemals hätte ich mir träumen lassen, dass so etwas möglich wäre. Dass ein Mensch einen anderen mit Leib und Seele kontrollieren könnte. Mehr als nur glücklich war ich zu hören, dass dies bei meinen Eltern nicht der Fall war.

„Schätzchen, ist alles in Ordnung?“, fragte mich nun mein Vater, der sogleich an Mutters Seite trat. Sobald er dies ausgesprochen hatte, raufte er sich die Haare und erwiderte „Tut mir leid. Natürlich ist nicht alles in Ordnung. Wie dumm von mir.“

Daraufhin zog er sich den Schreibtischstuhl heran und setzte sich zu mir ans Bett. „Ich möchte alles hören“, forderte er. „Wir haben zwar schon alles erfahren, doch ich möchte es aus deinem Mund erzählt bekommen.“

Daher begann ich zu erzählen.

Die Professoren, die meine Eltern hierher begleitet hatten, hatten uns glücklicherweise allein gelassen. Nur Jacob war noch im Zimmer, um auf mich aufzupassen.

Während ich so erzählte, knetete meine Mutter ihre Hände, was sie nur tat, wenn sie extrem angespannt war. Mein Vater hatte den Blick starr geradeaus auf einen Punkt irgendwo hinter mir gerichtet. Keiner von beiden unterbrach mich. Selbst als ich geendet hatte, sprachen sie noch lange Zeit kein einziges Wort.

„Und du bist wirklich diese Sora Jiyuu, die vor 15 Jahren verschwunden ist“, flüsterte meine Mutter mit gebrochener Stimme.

„Ja.“

„Dann dürfen wir dich wohl nicht daran hindern zu tun, was getan werden muss“, sagte mein Vater, bevor meine Mutter zu einer Erwiderung ansetzen konnte, um mir mein Handeln als Beschützerin auszureden. „Aber…“, setzte sie schon an. „Nein. Sora hat es uns doch schon mal erklärt, sie ist jetzt zu Hause. Hier lebte ihre Familie, ihre leibliche Familie. Hier gehört sie her. Wenn wir sie nicht verlieren wollen, müssen wir das akzeptieren“, rügte er seine Frau.

Tapfer blinzelte meine Mutter die aufquellenden Tränen weg und schluckte schwer.

„Wir sind für dich da, das weißt du, Liebling“, sagte sie mit viel zu feuchten, tränenschweren Augen und umarmte mich nochmal fest.

„Warum seid ihr eigentlich hier?“, stellte ich die nunmehr offensichtliche Frage. „Also nicht, dass ich mich nicht darüber freuen würde. Ich wundere mich nur“, versuchte ich, die schroffe Frage abzumildern.

„Professor Jones meinte, es wäre wohl sicherer, wenn wir erst mal hier in der Schule untergebracht werden“, erklärte mein Vater, da meine Mutter immer noch mit den Tränen kämpfte.

Doch diese Aussage machte mich erst recht hellhörig. „Warum denn sicherer?“, fragte ich daher. „Die dunklen Wächter könnten es von jetzt an auf deine Eltern abgesehen haben, um dir zu schaden“, meinte Jacob, der sich bis dahin eher im Hintergrund gehalten hatte, um mir Zeit mit meinen Eltern zu lassen.

Beim lichten Drachen!

Daran wollte ich gar nicht denken. Wie schrecklich wäre es, wenn die dunklen Wächter meine Eltern in ihrer Gewalt hätten? Nein, das konnte und wollte ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht ausmalen.

„Wir sind hier im Turm des Windes untergebracht“, erklärte mein Vater, „wenn du was brauchst: wir wohnen nur ein paar Stufen unter dir.“

Das tat gut zu hören. Diese Worte waren wie Balsam für meine Seele. Erst jetzt merkte ich, wie sehr mir meine Eltern doch gefehlt hatten. Ja, diese Welt war aufregend und alles war neu für mich. Doch meine Familie war lange Zeit von mir getrennt gewesen und das hatte Wunden hinterlassen, die mir erst jetzt, da ich wieder mit ihnen vereint war, bewusstwurden, die allerdings sogleich zu heilen begannen.

