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Zwei wie eine.

Schwester, immer sind die dunkeln Abenteuer
Zwischen uns, wir können kaum
Unter Schatten erkennen, wie sehr
Wir uns lieben- Maria Luise Weissmann

Ich liege in meinem Bett. Zugedeckt, obwohl es Anfang August ist. Der Schweiß rinnt mir über die Stirn, doch meine Gilder zittern unbeholfen. Mir ist geraten worden, mich zu entspannen. Doch jeder Versuch ist eine Verschwendung.  In den beiden großen Fenstern in meinem Zimmer, von denen aus man einen wohltuenden Blick auf das unendliche Meer hat, spiegelt sich die Sonne in diversen Goldnuancen. Für mich scheint es so, als sei heute einer der heißesten Tage auf Whangamata. Selbst der wenige Verkehr auf den Straßen der Nordinsel Neuseeland's hat sich ganz gelegt. Wenn man sich nicht einen ordentlichen Kuss der Sonne holen möchte, ist es einfach zu heiß, um nach draußen zu gehen. Die Einwohner, Feriengäste oder Touristen bleiben in ihren Wohnungen, mit einem kalten Bier vorm Fernseher und der Klimaanlage auf der höchsten Stufe. Natürlich gibt es aber auch die Hochwahnsinnigen! Die vergnügen sich jetzt am Strand oder am Meer. Für jene ist dann ein Sonnenbrand so etwas wie ein Andenken, wenn sie dann auf dem Weg in den kälteren Norden sind.
 Der Name der Kleinstadt, in der mein Vater, meine Schwester und ich leben, hört sich für viele Menschen erst einmal fremd oder gar kurios an. Aber allein meinem Vater haben wir es zu verdanken, dass wir in einem villenartigen Haus auf Whangamata leben. Er ist ein wichtiger Geschäftsmann, so gut wie immer unterwegs, aber trotzdem der beste Paps, den man sich eben vorstellen kann. Und er ist immer für meine kleine Schwester und mich da. Ausgenommen heute! Da hat er eine wichtige Sitzung und ist um die hundert Meilen entfernt. Ich bin deswegen aber nicht verärgert. Er braucht seinen aufregenden Job genauso, wie ich im Moment Ruhe und Entspannung vertragen könnte.
 Allerdings kann ich mich kaum entspannen. Dafür bräuchte ich schon eine Ibu oder ein Aspirin. Mein Vater verwahrt diese Tabletten jedoch in einem verriegelten Glasschränkchen im Bad auf.
 Ich schließe die Augen und versuche alles um mich herum auszublenden. Jedes Geräusch aus dem Haus. Das Knacken der Rohre, das Knarren der Dielen, die Tropfgeräusche des Wassers, das Brummen des Geschirrspülers... einfach alles! Alles, was meine idyllische Utopie zerstören könnte.
 Und dann fängt Daisy an zu spielen. Daisy, meine geliebte kleine Schwester! Daisy, die ihre Harfe bändigt und bezwingt. Wenn ich genau hinhöre, dann kann ich ihrem Harfenspiel Geschichten entnehmen. So ist es auch dieses Mal. Die ersten Streiche sind zaghaft und zittrig, dann werden sie immer lauter und klarer. Und umso lauter sie wird, desto melodramatischer wird ihr Spiel. Ihr Stück scheint gar nicht mehr aufhören zu wollen... plötzlich wandelt sich die Stimmung erneut. Jetzt klingt sie zorning. Soweit mit einer Harfe solch groteske Töne entstehen können. Es ist, als würde in ihrem Stück ein gewaltiger Sturm aufziehen. Ich bin mir sicher, dass ich das Meer höre. Das Meer, wie es tosende und gefährliche Wellen wirft, die gegen Klippen prallen und wieder abperlen. Dann endet das Stück. Einfach so, ohne einen richtigen Schluss. Meine Muskeln spannen sich an, ein Schauder überschleicht mich.
 "Daisy? Ist alles in Ordnung bei dir?", rufe ich fragend in die unheimliche Stille des Hauses hinein. Ich bekomme keine Antwort. Als ich beschließe aufzustehen, tut mir alles weh. Wie lange ich wohl im Bett gelegen habe? Schritt für Schritt gehe ich auf Daisys Zimmer zu und drücke die Klinke. Es ist abgeschlossen!
 "Daisy?" Flehend lehe ich mich gegen die Holztür. "Lass mich rein! Ich bin es, Oktavia!" Doch ich bekomme immer noch keine Antwort. Als ich angespannt lausche, kann ich kein einziges Geräusch vernehmen. Schließlich werde ich ungeduldig und tippe mit den Fingerspitzen gegen die Tür meiner kleinen Schwester. Warum macht sie mir nur nicht auf? Nach einer halben Ewigkeit kann ich es nicht mehr abwarten und schleiche in den Keller, um den Generalschlüssel für das Haus zu holen. Wie erwartet hängt der mattsilbrig glänzende Schlüssel neben den Regalen mit Rotwein und anderen alkoholischen Getränken. Ich reiße den Schlüssel vom Bund und trampel die Treppe zurück zu Daisys Zimmer. Immer noch kein Zeichen von ihr!
 "Daisy?", rufe ich schnaufend. "Ich komme jetzt rein!" Und nach mehreren Anläufen drehe ich den Schlüssel. Mein Blick gleitet durch das helle Zimmer von meiner Schwester. Sie liebt helle Töne, am liebsten hat sie Pastell. Ihre Harfe steht neben ihrem frisch gemachtem Bett. Ihre Regale sind mit Büchern vollgestopft und an den Wänden hängen Bilder, deren Schöpfer sie selbst ist. Ja, viele beneiden Daisy um ihre Talente. So klein und so begabt! Sie ist außerdem ein Kind, das nie langeweile hat. Doch sie ist nicht da. Wo ist Daisy? Wieso hat sie mir nicht bescheid gesagt, dass sie das Haus verlässt. Ich bin doch ihre große Schwester! Fieberhaft versuche ich nachzudenken. Sollte ich Dad bescheid sagen oder reagiere ich über? Er würde sowieso spätestens morgen Abend wiederkommen und bei seinen Geschäftsreisen wird er nie gern gestört. Also muss ich mich alleine auf die Suche nach ihr machen. Aber wo soll ich nach ihr suchen?
 "Daisy?", rufe ich noch einmal vergebens. Im Haus befindet sich meine Schwester definitiv nicht.
 Und dann fällt mein Blick plötzlich auf das Bild, das noch in der Staffelei hängt. Die Sonnenstrahlen, die es so verführend beleuchten, haben mich darauf aufmerksam gemacht. Das Bild zeigt eine Höhle, die mir mehr als bekannt vorkommt. Wasser rinnt durch diese Höhle. Die Wände sind grünlich und leuchten an einigen Stellen silbern und violett. Felsvorsprünge ragen aus den kantigen Steinwänden. Wo genau habe ich diese Höhle schon einmal gesehen? Es fällt mir wie Schuppen von den Augen. Die Meeresgrotten! Daisy hatte die Grotten, die sich in den großen Klippen vor dem Meer verbargen, gemalt. Damals waren wir jeden Tag dort gewesen. Wenn Ebbe war, haben wir uns sogar in den Abendstunden in diesen gruseligen Höhlen aufgehalten und Forscherinnen gespielt. Ich erinnere mich, wie wir aus dem Haus geschlichen haben und den kleinen Sandweg durch die Dünen gerannt sind, bis wir zum weitern Meer kamen. Wir sind fast jeden Abend dort gewesen. Bis Pap's uns dann irgendwann erwischte. An dem Abend gab es eine große Standpauke von ihm und danach haben wir uns nie wieder dorthin geschlichen. Wir haben unseren Vater verstanden gehabt. Es ging ihm um unsere Sicherheit. Er hat ja nur noch uns gehabt, nachdem Mom an Krebs gestorben ist.
 Für mich sind die Meeresgrotten eigentlich schon so gut wie Geschichte gewesen. Deswegen frage ich mich, wieso Daisy ein Bild von ihnen gemalt hat! Hat dieses Bild etwas mit ihrem Verschwinden zutun? Ich schaue auf meine Armbanduhr. Es ist kurz nach halb zehn. Jetzt müsste Ebbe sein, überlege ich schmunzelnd. Vielleicht ist Daisy ja wirklich zu den Meeresgrotten gegangen. Um sich an die alten Zeiten zu erinnern?
 Ich ziehe mich schnell an, streife mir meine hellblaue Windjacke über die Schultern und renne aus dem Haus. Beinahe vergesse ich den Haustürschlüssel, erinnere mich aber im letzten Augenblick noch daran. Ich renne, so schnell ich nur kann. Erst den Kiesweg von unserem Haus entlang, dann durch die sandigen Dünen. Der kühle Ostwind peischt mir ins Gesicht und ich sacke mit meinen Turnschuhen immer wieder in den feinen Sand ein. Naja, wenigstens ist es nicht mehr so unendlich heiß! Vom weiten sehe ich schon das Meer und ich sehen mich irgendwie nach seiner Unendlichkeit. Es hat sich wirklich weit zurückgezogen und ich bin mir sicher, dass jetzt prima zu den Grotten gelangen kann. Schnaufend komme ich an. Mein Herz rasst. Ich sehe zu den Klippen hinaif. Sie sehen aus wie Ungetüme oder auch riesige Monster aus Stein. Die großte Meeresgrotte liegt an der komplett anderen Seite des Strandes und wird täglich von unzähligen Turisten besucht. Doch wenn man sich bei Ebbe auf den Weg um die Klippen machte, findet man eine ganze Reihe von Eingängen, die alle zu Nebengrotten führen. Die meisten von ihnen reichen nicht weit ins Gestein hinein. Doch Daisy und ich haben eine entdeckt, in der man von einem schmalen Gang zu Stellen kommt, an denen man stehen und sich umsehen kann.
 Nach einer Weile finde ich diese Grotte tatsächlich wieder. Ich habe den Eingang nicht als so winzig in Erinnerung, was aber auch daran liegt, dass ich seit dem letzten Besuch um einiges gewachsen sein muss. Dennoch zwänge ich mich mit Leichtigkeit durch den Eingang und pirsche den den engen Tunnel entlang. Jemand mit Klaustrophobie wäre jetzt wahrscheinlich gestorben. Daisy und ich haben es immer als Herausfordung gesehen, uns durch kleine Spalten zu zwängen. Als ich endlich gerade stehen kann, atme ich erleichtert ein. Der Teil ist schon einmal geschafft! Doch aus meiner Erleichterung wird schnell wachsende Panik. Ich habe nicht daran gedacht, dass es hier so dunkel gewesen ist. Wie soll ich in diesem matten Licht jemanden erkennen oder finden? Verzweifelt gebe ich auf und zwinge mich zum Gehen, als plötzlich eine Gestalt auf mich zukommt. Todesangst macht sich in mir breit. Meine Nackenhaare stellen sich auf und mein Puls ist auf hundertachtzig.
 "Daisy?", frage ich ängstlich, obwohl das ausgeschlossen ist. Die Gestalt ist viel großer und breiter. Ich will zurückweichen und stoße mit meinem Hinterkopf gegen eine scharfe Kante. Zu meinen Kopfschmerzen gesellen sich nun auch noch pulsierende Schmerzen. Ich zucke zusammen, als die Gestalt eine Hand nach mir ausstreckt und beginne zu schreien.

