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Lyrik

 

Was sind wir Menschen doch!
ein Wohnhaus grimmer Schmerzen,
ein Ball des falschen Glücks,
ein Irrlicht dieser Zeit,
ein Schauplatz herber Angst,
besetzt mit scharfem Leid,
ein bald verschmelzter Schnee
und abgebrannte Kerzen.

(Andreas Gryphius-Menschliches Elende/Was sind wir Menschen doch...)

Prolog

Ich verliere manchmal die Kontrolle. Dann entgleiten mir meine wirren Gedanken und entwickeln ein Eigenleben. Es sind dunkle und gefährliche Gedanken. Gedanken, die vor Hass triefen.

Nachts ist es am schlimmsten. Wenn die Sonne in den Weiten des dämmernden Himmels verschwindet, dann möchte ich Rache. Sobald alles schläft, erwacht das Böse in mir. Es ist gierig und sehnt sich danach, endlich seine Krallen ausstrecken zu dürfen und Schmerzen zu verursachen.

Es gibt so viele schöne Waffen, flüstert mein innerer Dämon. Du könntest sie mit einer Pistole erschießen, aber dann würde sie nicht leiden. Wie wäre es also mit einem Messer? Stell dir das mal vor. Ein Schnitt direkt durch die Halsschlagader. Und vorher verunstaltest du noch ihr schönes Gesicht. Vor Schmerzen würde sie schreien und ihre Augen würden das blanke Entsetzten spiegeln. Turnt dich diese Vorstellung nicht an?

Tatsächlich entlocken mir die Bilder in meinem Kopf ein Lächeln. Ich muss meiner dunklen Seite zustimmen. Es gibt wirklich viele Waffen und demnach auch viele Möglichkeiten, wie ich sie quälen kann. Täglich fallen mir neue Ideen ein und lassen die alten zu lasierenden Schatten verblassen. Heute Abend bin ich allerdings besonders kreativ.

Spielst du gerne mit Feuer? Ein Brand ist schnell ausgelöst, vernichtet gründlich und langsam. Du könntest sie in einem Zimmer einsperren und ein Feuer legen. Sie würde zuerst den Rauch einatmen und zu Husten beginnen. Die Luft würde immer knapper werden und ihre makellose Haut würde grässliche Blasen werfen. Letztendlich ist sie zu schwach, um fliehen zu können. Ein grausamer Tod! Klingt das nicht vielversprechend?

"Nein", wispere ich in die Stille des Hauses. "Ein Feuertod ist nicht langsam. Mir jedenfalls ist er nicht langsam genug. Die roten Flammen verbreiten sich zu schnell und innerhalb von Minuten würde sie sterben. Das ist nicht mein Ziel."

Ich höre, wie mein innerer Dämon die Luft einzieht und dann erzürnt zu zischen beginnt.

Dann sind dir meine Methoden wohl nicht gut genug? Was willst du denn tun? Du kannst sie vergiften, ertränken, einsperren oder lebendig begraben. Mir gehen die Ideen aus!

"Ich möchte einfach, dass sie leidet. Und zwar nicht nur einen kurzen Moment lang. Verstehst du, was ich meine? Sie umzubringen klingt sehr verlockend, ist aber nicht die richtige Lösung. Hilf mir bitte."

Es dauert einen Augenblick, dann meldet sich die Stimme zurück. Ich habe einen letzten Vorschlag für dich. Dir gefällt es nicht, wenn du ihr nur körperlichen Schmerz zufügst? Dann müssen wir ihre Seele angreifen und sie systematisch vernichten. Wir müssen klein anfangen und Sie dort treffen, wo es am meisten wehtut. Es wird nicht einfach werden. Aber wenn wir alles über sie herausfinden, dann können wir sie zerstören. Wie eine Rose welkt, wird sie langsam aber sicher fallen. Und bevor sie jemand auffangen kann, wird es zu spät sein.

"Du bist genial", euphorisch klatsche ich in die Hände. "Ich werde mir ihre Psyche zu Nutzen machen und alles geben."

In mir beginnt ein Plan zu keimen, der von gigantischem Ausmaß ist und in Perfektion glänzt. Ich kann es kaum erwarten, ihn in die Tat umzusetzen. Doch ich muss geduldig sein. Zunächst brauche ich alle möglichen Informationen über mein Opfer.

"Das wird dein Ende sein. Dafür werde ich sorgen. Das verspreche ich." Das Böse in mir verfällt in ein diabolisches Lachen und auch ich beginne hysterisch zu kichern.

Kapitel eins- Fireplace Manor

Die winterliche Kälte umhüllt mich wie ein Mantel. Sie schmiegt sich an mich und lässt mich frösteln. Mein unregelmäßiger Atem ist in einer weißen, nebeligen Wolke sichtbar. Schneeflocken rieseln auf mich herab und schmelzen auf meiner geröteten Haut. Meine Hände und Ohren sind bitterkalt und inzwischen taub. Ich fühle mich wie in Trance. Dass der gemütlich scheinende Altbau in der Lavanderstraße 126 mein neues Zuhause sein soll, kann ich selbst nicht glauben. Überhaupt hätte ich nicht gedacht, dass ich in Oldenburg so schnell einen Platz zum Wohnen ergattere.                                                                                                    Der Altbau hat die Farbe von cremiger Vanille und eine Wohnfläche von über dreihundert Quadratmetern. Die Miete ist nicht sonderlich hoch und die Lage relativ zentral, nahe der Innenstadt. Ich kann mein Glück kaum fassen. Meine gefrorenen Finger umschließen meinen großen Koffer und tragen ihn die leicht vereisten Treppenstufen zur Tür hinauf. Als ich klingel ertönt ein Part aus Beethovens Fünfter Symphonie.                Meine Finger zittern leicht, als ich meine Hand zurückziehe und angespannt warte. Mein Herz rast wie wild. Wer wird mir öffnen?                                                                                                                            Sekunden verstreichen und ich werde immer flattriger. Schnell werfe ich einen Blick auf meine Armbanduhr. Es ist exakt neunzehn Uhr. Ich bin punktgenau erschienen.                                                                    Endlich höre ich eilige Schritte, die aus dem Inneren des Hauses kommen. Die Tür schwingt mit einem leichten Knarren auf und vor mir steht eine junge Dame.                                                                                     "Elena Oliv?", fragt sie und mustert mich mit ihren kristallblauen, riesigen Augen. Ihre vollen Lippen umspielt ein warmherziges Lächeln, das mich sofort willkommen heißt.                                                                        "Ich bin wegen des Zimmers da.", murmel ich nickend und verliere mich in ihren blauen Augen. So hell. So blau! Plötzlich wird mir schwindelig und ich lehne mich gegen den Türrahmen. Tief ein und ausatmen, wiederhole ich im Kopf, bis sich mein Atem beruhigt.                                                                              "Ist schon gut", flüstert das Mädchen und legt mir eine Hand auf die Schulter. "Umziehen ist nicht leicht. Ruh dich erst mal aus. Ich zeige dir gerne dein Zimmer."

Ich schäme mich und mag mir nicht vorstellen, wie labil ich herüberkomme. Trotzdem versuche ich die Fassung zu bewahren und nicht gleich alles als verloren zu betrachten. Denn mein Neuanfang hier sollte mit Kraft und Stärke beginnen. Als ich den warmen Hausflur betrete, schüttel ich mich erst einmal. Kleine Schneeflocken lösen sich von meinem Mantel und prasseln auf die hellen Holzdielen.                                       "Wie heißt du?", frage ich zaghaft und folge dem Mädchen eine alte Holztreppe nach oben in das zweite Stockwerk. Mir gefällt die Wohnung vom Aussehen jetzt schon recht gut. Es ist wie bei diesen Zimmern, die man betritt und gleich das Gefühl bekommt, dass man hier zuhause ist. Die Wände sind in beige gestrichen und mit Bildern mit Motiven aus der ganzen Welt behangen. Auf dem ersten sieht man eine afrikanische Landschaft mit Giraffen und Flamingos, die sich an einem halb ausgetrockneten Flussbett aufhalten. Das zweite dagegen zeigt eine Schneelandschaft mit Eisschollen im Vordergrund und einem Königspinguin, der einsam an der Horizontlinie steht und in die Ferne schaut.                                                                                            "Die Bilder stehen für den Gegensatz", sagt das Mädchen, als sie bemerkt, dass ich die Bilder untersuche. "Die Antithetik zwischen warm und kalt soll deutlich werden."

"Ich verstehe", antworte ich nickend. "Es ist erstaunlich. Obwohl sie so kontrastieren, harmonieren sie nebeneinander und ziehen mich in ihren Bann. Aber ansonsten habe ich auch kaum Kunstkenntnisse."

"Lo hat sie ausgesucht und anschließend aufgehängt", erklärt sie mir, als ob mir bekannt sei, wer dieser Lo ist. "Ich bin Sarah Rosenfeld. Es tut mir leid, dass ich vergessen habe mich vorzustellen."

"Das ist kein Problem. Nun weiß ich, wer du bist.", sage ich und zwinge mir ein klitzekleines Lächeln auf mein Gesicht.

"Falsch", erwidert Sarah. "Du weißt lediglich, wie ich heiße. Aber das erklärt noch lange nicht, wer ich bin!"

Sie lacht, als ich sie irritiert anschaue. "Das wird schon alles noch."

Wir betreten einen schmalen Flur, der nur durch eine Deckenlampe spärlich beleuchtet wird. Sarah führt mich an das Ende des Ganges und öffnet eine weiße Holztür: " Et voilá, das ist dein Reich."

"Wow!" ich komme aus dem Staunen nicht mehr heraus. Das Zimmer sah auf den Bildern im Internet schon geräumig, groß und verzaubernd aus. Aber in Realität ist es noch viel schöner. Der Boden besteht aus hellem Eichenholz, die Wände sind in einem unreinem Weiß gestrichen. Das Zimmer ist leicht verwinkelt und gegenüber der Tür befindet sich ein enormes Fenster, mit großem Fensterbrett. Links neben mir steht ein weißer Kleiderschrank, der mit Ornamenten verziert ist. Daneben befindet sich ein Spiegel, der vom Boden bis zur hohen Decke reicht. Rechts von mir stehen ein Regal und dahinter ein großes Ehebett aus weißem Metall. Darüber leuchten goldene Sterne, die von der Decke hängen und leicht hin und her baumeln.

"Es sagt dir zu?", fragt Sarah und grinst zufrieden. "Ich hab es eigenhändig aufgeräumt und die Sterne aufgehängt. Ich hoffe, dass dich das nicht stört."

"Quatsch. Im Gegenteil.", sage ich und setzte mich auf mein neues Bett, wo ich sofort in der federweichen Matratze versinke. Ich seufze und denke, dass ich jetzt am liebsten schlafen gehen würde. Auch wenn es nur ein paar neue Eindrücke sind, ist das alles schon etwas anstrengend für mich. Deswegen schließe ich für einen Moment die Augen und lehne mich an die Wand.

"Soll ich deinen Koffer hochbringen und dir einen Tee machen?", fragt Sarah, als sie bemerkt, wie müde ich bin.

"Danke.", erwidere ich und schüttel dennoch den Kopf. "Gib mir eine viertel Stunde und ich komme runter und hol meinen Koffer später nach oben!"

Als Antwort hält Sarah einen Daumen nach oben und verlässt anschließend das Zimmer. Mein neues Zimmer!

Ich schließe die Augen erneut und versuche mich zu erholen und aufzuwärmen. Nach und nach bekomme ich wieder ein Gespür für meinen zuvor vereisten Körper.

Es wird immer wieder passieren, dass du mit Dingen konfrontiert wirst, die dich an ihn erinnern. Versuch stark zu bleiben. Du schaffst das, Elena!

Hellblaue Augen sieht man überall, versuche ich mir einzureden. Aber trotzdem beschließe ich, dass ich Sarah heute nicht mehr direkt ins Gesicht blicken werde. Aus meiner Jackentasche ziehe ich ein kleines Püppchen. Es ist ein Glücksbringer, den ich von meiner Schwester bekommen habe. Ich drücke ihn fest und lege ihn dann auf das Bett. Irgendwie rappel ich mich anschließend auf und schlendere in das erste Stockwerk. Sarah hat inzwischen Tee aufgesetzt und zwei Tassen aus einem der Küchenschrank geholt.

"Die Küche ist nicht so groß.", wispert sie gedankenverloren. "Deswegen sitzen wir immer zusammen in der Stube. Dort haben wir sogar einen Kamin!"

Wir. Das Wort lässt mich aufhorchen. Dreier WG sucht viertes Mitglied, so hieß die Anzeige aus dem Internet. Natürlich, ich würde hier nicht nur mit Sarah Rosenfeld alleine Wohnen!

"Nicht schlecht.", sage ich. " Wann lerne ich die anderen zwei kennen?"

"Feli und Lo kommen erst gegen neun. Die haben beide heute Uni bis acht Uhr! Montags ist der Powertag von ihnen! Die beiden sind zwei wunderbare Menschen! Jeder von ihnen hat seine eigene Geschichte. Aber das erfährst du alles noch!"

Ich habe auch eine Geschichte, denke ich. Nur will ich sie mit keinem Teilen. Das hier ist mein Neuanfang. Es gibt keine Vergangenheit, sondern nur das Hier und Jetzt. Wünsche ich mir jedenfalls. Aber wer utopisch denkt, wird schneller enttäuscht...

" Apfel mit Zimt.", erzählt Sarah und stellt eine große, gepunktete Tasse vor mir ab. Warmer Dampf steigt auf und brennt in meinen Augen. Ich atme den Duft ein und seufze: "Danke. So ein Tee tut doch gut."

Sie nickt: "Und ein Tee ist passend bei Erzählungen. Ich möchte doch etwas über meine neue Mitbewohnerin erfahren! Wer bist du, Elena Oliv? Was willst du hier? Und woher kommst du?"

"Oh.", ich trinke einen Schluck Tee und denke nach. Hoffentlich wird das hier nicht zu persönlich. "Ich komme aus Konstanz. Das liegt an der Grenze zur Schweiz, falls dir das etwas sagt. Und ich bin hier her gekommen, damit ich studieren kann. So einfach ist das!"

Sarah sieht mich forschend an: "Ich glaube nicht, dass das so einfach ist. Ich meine, Konstanz liegt nicht gerade neben Oldenburg. Wieso bist du so weit von deiner Heimat entfernt? In deiner Bewerbung hattest du erwähnt, dass du Pädagogik als Fachbachelor studierst! Pädagogik kann man doch überall studieren. Also, warum gerade hier?"

Unruhig beginne ich auf dem Stuhl hin und her zu rutschen:" Ich wollte einfach raus aus Konstanz und hab eine Universität gesucht, die weiter weg ist. Ich... ich möchte einfach eine Menge hinter mir lassen und denke, dass hier der richtige Ort dafür ist!" Bitte stell keine Fragen, bete ich im Stillen. Ich hatte gehofft, dass sich meine Mitbewohner nicht so für meine Lebensstory interessieren. Schließlich durfte ich hier auch einziehen, ohne dass ich zu einem dieser umständlichen Vorstellungsgespräche eingeladen wurde.