„Wir lassen dich jetzt wieder allein, mein Schatz. Du brauchst noch viel Ruhe“, entgegnete mein Vater und gab mir noch einen dicken Kuss, anschließend erwiderte meine Mutter diese Geste und sie ließen mich wieder mit Jacob allein.

So schien es zunächst.

Doch ein Räuspern von der Tür kündigte die Anwesenheit von Professor Yuujou, meinem Paten, an.

„Da wäre allerdings noch jemand, der dich gerne sprechen würde“, meinte er, wurde aber sogleich von einem blonden Wirbelwind zur Seite geschoben.

Wie eine Verrückte fiel mir Viola stürmisch um den Hals.

Viola: Wiedersehen

Verdammt. Verflixt und verflucht noch eins.

6 Monate.

6 gottverdammte Monate hatte sich Sora so gut wie gar nicht bei mir gemeldet.

Dass ich von ihr hin und wieder ein Lebenszeichen bekommen hatte, da konnte ich vermutlich von Glück reden.

Aber diese verrückte Geschichte, in die sie da hineingezogen worden war. Wobei… eigentlich war sie in diese Welt ja sogar hineingeboren worden. Immerhin waren ihre leiblichen Eltern auch Mitglieder in diesem magischen Verein.

Anhänger des weißen Drachen gegen Anhänger des schwarzen Drachen.

Heilige Makkaroni.

Professor Campillo hatte mir auf meinem Weg hierher bereits alles in groben Zügen geschildert.

Es zu verarbeiten, würde wohl noch ein halbes Leben lang dauern.

So viel Zeit hatte ich nicht.

Sora war bereits Teil dieser Welt.

Und da die Professoren entschieden hatten, mich hierher zu bringen, war ich wohl oder übel immer noch ein Teil von Soras Welt.

„Wie bist du hierhergekommen? Wieso?“, wollte meine sprachlose Freundin wissen.

„Hey“, ich boxte sie in den einbandagierten Arm. So sanft es einer besten Freundin eben möglich war.

„Beste Freundinnen halten doch zusammen, oder?“

„Ja“, antwortete Sora und rieb sich mit einem schiefen Grinsen den einbandagierten Arm.

Meine grauen Augen wanderten unwillkürlich zu dem blonden Muskelprotz, der Soras Leibwächter spielte und unser Wiedersehen argwöhnisch musterte.

„Na du musst wohl Jacob sein. Jacob mit „c““, gurrte ich und hielt ihm meine Hand hin.

Jacobs Augen wanderten wiederum zu Sora. Eine Augenbraue nach oben gezogen schlich sich ein schiefes Grinsen in sein markantes Gesicht.

Seine haselnussbraunen Augen fanden ihren Weg zurück zu mir und er schüttelte mir herzhaft die Hand.

„Dann musst du Viola sein.“

Was nun kam, konnte ich mir einfach nicht verkneifen.

Ich zog Jacob mit „c“ mit einem kräftigen Ruck am Arm zu mir heran, sodass ich sein Gesicht genau unter die Lupe nehmen konnte. Als nächstes betatschte ich seine Arm- und seine Bauchmuskeln und gab Sora ein zufriedenes „Daumen hoch“, während Jacob die ganze Prozedur perplex über sich ergehen ließ.

„Meinen Segen hast du“, meinte ich zu Sora und zwinkerte ihr schelmisch zu.

„Viola“, zischte Sora mit hochrotem Kopf.

Ihre dunkelblauen Augen huschten aufgeregt zwischen mir und ihrem Freund hin und her.

„Tut mir leid, Jake, Viola ist ein bisschen sehr…“ „Direkt?“, half ihr Jacob auf die Sprünge.

„Ich glaube ich kann euch beide allein lassen“, fügte Jake mit hochrotem Kopf hinzu.