"Hör auf zu schreien, Heulsuse!", fährt mich die Gestalt an. Eindeutig eine männliche Stimme, die tief, aber auch berauschend klingt. Er ist großer als ich, scheint aber nicht unbedingt viel älter als ich. Vielleicht zwei oder drei Jahre Altersunterschied? "Was willst du hier?"
 Mit einem Ruck befreie ich mich aus Umklammerung und halte schützend meine Hände vor meinem Gesicht: "Frag nicht so unverschämt! Ich suche jemanden!"
 "Die Grotten sind aber nicht der beste Platz, um hier verstecken zu spielen.", sagt er ernst und ich bekomme ein Verlangen, mein Gegenüber endlich zu sehen.
 "Wer redet denn von Verstecken? Meine kleine Schwester ist weg! Ich weiß nicht wieso und warum.. aber ich weiß, dass sie hier sein muss!", erkläre ich und lasse einen bitteren Unterton in meinen Worten mitschwingen.
 "Wie ist dein Name?" Der Junge hat Nerven!
 "Ich heiße Oktavia Willson.", sage ich entnervt und balle meine Hände zu Fäusten.
 "Hört sich so an, wie etwas, dass ich mal im Musikunterricht gehört habe.", antwortet der Junge und lacht. Es ist ein kindliches Lachen, dass mich irgendwie an einem Jungen vor dem Stimmbruch erinnert. Ich möchte endlich diesen Typen sehen, der mir gerade den letzten Nerv raubt und trotzdem irgendwie niedlich klingt.
 "Ich bin übrigens Claudius!"
 "Hört sich an wie irgendein dicker Mönch aus einem prüden Kloster!", fahre ich ihn an und muss trotzdem grinsen. Unsere Namen sind beide irgendwie Altbacken! "Hör mal, ich habe keine Zeit, um hier mit dir zu Palavern. Ich suche Daisy!"
 "Hast du überall nachgesehen? Auch in den Schleichwegen?", fragt er und ich höre diesen allwissenden Ton in seiner Stimme, der davon zeugt, dass ich etwas übersehen habe.
 Ich ziehe eine Grimasse: "In dieser Grotte gibt es Schleichwege? Daran kann ich mich gar nicht mehr erinnern. Und überhaupt: Wo sollen diese sein?"
 "Ja, eindeutig! Ich habe dort hinten einen kleinen Spalt entdeckt, der ziemlich weit in die Erde zu gehen scheint. Vielleicht wollte deine Schwester diesen Pfad erkunden?", überlegt er fragend und es kommt mir ein bisschen so vor, als wolle er mir Hoffnung machen.
 "Vielleicht. Aber wie soll ich darunter! Alleine schaffe ich das bestimmt nicht! Ich kann nicht klettern!", sage ich und merke, dass ich wie eine Tusse klingen muss. Für Daisy würde ich alles machen!
 "Dann begleite ich dich!"
 "Danke.", flüster ich. "Wollen wir jetzt los?"
 "Hast du eine Taschenlampe dabei? Ohne werden wir nicht weit kommen. Ich kann ja jetzt schon kaum was erkennen!"
 "Ich wohne nicht weit entfernt von hier.", erkläre ich ihm. "Gib mir zehn Minuten und ich bin mit etwas Ausrüstung wieder hier!"
 Ich renne noch schneller als auf dem Hinweg zurück zu unserer kleinen Villa. Außer Atem schließe ich die Tür auf, krame einen Rucksack hervor und packe das Wichtigste ein. Zwei Taschenlampen, ein paar Schokoriegel, eine Chipstüte und mehrere Dosen Coke. Bevor ich mein Zuhause wieder verlasse, rufe ich noch einmal Daisys Namen. Pustekuchen! Sie muss bei den Grotten sein! Auf dem Weg zu den Grotten, blicke ich noch ein paar Mal zurück. Worauf lasse ich mich da gerade ein? Oh Daisy, was tust du mir da an? Jetzt bin ich so weit, dass ich mit einem wildfremden Jungen irgendwelche magischen Hölen durchsuche! Wo bist du nur? Wieso bist du abgehauen? Bist du überhaupt abgehauen?
 