Meine Gebete scheinen erhört zu werden, denn Sarah sagt nur: "Es ist hier echt schön! Und weißt du was?

 

 

 

 

 

 

 

Ich studiere auch Pädagogik. Allerdings im fünften Semester! Aber falls du mal Fragen haben solltest, dann stehe ich dir mit Rat und Tat zur Seite!"

Verlegen schaue ich zu Boden: "Danke, das ist echt lieb von dir."

"Ist schon in Ordnung. Ich merke, dass das alles ein bisschen viel für dich ist. Du fängst auch relativ spät an! Das Semester hat schon Mitte Oktober begonnen! Aber keine Sorge, wir holen das auf! Mach dir keinen Stress. Hier sind alle für dich da!"

Ich bin angetan davon, wie mich Sarah hier aufnimmt und werde allmählich ruhiger und beginne mich zu entspannen.

"Elena, eines musst du noch wissen.", sagt sie plötzlich mit ernster Stimme. " Wir werden dich in jeder Hinsicht respektieren und auch nichts hinterfragen, wenn du es nicht möchtest. Aber bitte habe diesen Respekt auch vor uns. Besonders Lo ist etwas anders und braucht eine besondere Behandlung."

Ich nicke, auch, wenn ich mir nicht vorstellen kann, was sie damit meint. Wir trinken unseren Tee schweigend aus und danach hieve ich meinen schweren Koffer die steile Treppe nach oben. Anschließend beginne ich mit dem Auspacken. Ich habe nicht viel Gepäck dabei. Einen kleinen Haufen Klamotten, drei literarische Bücher, mein Notebook, einen alten Mp3Player und mein Lieblingsparfum von einer unbekannten Marke. Mehr habe und brauche ich hier auch erst einmal nicht. Ich manövriere die Klamotten in den Kleiderschrank, stelle die Bücher ins Regal und suche anschließend eine Steckdose für das Notebook. Als ich es angestöpselt habe, fahre ich es hoch. Das Notebook rattert und brummt, lässt mich aber nie im Stich. Ich logge mich in das Wlan Netzwerk ein und verbinde mich nach einer etwas längeren Prozedur mit dem Internet. Als erstes checke ich meine Mails. Aber außer zwei Werbemails erwarten mich keine neuen Nachrichten.

Gerade, als ich das Notebook herunterfahren möchte, klopft es kräftig an meiner Tür. Ich zucke zusammen und drehe mich abrupt um. Ohne auf ein Zeichen von mir zu warten, öffnet sich die Tür und vor mir steht ein unbekanntes Mädchen. Mir fällt sofort auf, dass sie etwas anders aussieht. Mit ihren dunkelroten, langen Haaren, der bleichen Haut, dem purpurnen Lippenstift und den stark geschminkten Augen, sieht sie irgendwie beeindruckend aus. Sie trägt ein smaragdgrünes Wollkleid mit einer dicken, weißen Strumpfhose, die völlig durchlöchert ist und einen Schal, den sie sich mehrmals um ihren Hals gewickelt hat.

"Endlich lerne ich dich kennen!", sagt sie und ich schätze sie gleich als sehr extravertiert und kontaktfreudig ein. "Ich hab deine Mail gelesen und mich schon darauf gefreut, dich endlich kennenzulernen!"

"Ich habe mich auch gefreut, hier einziehen zu dürfen.", antworte ich perplex.

"Sorry, wenn ich dich so überrumpelt habe. Ich bin Felipa. Aber sag Feli! Für seinen Namen kann man schließlich nichts!", plappert sie und sieht sich in meinem Zimmer um. "Mensch, du hast ja noch gar nichts eingerichtet. Was hier fehlt ist Individualität und Charakter! Aber ich wette, dass das noch kommt. Hier bist du auf jeden Fall willkommen!" Sie dreht sich einmal um die eigene Achse und ihre langen Haare werfen sich wie Fäden um sie.

"Ich bin gerade erst angekommen.", antworte ich entschuldigend. Inzwischen hat Feli es sich auf meiner breiten Fensterbank gemütlich gemacht.

"Man kann hier so schön den Schnee beobachten. Das haben Yola und ich immer gemacht!"

"Yola?", frage ich vorsichtig.

"Das Mädchen, was hier vor dir gewohnt hat. Sie ist aber schon vor Ewigkeiten ausgezogen. Hat ihren Bachelor bestanden und ist weg... Dabei hat sie uns hier irgendwie zusammengehalten... Und auch zusammengeführt. Aber das heißt nicht, dass es mit dir nicht ebenso werden kann. Nur sie hat die Leute auf eine besondere Art und Weise verstanden. Zum Beispiel Lo.", Feli wendet sich von der Schneelandschaft ab und schaut mich eindringlich an. "Ich rede leider zu viel und zu gern. Du musst dir völlig überfordert vorkommen! Ruh dich erst mal aus!" Mit den Worten erhebt sie sich und verschwindet aus dem Zimmer. Tatsächlich bin ich gerade überfordert. Überfordert und schwach. Ich hole aus meiner anderen Jackentasche mein altes Nokia und schaue auf die Uhr. Es ist kurz vor Mitternacht. Schon fast fünf Stunden bin ich hier. Vage erinnere ich mich daran, wie ich Mom versprochen habe, dass ich sie anrufe. Aber das muss jetzt warten. Meine Augenlider werden langsam schwer und fallen beinahe von alleine zu. Auch ein langes Gähnen lässt sich nicht von mir unterdrücken. Ich schaffe es noch in das kleine Badezimmer, welches ich mir anscheinend mit Feli und Sarah teile und putze meine Zähne. Danach lasse ich mich in mein Bett fallen. Eine neue Stadt. Ein neues Leben. Eine neue Zukunft. Und mit diesen Gedanken schlafe ich irgendwann ein.

 Acht Uhr morgens. Mein Handywecker klingelt. Total eclipse of the heart ertönt und der Song hüllt mich in seine zarten Töne ein. Ich blinzle und öffne schläfrig meine Augen. Meine Hände tasten unkontrolliert nach dem Wecker und stellen ihn aus. Der Sound verebbt. Mir wird bewusst, dass ich viel zu antriebslos bin, um aus dem Bett aufzustehen.

Es lohnt sich immer aufzustehen. Denk daran, was du alles erleben könntest! Und was du erst alles verpasst! Am besten ist, wenn du dir das jeden Morgen deutlich machst. Jeder Tag muss ausgekostet werden!

"Heute wird ein besonderer Tag.", sage ich mit monotoner Stimme. "Heute werde ich die Uni besichtigen. Ich werde das schaffen! Ich werde stark sein!" Dieses Mantra wiederhole ich einige Male, bis ich mich erhebe und

mir frische Kleider suche. Nach langem Überlegen entscheide ich mich für eine enge Jeans und einem einfachen Wollpulli in Türkis. Meine kurzen braunen Haare glättete ich, bis sie mit ihren Spitzen meine Schultern erreichen. Dann nehme ich mein Nokia und klingel einmal bei meiner Mutter durch. Es meldet sich keiner. Vielleicht ist sie in einer Besprechung, überlege ich und versuche, nicht weiter darüber nachzudenken.

Als ich die Treppe nach unten nehme, riecht es verführerisch nach Waffeln und Rührei.

"Alles für deinen ersten Tag!", ruft Feli, als sie mich sieht und stapelt mehrere Waffeln auf einem Teller übereinander.

"Für mich?", frage ich überrascht und zaghaft zugleich.

"Ja, genau.", flötetet sie. "Ich bin zwar keine Köchin, aber ein leckeres Frühstück bekomme ich noch hin! Außerdem siehst du etwas ausgehungert aus. Also, finde ich. Sorry! Es geht mich eigentlich nichts an. Aber ich hab mir Sorgen um dich gemacht, seit ich dich gestern Abend gesehen habe!"

Ich setze mich an den kleinen Holztisch mit zwei Stühlen und packe mir eine Waffel auf einen leeren Teller: "Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Das ist unglaublich nett von dir!"

Felipa grinst: "Das nehme ich als Kompliment. Musst du heute schon zur Uni? Hast du überhaupt schon deinen Stundenplan erstellt? Soll ich dir dabei helfen? Ich hab erst um zwölf meine erste Vorlesung!"

"Danke. Aber nein, danke!", lehne ich ihr Angebot ab. "Ich muss um zehn Uhr hin und werde dann dort eingewiesen. Zum Glück! Ich habe das mit dem Stundenplan schon versucht und überhaupt nichts gerafft!"

"Macht dir keine Sorgen! Nach einer Zeit hat man den Dreh raus! Hier gewöhnt man sich mit Schallgeschwindigkeit an alles!" Sie setzt sich neben mich und füllt ihren Teller reichlich mit Rührei, Waffeln und Speck. Mir wird ganz mulmig. Ich weiß ganz genau, dass ich nur wenig essen kann und dass es mir wahrscheinlich Fragen einbringen wird, die ich im Moment nicht beantworten möchte. Trotzdem nehme ich mehrere Bissen und schlucke sogar etwas von dem Zeug hinunter.

"Wie kommst du zur Uni?", fragt Feli und nimmt sich die Tageszeitung, die vor ihr auf dem Tisch liegt.

"Ich denke, dass ich laufen werden.", antworte ich und schiebe meinen Teller weg.

"Kennst du überhaupt denn Weg?", fragt sie unbeirrt weiter.

"Google Maps.", sage ich scherzend und Felipa runzelt die Stirn.

"Ich fahr dich einfach hin! Dann verirrst du dich wenigstens nicht!" Es klingt beschlossen.

Ich schmunzel: "Steht mir etwa auf der Stirn geschrieben, dass ich orientierungslos bin? Ich bin kein kleines Kind, was von Mom kutschiert werden muss!"

"Nicht? Du kommst mir aber so rüber", wirft sie mir neckend vor. "Komm schon, Liebes, ich fahr dich einfach! Meinetwegen auch nur heute und sonst kannst du so weit wandern, wie du willst!"

Ich gebe nach, weil ich nicht glaube, dass ich ihr widersprechen kann!

Um zwanzig vor zehn fahren wir in ihrem alten VW Golf zur Uni. Das Fahrzeug springt nicht sofort an und ich bin froh, dass Feli schon rechtzeitig nach draußen gegangen ist. Über Nacht hat es so doll geschneit, dass sich eine weiße Schneedecke über die Straßen und Rasenflächen gelegt hat.

"Ich hab echt Respekt, mich bei Glatteis ans Steuer zu setzten", verrät sie mir, als sie dabei ist die Frontscheibe des Wagens zu kratzen.

"Du musst nicht fahren! Ich laufe gern, wirklich!"

"Soll das ein Scherz sein? Steig schon mal ein, ich bin gleich soweit!" Feli zwinkert mir zu und verschwindet im Haus. Sie kommt mit einem schwarzen Autoschlüssel in der Hand wieder. Respekt vor der Glätte, denke ich ironisch und merke mir, dass ich meine rothaarige Mitbewohnerin wohl nicht ganz so ernst nehmen kann. Ich bin kein Fan vom Autofahren und Felipas Fahrstil ist einfach nur zumutend. Sie beschleunigt in jeder Kurve, versucht jede Ampel zu kriegen und nimmt den Fahrradfahrern die Vorfahrt. Ich habe zwar keinen Führerschein, denke aber, dass ich diese Regeln besser als sie umsetzten könnte.

 

 "Was studierst du?", frage ich sie, als wir um eine besonders scharfe Kurve brettern. Ich klammere mich an meinem Sitz fest und beiße mir auf die Unterlippe. Nie wieder mit Feli autofahren!

"Philosophie und Anglistik im Zwei-Fach-Bachelor. Seit Oktober. Also, ich bin jetzt im ersten Semester, genau wie du. Letztes Jahr habe ich noch eine Ausbildung gemacht, die ich allerdings abgebrochen habe! Naja, jedenfalls gefällt mir das Studium echt gut!", erzählt sie begeistert, während ihr Blick immer wieder zu mir rüber schweift.

"Philo mochte ich immer in der Schule", versuche ich zum Thema beizutragen, doch Feli greift ein: "In der Schule? Da beschäftigt man sich nicht mit philosophischen Fragen, sondern mit notwendigen Fragen! Wirkliche

Philosophie nimmt alles und jeden auseinander! Niemand ist sicher und das finde ich so spannend."

"Achso", antworte ich irgendwie perplex.

Als ich die Uni sehe, leuchten meine Augen und in mir beginnt es zu kribbeln. Schon als kleines Kind habe ich schon immer gewusst, dass ich später studieren werde. Und dass das die schönste Zeit meines Lebens werden sollte! Die Carl von Ossietzky Universität besteht aus mehreren Gebäudekomplexen, die in zwei Straßen verteilt liegen. Felipa lässt mich an einer Bushaltestelle neben dem Hauptgebäude aus dem Auto. Nervös steige ich aus.

Der Eindruck ist überwältigend. Ich habe mir die Universität zwar schon einmal angeguckt, doch da waren Semesterferien und kein einziger Student war zu sehen. Doch jetzt, wo die Studenten rauchend vor den Fakultäten stehen und ein paar Fahrräder wie Dominosteine in einer Reihe aufgestellt sind, wirkt alles vollkommen. Ich stapfe durch den Schnee auf das große Gebäude zu, welches sich Auditorium nennt. Hier liegt die Infozentrale und außerdem finden hier die wichtigsten Vorlesungen statt- wie ich gehört habe.

Es weht ein frostiger Nordwind und meine Haare werden hin und her gerissen. Mein Gesicht beginnt vor Kälte zu schmerzen. Das könnte der kälteste November der Menschheit sein, dachte ich und fummel mir Haarsträhnen aus dem Gesicht. Ich komme auf eine große Glastür zu und schiebe sie mit Mühe auf. Dahinter befindet sich so etwas wie eine riesige Halle, die mit Wissbegierigen jeglichen Alters gefüllt ist. Es scheint wohl gerade Pause zu sein. Ich versuche möglichst taff zu wirken, als ich mir einen Weg durch die Menschen bahne. Es muss ja nicht jeder sehen, dass ich vor Anspannung beinahe weinen würde. Du schafft das, Ela, sage ich mir immer wieder! Als ich plötzlich den Raum null-null-vier sehe, laufe ich schnurstracks darauf zu und will die Tür öffnen. Ausgerechnet in diesem Moment springt diese von der anderen Seite auf und ich knalle gegen einen Typen.

"Autsch", rufe ich und halte mir eine Hand an die Stirn. Das wird eine dicke Beule geben. Meine Schläfen pulsieren und in meinem Kopf beginnt es zu ziepen.

"Mist! Das wollte ich nicht", stammelt der Kerl. "Ich hab das Gefühl, heute werde ich vom Unglück verfolgt!"

