Lukas hetzte durch die Dunkelheit. Zweige peitschten gegen sein Gesicht, hinterließen beißende Striemen. Mit hastigen Atemzügen pumpte er Luft in seine brennenden Lungen. Plötzlich wurde er zurückgerissen, die Schließe seines Umhangs zerquetschte ihm fast den Kehlkopf, er rang nach Atem. Sein Lodenmantel hatte sich im Geäst verfangen. Panisch zerrte er an dem rauen Stoff, der mit einem Ratsch nachgab. Er musste weg, weg von diesem grauenvollen Ort. Nur spärlich beleuchtete der Vollmond die Umgebung. Lukas hatte keine Ahnung, wo er war oder wohin er flüchten sollte. Er rannte in die unbekannte Finsternis; alles war besser, als das, was ihn verfolgte. Die Bäume schnappten mit ihren knorrigen Krallen nach ihm, kratzten über seine Haut. Er drückte sie zur Seite, ignorierte den Schmerz. Tränen rannen über seine Wangen, brannten in den Striemen. Sein Herz sprang wild gegen den Rippenkäfig. Im Geiste sah er die anderen vor sich. Die Bestie tötete sie erbarmungslos und so schnell, dass das Auge kaum folgen konnte. Der Dämon hatte ihre Kehlen aufgerissen, sich dann an ihrem Blut gütlich getan. Lukas überlebte als Einziger. Galle schoss seine Kehle hoch, zwang ihn zum Stehenbleiben. Keuchend stützte er sich an einem Baum ab. Er zuckte zusammen. War da ein Geräusch? Folgte ihm das Monster? Er musste weiter. Er schob das Geäst zur Seite, setzte seinen Weg ins Ungewisse fort. Hauptsache, er brachte möglichst viel Abstand zwischen sich und diese Kreatur. Hinter ihm brachen Zweige, sein Herz setzte einen Schlag lang aus. Er beschleunigte seine Schritte, doch der Wald wollte ihn nicht vorankommen lassen. Voller Verzweiflung kämpfte er sich durch die Büsche, als er mitten in der Bewegung erstarrte; nicht einmal den kleinen Finger vermochte er zu rühren. Einzig sein Herz flatterte in der Brust. Panik umklammerte ihn mit ihren ehernen Klauen.
»Dachtest du wirklich, du könntest entkommen?« Die Stimme des Mannes, der die ganze Delegation bestialisch getötet hatte, klang weich, fast verführerisch. Einen Wimpern-schlag später stand der Fremde vor ihm. Die Augen der Kreatur leuchteten wie glühende Holzkohlestückchen. Verzweifelt versuchte Lukas, seine Beine zu bewegen, aber sie verweigerten ihm den Dienst. Er blieb an Ort und Stelle, ohne sich auch nur eine Handbreit rühren zu können, hilflos wie ein vor Angst erstarrtes Rehkitz.
Bei Gott, was bist du, wollte er die Kreatur fragen, aber es kam nur ein heiseres Krächzen aus seiner Kehle.
»Man gab mir viele Namen, Dämon, Jäger der Nacht oder Vampir.« Die Stimme seines Gegenübers hatte sich verändert, klang nun weit entfernt von menschlich. Unfassbar, die Kreatur las seine Gedanken.
Noch immer konnte Lukas nicht ein Glied seines Körpers bewegen. Nur sein Herz arbeitete noch.
Das Monster packte ihn am Schopf und riss seinen Kopf nach hinten. Schmerzen durchzucken ihn, er keuchte auf.
»Ich rieche dein Blut, wie es durch deine Adern rauscht. Sein Geruch ist süß, so verlockend«, flüsterte die Kreatur in sein Ohr. Lukas hörte, wie sie tief einatmete, als würde sie einen betörenden Duft inhalieren. Schweiß perlte von seiner Stirn. Blanke Furcht legte sich wie eine Eisenkette um seinen Brustkorb, hinderte ihn am Atmen.
Im nächsten Moment spürte Lukas einen stechenden Schmerz an der Kehle. Die scharfen Zähne der Kreatur drangen in sein weiches Fleisch ein. Gierig saugte sie den roten Lebenssaft aus seinen Adern.
Ihm wurde übel und ein Schwindelgefühl übermannte ihn. Er wusste nicht, warum er noch auf den Beinen stand. Seine Gedanken rasten, suchten fieberhaft nach einem Ausweg, während die Kreatur sich an seinem Blut labte. Es gab nichts, was er tun konnte, um sie daran zu hindern, ihm das Leben aus den Adern zu saugen. Alles erschien hoffnungslos. Er erkannte, dass sein Ende unausweichlich gekommen war.
Vielleicht war es diese Erkenntnis, die ihn seltsam ruhig werden ließ. Er musste keine Angst haben, dies konnte nur eine Prüfung Gottes sein, und als guter Christ würde er sie ertragen. Sein ganzes Leben lang war er ein gottesfürchtiger Mensch gewesen. Lukas wusste, auf ihn wartete das Paradies. In Gedanken sprach er ein stilles Gebet, wie es ihm der Mönch in seinem Dorf gelehrt hatte. Seine Gliedmaßen wurden taub. Eine tiefe Müdigkeit erfasste ihn, sein Verstand dämmerte weg. Er spürte den Schmerz kaum noch, und nur Augenblicke später fühlte er gar nichts mehr.
***
Der Körper des jungen Mannes sackte leblos in sich zusammen und Frederic ließ sein Opfer los. Wie ein nasser Sack klatschte der Leib auf den Boden.
»Na, hast du das Paradies oder nur Finsternis gesehen, als dein Herz zu schlagen aufhörte?«, fragte er den Leichnam, den er trotz der Dunkelheit hervorragend sah. Er holte das faustgroße, auf Holz gemalte Bildnis, das er dem Boten auf der Burg abgenommen hatte, aus der Innentasche seines Umhangs. Blutspritzer verdeckten einen Teil des hübschen Gesichts. Sanft strich er mit seinen Fingerspitzen über das Mädchenporträt, um dessen Oberfläche vom Blut zu befreien. Dabei spürte er jeden getrockneten Pinselstrich. Der Anblick dieses wunderbaren Geschöpfs verzauberte ihn. Er musste es aufsuchen und für sich gewinnen. Zu viele Nächte verbrachte er schon allein. Dieses Mädchen sollte seine Gefährtin werden. Kostete es, was es wolle.
Alle Informationen, die er benötigte, um sie zu finden, hatte ihm der Abgesandte gegeben. Wenn auch nicht freiwillig. Der würdelose Kerl war mit einer Delegation zur Burg Hohenstein geschickt worden. Er sollte im Namen seines Herrn um die Schönheit werben. Genauso leicht, wie Frederic die Körper der Sterblichen kontrollieren konnte, fiel es ihm auch, in ihre Gedanken einzudringen. Mit dem Ärmel seines weißen Seidenhemdes wischte er sich das Blut vom Mund. Er spürte, dass seine Augen hell vor Erregung leuchteten. Diese faszinierende Maid würde bald ihm gehören.
Tag der Veröffentlichung: 18.04.2019
Alle Rechte vorbehalten