Claudius wartet in der Grotte und sitzt auf einem kleinen Felsen. Als ich den Strahl meiner Taschenlampe auf ihn halte, kann ich ihn endlich mustern. Er hat sandfarbene, wellige Haare, die ihm zerzaust auf der Stirn kleben. Wahrscheinlich war er heute im Meer schwimmen und hat seine Haare an den heißen Strahlen der Sonne trocknen lassen. Seine Augen sind blau. Eine Mischung aus dem lieblichen Himmel und dem störrischen Meer. Seine Pupilllen weiten sich, als der Strahl direkt auf sie fällt. Ich senke ihn, damit ich seinen leicht muskulösen Körper und seinen sonnengebräunte Haut bestaunen kann. Dieser Claudius sieht eigentlich gar nicht so schlecht aus. Verdammt, er sieht sogar ziemlich gut aus. Und irgendwas was an ihm kommt mir seltsam vertraut vor und erinnert mich an jemanden. Und ich erinnere mich an etwas anderes. An ein Gespräch mit meiner Schwester. Wir hatten mit einer Schale Popcorn in meinem Bett gesessen und über die erste große Liebe gesprochen.
 "Du bist jetzt fünfzehn. Willst du dich nicht langsam mal verlieben?", hatte Daisy gefragt und mich mit ihren unschuldigen Augen lange bedacht. Mit ihr konnte ich immer über alles reden und ich hatte nie etwas verheimlicht.
 "Ach Daisy.", hatte ich lächelnd geseufzt. "So ist das mit der Liebe gar nicht. Man verliebt sich einfach automatisch, denke ich. Aber da muss erst mal ein Junge kommen, in den ich mich verlieben kann. Und außerdem habe ich noch Zeit. Richtige Liebe hat immer Zeit!"
 "Du kriegst bestimmt einen Prinzen.", hatte Daisy erwidert. "Und ich wette, dass du auf ganz traumhafte Art mit ihm zusammen kommst! Und das hast du Recht, das brauch Zeit! Er muss dich schließlich finden! Bestimmt sucht er dich schon die ganze Zeit!" Damals hatte ich laut über die zuckersüßen Worte meiner Schwester gelacht und mich gar nicht mehr eingekriegt. Jetzt würde ich am liebsten weinen. Doch ich reiße mich zusammen. Als die Erinnerung schwindet, kann ich mich wieder auf das Verschwinden meiner Schwester konzentrieren.
 Claudius läuft voran in die Grotte. In der Höhle ist es inzwischen noch dunkler geworden und von draußen leuchtet schwaches Mondlicht hinein. Ohne unsere Taschenlampen wären wir bereits jetzt aufgeschmissen.
 Das Licht der Taschenlampe ist sehr beruhigend. Ich lasse den Strahl über die kantigen und spitzen Felswände wandern. Stalaktiten hängen von der Decke. Wassertropfen perlen von ihnen ab und landen sanft in einer kleinen Pfütze mitten in der Grotte.
 "Und wo soll dieser Schleichweg sein?", frage ich mit hochgezogenen Augenbrauen.
 "Gleich hinter diesem Felsen!", ruft er und verschwindet hinter einem großen, runden Fels. Tatsächlich. Als ich meine Taschenlampe gen Boden richte, sehe ich es auch. Einen Spalt im Boden. Groß genug, dass ein Mensch dort herunterklettern kann.
 "Bist du schon mal da untern gewesen?", will ich wissen und lasse meinen Fuß neugierig über das Loch im Boden kreisen.
 "Jep.", antwortet er. "Da unten ist ein riesiger Tunnel. Das hätte ich gar nicht erwartet."
 "Dann lass uns das durchziehen!" Ich möchte mich gerade ducken, da packt er mein Handgelenk erneut.
 "Warte!", ruft er und sieht mich eindringlich an. "Eigentlich ist das gar nichts für ein Mädchen. Du könntest dich verletzten und es ist doch bestimmt nicht sicher, ob deine Schwester echt da unten ist!"
 "Was?", fahre ich ihn wütend an. "Soll das ein Joke sein? Meine Schwester ist dort! Ich weiß es einfach. Was willst du tun? Mich aufhalten?"                                                                                                               
 "Kann ich dich denn aufhalten?", fragt er sanft und schaut mich mit großen Augen an.
 "Erst willst du mir helfen und jetzt das?" Entnervt blicke ich zurück. "Ich werde gehen! Genau jetzt! Entweder du kommst mit oder du lässt es! Du wirst mich nicht aufhalten können!"
 Claudius seufzt: "Ach Oktavia! Ich steige vor und du leuchtest mir den Weg mit der Lampe! Und wenn ich unten bin wirfst du mir die Taschenlampe zu und ich leuchte hoch, ok? Verstanden?"
 "Verstanden!", bestätige ich und schon fängt er mit dem Klettern an. Ich halte aufgeregt die Taschenlampe auf ihn, doch schon nach wenigen Sekunden ist er verschwunden. "Claudius? Alles in Ordnung? Wie weit bist schon gekommen?"
 Er räuspert sich: "Ungefähr zwei Meter. Also schätz ich! Du musst dich weiter über das Loch beugen! Ich kann nichts mehr sehen!"
 Schnell beuge ich mich über den Spalt und spähe hinunter. Ich kann nur Claudius verschwitzte Locken erkennen. Nach scheinbar einer halben Ewigkeit ruft er mir hoch, dass ich nun mit dem Klettern beginnen kann. Bei ihm hatte das Klettern so einfach ausgesehen. Doch ich muss feststellen, dass es ganz schön anstrengend ist. Ich halte mich an winzigen Felsvorsprüngen fest, an denen kleine Steinchen vorbei prasseln. Meine Taschenlampe habe ich zwischen meine Zähne geklemmt, da ich sie nicht halten kann. Ich komme deutlich langsamer voran als Claudius. Weil er schon mal nach unten gekletter ist? Weil ich ein Mädchen bin? Weshalb auch immer! Als ich die Hälfte der Kletterei überwunden habe, werfe ich die Taschenlampe nach unten. Mit Erfolg. Claudius fängt sie mühelos und leuchtet für mich nach oben. Den letzten Kletterpart finde ich besonders anstrengend. Besonders, weil die Wände hier feucht und bröckelig sind. Als ich endlich unten ankomme, schüttelt mein Helfer den Kopf: "Liegt das mit dem Klettern in eurer Familie? Dann frage ich mich, wie Daisy hier heruntergekommen ist!"
 "Lustig.", antworte ich sarkastisch. "Ich hab echt keinen Schimmer, was sie hier unten möchte. Ich weiß nur, dass sie hier ist! Es klingt jetzt vielleicht ein bisschen irrsinnig, aber ich fühle es! Ich fühle Daisy. Vielleicht liegt das daran, dass wir Schwestern sind!"
 Er zuckt mit den Schultern und holt eine Caprisonne aus seiner großen Hosentasche. Hastig trinkt er sie aus und ein paar Tropfen von dem süßen Zeug laufen über sein Kinn. Ich kann nach der Kletteraktion ebenfalls nicht anders und gönne mir einen Schluck von meiner eiskalten Cola. Claudius spielt in der Zwischenzeit mit seiner Taschenlampe und lässt den Strahl unruhig hin und her hüpfen. Als wir weiter tapsen, müssen wir uns durch einen schmalen Tunnel quetschen. Er ist nicht so schmal wie der Eingang, aber auch nicht so groß, dass Claudius und ich nebeneinander laufen können. Deswegen läuft er vor mir. Mir ist das trotz der Höflichkeitsfloskel Ladys First recht und ich bin echt dankbar, dass er auf dieser Reise mein Gefährte ist.
 In der Mitte des Tunnels rinnt ein schmaler Fluss entlang und wieder ab und zu größer und dann wieder kleiner. Eigentlich habe ich hier unten eine weitere Höle erwartet, aber kein so ausgeprägtes Tunnelsystem. Biegung für Biegung laufen wir voran und mein Atem wird Schritt für Schritt immer schwerer.
 "Wie diese Tunnel wohl entstanden sind?", spreche ich aus, was ich mich im Stillen frage.
 "Bestimmt durch Menschenhand! Also ein Anfang war bestimmt schon immer da. Aber da muss noch jemand nachgeholfen haben! Ich kann mir außerdem nicht vorstellen, dass die Flut ganz bis nach hier unten dringt!"
 Es sind nicht mehr als ein paar Vermutungen, aber sie stellen mich zurfrieden. Mit meiner ausgeprägten Fantasie stelle ich mir vor, wie Menschen über Karten brüten, die das ganze Tunnelsystem aufzeigen. Und während die einen Menschen Ideen entwerfen, setzten andere sie in die Tat um und haben hier unten wie die Tiere geackert. Hoffentlich hat es da schon die entsprechende Technik gegeben.