"Schon gut", murmel ich und will mich rasch an ihm vorbeidrängeln, damit ich nicht zu spät zur Einführung komme.

Doch er lässt nicht nach: "Ist echt alles in Ordnung? Du bist so blass geworden!"

"Ich hab mich nur erschreckt", versichere ich ihm. "Ich muss jetzt echt da rein.!" Ich werfe einen Blick zur Info und er nickt:"O, natürlich. Sorry, man sieht sich!"

Oder auch nicht, denke ich und betrete die Infozentrale. Eine Dame mit ergrautem Haar und unglaublich großer Brille nickt mir zu: "Miss Oliv?"

"Ja, genau", antworte ich erleichtert. "Ich bin da, weil sie mir eine Einweisung in die Universität geben wollten!" Die Infotante lächelt seicht und schreibt etwas auf ein Formular nieder. "Erst einmal ein Herzliches Willkommen an der Oldenburger Universität. Schön, dass Sie sich dazu entschieden haben, ihren Lebensweg hier fortzuführen. Ich habe ihre Krankenbescheinigung erhalten, aufgrund derer das Fehlen der ersten zwei Semesterwochen kein Problem ist!"

"Zum Glück", sage ich kleinlaut. Ich habe wirklich Angst, dass ich Probleme habe mich in den Unterrichtsstoff zu finden und mich überfordert fühle.

"Ich glaube an jeden Studenten, der einen Willen hat und kompetent ist. Sie sind jung, Miss Oliv. Ihr Geist hat sein Limit noch lange nicht erreicht. Jeder Tag hier wird Ihnen neue Erfahrungen und Erlebnisse bringen, die Ihnen später noch von Nutzen sein werden!" Die ältere Dame schenkt mir ein zuversichtliches Lächeln und ich versuche wirklich- mit aller Kraft- alle Zweifel und Sorgen einfach fallenzulassen.

Das Gespräch und die Einführung dauern circa zwei Stunden. Dann verabschiede ich mich von der Infotante und bin erst mal erleichtert. Als ich die große Halle betrete, steht auf einmal der tollpatschige Typ von vorhin neben mir.

"Gibt es ein Problem?", frage ich höflich und starre ihn an. Er ist nicht viel größer als ich und von der Statur her eher mager als muskulös. Seine weißblonden Haare sind zerzaust und stehen von seinem Kopf ab. In einem markanten Gesicht finde ich große, neugierige königsblaue Augen und schmale Lippen, die er leicht geöffnet hat.

"Nein", stammelt er wieder und fasst sich an den Hinterkopf. "Ich hab dir vorhin echt wehgetan, oder?"

Es stimmt, ich habe tatsächlich Kopfschmerzen bekommen und ich möchte nicht wissen, welche Färbung meine Stirn inzwischen hat. Trotzdem sage ich:" Es war ein Versehen!"

"Ja, war es auch! Ich bin manchmal etwas stürmisch und gedankenverloren! Und ich bin Lysander. Aber Freunde sagen Sander", stellt er sich vor und versucht mich anzugrinsen.

"Schön", antworte und ich und überlege, ob es sich lohnt, meinen Vorsatz zu brechen. Ich wollte mich hier

 erst einmal mit niemanden anfreunden, sondern mich alleine auf das Lernen konzentrieren. Außerdem habe ich schon die Leute aus der WG, die ich bis auf Lo kennengelernt habe. Ich entscheide mich dafür, dass ich schnellen Schrittes in Richtung Ausgang stakse. Soll Sander sich jemand anderen zum Plaudern suchen. Bestimmt studiert er nicht mal mit mir Pädagogik und ich sehe ihn eh nie wieder. Mit diesem Gedanken stelle ich mich der Kälte, der ich draußen begegne.

Ich habe den Weg zum Glück noch gut in Erinnerung. Etwas länger als zwanzig Minuten dauert er. Ich werde mich an diesen Marsch wohl gewöhnen müssen. Aber das ist nicht weiter schlimm, denn schließlich kann ich mich hier meinen kreisenden Gedanken widmen. Ich habe nun einen fertiggestellten Stundenplan und die nächsten Wochen sind somit geplant. Das gibt mir ein sicheres Gefühl. Mein Stundenplan besteht aus Modulen, die ich wählen musste. Dazu gehören zum Beispiel Sozialforschung oder pädagogische Grundbegriffe. Dann gibt es noch den Professionalisierungsbreich, indem ich selbst wählen konnte. Aus unzähligen Angeboten habe ich mich für Philosophie und Logik entschieden. Beide Fächer stellen Gegensätze für mich da und gerade das macht es so interessant. Allerdings weiß ich bei all den Fächern und Seminaren nicht, was mich wirklich erwarten wird. Mal schauen.

Als ich meine neue Wohnung sehe, bleibe ich wie angewurzelt stehen. Das Gebäude strahlt so etwas Warmes und Selbstverständliches für mich aus. Ich kann kaum glauben, dass ich gestern um neunzehn Uhr erst eingezogen bin. Und auch Feli und Sarah, die mich so liebevoll aufgenommen haben. Fast, als hätte ich keine Vergangenheit und würde schon immer hier her gehören. Ich seufze, weil ich mich schon wieder in meinen Gedanken verloren habe. Ich gehe auf die Wohnung zu und betrete sie. Sarah kommt mir schon im Eingang entgegen. Sie unterhält sich aufbrausend mit einem jungen Mann, der vielleicht Ende zwanzig ist. Ich frage mich, ob es sich um Lo handelt.

"Ganz ehrlich, verschwinde doch endlich. Was willst du noch hier? Ich bin einfach nur sauer.", fährt Sarah den fremden Mann an.

"Sonneherz, beruhig dich doch.", versucht er sie zu beschwichtigen.

"Wie?", schreit Sarah. "Soll ich es etwa gut finden, dass du dich mit dieser Schlampe getroffen hast?" Wütend rennt sie an mir vorbei und knallt die Haustür hinter sich zu. Ich stehe alleine mit dem unbekannten Mann im Raum und starre ihn verdutzt an.

"Was ist nur falsch mit euch?", fragt der Mann an mich gewandt und verlässt ebenfalls die WG. Jetzt bin ich verwirrt. Was geht denn hier ab? Von der lieben Sarah hätte ich so einen Wutanfall gar nicht erwartet.

Plötzlich merke ich, dass ich beobachtet werde. Ein anderer Typ steht im Türrahmen zum Wohnzimmer und beobachtet mich. Fragend blicke ich in seine leuchtenden grünen Augen. Sie sind nichts außergewöhnliches, haben aber etwas kindliches und sehnsüchtiges in sich. Diese Augen gefallen mir sofort.

"Er betrügt sie andauernd.", raunt er mir zu und ich bin überrascht. Er hat eine dunkle und starke Stimme, die den ganzen Raum einnimmt.

"Oh.", antworte ich völlig überrumpelt. Wie oft war ich diese Woche schon aus der Fassung geraten?

"Ich bin Leon. Aber hier nennen mich alle nur Lo.", klärt er mich über sich auf.

"Ach du bist das.", ich lächel ihn an. "Ich hab mich schon gefragt, wann ich dich kennenlerne."

"So so.", er verzieht kurz sein makelloses Gesicht und deutet dann in Richtung Stube. "Willst du dich zu mir an den Kamin setzten?"

Ich zögere- vielleicht einen Moment zu lange: "Du musst nicht, ich habe eh nur kurz Zeit."

"Doch, möchte ich.", höre ich mich sagen und begleite ihn. Wir setzten uns auf eine fuchsbraune Couch gegenüber des Kamins. Das Feuer wirkt beruhigend auf mich. Sein Knistern und Rascheln und das lebendige rot der Flamme. Auch Los Aufmerksamkeit widmet sich dem Kaminfeuer.

 "Was studierst du?", frage ich, um die Stille zu brechen.

"Mathematik", antwortet er und bedenkt mich mit einem langen Blick.

"Schön. Ich interessiere mich auf ein wenig für Mathe. Wenigstens Statistiken und Analysis mag ich sehr gerne. Aber ich studiere nicht Mathe, sondern Pädagogik." Wieso erzähle ich ihm das so ungefragt?

"So so", sagt der Junge erneut , fährt sich durch die schwarzen Locken und gähnt dann. "Ich bin kaputt."

"Vom Studium?", frage ich neugierig nach.

"Ich war eben über drei Stunden joggen. Machst du auch Sport?"

"Nein", antworte ich. Ich habe schon ewig kein richtiges Hobby mehr gehabt. Vielleicht sollte ich mir hier ein Neues suchen.

"Ich kann das Joggen nur empfehlen", sagt er und danach ist Stille zwischen uns. Irgendwie bin ich bei ihm nicht so angespannt und trotzdem fühle ich mich, als müsste ich krampfhaft nach einem Thema suchen, über das wir uns unterhalten können. Er ist anscheinend sehr einsilbig, so wie ich.

"Wie gefällt dir Fireplace Manor?"

"Fireplace Manor?", wiederhole ich seine letzten Worte fragend.

Leon lacht. Jedenfalls versucht er das. Seine Mundwinkel heben sich Millimeter nach oben und seine ohnehin schon schmalen Augen werden noch kleiner. Aus seinem Mund kommt ein hustendes Geräusch: "Das, Elena, ist dieses bescheidene Haus in der Idylle von Oldenburg."

"Cool", antworte ich lässig und sehe mich im Wohnzimmer um. Es ist wirklich gemütlich eingerichtet. Der große Kamin steht neben der Tür. Daneben wiederrum stapelt sich Feuerholz. Gegenüber der Wand ist die Couch, auf der ich mit Lo sitze. Links von uns steht ein großes Bücherregal. Ich erkenne Werke von Marx, Hegel, Aristoteles und Kant, aber auch psychologische Wälzer wie Freud, Erikson und Piaget. Ich frage mich unwillkürlich, ob jemand diese Literaren mal gelesen hat. Immerhin hat so ein Werk rund um die tausend Seiten und das in einer Schrift, die meines Erachtens eine Lupe fordert. Mein Blick wandert von dem Bücherregal zu einem Holztisch. Dort steht eine Skulptur. Es handelt es sich um eine halb nackte Frau. Ich betrachte sie einen Moment überlegend und versinke dann in meinen Gedanken. Leon habe ich schon fast vergessen. So leise ist er. Er bewegt sich nicht und ich höre ihn nicht mal atmen.

"Ich hab noch was vor", murmelt Lo nach ein paar Minuten und erhebet sich. Ich stehe ebenfalls auf und bemerke, dass er ein ganzes Stück größer als ich ist. Ohne sich umzusehen geht er den Flur entlang nach oben. Er hat einen aufrechten, störrischen Gang. Ich weiß nicht, was ich von ihm halten soll.

Als ich etwas später in meinem Zimmer sitze, klingelt mein Handy. Auf dem Display lese ich Lucy, den Namen meiner Mutter. "Hallo Mom", hebe ich ab und setzte mich auf das Fenstersims. Es ist wegen der Heizung ganz warm dort und ich mache es mir mit einer Decke so richtig gemütlich.

"Elena, ach Gott. Du lebst ja doch noch!", ruft sie besorgt in den Hörer. "Wieso meldest du dich denn kein einziges Mal? Ich habe die ganze Zeit vorm Telefon gewartet. Mensch Kind."

"Ach Mom, es war nicht leicht für mich. Ein Umzug ist nie stressfrei!", verteidige ich mich.

"Ich weiß, ich weiß.", ihre Stimme senkt sich. "Ich mach mir doch nur Sorgen, ob alles in Ordnung ist und du nicht doch Hilfe brauchst!"

"Nein, danke. Ich möchte auf eigenen Beinen stehen. Und dafür bin ich mehr als bereit!". Denke ich jedenfalls. Aber ich komme anscheinend selbstsicher rüber. Vielleicht glaube ich selbst mehr an mich, wenn die anderen mir abkaufen, dass es mir blendend geht.

"Also gut, Liebling. Ich bin auch nur eine Mutter. Eine Mutter, die sich um ihr kleines Kitz sorgt!"

"Mom! Jetzt hört es aber auf!", rufe ich entsetzt in den Hörer. "Ich bin fast zwanzig und kein neugeborenes Etwas! Du kannst mir ruhig mal etwas mehr vertrauen!"

"Ja, natürlich. Aber du wirst immer mein Liebling bleiben. Auch, wenn es oft Stress gab und nicht mehr alles so wie früher ist. Du fehlst mir hier nur so! Erst Daisy und jetzt du. Ich vergraul wohl jeden hier!"

Ich grinse: "Nein, Mom. Wir werden dich weiterhin lieben. Aber es ist nun mal Zeit für uns gewesen. Wenn du möchtest, dann kannst du mich nächstes Wochenende besuchen kommen. Ich würde mich freuen!"

"O, wirklich?", fragt Lucy freudig. "Das mache ich selbstredend. Ich komme nächsten Samstag einfach mal auf einen Kaffee vorbei. Deine neue Adresse habe ich mir schon notiert!"

"Alles klar.", sage ich. "Ich werde langsam müde. Es waren sehr viele verschiedene Eindrücke und diese muss ich erst mal verarbeiten."

 "Das verstehe ich. Dann eine wunderschöne zweite Nacht in deinem neuen Zimmer.", wünscht sie mir. "Aber vergiss bitte nicht, deine Tabletten zu nehmen!"

Ich verdrehe die Augen und gähne:

"Dein Kitz hat verstanden. Ich werde brav sein." Damit lege ich auf und räkel mich müde in meinem Bett. Ich muss wirklich erst einmal verstehen, was heute alles passiert ist.

Schritt für Schritt. Stell dir das so vor, als würdest du laufen. Schritt für Schritt. Du würdest weit kommen, aber es dauert seine Zeit. Würdest du dennoch rennen, wäre es viel anstrengender und würde dich überfordern. Du wärst aus der Puste und hättest vielleicht keine Kraft mehr, dass Ziel zu erreichen.

Mein Gesamteindruck ist positiv. Das schreibe ich auch in mein Tagebuch. Ich habe nette Leute kennengelernt. Felipa und Sarah. Kurz überlege ich, ob ich auch Los Namen dazuschreiben soll. Doch ich entscheide mich dagegen.

Als nächstes schreibe ich über meinen Eindruck von der Universität und dem Erstellen des Stundenplans. Einen kurzen Gedanken verschwende ich an diesen Lysander. Doch er bleibt in meinem Kopf nur eine Silhouette und verschwimmt wieder.

Plötzlich merke ich, dass meine Finger sich fester um den Füller schließen und ihn umklammern. Mit zittrigen Händen bringen sie die Worte Fireplace Manor auf das vanilleweiße Papier. Hm? Wieso habe ich ausgerechnet das aufgeschrieben? Ich erinnere mich, wie Lo mir erklärt hat, dass das Gebäude hier so heißt. Silbe für Silbe hat er die Worte mit seiner dunklen Stimme betont. Ich finde das Wort interessant und es hat eine magische Wirkung auf mich.