„Wirklich?“

„Solange dafür Yoshi hier drinnen ist.“

Jacob verschwand kurze Zeit durch die große Balkontür am anderen Ende des Zimmers. Nur wenig später kehrte er zusammen mit einem riesigen Vogel zurück. Dieses Vieh hatte vier kräftige Beine, wie ein Löwe, nur dass es klauenartige Füße hatte. Aus seinem Rücken sprossen zwei kräftige, gefiederte Flügel. Daher würde ich es eher als Vogel betrachten denn als… Keine Ahnung, als was sonst? Eine verrückte Kreuzung aus Löwe, Vogel, Pferd und Dämon?

„Das ist Yoshi, mein Partner“, erklärte Sora sogleich, die meinen verstörten Gesichtsausdruck wohl oder übel nicht übersehen hatte.

„Dein Partner? Wie in… du weißt schon. Ich meine er ist ein… Und du bist ein Mensch. Und ich dachte du wärst mit Jake zusammen“, stotterte ich herum.

„Was nein!“, rief Sora erschrocken.

„Nicht ein Partner in diesem Sinne.“

Dem vogelähnlichen Vieh entfuhr ein Krächzen, das verdächtig an ein Lachen erinnerte. Auch Jacob versteckte sein Grinsen hinter vorgehaltener Hand.

„Ich lass euch dann alleine“, erwiderte er immer noch mit der Hand vor seinem Gesicht und stürzte – vermutlich – breit grinsend nach draußen.

Die nächsten paar Stunden verbrachte ich mit Sora.

Meine beste Freundin wurde es nicht leid, mir alles aus dieser Welt zu erklären.

Sie selbst hatte immer noch nicht alles erfahren. Wie am ersten Tag lernte sie immer noch dazu.

Was sie bislang mit Sicherheit wusste, versuchte sie mir schonend und leicht verständlich nahezubringen.

So erklärte sie mir, was es mit einem Partner auf sich hatte.

Es war in keinster Weise etwas sexuell Motiviertes, wie ich perverserweise zunächst gedacht hatte.

Nein.

Wie alles in dieser Welt, drehte sich auch die Partnerschaft mit einer magischen Kreatur um ein Band geschmiedet in Blut und Vertrauen, das die Seelen dieser zwei Wesen miteinander verknüpfte. Beide sollten sich ein Leben lang gegenseitig helfen und füreinander sorgen.

Fast jeder Wächter oder Beschützer fand früher oder später seinen magischen Partner.

In Soras Fall war das Yoshi, ein Greif, wie sie mir erklärte.

Es gab aber noch unglaublich viele magische Kreaturen.

Viele davon kannte ich nicht einmal aus den gängigen Märchen. Da sie nur magisch Begabten bekannt waren.

Wie beispielsweise Qualmbeißer, oder Rußoger, Gaiawölfe oder Lavafeen und noch viele weitere. Sie benannte bestimmt 30 oder 40 Arten. Doch merken konnte ich mir nur die ersten paar davon.

Bereits jetzt qualmte mein Kopf, quoll über mit all diesen neuen Informationen.

Ein Ende war jedoch nicht in Sicht.

Sora berichtete von ihren bisherigen Abenteuern hier in der Schule.

Angefangen hatte es wohl bereits kurz nach ihrer Ankunft, als sie mit Jacob zu ihrem ersten Date in die Stadt gefahren war. Soweit ich mich erinnern konnte, hatten wir damals kurz bevor sie losgefahren war, noch miteinander telefoniert.

Das wusste ich noch so genau, weil es bereits eines der letzten Male gewesen war, da ich ihre Stimme gehört hatte.

Es tat gut, sie nicht einfach nur zu hören, sondern sie auch sehen, sie berühren und so nah bei ihr sein zu können.

Erst jetzt wurde mir klar, wie sehr mir meine beste Freundin gefehlt hatte.

Irgendwann lauschte ich immer weniger den Worten, die meine Freundin sprach, sondern konzentrierte mich nur noch auf ihre Stimme.