Der Boden ist hier unten ziemlich matschig, so dass ich immer wieder einsacke. Mein Brustkorb hebt und senkt sich. In meinem Kopf fängt es an zu surren und meine Füße beginnen zu jucken. Ich ziehe meine Windjacke aus und binde sie mir um die Hüften. Nach einer Weile beginnt Claudius zu pfeifen. Der schrille Ton geht mir unheimlich auf die Nerven.
 "Könntest du bitte diese nervtötende Gepfeife lassen?", frage ich ihn und gebe mir alle Mühe noch etwas freundlich zu klingen. Doch er ignoriert mich.
 "Claudius?" Plötzlich dreht er sich um und verstummt.
 "Oktavia! Ich kann einfach nicht mehr! Wir laufen jetzt schon über eine Stunde. Es wäre äußerst human, wenn wir eine Pause machen würden.", fleht er und fügt noch leise hinzu: "Oder wir kehren einfach um."
 Es reicht mir: "Was weißt du schon von Humanität? Für dich ist das hier doch bloß ein blödes Abenteuer! Für mich ist es wichtig! Ich bin nur hier unten, damit ich meine kleine Schwester retten kann! Vielleicht ist ihr etwas zugestoßen? Vielleicht ist sie nicht freiwillig hier unten! Könntest du eine Pause machen, wenn deine Schwester vielleicht in Gefahr ist?"
 "Hör mal. Ich weiß, wie dir zumute ist! Und tu doch schon alles, damit wir sie finden. Aber ich bin kaputt. Das war ein anstrengender Tag und..." Betreten schaut Claudius zu Boden. In diesem Moment tut er mir schrecklich leid. Er sieht wirklich erschöpft aus und allein ich habe ihn in diese Misere gebracht.
 "Danke. Danke, dass du mir hilfst, Collin!" Er schaut mich irgendwie eigenartig an und lächelt dann scheu. Auf einmal ist er mir ganz nah. Ich atme den Geruch seiner Haut ein. Sie riecht leicht nach Chlor und ich verwerfe den Gedanken daran, dass er Heute im Meer schwimmen war. Claudius muss im Garten einen Pool haben. Seine Haut ist so braun und das ohne des Hauch eines Sonnenbrands. Ein wenig riecht er auch nach kaltem Schweiß. Doch das ist mir gerade egal. Ich beuge mich zu ihm und küsse ihn direkt auf den Mund. Mit meinen sechzehn Jahren ist das nicht mein erster Kuss. Aber auf jeden Fall ein genussvoller und leiderschaftlicher, der mir bestimmt lange in Erinnerung bleibt. Als er seine Lippen von meinen löst, begegnet mir ein Blick voller Wärme und Zuneigung.
 "Komm.", wispere ich durch meine Verwirrung. "Lass uns jetzt Daisy weitersuchen! Claudius?"
Seine Miene verzieht sich und er schaut mich verletzt an: "Bitte Oktavia... ich!"
 "Also, ich gehe jetzt weiter! Ob du nun mitkommst oder nicht!", stur mustere ich den gutaussehenden Jungen. Er nickt nur stumm.