"Fireplace Manor.", flüstere ich wieder und wieder. Dabei sehe ich durch mein Fenster in die Dunkelheit der Nacht. "Fireplace Manor, gib mir bitte Kraft. Ich möchte, dass hier alles besser wird. Bitte!" Ich schließe die Augen und hoffe, dass meine Wünsche real werden. Irgendwann falle ich in einen tiefen und erholsamen Schlaf. Ein neues Leben beginnt.

 

Kapitel zwei- Lysander

Meine ersten Tage verlaufen ohne besondere Vorkommnisse. Ich beginne mit den anderen zu studieren und fühle mich so, als ob ich nie später dazu gestoßen wäre. Mit ein paar Kommilitonen rede ich sogar und finde Gefallen daran. Auch Sarah und Feli geben mir das Gefühl, als sei ich eine normale junge Frau, die sie akzeptieren.

Am vierten Tag wirft mich allerdings etwas aus der Bahn. Es ist ein kalter und leicht nebliger Mittwoch. Trotzdem laufe ich morgens gut gelaunt zur Uni hin. Ein dicker Mantel umhüllt mich und eine Pelzmütze hält meine Ohren warm. Ich höre laut Musik und achte nicht sonderlich auf meine Umwelt. In meinen Ohren dröhnt ein alter Rocksong und meine Fingerspitzen wippen von innen gegen die Taschen meines Mantels. Ich fühle mich wach und lebendig und am liebsten würde ich einfach losrennen.

Als ich in eine Seitenstraße abbiege, sehe ich plötzlich einen Jungen auf dem Bürgersteig sitzen. Seine hellen Haare wehen im Wind, seine Haut ist schneeweiß und seine Lippen von der Kälte blutrot.

Ich muss zugeben, dass dieser Anblick mich in seinen Bann zieht. Anscheinend so sehr, dass ich stehen bleibe  und ihn jetzt wie ein Stalker anschaue. Dann schaut der Typ mich an und lächelt mir zu.

Seine Lippen bewegen sich, doch ich kann keine Laute erkennen. Verständnislos sehe ich ihn an. Er steht auf, geht auf mich zu und zieht an meinen Ohrstöpseln.

"Oh, sorry.", murmel ich peinlich berührt und schalte meinen Mp3Player schnell aus.

"Ich muss mich eher entschuldigen. Für unseren Zusammenstoß von neulich.", antwortete er und etwas Röte steigt in sein Gesicht. 

"Hatte ich schon vergessen.", sage ich und mache eine wegwerfende Handbewegung.

"Also ich bin Lysander. Hab ich dir glaube ich letztes Mal schon verraten." Er hält mir seine freie Hand hin. In der anderen glimmt eine Zigarette. Ich nehme sie: "Ich bin Elena. Und nicht gerade kontaktfreudig."

"Ich weiß.", antwortet er einen Tick zu schnell. "Also, ich weiß, dass du Elena bist. Feli hat mir von dir erzählt."

"Ach?", frage ich neugierig und etwas ängstlich. "Was hat sie dir denn über mich erzählt?"

"Nur dass, was ich wissen wollte. Also, nicht viel... nur eben deinen Namen. Ja, also und das war es auch schon."

Ich schüttele den Kopf: "Na dann. Und Lysander, was hast du bei dieser Eiseskälte und den Minusgraden und um diese frühe Uhrzeit auf dem Boden einer Seitenstraße zu suchen?"

Lysander lässt seine Zigarette in den Schnee fallen und sieht betreten zu Boden. Als er mich dann ansieht verstehe ich, dass er nicht darüber reden will. In seinem Blick liegt etwas zerbrechliches und flehendes. Er hat traurige und blasse Augen, die ihn noch trister wirken lassen. Plötzlich ist mir die Situation unangenehm und ich räuspere mich: "Ich muss jetzt weiter. Wir sehen uns, Lysander!"

"Sander. Bitte nenn mich Sander.", ruft er mir noch nach, als ich schnellen Schrittes die Straße herunter eile. Tatsächlich hatte die akademische Viertelstunde schon begonnen und ich muss das letzte Stück rennen, damit ich nicht zu spät komme.

Während der Dozent einen Vortrag über empirische Sozialforschung herunterleiert denke ich an das Gespräch mit Lysander. Ich frage mich, ob hier alle irgendwie ein wenig seltsam sind. Die verrückte Feli. Die geheimnisvolle Sarah. Der schweigsame Lo. Und der merkwürdige Lysander. Vier komplett unterschiedliche Charaktere. Mit komplett unterschiedlichen Geschichten. Das hätte ihm gefallen. Ich zucke zusammen. In meiner Brust beginnt etwas zu schmerzen. Zum Glück sitze ich nicht weit hinten und kann durch die hinteren Reihen ins Freie fliehen. Dort sinke ich zusammen.

"Erinner dich nicht!", mahne ich mich lauthals. "Bitte, bitte erinnere dich nicht!" Doch in meinem Kopf hat sich schon ein Bild geformt. Eine feine und scharfe Erinnerung an diesen einen Jungen.

Liebe Elena, manchmal will man vergessen und kann einfach nicht. Verdrängungen und Erinnerungen liegen eng zusammen. Du wirst nie ganz von Ihm loskommen. Aber du kannst versuchen und lernen mit den Tatsachen zu leben.

Ich erinnere mich genau an die Worte von Dr. Winter und bekomme das Bedürfnis mit ihr zu reden.

 Zitternd hole ich mein Handy aus meiner Aktentasche und wähle die Nummer meine Schwester. Sie ist vielleicht nicht ganz die Therapeutin die ich brauche, aber ich muss ihre Stimme hören.

Als sie allerdings nicht an ihr Handy geht, bin ich noch beunruhigter als zuvor. Ich hocke immer noch auf den Stufen vor einem der Geisteswissenschaftlichen Fakultäten und kann mich kaum bewegen. Meine Augenlider flattern und mein Herz pocht laut gegen meinen schlaffen Körper. Ich fühle mich so ähnlich wie bei meinem Nervenzusammenbruch.

Und dann verlassen mich alle meine Kräfte. Müde nehme ich wahr, wie sich eine Person zu mir beugt und mir hochhilft. Die Person trägt mich irgendwo hin. Dann ist da noch eine Gestalt. Ich kann nichts erkennen. Meine Augen flackern zu sehr und schließen sich immer wieder von alleine. Jetzt liege ich.

Auf einmal schnappe ich nach Luft und kann meine Augen wieder öffnen. Neben mir sitzt Lysander. Nein, Sander. Ja genau, so wollte er genannt werden. Und hinter ihm steht eine junge Dame.

"Ich habe dich ins Krankenzimmer gebracht.", flüstert Sander und nimmt meine Hand.

"Hier.", sagt die Krankenschwester und gibt mir ein Glas. "Ich bin Dr. Silver, Therapeutin und Sozialpädagogin an der Universität. Haben Sie schon öfter solche Schwindelanfälle gehabt?"

Hilflos schaue ich in Sanders dunkelblaue Augen. Wieso sehen seine Augen nur so traurig aus? Aber auf irgendeine Weise auch besonders.. und schön.

"Nein, das ist das erste mal.", lüge ich und schüttel dazu meinen Kopf. Das stechen in meinem Brustkorb hat sich gelegt und auch meine Sicht ist nicht mehr so benebelt.

"Sind sie sich sicher?" Die Therapeutin lässt nicht locker. "Ich habe hier jeweils von Mittwoch bis Freitag von neun bis dreizehn Uhr Sprechstunde. Wenn Sie etwas bedrückt oder Sie einfach nur reden wollen, dann wenden Sie sich bitte an mich. Wir haben hier auf dem Campus unzählige Studenten und viele haben ihre eigenen Probleme. Und viel zu wenig sprechen darüber. Leider." Sie schüttelt den Kopf und ihre langen braunen Locken wippen auf und ab. Die Therapeutin könnte auch als Studentin durchgehen. Mit ihrem kindlichen Grübchen und der Brille sieht sie gerade mal wie Mitte zwanzig aus.

"Alles okay?", fragt sie noch einmal und sieht mich jetzt eindringlich an.

"Ja, danke für ihre Fürsorge." Ich wollte nur noch nach Hause und mich in mein Bett legen. Oder mit Mom oder meiner Schwester sprechen.

Dr. Silver nickt freundlich und ich habe das Gefühl, dass ich jetzt gehen darf. Sander begleitet mich nach draußen.

"Ich rede oft mit Dr. Silver.", erzählt er mir, als wir das Hauptgebäude verlassen. "Sie hört immer zu. Bei echt allem."

"Schon gut.", erwider ich. "Eine Psychotante kann mir auch nicht helfen. Und du schon gar nicht." Über meine Worte habe ich vorher gar nicht nachgedacht. Ich merke, dass sie Lysander wie Blitze treffen. Er legt seine Stirn in Falten und zischt: "Ich habe mir nur Sorgen um dich gemacht. Aber wenn du mit einer Psychotante nichts zu tun haben willst, dann bestimmt auch nicht mit einem Psychostudenten!" Damit lässt er mich stehen.

"Hä?", rufe ich noch perplex hinterher. Aber er dreht sich nicht mehr um. Ironischerweise habe ich gedacht, dass wenn ich mich in Oldenburg mit keinem anfreunde, mich hier auch niemand verletzten kann. Und jetzt bin ich diejenige, die andere verletzt. Dabei habe ich doch erst heute Morgen gesehen, dass Sander eigene Probleme hat. Und er redet mit Dr. Silver. Dann muss er doch wohl ernsthafte Probleme haben.

Niedergeschlagen lasse ich die Schultern hängen und mache mich auf den Weg nach Fireplace Manor. Als Ablenkungsmittel stecke ich mir meine Ohrstöpsel in die Ohren und hör einige Songs laut. Dabei versuche ich meine Gedanken zu stoppen, immer wenn ich merke, dass sie mir entgleiten.

Als ich ankomme sehe ich Felipas Auto vor dem Haus stehen. Gut, denn ich muss mit ihr eindeutig über Lysander reden. Auch, wenn ich das irgendwie nicht will.

"Feli?", frage ich und klopfe gegen ihre Zimmertür. "Darf ich reinkommen?"

"Klaro.", kam es von drinnen und ich öffne aufgeregt die Tür. "Wow. Dein Zimmer!"

Ich sehe mich neugierig um. Felis Zimmer ist eindeutig nicht ordentlich. Aber es ist eben diese liebenswerte Unordnung, wo das Chaos einfach nur einladend und nicht abschreckend wirkt. Im Zimmer duftete es nach Zimt und ich nehme die Räucherstäbchen auf der Fensterbank wahr. Das Zimmer wird durch riesige Bücherregale dominiert, die sich bis zur Wanddecke erstrecken. Sie sind vollgestopft mit Büchern und Karten. Auch die Wände sind mit Karten bedeckt. Landkarten, Weltkarten und Postkarten. Überall ist etwas mit rot oder schwarz markiert. Ich komme aus dem Staunen gar nicht mehr heraus.

"Bist du bei all den Orten gewesen?", frage ich und bewundere die Fotos, die neben den Karten hängen. Feli in einem Schneeanzug und mit Skiern vor einer großen Holzhütte. Feli mit Tarnanzug neben Giraffen.

In einem Kimono vor einem Kirschblütenbaum. Vor dem Eiffelturm, neben dem Schiefen Turm von Pisa und dem Big Ben.

"Bin ich.", versichert sie mir stolz. "In meinen fünfundzwanzig Jahren bin ich schon sehr viel gereist. Ich habe eine Weltreise und eine Europareise aus dem Internet mitgemacht. Das waren vielleicht Erfahrungen. Da lernt man echt viel über andere Kulturen und...", plötzlich stockte sie. "Elena, du siehst ja elendig blass aus. Was ist denn los, Kleines?"

"Ich, also... ich hatte einen Schwindelanfall." Als ich die Besorgnis in ihrem Gesicht sehe sage ich: "Mir geht es aber schon viel besser und ansonsten fehlt mir nichts. Alles klar!"

Sie stand auf und umarmt mich: "O Liebes. Das hört sich aber echt nicht gut an. Hoffentlich überanstrengst du dich nicht. Du bist noch so jung. Da kann man schnell am Studium kaputtgehen."

"Ich bin fast zwanzig!", antworte ich patzig. "Ach Feli, es ist alles gut!"

"Naja und wenn nicht, dann bin ich zum Reden auf jeden Fall da!"

"Danke. Das tut gut zu wissen." Ich erwider ihre Umarmung und nehme einen Duft von Minze und Jasmin auf.

"Aber eigentlich wollte ich sowieso jetzt gerade mit dir reden. Also, wenn du Zeit hast!"

"Klaro. Ich hab Zeit!", versichert sie mir und zieht mich zu sich auf ihr großes Himmelbett. Darauf liegen unzählige Klamotten, die auch nur Feli tragen könnte. Sie ist echt ein sehr besonderer Mensch. Heute trägt sie Lippenstift in Mangentarot und ihre inzwischen Bronzefarbenen, getönten Haare zu einem strengen Dutt. Manchmal wünsche ich mir auch, dass ich wieder lange Haare habe und Frisuren ausprobieren könnte.

"Was weißt du über Lysander. Ich meine Sander.", verbessere ich schnell und schaue sie erwartungsvoll an.

Feli lacht nervös. "Sander ist klasse. Wirklich." Jetzt betrachtet sie mich eingehend. "Ich war mit ihm in der Abendschule. Niemand ist so... tolerant wie er. Dabei hat er eine echt traurige Geschichte."

"Was für eine Geschichte?", hake ich nach.

Aber Felipa schüttelt den Kopf: "Inzwischen müsstest du wissen, dass jeder von uns seine Geschichte mit sich trägt. Sowohl Sander, als auch du oder ich. Und diese Geschichten muss man erst entdecken. Menschen sind wie Bücher. Du musst sie öffnen, um sie lesen zu können."

"Hört sich sehr philosophisch an.", meine ich resignierend.

Jetzt lacht Feli: "Ist es nicht. Nein, ist es wirklich nicht. Es ist nur die Wahrheit. Manche Sachen sollte man nicht aus zweiter Hand erfahren!"

"Hm.", antworte ich seufzend. "Darf ich dir dann wenigstens ein paar faktische Fragen stellen."

"Bist du an ihm interessiert?"; erwidert sie scharf und sieht mich eindringlich an. Ich spüre, dass ich rot werde.

"O nein. Ich bin gerade mal ein paar Tage hier und ich interessiere mich nur für mein Studium!"

"Achso.", antwortet Feli. Höre ich da etwa Enttäuschung aus ihrer Stimme?

"Wie alt ist Sander und was studiert er?", frage ich. Immerhin das muss sie mir doch beantworten können.

Feli lässt sich auf ihrem weichen Bett fallen. "Er ist genau wie ich fünfundzwanzig und studiert Psychologie."