„Du hast mir so gefehlt“, hörte ich meine eigene Stimme sagen.

Tränen verwässerten meine Sicht. Aus Angst, Sora könnte einfach verschwinden, wenn ich zu lange unaufmerksam wäre, blinzelte ich die Tränen wieder weg.

„Du mir auch“, erwiderte sie krächzend.

Wie lange wir uns danach in den Armen lagen, konnte ich nicht genau sagen.

Vielleicht Stunden. Oder auch nur einige Sekunden.

Ich bemerkte gar nicht, dass ich eingeschlafen war.

Erst als ich in einem mir fremden Bett wieder erwachte, wurde es mir bewusst.

Im ersten Augenblick war ich völlig verwirrt.

Ich kannte dieses Bett nicht.

Es roch anders.

So sehr nach Zitrone.

Das Bettzeug war rot.

Ich hatte kein rotes Bettzeug. Nur irgendwelche schrulligen, nerdigen Fan-Bettwäschen aus Comics und meinen Lieblingsfilmen.

Bei genauerer Betrachtung des Zimmers wurde immer mehr Unbekanntes aufgedeckt.

Die Möbel.

Das Fenster.

Die Aussicht.

Ich konnte Mauerwerk erkennen. Da waren mehrere steinerne Türme. Dazwischen konnte ich ganz klein einen weit entfernten See und einen Waldrand erblicken.

Ein Schloss.

Ein See.

Ein Wald.

Heilige Peperoni.

Ich hatte also doch nicht geträumt.

Soras geheimnisvolle Welt der Magie war Wirklichkeit.

Und ich selbst war wohl oder übel nun ein Teil davon.

Scarlett: Freundschaft

Sie sah schrecklich aus.

Endlich, fünf Tage nach der Zwischenprüfung beim lichten Drachen hatte ich Professor Campillo überreden können, mich zu Sora zu lassen.

Soweit ich es mitbekommen hatte, waren ihre Eltern mittlerweile hier in der Schule untergebracht und hatten ihre Adoptivtochter bereits besuchen dürfen.

Es war ja verständlich, dass ihre Eltern mit Besuchsrecht bevorzugt behandelt wurden. Doch ich war verdammt nochmal ihre Freundin. Und ich wollte unbedingt wissen, wie es ihr ging und um eine ehrliche Antwort auf diese einfache Frage zu erhalten, musste ich sie sehen und mit ihr reden. Matias und Wladimir hatten nicht mitkommen dürfen. Angeblich, weil Sora Ruhe brauchte, doch sogar wir Schüler wussten es besser.

Der wahre Grund war der Mordanschlag durch einen der Hausgnome, der dank Jacob hatte vereitelt werden können.

Im Moment konnte niemandem über den Weg getraut werden, jeder könnte ein Spion, eine Marionette von William Armstrong sein. Eigentlich sogar ich, zumindest könnten die Lehrer das glauben.

Deswegen wurde auch vorerst niemand zu Sora vorgelassen, außer Jacob, der durch die Vereitelung des Attentats im Grunde schon bewiesen hatte, dass er keine Marionette des Feindes war. Außerdem war er schon so lange mit Sora allein gewesen, während sie ohnmächtig in ihrem Bett gelegen hatte. Er hätte sie da jederzeit töten und unerkannt aus dem Schloss zurück zu seinem Herrn gehen können, um weitere Anweisungen zu erhalten.

Aber das hatte er nicht getan.

Jacob war immer noch er selbst, und weil seine Energie mit der von Sora kompatibel war, würde er alles tun, um sie zu beschützen. Im Augenblick bedeutete das, niemals von ihrer Seite zu weichen. Jeder, absolut jeder könnte ein Feind sein.

Sogar ich.

Misstrauisch beäugte er mich, wie ich so auf einem schmuckvoll verzierten Holzstuhl, dessen Sitzfläche mit Leder gepolstert war, neben ihrem Bett saß.