"Wir sollten nach links gehen.", schlägt Claudius vor. "Wenn man sich recht hält, dann kommt man zum Ausgang. Links liegen die Antworten des Herzens!" "Ich weiß nicht.", sage ich achselzuckend. "Symbolisiert der Ausgang nicht etwas Gutes? Ich stecke ja sozusagen in einem Schlammassel. Und es heißt ja, dann man den Ausgang aus einem Schlammassel erst finden muss, nicht!"
 "Naja, Daisy ist deine Schwester. Versuch dich doch in sich hineinzuversetzten. In welche Richtung wäre sie gegangen?", fragt er und fährt sich mit der Hand durch sein Haar.
 Ich denke nach. Und dann fällt mir ein, dass Daisy Linkshänderin ist. Ist es absurd bei so einer Situation nach den Eigenschaften eines Menschen zu gehen? Bei meiner Entscheidung lasse ich mir etwas Zeit. Ich kann ja nicht ahnen, dass das nicht die letzte Entscheidung ist, die ich treffen muss.
 Ich wähle schließlich den linken Gang. Und hoffe. Hoffe auf Daisy.

"Soll ich dir dein Horoskop vorlesen, Oktavia?", hatte mich Daisy gefragt, als wir einmal Zeitschriften von einem Kiosk gekauft hatten.  Ich hatte lächelnd den Kopf geschüttelt und meine lange rote Mähne flatterte im milden Südwind
 "An die Kraft der Sterne glaube ich nicht!"
 Und jetzt hoffe, ja bange ich. Auf irgendeinen Hinweis meiner kleinen Schwester. Ob er nun übernatürlich war oder nicht!