"Oh." Ich bin völlig verblüfft. Damit hätte ich nicht gerechnet. "Jetzt ergibt das Sinn."; flüstere ich leise vor mich hin. "Sander hat gesagt, dass ich nichts mit einem Psychostudenten zutun haben möchte. Und ich habe geglaubt, dass er sein merkwürdiges Verhalten meint."

"Was?", fragt Feli entsetzt. "Die besten und größten Psychotherapeuten haben immer ihre eigenen Probleme. Ansonsten würden sie doch gar nicht die Sensibilität besitzen, um sich in andere Leute hineinzuversetzen. Ich respektiere und bewundere diese Leute. Wirklich Elena, Menschen mit Ecken und Kanten sind das wertvollste, was diese Welt zu bieten hat!"

"Du meinst, dass die Empathie zu Menschen wächst, wenn man selbst nicht ganz dicht ist?"; frage ich verunsichert.

"Hm.", antwortet sie und sieht mich jetzt wieder eindringlich an. "Du musst unbedingt auf deine Formulierungen achten. Das rate ich dir als Freundin! Aber ich denke, dass du den Sinn meiner Aussagen durchaus verstanden hast. Du bist doch intelligent, oder Elena!"

Jetzt muss ich lachen: "Du ahnst nicht, wie recht du damit hast. Ich formuliere die Sachen echt ungerecht und ohne vorher zu überlegen. Mir ist klar geworden, dass ich mich unbedingt bei Sander entschuldigen will."

"Was ist denn zwischen euch vorgefallen? Hast du ihn ernsthaft als Psycho abgestempelt?"

Ich nicke träge: "Das beweist wohl eindeutig, dass ich kein guter Mensch bin."

"Iwo!", Felipa winkt ab. "Das beweist einzig und allein, dass du hier neu bist und dich an die Situation

gewöhnen musst. Aber darf ich dir noch einen Tipp geben?", fragte sie und redet dann weiter: "Du solltest mehr mit uns reden. Oder dir Leute zum reden suchen! Soziale Isolation führt so gut wie in jedem Fall zu Frustration." Wirklich. Wie recht Feli einfach hat. Aber ich lächele nur schüchtern und stehe auf.

Als ich in meinem Zimmer bin, will ich mich eigentlich nur noch schlafen legen, aber meine Gedanken halten mich gekonnt davon ab. Die Leute hier in Oldenburg sind so interessant und eigen und ich habe versucht, mich vom ersten Tag an vor ihnen zu verschließen. Vielleicht ist das einfach die falsche Methode.

Ich nehme mein Handy und klingel nochmal bei meiner Schwester durch. Sie geht noch immer nicht ran und inzwischen macht mir auch das noch zu schaffen. Um mich abzulenken schüttel ich meine große Aktentasche auf dem Bett aus, um ein paar Texte aus den Seminaren durchzulesen. Neben Reclamheften und dicken Wälzern landen auch kleine blaue Pillen in meinem Bett. Seit ich hier eingezogen bin, habe ich mich nicht mehr um meine Medikation gekümmert. Und bis jetzt habe ich sie auch eindeutig nicht gebraucht.

Träge erhob ich mich schlendere hinunter in die Küche. Dort sitzen Sarah und der unbekannte, ältere Typ, der anscheinend wieder ihr Freund war?

Ich schaue sie fragend an, worauf sie mir besorgte Blicke zuwirft: "Um Gottes Willen, Elena. Du siehst aus wie ein Geist und das um genau siebzehnuhrdreiundvierzig! Was ist denn passiert?" Sie stand auf und nimmt meine Hand. Irgendwie muss ich zugeben, dass es mich erfreut, dass sich hier alle um mich zu sorgen scheinen.

"Ich hatte einen anstrengend Tag.", antworte ich matt und schiebe mich beiseite um warmes Wasser aufzusetzen.

"Oh, na dann. Das wird schon. Etwas Schlaf und alles ist wieder paletti!" Dann deutete sie auf den Typen: "Das ist übrigens Jovi, mein Verlobter."

Mir fällt die Kinnlade herunter: "Was, ihr seid wirklich verlobt?"

Sie strahlt mich an: "Seit genau einer Wochen und vier Tagen. Da hat mein Sonnenschein mir einen Antrag gemacht!"

"Genau.", antwortet der Kerl und ich schätzte ihn sofort als Raucher ein. "Und den Ring bekommst du auch noch, mein Sonnenherz."

Sie winkt ab: "Ach! Darauf kann ich noch warten. Wir wissen doch auch ohne Ring, dass wir uns lieben!"

"Wissen wir!", er nickt und trinkt einen Schluck Coke aus der Flasche, die vor ihm steht.

"Wow, Sarah.", sage ich. "Herzlichen Glückwunsch. Das ist echt toll."

"Ist es.", antwortet sie reflexartig. "Machst du mir auch einen Tee mit? Sieh mal, hier haben wir Beruhigungstee. Der tut dir vielleicht ganz gut und hilft dir beim Einschlafen!" Sie zieht einen schmale Schachtel voller Teebeutel aus einem der unzähligen Küchenschränke. Dankbar entnehme ich der Schachtel einen Beutel und lasse ihn in das brodelnd heiße Wasser einführen.

Anschließend verabschiede ich mich von Sarah und ihrem Sonnschein-Jovi. Im Flur begegne ich plötzlich Lo und ich merke, dass meine Trägheit schwindet und ich plötzlich selbstsicher und cool wirken will.

"So so, Elena. Hast du einen schlechten Tag oder bist du einfach nur ungeschminkt?", fragt er neckend.

"Was?", antworte ich verdattert und meine Coolness schwindet mit einem Mal.

"War doch nicht so gemeint. Du siehst auch so ganz nett aus."

Ganz nett also? "Danke.", stammel ich betreten. Wann wurde mir schon mal ein Kompliment zu meinem Aussehen gemacht? Oder meinte Leon das gar nicht so?

"Ich sehe dich hier ganz schön selten.", sage ich, damit wir im Gespräch bleiben.

"Ebenso.", antwortet er und ich hätte am liebsten geseufzt. Worüber soll man mit so einem Typen denn reden?

Ich hab da echt keine Ahnung von.

"Wie ist das Studium?", ich merke, dass er mich interessiert mustert.

"Pädagogisch.", antworte ich und versuche zu lächeln. Er soll nur nicht denken, dass ich nicht auch so dumm wie er antworten kann.

"Cool. Mein Studium ist gerade sehr mathematisch." Seine Mundwinkel zucken amüsiert nach oben.

"Wenn du morgen fitter bist, dann würde ich dich gerne zum Joggen gehen einladen."

"Du willst mich zum Joggen gehen einladen?", frage ich erstaunt und merke dann, wie dumm ich klingen musst.

"Wow. Also aus deinem Mund hört sich meine Einladung ja kriminell an. Ich dachte nur, dir würde etwas Sport vielleicht nicht schaden!"

Ich bin nun wirklich sprachlos und weiß nicht, wie ich reagieren soll. Was will dieser gutaussehende Typ von mir? Mich ärgern? Mich auf die Probe stellen? Ist er wirklich so gemein oder tut er nur so arrogant?

"Genau, ich muss unbedingt den Speck meiner Finger reduzieren.", antworte ich trotzdem schlagfertig und schaue ihn herausfordernd an. Ich weiß auch, dass ich eindeutig nicht dick bin. Eher habe ich etwas Untergewicht, weil mich seit Monaten diese unnatürliche Appetitlosigkeit begleitet.

"Langsam habe ich das Gefühl, dass du dich unglaublich angegriffen von mir fühlst. Habe ich dir wehgetan?"

Wieder eine schlagfertige Antwort: "Von einem Mathematiker lass ich mich bestimmt nicht verletzten. Einladung angenommen!"

"So so. Dann bleibt es dabei. Ich werde um exakt zwanzig Uhr beim Kamin auf dich warten. Und zieh dir etwas Warmes an.", er zwinkert mir zu. "Es ist kalt draußen!"

Als ich in meinem neuen Zimmer bin und einen Schluck Tee zu mir nehmen, ist er schon abgekühlt. Trotzdem trinke ich ihn brav aus und versuche es anschließend noch einmal bei meiner Schwester. Aller guten Dinge sind ja schließlich drei.

"Ela, mein Liebchen.", meldet sich Daisy nach dem fünften klingeln.

"Huh.", ich atme erleichtert in mein Handy. "Ich hatte schon Angst, dass ich dich gar nicht mehr erreiche!"

"O, entschuldige. Ich hatte so viel zu tun und mein Handy auf lautlos. Du bist nicht die einzige, die ein anstrengendes Studentenleben führt. Also, falls es schon anstrengend ist!"

"Dann muss ich mich entschuldigen!", antworte ich, aber das Gefühl der Erleichterung hält inne. "Ich habe vergessen, dass du schon wieder direkt im Semester drin steckst! Wie ist es bei dir denn so? Kommst du mit dem Unterrichtsstoff zurecht?"

Daisy lacht herzhaft: "Ach Kleine, Medizin ist unglaublich schwer und die Vorlesungen schaffen mich sehr. Aber noch schlimmer ist, dass zuhause auch viel Arbeit wartet. Erinner dich daran, dass man nur etwa ein Drittel im Unterricht macht und die anderen zwei zuhause. Aber nun zu dir! Wie geht es dir? Wie ist deine neue WG?"

"Meine WG ist toll. Die Lage ist eigentlich sehr zentral und meine Mitbewohner sind super. Es sind zwei Mädchen und ein Junge. Ich habe dir den Link von meinem neuen Zuhause per Email geschickt gehabt! Aber die ist dann bei dir bestimmt beim Lernen untergegangen!"

"Stimmt.", bestätigt Daisy. "Meine Mails habe ich ewig nicht gecheckt. Das hört sich ja wunderbar an. Und wie geht es dir? Nimmst du deine Tabletten noch regelmäßig?"

Ich kann und will meine Schwester nicht anlügen: "Bis heute ging es mir sehr gut... aber meine Tabletten habe ich schon seit einigen Tagen nicht genommen. Heute hatte ich einfach so einen Durchhänger und... ich... musste an ihn denken..."

Stille am anderen Ende.

"Daisy?", frage ich ängstlich.

"Elena.", antwortet sie nach etlichen Sekunden: "Zum einen denke ich, dass du deinen Tabletten jeden Tag nehmen solltest. Ich finde es nicht verantwortungsvoll, dass du denkst, dass es dir besser geht. Nur weil du aus der Klinik entlassen bist, heißt das nicht, dass alles wieder ok ist. Ich mache mir wirklich Sorgen, wenn du mir so etwas erzählst!"

Jetzt habe ich tatsächlich ein schlechtes Gewissen. Dabei bin ich doch alt genug und muss selber entscheiden, was das richtige für mich ist. "Natürlich weiß ich, dass ich noch nicht komplett geheilt bin und immer noch depressive... ähm Erscheinungen habe. Aber ich weiß auch, dass mir dieser Neuanfang hier alles bedeutet. Und ich möchte keinen schlechte Eindruck auf die Leute hier machen!"

"Das weiß ich doch." Ich höre Daisy seufzen. "Allerdings zeigt mir alleine, dass du keinen Gedanken an ihn verschwenden kannst, wie in instabil du noch bist. Bitte belaste dich nicht."

"Tue ich nicht.", antworte ich gedehnt langsam. "Danke, dass ich mit dir reden kann!"

"Ich rede wirklich gerne mit dir. Du bist immerhin meine kleine Schwester, die ich über alles liebe. Aber eine Sache verstehe ich nicht. Deine Therapeutin meinte doch, dass du dich an ihn erinnern sollst und die Erinnerungen annehmen...!"

"Verdrängen ist einfacher.", antworte ich wie aus der Pistole geschossen. "Wirklich, ich komm klar mit allem. Ich lerne hier jetzt erst mal neue tolle Leute kennen. Hab ich schon erwähnt, dass die Leute hier wirklich

furchtbar nett sind?"

"Hast du.", sie lacht leise. "Meine Kleine, ich rufe dich morgen nochmal an oder schreibe dir eine SMS. Es warten leider noch Berge von Dokumenten auf mich. Und du hörst dich auch sehr erschöpft an. Ruhe dich lieber aus!"

 

 

 

 

 

 

"Das werde ich. Und du, mein Bienchen, arbeite fleißig." Ich lege auf und fühle mich nun besser. In meinem Kopf ist ein neuer Plan entstanden. Ich werde hier neue Leute kennenlernen und mich so von den Gedanken an ihn befreien. Ich sollte mit Lysander reden und mit Lo joggen gehen. Das sind schöne Gedanken. Langsam werde ich sogar müde. Sehr müde...

Ich wache am nächsten Morgen sehr früh auf und fühle mich fit und bereit für einen neuen Tag. Die Sonne scheint draußen und werfen ein paar Sonnenstrahlen durch die Vorhänge auf mein großes Bett und mich. Ich grinse. Wenn heute auch noch die Sonne scheint, dann muss das ein eindeutiges Zeichen sein.

Alle anderen schlafen noch, merke ich, als ich unten im Flur alle Schuhe und Jacken überprüfe. Gut, dann werde ich jetzt versuchen ein tolles Frühstück für alle zu machen. In einem alten Kochbuch finde ich ein paar Rezepte und dann lege ich auch schon los. Ich backe Sonnenblumenkornbrot und brate Eier mit Tomaten und Pfeffer in der Pfanne an. Dazu decke ich den Küchentisch für vier Personen. Erst als das Brot und das Rührei fast fertig sind, fällt mir ein, dass ich gar nicht weiß, wann die anderen heute aufstehen müssen. Es riecht in der Küche ausgezeichnet und ich habe wenig Lust, heute Morgen alleine zu essen. Deswegen entscheide ich mich dafür, die anderen zu wecken. Das ist eigentlich so gar nicht meine Art, aber ich habe mir so viel Mühe gegeben und das scheint mir Rechtfertigung genug.

Als erstes klopfe ich bei Feli. Sie hat die letzten Tage für mich Frühstück gemacht und es auf jeden Fall verdient, dass sich mal jemand um sie kümmert. Ich klopfe sanft an die Tür, die auch sogleich aufschwingt. Feli sieht alles andere als verschlafen und böse aus: "Guten Morgen, kleine Sonne." Sie umarmt mich und schwärmt dann: "Das riecht echt richtig gut! Sag bloß, dass du Frühstück gemacht hast!"

"Habe ich.", ich grinse sie stolz an. "Ich wollte auch mal etwas Gutes tun, nachdem ihr euch hier alle so um mich kümmert!"

"Echt, Elena? Das finde ich richtig super. Gib mir zwei Minuten und ich bin unten!", sagte sie und sprintet zu ihrer großen Tasche. Ich schließe die Tür und Klopfe dann bei Sarah.

Mir öffnet ein verschlafener Typ im Bademantel: "Oh, Jovi.", flüstere ich und zähle zwei und zwei zusammen. Anscheinend hat er bei Sarah übernachtet.