Außer uns war noch ein lebhaftes, blondes Mädchen im Zimmer, das sich als Soras beste Freundin vorgestellt hatte. Diese Bezeichnung hatte mir einen kleinen Stich der Eifersucht versetzt. Doch mit einer jahrelangen Sandkastenfreundschaft konnte ich nun mal nicht mithalten.

Neidisch beobachtete ich die vertraute, freundschaftliche Zweisamkeit von Viola und Sora, die Seite an Seite nebeneinander im Bett saßen.

„Alles klar bei dir, Sora?“ Die Frage war draußen, ehe ich sie zurückhalten konnte.

Peinlich berührt biss ich mir auf die Zunge.

Natürlich war nicht alles klar.

Cap war für sie fast schon ein Freund gewesen. Sie hatte sich in der kurzen Zeit, da sie hier bei uns war, schon mit vielen von den Hausgnomen und dem übrigen Hauspersonal, überwiegend Waldelfen und Blumenelfen, anfreunden können. Sora war einfach jemand, der sich gut in andere hineinversetzen konnte. Sie tat sich leicht damit, die Gefühle und sogar teilweise die Gedanken ihres Gegenübers zu spüren als wären es ihre eigenen Gedanken oder Gefühle.

Irgendwie musste sie eine ihr angeborene Magie in sich tragen, die ihr ein Gespür für die Magie gab, oder besser gesagt die es ihr erlaubte, die Gefühle von anderen Menschen und sogar von magischen Kreaturen zu spüren.

Im Nachhinein war das gar nicht so ungewöhnlich, immerhin war sie ja die Tochter eines Herrschers. Aber sie war eben immer noch Sora. Das Mädchen, das aus der Menschenwelt hierhergekommen war und für die alles noch immer Neuland war, die sich anfangs schwer damit getan hatte, sich hier zurechtzufinden und auf ihrem steinigen Weg viele neue Freundschaften geknüpft hatte.

Unter anderem eben auch mit Cap, der sie auf so schreckliche Weise verraten hatte, wobei... eigentlich hatte der Hausgnom im Grunde nichts dafürgekonnt. Es war die Macht des dunklen Wächters William Armstrong gewesen, die ihn kontrolliert hatte, wie man so hörte.

Aber dennoch.

Sora musste wirklich am Ende sein.

Normalerweise würde sie jetzt ein fröhliches Lächeln über ihre traurige Miene stülpen, als würde sie eine Maske aufsetzen, und mir versichern, dass schon alles gut wäre.

Heute gelang ihr nicht mehr als ein müdes Schulterzucken.

Gar nicht gut.

Besorgt griff ich nach Soras Händen, die sich in die Bettdecke gekrallt hatten und drückte sie, was Jacob augenblicklich zum Versteifen brachte. Meine gut gemeinte Geste ließ ihn jeden Muskel im Körper anspannen, um notfalls ein zweites Attentat zu verhindern. Nicht einmal eine einzige Sekunde ließ er mich aus den Augen, als ich so an Soras Bett saß und ihre Hände hielt.

Viola hatte unterdessen einen Arm um Soras Schulter gelegt und rieb beruhigend ihren Oberarm.

Sora sah ganz und gar nicht gut aus. Ihre Hände waren in dicke Bandagen gehüllt und eine eingegipste Schiene zierte ihr Bein. Nicht einmal mit Magie ließ sich ein gebrochenes Bein ohne Schiene heilen. Es würde noch ein oder zwei Wochen dauern, dann wäre sie wieder topfit.

Zumindest körperlich.

Aber seelisch würde sie noch eine ganze Weile ihre Wunden lecken. War ja auch kein Wunder. Immerhin hatte sie gerade erfahren, dass ihre leiblichen Eltern Herrscher und vor 15 Jahren vom dunklen Drachen getötet worden waren.

„Sora. Ich bin für

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 22.04.2023
ISBN: 978-3-7554-3996-7

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meine Freunde. Danke für eure Hilfe. Und für meine kleinen Inspirationen: Danke Minni und Puck und Oberon

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