"Wir nehmen den linken Weg.", sage ich entschlossen. Langsam bekomme ich Angst, dass Claudius die Lust verliert und umkehren möchte.  Die nächste Wahl steht uns ein paar Meter weiter bevor. Vier Möglichkeiten! Zwei davon sind aber winzige Durchgänge, durch die weder Claudius noch ich passen würden. Wir nehmen den zweiten Eingang von rechts. Auch diese Entscheidung hat uns kostbare Zeit gekostet.
 Als wir den nächsten Tunnel betreten, mustere ich Claudius von hinten. Seine Haare kleben ihm verschwitzt im Rücken und sein Oberkörper hebt und senkt sich in unruhigen Zügen. Die Luft hier unten wird immer knapper und auch meine Atmung wird Zug für Zug schlechter. Mir fallen außerdem noch Claudius Muskeln auf. Gott! Ich beiße mir auf die Unterlippe. Wenn wir nicht in dieser schlimmen Situation wären...
 Stück für Stück kommen wir voran und irgendwann macht mein männlicher Begleiter eine erschreckende Entdeckung "Hier waren wir doch schon mal!", ruft er und tastet mit seinen Fingern über die Wände, so als ob er daran erkennen könnte, ob wir mal hier gewesen sind.
 "Nein!", flehe ich und sinke zusammen. "Das ist nicht dein Ernst, oder? Hier unten sieht doch alles gleich aus! Du kannst unmöglich wissen, ob wir im Kreis gegangen sind! Außerdem sind wir jetzt schon so oft an Tunneln mit mehreren Möglichkeiten vorbeigekommen!"
 Er räuspert sich verlegen: "Schau, auf diesem Stein vor dem Durchgang ganz rechts, habe ich vor einer halben Ewigkeit meinen Schuh neu gebunden!"
 Claudius hatte recht. Oder? Gab es nicht haufenweise von diesen Steinen?
 "Daisy?", schreie ich aus trockender Kehle. "Daisy? Wo bist du nur?"
 Claudius schüttelt den Kopf: "Oktavia. Sie hat auf keinen unserer Hilferufe reagiert. Vielleicht bringt diese Suche nichts... weil... naja, ich...."
 "Vielleicht ist sie noch weiter in der Höhle drin! Vielleicht sind wir falsch abgebogen!"
 "Okatavia!", ruft er flehend.
 "Was sollen wir jetzt machen?", frage ich ihn hilflos. "Wir brauchen Hilfe!"
 Plötzlich zieht Claudius ein Handy aus seiner Hosentasche. Es ist ein ziemlich altes Model, das Wohl heute als trash oder mega uncool abgestempelt wird. Doch es ist für mich wie ein Geschenk des Himmels. Ich nehme es erfreut entgegen und wähle die Nummer von meinem Pap's. Es passiert nichts. Es beginnt nicht zu Läuten und mein Dad meldet sich auch nicht.
 "Hab schon vermutet, dass hier unten keim Empfang ist.", wispert Claudius und schaut mich an.
 "Nein!", schreie ich. "Daisy! Daisy? Wo bist du nur? Daaaaaaaaisyyyyy?"
 Und dann höre ich es. Ein leises Tippeln. Menschenfüße? Das Geräusch kommt doch eindeutig aus dem Tunnel, der sich ganz links befindet. Ich nehme die Beine in die Hand und renne an Claudius vorbei.
 "Oktavia? Warte! Wo willst du hin? Neeeeeein!" Ich sehe mich kurz um und stelle fest, dass der hübsche Kerl gestürzt ist. Der Knall des Aufpralls hinterlässt ein ohrenbetäubendes, welches mindestens dreimal an den Wänden echot. Ich halte inne und gehe zu ihm. Sein linkes Bein liegt in einem ungewöhnlichen Winkel und eine kleine Blutlache hat sich neben ihm gebildet.
 Tränen laufen mir über die Wange, weil ich das nicht mit ansehen kann.
 "Claudius? Alles ok? Kannst du noch laufen? Ich habe aus diesem Tunnel Geräusche gehört!"
 Er nickt und sein Gesicht verzieht sich vor Schmerz: "Ich bete, dass das ein Ausgang ist!"
 Als er aufsteht, kann er zum Glück noch laufen. Ich stütze ihn, was mich eine Menge Kraft kostet.
 Irgendwie war dieses Tippeln meine letzte Hoffung. Doch diese vergeht schnell. Vor uns erstreckt sich so etwas wie ein kleiner, unterirdischer See. Schwarz und still erstreckt er sich vor unseren müden Füßen. Nach einer Weile erkenne ich, was dieses Geräusch von angeblichen Menschenfüßen gewesen ist! Aus einem Spalt in der Decke tropfen Wasserperlen, die mit einem Platsch im Wasser laden. Keine Füße. Keine Daisy! Claudius zeigt mit dem Arm auf den Spaß, so als ob ich ihn noch nicht bemerkt hätte.
 "Wir sind jetzt schon seit einer unendlich langen Zeit hier unten! Bitte Oktavia! Lass uns aufgeben und umkehren!", jammert Claudius, während er sich auf dem Boden fallen lässt. Ich setzte mich zu ihm und beginne die Qualen zu spüren, die mein Körper durchmacht. Mein Kopf pocht, in meinen Ohren surrt es, meine Beine sind verspannt und an meinen Füßen machen sich Blasen bemerkbar. Außerdem schwitze und fröstel ich abwechselnd.
 Ich öffne meinen Rucksack und hole die Tüte Chips heraus, reiße sie auf und verzehre sie mit Claudius. Wir schweigen. Doch hin und wieder bedenkt er mich mit komischen Blicken.
 "Ich hoffe einfach, dass es Daisy gut geht!" Tränen rinnen über mein Gesicht.
 "Was du alles für sie tust! Deine Schwester ist dir so unglaublich wichtig! So eine gute Beziehung ist viel wert!"
 "Für mich ist Daisy nicht nur eine Schwester! Sie ist auch eine sehr wichtige Bezugsperson und meine beste Freundin! Für ihr Wohlsein würde ich mein Leben geben!" Bei meinen letzten Worten versuche ich besonders entschlossen zu klingen.
 Betreten schaut Claudius zu Boden: "Wann hast du deine Schwester eigentlich zum letzten Mal gesehen?"
 "Ich..." Fieberhaft beginne ich mich zu erinnern. "Ich habe heute den Klang ihrer Harfe vernommen. Sie allerdings nicht gesehen. Und irgendwie kann ich mich nicht so richtig entsinnen..."
 "Vielleicht liegt das daran, weil sie gar nicht da war?", hakt der Typ nach.
 "Was willst du damit andeuten?", frage ich und funkel ihn an.
 "Weißt du es denn wirklich nicht mehr? Ich bin wirklich verzweifelt. Am besten ist, wenn wir jetzt zurückgehen. Ich kann das nicht mehr!"
 "Was redest du da?", fahre ich Claudius an. "Halt die Klappe! Wenn du gehen willst, dann verschwinde doch. Ich bin nicht auf dich angewiesen!" Ich koche vor Wut. Was bildete sich dieser Kerl nur ein? Und ich habe schon gedacht, dass er mein rettender Helfer in der Not ist. Als ich Claudius mit seinen unschuldigen und geweiteten Augen sehe, weiß ich, dass ich ihn hassen muss. Für ihn ist das hier doch alles nur ein Spiel. Ein blödes Abenteuer, damit er vor dem alltäglichen Inselleben fliehen kann. Ein Spiel, in dem er gerade Game Over gegangen ist!
 "Wir gehen jetzt!", zischt Claudius entschlossen und erhebt sich zittrig vom Boden. Er stützt sich an den scharfen Felswänden und es dauert etliche Sekunden, bis er steht. Dann greift er nach meiner Hand und beginnt sanft zu zerren. Ich wehre mich, stehe auf und springe ein paar Schritte zurück.
 "Fass mich nicht an!", kreische ich und öffne den Reißverschluss meines Rucksacks langsam. Plötzlich bekomme ich Angst vor dem mir eigentlich fremden Kerl. Ich kenne ihn nicht und weiß nicht, was seine wahren Absichten sind. Vielleicht gehört das hier alles zu einem Plan? Vielleicht hat er doch mehr mit Daisy zutun, als ich vermute? "Komm nicht näher!" 
 Gegen meinen Willen kommt Claudius auf mich zu und streckt seine Hand nach mir aus. Wie angewurzelt bleibe ich stehen und spüre die metallische Klinge in meiner Hand. Der Typ kommt immer näher und packt meine Hand. Das ist meine Chance! Ich zücke mein Taschenmesser und ramme es ihm in seinen Bauch. Sei Gesicht verzieht sich vor Schmerzen und er bricht zusammen. Blut sickert aus seiner Wunde. Das Messer steckt noch in ihm. Er stöhnt und keucht. Schweißperlen schleichen sich über sein Gesicht!

Diese grauen Wände, die stickige Luft und der leichte Geruch nach einer Mischung aus Verwesung und Salzwasser. Ich kann nicht mehr! Am liebsten würde ich die Meeresgrotten gleich wieder verlassen. Für mich ist das ein Ort des Grauens.