"Was willst du?", giftet er mich an. "Wenn du Sarah suchst, dann bist du hier falsch. Mein Sonnenschein ist unter der Dusche."

"Ach was.", zicke ich provozierend zurück. "Und das ohne dich?"

"Ha ha." Jovi verzieht das Gesicht und zieht dann die Tür hinter sich zu.

"Keine Ahnung, was sie an ihm findet.", wispert Feli, die plötzlich neben mir steht, in mein Ohr.

"Ich verstehe es auch nicht. Er benimmt sich wie eine Tussi!", gebe ich ihr recht und begleite sie nach unten. Ich bin ganz froh, dass ich so nicht mehr bei Leon klopfen muss. Wahrscheinlich ist er sowieso beschäftigt.

"Mhm.", sagt Feli mit vollem Mund. "Das ist unendlich toll, dass du dich heute um das Frühstück gekümmert hast!"

Ich winke lächelnd ab: "Das habe ich doch gerne gemacht. Keine große Sache."

"Mach dich nicht kleiner, als du bist.", antwortet sie und streckt mir die Zunge raus. "Möchtest du dich heute bei Sander entschuldigen?"

"Ähm.", ich überlege. "Ich denke schon. Also, wenn ich ihn heute sehe. Mal gucken!"

"Um vierzehn Uhr haben wir beide das Seminar Kants moralische Prinzipien. Du musst ihm nur vor der Fakultät sechs abfangen und ihr könnt reden!"

"Oh.", Dann werde ich heute wohl gar nicht drum rum kommen und mich bei ihm entschuldigen. "Ich habe keine Ahnung, wo Fakultät sechs ist" Ausrede!

"Hm. Wir können uns auch beim Hauptgebäude treffen und dann gemeinsam hingehen. Dann kommt es auch nicht so auffällig rüber!"

"Ok.", willige ich grummelnd ein. Feli sorgt eben für Gerechtigkeit.

 

Als ich Sander sehe, muss ich daran denken, wie er im Schneidersitz im Schnee gesessen hat. Wie ein weißer Engel.

Feli winkt ihm aufgeregt zu: "Hallo Sander! Alles klar bei meinem weißen Prinzen?" Ihrem weißen Prinzen?

Ich schaue sie verwirrt an. Lief oder läuft da was zwischen denen?

"Guten Tag, Feli.", sagt er scheu und kommt auf uns zu. Er ist schon wieder am rauchen und lässt seine Zigarette vor uns in den Schnee fallen. "Danke, mir geht es gut. Und dir?"

"Alles alles bestens!", flötet sie. "Hast du die Hausarbeit geschrieben? Kamst du mit dem Unterschied zwischen Wille und Willkür klar? Ich finde, dass Kant das so schwammig formuliert. Ich habe außerdem noch meine Meinung mit reingebracht. Zehn Seiten ist meine Ausarbeitung lang. Kannst du dir das vorstellen?" Sie ist wieder voll in ihrem Element und ich frage mich, ob das zu einem Plan gehört oder ob sie mich vergessen hat. Nervös schaue ich auf mein Handy. Es ist schon nach zwei. Außerdem bemerke ich, dass Daisy mir eine Message geschrieben hat. Die werden ich auf jeden Fall später lesen!

"Also, ehrlich gesagt hatte ich gestern so viel zu tun und bin gar nicht richtig dazu gekommen. Ich habe nur zwei Seiten. Ich werde den Kurs bestimmt wiederholen müssen", sagt er und schaut traurig gen Boden.

"O", sagt Feli berührt. "Das tut mir leid. Wenn du Hilfe brauchst, dann bin ich natürlich für dich da."

"Danke" Endlich schaut er mich an und ich sehe wieder diese traurige Welt in seinen Augen. Wie können Augen nur so eine Tiefe beherbergen?

"O", ruft Felipa plötzlich. "Ganz vergessen. Ich wollte noch mit unserem Dozenten sprechen. Wir sehen uns!" Sie zwinkert uns zu und lässt uns dann alleine stehen.

"Ich sollte auch gehen", meint Sander. Das versetzt mir einen kleinen Stich. Schließlich bin ich nur seinetwegen mitgekommen.

"Hey, ich wollte dir nur sagen... dass mir das leid tut, was ich gestern gesagt habe. Echt. Ich habe nicht nachgedacht.", stammle ich und kann ihn kaum ansehen.

"Alles cool", antwortet er nur und wendet sich jetzt tatsächlich von mir ab.

Ich gehe ihm nach: "Ich finde es echt gut, dass du Psychologie studiert. Ich interessiere mich sehr für dieses Fach. Ich habe sogar ein Seminar aus dem Psychologie Professionalisierungsbereich."

"Wie interessant" Sander bleibt kalt.

"Ich habe dich gestern echt verletzt" Stelle ich fest und bleibe stehen. Sander sieht mir jetzt tief in die Augen. Ob er in meinen braunen Augen wohl auch so viel entdecken kann wie ich in seinen?

"Ehrlich gesagt hast du das", gibt er zu und fährt sich durch seine Haare. "Ich hatte gestern echt einen miesen Tag. Da hat mir deine Bemerkung noch den Rest gegeben."

"Es tut mir leid. Ich denke manchmal nicht über Worte nach." Ich hoffe, dass er merkt, wie ernst ich das meine.

"Ich glaube dir. Du hast es vielleicht auch nicht so gemeint." Sander lächelt mir aufmunternd zu. "Leider muss ich jetzt echt in den Unterricht. Aber... aber wenn du Lust hast, dann können wir uns ja mal treffen und reden oder so."

"Und reden", wiederhole ich und lache. "Ja, gerne. Hast du vielleicht ein Handy?" Super Frage von mir. So als ob ein moderner Typ wie Sander kein Handy hat.

Er holt ein  Smartphone aus seiner Hosentasche und grinst mich an. Anschließend bekomme ich seine Nummer.

Kapitel drei- Tanz der verwirrenden Ereignisse

Elena, Sport kann ein wahres Wundermittel gegen Depressionen sein. Ich würde ihn dir noch vor Tabletten empfehlen. Ich selbst betreibe regelmäßig Ausdauersport. Nichts ist so belebend und so ein Muntermacher wie Sport!

Ich hechte hinter Lo her. Es ist bereits dunkel und wir laufen einen engen Kiesweg entlang, der in ein Waldstück führt. Trotz der Kälte ist mir unglaublich warm. Ich trage einen großen graumelierten Kaputzenpulli und eine enge schwarze Sporthose. Lo dagegen trägt richtige Sportkleidung. Ein Neongelbes Shirt und unglaublich teure Laufschuhe. Dagegen komme ich mir mit meinen ausgefransten Chucks echt schäbig und möchtegernmäßig vor. Leon hat eine komische Strecke zum Laufen gewählt. Der Weg ist jedes Mal so eng, dass wir nicht nebeneinander laufen können und ich hinter ihn her rennen muss. Außerdem ist der Begriff des Joggens untertrieben. Eher sprintet Lo. Ich merke, dass sich mein Atem immer mehr beschleunigt und mein Puls steigt. Wir laufen bestimmt schon seit einer halben Stunde. Vor meinem Krankenhausaufenthalt habe ich fast täglich Sport gemacht. Ich war im Tennisverein und habe außerdem noch Fußball gespielt. Aber inzwischen hat sich meine Ausdauer stark verringert. Hinzu kommt noch die eiskalte Luft, die in meinen Lungen bei jedem Atemzug brennt.

Allerdings möchte ich nicht unsportlich rüberkommen und deswegen renne ich weiter. Meine Seiten beginnen zu stechen und mein Körper beginnt sich zu verkrampfen. Wenn ich doch wenigstens Musik mitgenommen hätte! Ob Lo überhaupt bemerken würde, wenn ich plötzlich einfach stehenbleibe und nicht mehr hinter ihm bin?

Nach gefühlten weiteren zehn Minuten verlassen mich meine Kräfte immer mehr und ich muss mein Tempo drosseln. Zu meiner Überraschung registriert Leon das fast in der selben Sekunde.

"Wir sind gleich da", ruft er über seine Schulter und ich japse nach Luft. "Nur noch zwei Straßen!"

Er passt sich meiner Geschwindigkeit an und läuft jetzt dicht vor mir: "Ich kann gleich noch nicht anhalten. Ich muss mich noch weiter auspowern. Aber du solltest dich ausruhen."

"Alles klar", antworte ich und spüre einen weiteren Schmerz in meiner linken Seite. Meine Beine werden immer schwerer und am liebsten würde ich mich einfach fallen lassen. Der Schnee ist heute Morgen größtenteils geschmolzen, weil wir hier in Oldenburg stolze vier Grad haben.

Als wir Firceplace Manor erreichen, habe ich Tränen in den Augen und mir ist schlecht. Lo klopft mir kurz anerkennend auf die Schulter, dann sprintet er weiter. Ich bleibe keuchend stehen und lasse mich tatsächlich auf den Boden sinken. Mein Atem ist unglaublich schwer und vereinzelt laufen mir Schweißtropfen über mein Gesicht. Nach ein paar Minuten rappel ich mich auf und betrete meine WG. Drinnen riecht es nach warmen Kaffee und frischem Gebäck. Schmunzelnd betrete ich die Küche und laufe fast gegen Jovi.

"Pass doch auf", ruft er erzürnt und schubst mich unsanft aus dem Weg. "Willst du nicht duschen gehen?"

Ich bin empört und weiß nicht, was ich erwidern soll. Noch immer bin ich außer Atem und so wende ich mich ab und renne mit letzter Kraft nach oben. Anschließend nehme ich eine kalte Dusche und ziehe mir warme Klamotten an. Als ich mein Zimmer betrete, höre ich gerade noch, wie mein Handy klingelt. Doch ehe ich es in meinen Händen halte, ist der Ton auch schon verebbt. Ich lese den Namen meiner großen Schwester auf dem Display und lasse mich auf mein Bett fallen. Am liebsten würde ich jetzt eine kalte Coke trinken, aber irgendwie traue ich mich nicht in die Küche. Ich mag diesen Jovi nicht und finde, dass er sich unmöglich gegenüber mir oder auch Sarah benimmt. Zufälligerweise höre ich ihn in diesem Moment fluchen und in nächsten Moment wird eine Tür zugeknallt. Wahrscheinlich die Haustür. Ich schließe für ein paar Sekunden meine Augen und stehe dann auf, um unten nach dem Rechten zu sehen.

Sarah sitz auf einem Küchenstuhl und hat ihren Kopf auf den Tisch gelegt. Ihre blonden Haare stehen wirr ab und ihr Körper hebt und senkt sich in unruhigen Zügen. Sie weint leise und hat mich noch nicht bemerkt. Ich weiß nicht genau, was ich tun soll und fühle mich schnell unbeholfen. Plötzlich steht Feli hinter mir, geht zu Sarah und umarmt sie von hinten.

"Er ist so ein Idiot", flüstert Sarah und schaut jetzt hoch. Ihr Gesicht ist leicht angeschwollen und ihr Mascara hat sich unter ihren großen blauen Augen verteilt. Für einen Moment verliere ich mich in diesen leuchtenden Augen und stehe mit geöffnetem Mund da.

"Sein Verhalten ist jedenfalls sowas von idiotisch", bestätigt Feli und setzt sich neben Sarah. Ich stehe immer noch unschlüssig da. Kann mich nicht bewegen und schalle mich dafür, dass ich vergessen habe, dass sie diese Augen hat.

 

 

 

 

 

"Ich weiß. Es ist nur so, dass ich einfach nicht ohne ihn kann. Er kann einfach so unglaublich sein. Es gibt so viel Gutes in ihm", sagt sie und klingt jetzt schon wieder viel stärker. "Aber ich verstehe es einfach nicht. Er zeigt lieber seine dunkle Seite und macht sich und anderen das Leben schwer."

Feli streichelt Sarah über die Arme: "Ach Liebes, ich verstehe das schon. Es ist eigentlich Schade, dass du die einzige bist, die diese guten Seiten manchmal zu sehen bekommt. Ich habe ihn bis jetzt noch nie besonders höflich erlebt. Aber das heißt natürlich nicht, dass er es nicht sein kann oder im Grunde nicht ist."

"Hat nicht jeder Mensch seine dunkle Seite und kann ein grausames Monster sein", höre ich mich sagen und bin selbst ganz überrascht, dass ich meine Gedanken laut ausgesprochen habe. "Also ich meine, dass kein Mensch komplett aufrichtig und ohne Ecken oder Kanten ist. Die einen können es vielleicht nur besser vor den Menschen verbergen als andere", schiebe ich noch hinterher.

Sowohl Sarah als auch Feli starren mich jetzt beide an.

"Interessant", sagt Feli dann.

"Und du meinst, dass Jovi es im Moment einfach nicht schafft, seine dunkle Seite unter Kontrolle zu bekommen?", fragt Sarah und sieht mich fragend an. Ich versuche es zu vermeiden ihr in die Augen zu sehen.

"Genau", antworte ich eher dem Boden als meinen Mitbewohnerinnen. "Im Grunde meint er es nicht so. Aber das Monster in ihm hat derzeitig vielleicht einfach Überhand gewonnen."

Sarah seufzt: "Und was soll ich tun? Ich bin schließlich keine Exorzistin, die ihn einfach von seinen dunklen Dämonen befreien kann." Plötzlich wirft Felipa ihren Kopf in den Nacken und beginnt zu lachen. Sarah und ich stimmen schmunzelnd in das Gelächter ein.

"Sorry", ruft sie. "Ich muss mir das nur gerade bildlich vorstellen! Aber vielleicht musst du keine Monsterjägerin sein, um deinen Verlobten bändigen zu können! Es gibt viele Varianten, um ihn daran zu erinnern, was er an dir hat!"

"Ach ja?", Sarah zieht ihre Stirn in Falten und ich entschließe mich, mich einfach zu den beiden Mädchen dazuzusetzen.

"Also, es gibt zwei Optionen. Das Entweder-Oder-Prinzip! Du kannst wählen", sie zwinkert uns zu und erzählt weiter, während sie sich geschickt ihre langen Haare flechtet. "Sarah, entweder du versuchst es mit drastischen Mitteln. Du könntest ihn eifersüchtig machen, ihn ignorieren oder einen auf herzlos machen." Sie holt Luft. "Oder du versuchst ihm noch mehr Liebe zu geben und ihm zu zeigen, dass er für dich der wertvollste Mensch ist."

Sarah nickt, Tränen schleichen über ihr hübsches Gesicht: "Er ist definitiv der wertvollste Mensch in meinem Leben. Ich himmle diesen Kerl nicht umsonst schon seit vier Jahren an. Wenn er mir nicht so viel bedeuten würde, dann hätte ich ihn schon längst aufgegeben."