  Ich bin gerade mit meinem Rad den Kiesweg zu dem Haus meiner Freundin gefahren, als ich sie zum Strand hinunter sprinten sehe. Sie sieht aufgewühlt aus und ich habe sie noch nie so schnell rennen sehen. Ich begreife sehr schnell, das etwas nicht stimmt. Zur Not wähle ich die Nummer von ihrem Dad. Aber es meldet sich keiner. Stimmt, er ist ja auf dieser wichtigen Geschäftsreise! Also schiebe ich mein Fahrrad in den Garten und folge ihr! Sie führt mich über die Dünen, durch den Sandstrand zu den großen Klippen. Die Meeresgrotten! Ich habe es schon befürchtet. Das kann nicht sein! Nicht schon wieder. Panik wächst in mir und ich klingel ihren Vater noch einmal an. Es geht immer noch keiner ran, ich seufze und hinterlasse ihm eine kurze Message, wo wir uns aufhalten und was passiert ist. Dann betrete ich trotz meiner Zweifel eine der großen Grotten, die ein unendliches Tunnelsystem beherbergen.
 Oktavia erschreckt sich, als sie mich sieht. Sie schneint mich nicht zu erkennen... sagt mir, dass sie ihre Schwester sucht. Ich habe es befürchtet. Was soll ich jetzt tun? Wie wird sie reagieren, wenn ich sie in die Realität hole? Ich entscheide mich, mit ihr zu spielen. Ich kann nicht anders! Ihr Vater hat mir von diesen Situationen berichtet. Aber ich bin dem irgendwie nicht gewachsen. Als ich ihr meine Hilfe anbiete, rennt sie zum Haus zurück und möchte passende Ausrüstung besorgen. Währenddessen überlege ich, was ich jetzt tun soll. Ich kann ihr den Spalt im Boden zeigen. Vielleicht erinnert sie sich dann!
Sie tut es nicht, sie erinnert sich an nichts. Ich bin gezwungen mit ihr die Tunnel zu durchsuchen. Nur weiß ich jetzt schon, dass es nichts zu finden gibt! Ich gebe die Hoffnung nicht auf, vielleicht kommt sie alleine zu sich. Wir laufen eine halbe Ewigkeit und sie will es einfach nicht einsehen! Als sie mich einmal Collin nennt, da denke ich, dass sie sich jetzt erinnert. Aber Fehlanzeige! Sie will stur weitersuchen. Ich helfe ihr weiterhin, bis ich erschöpft bin und nicht mehr kann. Ich will ihr die Wahrheit sagen. Will sie zum Umkehren überzeugen. Aber sie gibt nicht auf und rennt davon. Als ich ihre nachrenne, stürze ich und verletzte mich sehr stark. Trotzdem folge ich ihr weiter. Ja, ich werde ihr die Wahrheit sagen. Als wir am kleinen See sitzen, setzte ich an.. Aber sie wehrt ab, versperrt sich und gibt mir keine Chance! Mir reicht es! Ich kriege kaum noch Luft und muss sie hier heraus bekommen! Als ich ihren Arm greifen will, da zückt sie plötzlich eines dieser Schweizer Taschenmesser. Ich bin vollkommen überrascht und weiß nicht, wie mir geschieht. Das nächste was ich spüre, ist ein pulsierender Schmerz! Das Messer steckt direkt in meinem Bauch! Ich sehe in Oktavias bleiches Gesicht! Ihre vollen Lippen stehen offen, aus ihren Augen fallen Tränen und benetzen ihr wunderschönes Gesicht.
 "Nein.", flüstere ich und stöhne erneut vor Schmerzen. "Das wollte ich nicht."
 "Scheiße!", flucht Oktavia und beugt sich zu mir. "Collin? Hey Colllin! Geh nicht! Nein!"
 "Ich dachte, ich könnte dir helfen." Meine Stimme wird immer brüchiger und meine Augen fallen einfach zu. Ein paar Sekunden höre ich noch die engelsgleiche Stimme meiner Freundin. Dann bin ich weg.

"Nein!", schreie ich unaufhaltsam. Ich kann mich wieder an etwas erinnern! Dieser Junge! Das ist nicht der unbekannte, unbedeutende Claudius! Das ist doch Collin! Mein fester Freund! Ich kenne ihn! Ich weiß so viel über ihn! Ich liebe ihn doch! "Wer war das? Wer hat dir nur das Messer in den Bauch gerammt?"  Ich sehe mich um, doch ich kann keinen erkennen. Irgendwer muss Collin überrumpelt haben, als ich gerade nicht hingesehen habe. Anders kann ich mir seine große Wunde nicht erklären.
 "Collin?" Immer mehr Tränen rinnen über mein Gesicht und ich versuche meinen Freund wachzurütteln. Er verliert immer Blut. Ich ziehe sein T-Shirt hoch und verziehe das Gesicht, als ich sehe, wie tief die Wunde eigentlich ist. Verdammt! Wer hat ihm das nur angetan!
 Und dann habe ich einen schrecklichen Verdacht! Wenn jemand hier unten ist und meinen Collin verletzt hat, dann hat dieser jemand vielleicht auch schreckliches mit meiner Schwester angestellt! Ich springe auf!
 "Daisy?", rufe ich. "Fuck!" Als ich aufstehen möchte, wird mir ganz schwindelig. Die Luft hier unten ist wirklich sehr stickig! Panisch sehe ich mich um! Meine Sicht ist durch die vielen Tränen ganz verschwommen und ich kann nur noch Schemen wahrnehmen.
 Ich weiß nicht, um wen ich mir gerade mehr Sorgen machen muss! Um Collin, der im Sterben liegt? Um Daisy, der wahrscheinlich sonst was angetan wurde? Oder um mich selbst! Befinde ich mich in Gefahr?
 Am liebsten würde ich einfach aufstehen und Hilfe holen! Ich sehe ein, dass ich es alleine nicht schaffe. Nicht ohne Collin. Und gegen eine unbekannte Person mit Waffe bin ich sowieso machtlos. Aber ich kann mich nicht bewegen. Ich bin gelehmt vor Angst und Anstrengung. Mein Körper möchte nicht mehr. Neben meiner Sommergrippe hat mir der heutige Tag nicht gut getan.
Ich kann einfach nicht mehr.
 "Daisy! Daisy! Daisy!", schreie ich noch mehrmals. Dann werden Augen meine Augenlider schwer und schließen sich von ganz alleine. Kurz bevor ich ohnmächtig werde, höre ich, wie Musik ertönt. Ganz leise und doch so nah an meinen Ohren. Es ist eine schöne Melodie. Sie kommt mir mehr als bekannt vor. Wie schön, meine kleine Schwester spielt eines ihrer Stücke für mich. Mein Lieblingsstück. Ich liebe es. Ich liebe sie.