"Und aufgeben passt nicht zu dir, meine starke und mutige Sarah", meint Feli. "Was meint ihr zu meinen Ideen?" Fragend schaut sie mich an und ich antworte: "Ich kann das nicht richtig einschätzen, aber ich denke, dass die nette Variante nicht zu einem wie Jovi passt. Er merkt bestimmt erst wie toll du bist, wenn du ihn in den Wahnsinn treibst."

"Aber...", Sarah schnieft. "Wenn das schief geht, dann kann es sein, dass ich ihn komplett verliere. Und ist das nicht eine etwas kindliche Methode? Ich meine, ich bin nicht vierzehn und habe es nötig jemanden eifersüchtig zu machen."

"Dann sei für ihn da und gib ihm so viel Liebe wie noch nie zuvor. Vielleicht bessert das seine Laune ja etwas", schlägt Feli vor und hat ihren Zopf nun fertig. Nicht zum ersten Mal beneide ich sie um ihre dicken, endlos langen Haare.

"Oder du versuchst es erst mit ganz viel Zuneigung und wenn das nicht klappt, kannst du auf das "Entweder" zurückgreifen. Dann hast du noch einen Notfallplan", sage ich und versuche zuversichtlich zu klingen.

Und tatsächlich kann Sarah jetzt schon wieder lächeln: "Danke, Mädels. Tatsächlich fühle ich mich jetzt schon etwas besser. Ich glaube, dass ich nach oben gehe und mich etwas hinlege. Danach rufe ich Jovi mal an."

"Ok, Blondie", ruft Feli ihr hinterher und grinst. Dann schaut sie mich amüsiert an: "Elena, ich glaube, dass du ein ganz besonderer Mensch bist."

"Ich?", frage ich verdattert und schüttel dann den Kopf.

"Ja", antwortet sie. "Ich hoffe, dass du mir irgendwann einmal deine Gesichte anvertraust. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du einfach nur nett, introvertiert und zurückhaltend bist. Da steckt mehr in dir. Viel mehr."

 Sie lacht freundschaftlich und beugt sich dann weiter zu mir vor. "Ich finde es toll, dass ich so liebenswerte

Mitbewohner habe!" Ich lächle zurück und denke, dass man Feli einfach nur mögen muss. Aber ganz verstehe ich nicht, warum ich in ihren Augen besonders bin.

"Hast du eigentlich schon das Oldenburger Nachtleben kennengelernt?"

"Nein., antworte ich wahrheitsgemäß. "Ich gehe nicht so gerne feiern." Ich wünsche, dass ich etwas anderes behaupten könnte. Aber es stimmt nun mal. Ich bin viel zu feige, um mich aufzudonnern und in eine Diskothek zu gehen. Vor allem kann ich nicht einmal auf hohen Schuhen laufen, geschweige denn tanzen. Daisy ist gerne feiern gegangen. Manchmal auch mit...

Ich beiße mir auf die Zunge. Der plötzliche Schmerz lässt mich meinen Gedanken nicht zu Ende verfassen. Ein Glück!

"Du verpasst vielleicht etwas", sagt Feli zuckersüß. "Ich habe zufällig noch ein Ticket für die Night of the Profs. Eigentlich wollte ich mit Sarah und einer anderen Freundin gehen. Aber die hat mir ihre Karte gegeben, weil es ihr schon die ganze Woche nicht so gut ging."

"Oh." Von der Night of the Profs hatte ich schon gehört. Überall in der Uni hingen Plakate von dem großen Eventabend. Immerhin musste man die Tickets einen Monat vorher kaufen und kann damit in allen möglichen Clubs der Innenstadt umsonst feiern. "Das ist ziemlich spontan und eigentlich wollte ich heute Abend ein bisschen lernen!"

Feli schaut mich gekränkt an: "Wenn du nicht deinetwegen gehen möchtest, dann komm bitte für Sarah und mich mit. Wir können sie heute Abend ja etwas aufmuntern!"

"Ich habe nichts zum anziehen", gestehe ich missmutig und schaue zu Boden. "Ich war ewig nicht mehr feiern und Partyklamotten habe ich sowieso nicht."

"Partyklamotten?",fragt Feli nachdenklich. "Sarah und ich gehen gerne ins Amadeus. Die Lokation ist eine riesige Bar, in der auch getanzt wird. Dort spielen sie fast ausschließlich Rock. Die Leute da sehen eigentlich immer recht normal aus. Es reicht, wenn du mit Jeans und Shirt erscheinst. Da ist es nicht so oberflächlich und aufgetakelten Mädels wirst du kaum begegnen!" Sie zwinkert mir zu und ich grinse erleichtert.

"Ich war in Konstanz erst zwei Mal mit meiner Schwester feiern", gebe ich zu. "Das war gar nicht mein Ding. Überall Frauen auf hohen Schuhen, in Minikleidern und mit Tonnen Makeup. Und die Kerle hätte ich selbst im betrunkenen Zustand nicht angesprochen. Die waren so eine Zumutung!"

"Oh je", lacht Felipa. "Komm einfach mit. Um zehn wollen wir mit Vorglühen anfangen. Ich habe ein paar Spirituosen besorgt. Trinkst du denn überhaupt?"

Ich habe schon ewig keinen Alkohol mehr getrunken... zuletzt nachdem... Ich schlucke. Wenn ich mich heute schon überwinde und mit meinen Mitbewohnern feiern gehe, dann möchte ich auch Spaß haben. "Ein bisschen trinke ich bestimmt.", antworte ich also. Mir fällt ein, dass ich meine Tabletten schon seit Anfang der Woche nicht genommen habe und es damit keine Schwierigkeiten geben sollte.

"Also gehen Sarah und wir beide zusammen feiern?", hake ich nach.

Feli nickt: "Genau. Und um zehn kannst du einfach runter in die Stube kommen."

Ich nicke zur Bestätigung. "Geht ihr auch manchmal mit Lo feiern?"

"Mit Lo?", sie schaut mich verwundert an. "Hin und wieder kommt er mit, hat aber nie sonderlich Spaß. Er trinkt und tanzt nicht und meistens sitzt er einfach nur rum und beobachtet die anderen."

"Also sind Discos auch nicht so sein Ding", folgere ich und bin ganz froh, dass ich vielleicht nicht die einzige bin, die ungern feiern geht.

"Halt!", ruft Feli lachend. "Was heißt denn auch? Sagen wir, du darfst dir morgen ein Urteil erlauben. Und heute kannst du einfach nur genießen! Das wird gut." Sie wendet sich ab und tapst dann zur Treppe.

Meine Laune hat sich schon etwas verbessert. Als ich mich allerdings umdrehen will, laufe ich fast gegen Leon, der gerade den Raum betritt.

"Hab meinen Namen gehört", sagt er keuchend und wischt sich mit der Hand über seine Stirn. Wie unendlich lange muss er unterwegs gewesen sein. Bewundernd mustere ich ihn.

"Ich hab mich nur dafür interessiert, ob du heute Abend auch feiern gehst", antworte ich fröhlich.

"So so", er mustert mich. "Night of the Profs, oder? Hab mir kein Ticket gekauft. Also gehe ich nicht."

"Schade", antworte ich.

 Er grinst: "Weißt du, was wirklich schade ist? Dass du nicht öfter joggen gehst. Du bist echt gut!"

Ich merke, dass sich meine Wangen verfärben. Mit so einem Kompliment habe ich nicht gerechnet.

"Oh, danke", antworte ich verdutzt. "Aber wie willst du das beurteilen. Du bist doch die ganze Zeit vor mir her gesprintet!"

Er grinst weiterhin schelmisch und seine dunklen Augen funkeln: "Ich habe mich auf deine Atmung konzentriert. Und habe gemerkt, dass du dich wirklich angestrengt hast. Respekt." Lo geht an mir vorbei und steigt die Treppe hoch. Ich schaue ihm hinterher. Er ist mir ein Rätsel. Ein sonderbares, aber schönes Rätsel.

Nachdem ich einen halben Liter kalte Coke getrunken habe, beschließe ich, mich nochmal schlafen zu legen.

Ein Blick auf mein Handydisplay verrät mir, dass es erst kurz vor fünf ist. Außerdem sehe ich, dass ich einen entgangen Anruf von meiner Mutter habe. Spontan entschließe ich mich dazu, sie zurückzurufen.

Sie ist von meiner Euphorie völlig begeistert und meint, dass mir Oldenburg echt gut zutun scheint. Erleichtert lege ich auf. Im Moment muss sich Mom keine Sorgen mehr um ihr kleines Kitz machen!

Gut gelaunt schlafe ich ein.

Um einundzwanzig Uhr am Abend klingelt mein Handywecker. Total eclipse of the heart ertönt und ich singe mit, bevor ich den Wecker ausschalte. Feli hat zwar behauptet, dass man sich nicht für die Diskothek aufkratzen muss, aber ich möchte mich dennoch wohlfühlen, wenn ich mal ausgehe. Also durchforste ich meinen Kleiderschrank, bin aber schnell frustriert. Mein Lieblingstop ist anscheinend in der Wäsche. Also entscheide ich mich für eine weiße Bluse mit Spitze an den Ärmeln und einer engen schwarzen Jeans. Hohe Schuhe habe ich nicht, also müssen meine schlichten, schwarzen Schnürschuhe reichen. Skeptisch betrachte ich mich im Spiegel und drehe mich ein paar Mal. Ob ich mich noch schminken sollte? Seitdem ich im Krankenhaus war, habe ich mich nur noch selten geschminkt. Ich entscheide mich dagegen.

Felipa ist schon unten in der Küche und ich höre, wie sie alles vorbereitet. Weil ich schon fertig bin, gehe ich nach unten, um ihr zu helfen. Tatsächlich handwerkt Feli mit Geschirr herum und füllt alles Mögliche in kleine Glasschälchen hinein.

"Ich habe orientalische Nüsse, Salzstangen, Äpfel und Mandarinen an Essen. Und Asti, Malibu, Organgengensaft und einen Rest Sambuca. Das müsste doch reichen, oder?"

"Wow", antworte ich perplex. "Wie viel Geld schulde ich dir? Danke für deine Bemühungen!"

"Ach", Feli winkt ab. "Ich habe dich und Sarah schließlich zum Feiern angestiftet. Also geht das auf meine Kappe! Hast du dich eben noch ausgeruht? Ach und übrigens siehst du sehr hübsch aus! Mach dir da mal keine Gedanken, dass du etwas falsch gemacht haben könntest!"

"Danke, das ist echt nett von dir", sage ich geschmeichelt und betrachte meine Mitbewohnerin, die um einiges hübscher als ich aussieht.  Sie trägt ihr Haar zu einem strengen Dutt, ihre vollen Lippen schimmern in einem dunklen Rotton (der wunderbar zu ihrer Haarfarbe passt) und ein langes hellgrünes Kleid, das mit goldenen Nieten bestrickt ist. "Kommt Sarah auch gleich runter?"

Sie sieht mich ratlos an und zuckt mit den Achseln: "Ich hab sie noch nicht wieder gesehen, geschweige denn etwas von ihr gehört. Wenn du magst, dann kannst du ja mal klopfen!"

Ich nicke und stolpere nach oben. Ich muss mich an das letzte Mal erinnern, als ich bei Sarah geklopft habe. Dieser Jovi hat mir ziemlich missmutig geöffnet. Sanft schlage ich meine Faust gegen die Holztür. Kein Zeichen. Sarah sagt nichts und es regt sich auch nichts.

Sichtlich beunruhigt kehre ich zu Feli zurück und sage alarmiert: "Sarah meldet sich nicht."

"Hm", überlegt Feli. "Dann werde ich sie gleich mal anrufen und wir schauen mal." Sie zieht ein Iphone aus einer Jackentasche und tippt etwas darin ein.

"Mailbox", flüstert sie nach einigen Sekunden. "Sarah, Engel! Elena und ich vermissen dich hier. Wir wollen gleich mit dem Vortrinken beginnen und wissen nicht, wo du steckst! Melde dich." Damit legt sie auf und schüttelt den Kopf: "Bestimmt ist sie bei Jovi und hat vergessen Bescheid zu sagen."

"Wohnt er in Oldenburg?", frage ich neugierig nach.

"Ne, Bremen. Aber er treibt sich fast jeden Tag hier herum. Hat angeblich einen guten Job... allerdings konnte mir selbst Sarah nicht genau sagen, was er macht."

"Krass", jetzt schüttel ich den Kopf. "Naja, wo die Liebe hinfällt."

"Ja, also ähm", plötzlich wird Feli rot. "Sander hat mich vorhin angerufen und gefragt, ob ich heute Abend bei der Night of the Profs bin!"

"Und?", frage ich gespannt.

"Naja", sie spitzt ihre Lippen. "Ich hätte dich vielleicht vorher fragen sollen, aber er kommt auch gleich zum

 Vortrinken! Ich dachte, dass das vielleicht eine gute Idee wäre, damit ihr euch kennenlernen könnt!"

"Oh", stammel ich. An Lysander hatte ich seit gestern keinen Gedanken mehr verschwendet. Feli und Sander mit mir in einer Diskothek! Das konnte ja was werden! "Können wir jetzt mit dem Vorglühen anfangen?", frage ich deshalb.

"Oho", Feli zwinkert mir zu.

"Ich möchte einfach nicht so langweilig und schüchtern wirken, wenn Sander herkommt. Ich war die Woche echt nicht freundlich. Er denkt eh, dass ich aus Eis bin. Dann möchte ich ihm wenigstens nicht zeigen, dass ich einen Preis als Meisterspießerin noch dazu gewinnen könnte."

Felipa lacht und führt mich zum Kamin im Wohnzimmer. Dort steht schon ein Tablett mit einigen Spirituosen und ein paar Kurzen.

"Setz dich schon mal und schenk dir was ein. Ich hol nur eben kurz noch was zu Knabbern." Damit sprintet sie in die Küche, kommt aber sofort darauf mit einem weiteren Tablett voller Leckereien wieder.

"Fangen wir hiermit an?", mit einem dünnen Finger zeige ich auf die halb leere Sambucaflasche. Ich kenne dieses Getränk nur zu gut und weiß, wie schnell es wirkt.

"Wow", pfeift Feli und zieht Luft durch ihre bemalten Lippen. "Unsere brave Prinzessin geht aufs Ganze!" Sie nimmt die Flasche und schenkt zwei Kurze ein. Sie bringt einen alten Trinkspruch und wir stoßen an. Das Getränk fließt langsam und qualvoll meinen Hals herunter und ich muss husten.

"Geil", sage ich und halte den Daumen hoch. Dabei verziehe ich mein Gesicht zu einer Grimasse. Genau wie meine Mitbewohnerin. Wir müssen beide darüber lachen und schenken uns gleich den nächsten Kurzen ein. Doch ehe wir diesen trinken können, klingelt es an der Tür. Mein erster Gedanke ist, dass es Sarah sein könnte, die von Jovi wiedergekommen ist. Doch vor der Tür steht tatsächlich Sander und grinst uns an.