-

 

"Collin?" Eine dunkle Stimme dringt in mein Bewusstsein. Meine Augen brennen. Trotzdem öffne ich sie. Ein Glück, dass es hier dunkel ist. Verschlafen gähne ich und strecke dann meine Arme in die Luft. Stechende Schmerzen erstrecken sich durch meinen Körper.  "Argh.", stöhne ich und taste meine Magengegend ab. Sie ist bandagiert. Genau, ich bin angegriffen worden. Alles ruft sich wieder in mein Gedächtnis, obwohl ich es am liebsten vergessen würde.
 "Hey Collin!" Meine Blicke schweifen durch das Zimmer. Neben mir steht Mr. Sumner, Oktavia's Vater. Er schaut mich aus glasigen, fast schon wehmütigen Augen an.
"Sir.", bringe ich hervor und sehe in fragend an. Ich registriere, das neben meinem Bett Blumen stehen. Meine Familie ist gestern da gewesen und hat sich rührend um mich gekümmert. Neben den Blumen steht eine flasche Wasser. Gierig greife ich danach. Auch zwei Tage nach meinem schlimmen Abenteuer mit Oktavia, bin ich noch ganz dehydriert und regeneriere mich nur langsam.
 "Wie geht es dir?", fragt mich Mr. Sumner und fährt sich durch seine wenigen Haare. Er sieht sehr mitgenommen aus. Hat deutliche Augenringe und verquollene Augen.
 "Naja, ich lebe noch.", antworte ich vorsichtig. "Aber es könnte mir auch besser gehen!"
 "Natürlich, Junge! Es tut mir so unendlich leid. Du bist so gut zu meiner Prinzessin gewesen. Du hättest das nicht miterleben dürfen! Ich hätte da sein müssen. Hätte wissen müssen, dass es noch zu früh ist!" Eine Träne kullert über sein Gesicht und ich muss Schlucken.
 "Bitte, geben sie sich nicht die Schuld! Ihnen ist so viel Leid wiederfahren. Sie haben es nicht verdient, sich schlecht zu fühlen oder sich vor mir zu rechtfertigen."
 "Collin, du bist ein toller Junge. Ich bin dir trotz der Ereignisse unendlich dankbar, dass du Oktavia in diese Höllengrotten begleitet hast! Nicht jeder hätte das getan! Und das nach dem ich dir gesagt habe, dass etwas mit ihr nicht stimmt und sie manchmal diese "Attacken" hat."
 "Als sie mir davon erzählt hatten, habe ich es irgendwie nicht verstanden. Oktiavia hat sich immer so vernünftig benommen. Total normal... Ich habe mir nicht vorstellen können, dass sie plötzlich die Realität verändern und die Wahrheit verfälschen kann. Als sie mich nicht erkannt hat und geglaubt hat, dass ich ein Junge Namens Claudius sei, da konnte ich sie zu anfang gar nicht richtig ernst nehmen. Erst als wir in den Grotten waren habe ich ihr richtig glauben schenken können."
 "Das ist nicht das erste Mal, das so etwas passiert ist.", gesteht mir Mr. Sumner. Damals, circa einen Monat nach Daisy's Beerdigung ist sie schon mal zu den Grotten gegangen und wollte nach ihrer Schwester suchen. Als ich ihr sagte, dass ihr Schwester verstorben sei, wollte sie mir kein Wort glauben. Sie meinte völlig aufgelöst, dass Daisy in diesen Höllengrotten auf sie warten würde und..." Wieder rollen Tränen über sein Gesicht. "Nach ihrer Therapie schien sie geheilt zu sein und konnte ein neues Leben beginnen. Es lief alles so gut. Sie hat die Grotten gemieden, Daisy's Zimmertür ist verriegelt geblieben. Sie hat auf ihrer neuen Schule so schnell Anschluss gefunden. Und dann warst du plötzlich an ihrer Seite, Collin. Ich dachte, dass es ihr besser gehen würde. Konnte mich wieder auf meinen Job konzetrieren und wieder Aufträge von außerhalb der Insel annehmen. Wie konnte ich mich nur so täuschen! Ich verstehe es einfach nicht!" Mit seiner rechten Hand haut Oktavia's Vater gegen die Wand und ich zucke vor Schreck zusammen. Er ist so emotional und kaputt, dass ich unglaubliches Mitleid für diesen Mann habe. Ich habe Oktavia's Vater von Anfang an gemocht. Er hat sich sich immer sehr intensiv gekümmert. Auch, wenn ich lange nicht verstanden habe, wieso er das tut. Eines Tages hat es mir Oktavia dann erzählt. Die schlimme Wahrheit. Ihre Mutter war vor vielen Jahren an Krebs gestorben. Nach diesem Vorfall war die Familie besonders doll zusammengewachsen. Doch als Daisy letzte Jahr verstarb, da war alles zerbrochen. Oktavia hatte mir erzählt, wie die beiden immer zu den Grotten geschlichen waren. Dort war es nicht nur unheimlich spannend, sondern auch sehr gefährlich für Kinder. In den Böden befinden sich Spalten und Löcher. Als sie sich eines Abends wieder rausgeschlichen hatte, da war es um Daisy geschehen. Sie passt einen Augenblick lang nicht auf und stolperte über den großen Felsblock, der das große Loch hinter sich verbrigt. Sie ist so ungünstig aufgekommen, dass sämtliche Knochen gebrochen waren.
 "Es war das schlimmste, was ich je gesehen habe.", hatte Oktavia mit geweiteten Augen erzählt. "Das Bild, wie meine märchenhaft schöne Schwester in dieser Spalte hängt. Alle Knochen verdreht und mit Blut übergossen. Noch Tage danach habe ich geschrien, wenn ich mich an dieses eine Bild erinnert habe!"
 Nach dem Unfall hatte Oktavia eine posttraumatische Störung entwickelt, die aber innerhalb einer Therapie zufriedenstellend behandelt werden konnte.
 Als ich mit ihr zusammengekommen bin, da hätte ich nie erwartet, dass sie einen solchen Rückfall erleiden würde. Das schlimmste ist, dass ich gar nicht weiß, was ich jetzt fühlen und auch denken soll. Ich bin total in dieses Mädchen verliebt gewesen und empfinde immer noch viel für sie... Aber nach diesem Vorfall? Oktavia wurde als unzurechnungsfähig erklärt und ist für das Erste in einer geschlossenen Abteilung einer Psychiatrischen Anstalt untergekommen. Wenn ich das Krankenhaus wieder verlassen darf, dann möchte ich sie besuchen.

Tragischer Unfall, 17.08.2001, Whangamata

In der Nacht zum 17. August kam es zu einem Unfall, bei dem die kleine Daisy (12) verunglückte. Das Mädchen war nachts mit ihrer großen Schwester zu den Klippen der Ostküste geschlichen. Bei Ebbe wird dort der Weg zu einigen unerforschten Grotten frei, vor denen allerdings gewarnt wird. "Zutritt strengstens untersagt" steht auf einem der Schilder am Strand. Trotz der Warnungen spielten die Mädchen an dem gefährlichen Ort. Daisy rutschte in der Dunkelheit aus und stolperte über ein Fels. Dieser Sturz führte zum sofortigen Tod, da sie in eine Spalte im Erdboden fiel. Die Meeresgrotten sind bis auf weiteres versperrt und wir warnen die Eltern noch einmal, dass sie ihre Kinder dort nicht spielen lassen dürfen.

 

 

ENDE.

 

 

 

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 23.05.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
An alle, die das Meer auch manchmal sehnen.

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