"Ich hab euch Mädels Sekt mitgebracht und eine Flasche Korn. Falls ihr auf so etwas steht!" Kommt es mir nur so vor oder lächelt er in meine Richtung.

"Sander", Feli gibt ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange und zerrt ihn zu uns in die Stube.

"Wow!" Er guckt sich begeistert um. "Sogar einen Karmin habt ihr hier. Wie gemütlich."

"Der Ort hier hat sogar einen Namen", versuche ich geheimnisvoll zu flüstern: "Fireplace Manor. Hier werden alle deine Wünsche wahr!"

Sanders Grinsen wird größer: "Elena! Ich habe mich total gefreut, als Feli meinte, dass du heute auch feiern gehst. Ich dachte, dass du mir heute einen ausgeben kannst. So als Wiedergutmachung."

Wir lachen beide und ich deute auf den Sambuca: "Ich geb dir gerne einen Kurzen von diesem Getränk aus."

"Oh, ne", er winkt ab. "Dann bleibe ich lieber bei Korn. Lakritze ist so eklig!" Er schüttelt sich und ich muss erneut lachen: "Ist das dein Tanzstil?"

"Neidisch?", fragt er schelmisch zurück.

"Hey Leute", unterbricht uns Feli. "Wir spielen jetzt ein Trinkspiel. Und keine Wiederrede. Also wir Mädels-also nicht du, Sander-trinken den Sekt und du-ja, jetzt du, lieber Sander, trinkst deinen abartigen Korn!" Sie zwinkert uns zu.

Empört ruft Sander: "Nur weil ich keine Lady bin heißt das nicht, dass ich nicht auch Sekt mag. Auch starke Kerle können auf Mädchenalkohol stehen."

"Aha", knufft Feli ihn. "Ich kenne allerdings keinen starken Kerl, der auf Sekt steht!"

"Das ist jetzt fies", mische ich mich ein. Sander ist zwar etwas schlaksig, aber dennoch hat er ein paar Muskeln. Alleine schon, wie sein graues T-Shirt an seiner Brust spannt und sein leicht breiter Rücken von der Seite aussieht... hm... Ich muss unbedingt noch etwas trinken. An diesem Abend kommen wir auch ohne Felipas Trinkspiele zurecht und sind fast die ganze Zeit nur am lachen. Sarah fällt uns erst ein, als kurz vor Mitternacht Felis Handy klingelt. Sander springt auf Feli und reißt es ihr aus der Hand, ehe sie abheben kann.

"Felis Zuhälter! Mit wem habe ich die Ehre zu sprechen?", brüllt er in ihr Iphone und wir bekommen einen weiteren Lachanfall.

"Du Trottel, gib mir mein Handy", keift Feli spaßend und plötzlich knallt ihr Handy auf den Boden. "Oh, fuck!"

Sander und Feli bücken sich gleichzeitig und starren auf das Smartphone. Vorsichtig hebt Lysander es auf und atmet dann erleichtert aus: "Das hätte sein Tod sein können", sagt er mit ernster Stimme und Feli schlägt ihm auf dem Rücken. "Du hast Recht, die Dinger gehen immer viel zu schnell kaputt. Ich geh mal kurz nach oben und rufe Sarah zurück. Bis gleich, ihr Lieben!"

 Sander und ich stehen nun alleine vor dem Karmin. Er setzt sich hin und tut so, als würde er seine Hände aufwärmen: "Sag mal Elena, trinkst du Korn mit mir?"

Ich schüttel angewidert den Kopf: "Never in my life! Da musst du mich schon zwingen!"

"Mit einer Wette?", fragt er und dreht sich zu mir um. Mir fällt erst jetzt auf, dass er auf seine eigene Art richtig hübsch aussieht. Dieses lockere Grinsen und die schiefen Mundwinkel. Die spitze Nase... und die relativ großen Augen wirken in seinem Gesicht so symmetrisch und einfach schön anzugucken. Im gleichen Moment schalle ich mich, dass das Letzte was ich brauche ein Typ ist. Außerdem habe ich schon einige Kurze hinter mir und sehe jetzt bestimmt alles in einem anderen Licht.

"Dein Handy klingelt", reißt mich Sander aus meinen Gedanken. Und tatsächlich. Mein Handy macht laute Geräusche und ich lese Daisys Namen auf dem Display. Doch ehe ich es mir schnappen kann, hat Lysander es schon in der Hand und ist bereits rangegangen. "Hallo und einen wunderschönen guten Abend!", lallt er in mein altes Mobilphon. "Hier ist Elenas persönlicher Bodyguard. Also für heute jedenfalls!" Er schaut mich herausfordernd an und ich greife wieder nach dem Handy. Diesmal kann ich es ihm aus der Hand reißen und es landet mit einem lauten Knall auf dem nackten Fußboden. Sander zieht beunruhigt die Luft ein und ich bücke mich reflexartig und lache dann erleichtert auf: "Alles ok! Meinem Steinzeithandy ist nichts passiert!"

In diesem Moment kommt Feli wieder rein und wirkt durcheinander.

"Was ist mit Sarah?", frage ich.

"Komische Gesichte", antwortet diese und schenkt sich ein Glas Sekt ein, das sie in einem Zug leert. "Yola ist wieder in der Stadt.", sagt sie dann mehr an Sander gewandt als an mich. Verwirrt beobachte ich, wie sich Sanders Stirn in Falten zieht: "Yolanda? Was macht sie denn in Oldenburg? Habe schon ewig nichts mehr von ihr gehört."

"Yolanda?", werfe ich fragend ein. "Das ist doch das Mädchen, dass vorher in meinem Zimmer gelebt hat!"

"Exakt", antworten Felipa und Lysander gleichzeitig.

"Sie besucht angeblich ihre Eltern und Sarah hat davon heute zufällig erfahren. Die beiden haben die Zeit beim Quatschen vergessen und nun wollen sie uns vor dem Ama treffen! Ich bin selbst ziemlich erstaunt", sagt Feli dann anschließend und trinkt noch ein weiteres Glas Sekt.

Mich verwirren die Reaktionen der beiden etwas. Es scheint, als sei da etwas mit dieser Yola vorgefallen. Eigentlich könnte dieser Abend die Gelegenheit dazu bieten, etwas mehr über meine Mitbewohner herauszufinden. Aber trotz meines Alkoholkonsums halte ich mich dennoch zurück. Lysander ist auch ganz still geworden und Feli trinkt ein Glas Sekt nach dem anderen und sieht dabei sehr nachdenklich aus. Ich setzte mich seufzend vor dem Kamin und wärme meine Hände an den glimmenden Holzstücken. Dann fällt mir ein, dass Daisy mich angerufen hat. Allerdings bin ich nicht in Stimmung mich vor Feli und Sander mit ihr zu unterhalten. Was sollte ich ihr auch jetzt erzählen? Wir haben unendlich viel getrunken und alles war so lustig mit Sander... bis Feli gekommen ist und dieses Mädchen erwähnt hat.

"Ist der Abend jetzt verdorben?", frage ich nach einer gefühlten Ewigkeit und starre die beiden anderen an.

"Ach Liebes", antwortet meine Mitbewohnerin. "Auf keinen Fall. Tut mir leid, dass ich gerade so reagiere. Aber die Situation ist sehr komisch." Und dann beginnt sie nach dem nächsten Glas Sekt zu erzählen: "Wir alle mochten Yola sehr gerne. Sie ist ein toller und mitfühlender Mensch. Aber es sind einige Sachen passiert. Und sie hat sich immer weiter von uns abgewendet und hat nicht mehr in dieser Wohnung, sonder bei ihren Eltern in Emden übernachtet. Irgendwann habe ich sie nur noch in der Uni gesehen. Bis sie dann urplötzlich meinte, dass sie unsere WG verlassen möchte. Das war für mich sehr schlimm... mehr als für Sarah. Und heute meldet sie sich plötzlich bei Sarah und die beiden treffen sich. Und ich... ich hatte gar keine Ahnung, dass sie in Emden ist. Dass sie nicht in die Wohnung hier möchte, das verstehe ich ja noch. Aber das sie mir nicht Bescheid sagt. Das macht mich einfach missmutig!"

Zu gerne würde ich wissen, was sie mit den Sachen meint, die hier passiert sein sollen. Doch wieder halte ich mich zurück. Zum Glück meldet sich Sander: "Ich hätte nicht gedacht, dass sie nochmal nach Oldenburg kommt. Habe selbst seit einem Jahr nichts mehr von ihr gehört. Das kommt auch sehr plötzlich für mich. Immerhin hatte ich auch immer guten Kontakt zu ihr."

"Wir alle", betont Feli. "Wir alle hatten guten Kontakt zu ihr. Das Schlimme ist, dass ich sofort verzeihen werde, wenn ich sie sehe. Ich kann dann irgendwie nicht anders. Dabei bin ich gerade wütend und einfach nur enttäuscht. Ich weiß auch gar nicht, wie Sarah sich einfach wortlos mit ihr treffen kann. Klar, ich bin nicht ihre

Mom und sie muss mir nicht alles anvertrauen. Aber sie weiß, wie ich zu Yolanda stehe."

Sander nickt mitfühlend, setzt sich zu Feli und klopft ihr auf den Rücken: "Ich bin mir sicher, dass sie dir heute einiges erklären kann, wenn ihr Zeit zum Reden findet!"

"In einer Rockdisco?", fragt Feli resignierend und lehnt sich an ihn an.

"Ähm Leute", unterbreche ich vorsichtig. "Unser Bus fährt in circa zwanzig Minuten. Ich gehe mich nochmal frisch machen. Bis gleich!"
Im Badezimmer lasse ich kaltes Wasser über mein Gesicht laufen. Mir ist leicht schwindelig und ich fühle mich irgendwie jetzt schon erschöpft. Das kommt davon, dass ich gerne alle Zusammenhänge verstehen würde. Es ist so, als ob ich täglich irgendwelche Puzzleteile bekomme und diese dann ganz alleine zusammensetzen muss. Dabei bin ich total ungeduldig und echt schlecht im puzzeln. Ich ärgere mich darüber, dass ich so feige bin und nicht einfach mal etwas nachhake. Immerhin interessieren mich diese Menschen inzwischen wirklich und ich möchte ihre Geschichten brennend gerne wissen. Aber es ist wohl nicht möglich, dass ich die vollständige Story von jemandem erzählt bekomme. Allerdings, überlege ich, wissen meine Mitbewohner oder auch Lysander sehr wenig von mir.

Als ich das Wohnzimmer betrete, beenden die beiden gerade ein anscheinend intensives Gespräch.

"Da bist du ja", meint Feli und zieht mich zur Garderobe. Wir hüllen uns schnell in unsere dicken Wintermänteln ein und verlassen dann zu dritt das Haus. Die nächste Bushaltestelle ist nur eine Straßenecke weiter und so müssen wir nicht weit laufen. Anscheinend hat es am späten Nachmittag noch einmal geschneit und ein weißer Film aus pulvrigem Schnee bedeckt das Kopfsteinpflaster.

"Wir haben knapp drei Grad minus", raunt Sander, der auf sein großes Handy starrt.

"Ich bin froh, dass ich davon nichts merke", erwidert Feli und ich habe das Gefühl, dass sie jetzt wieder etwas gelassener ist. Wahrscheinlich beginnt der Sekt zu wirken!

"Wo genau ist denn das Ama?", frage ich neugierig und Feli harkt sich bei mir unter.

"Direkt in der Innenstadt ist das. Nahe der Wallstraße", versucht sie zu erklären.

"Peinlich", sage ich und gebe zu: "Ich bin noch kein einziges Mal in der Innenstadt gewesen. Die letzten Tage habe ich einfach keine Zeit gefunden!"

Feli winkt ab: "Quatsch. Das ist doch nicht peinlich. Wir holen das bald mal nach! Es gibt sowieso ein paar Orte, die ich dir ganz gerne zeigen würde!"

"Danke", antworte ich grinsend. In diesem Moment hält auch ein recht voller Bus an der Haltestelle. Ich bin absolut kein Fan vom Busfahren. Besonders, wenn es so überfüllt wie jetzt ist. Ausschließlich Studenten stehen ziemlich gedrängt in dem Fahrzeug.

"Oldenburg ist irgendwie eine totale Studentenstadt", sagt Feli, der mein Erstaunen aufgefallen ist.

"Es ist einfacher, wenn du dich nur auf Feli und mich konzertierst", flüstert mir Sander plötzlich ins Ohr und sein warmer Atem kitzelt mich. Im ersten Augenblick verstehe ich gar nicht, was er damit meint. Aber dann wird mir deutlich, dass er anscheinend gemerkt hat, wie unruhig ich beim Anblick der vielen Studenten geworden bin. Wir steigen in den Bus und schaffen es irgendwie uns durch die Menschen zu drängen und uns dann in eine freie Ecke zu lehnen.

"Busfahren ist bei den Uninächten meistens brutal", verrät mir Felipa. "Allerdings ist es genauso schwer nachher ein Taxi nach Hause zu bekommen."

"Tz", macht Sander beleidigt. "Die Taxen fahren doch immer zuerst zu den schönsten Frauen. Also braucht ihr euch bestimmt keine Sorgen zu machen!"

"Soll das etwa eine billige Anmache sein?", fragt Feli lachend. "Lysander Martins, du solltest wirklich nicht auf die Machoschiene geraten!"

"Geht ihr oft feiern?", will ich wissen, weil ich nicht möchte, dass eine unangenehme Pause entsteht. Außerdem habe ich etwas getrunken und kann dann ruhig mal etwas zur Extraversion greifen. Kann in meinem Fall ja kaum schaden.

"Naja", überlegt meine Mitbewohnerin und zieht die Achseln hoch. "Die letzten Monate bin ich kaum unterwegs gewesen. Früher war das häufiger." Früher? Etwa als Jola noch in der WG gewohnt hat?

"Ich gehe gelegentlich in Bars. Aber so wirklich tanzen, das ist nichts für mich", erklärt Sander. "Aber wenn ihr Mädchen von Fireplace Manor mal feiern geht, dann bin ich gerne dabei!"

"Oh" Ich bin leicht verwirrt, weil ich die Beziehungen meiner neuen Bekanntschaften nicht verstehe und nur zu gerne wüsste, was denn eigentlich los ist. Allerdings weiß ich nicht, ob das an meinem Alkoholpegel oder an meinem völlig neuem Interesse liegt. Schon lange konnte ich mich nicht mehr so für etwas begeistern. Dabei bin ich früher mal ganz anders gewesen...

 Die Busfahrt dauert zum Glück nur eine gute viertel Stunde. Als sich die Nachtluft um uns drei legt, fühle ich mich frei und unternehmungslustig. Und irgendwie habe ich dieses Verlangen meinen Körper zu bewegen.

"Bevor ich es vergesse. Hier", sagt Feli plötzlich und hält mich an. Sie bindet mir ein neonpinkes Armband aus Papier um mein dünnes Handgelenk. "Das hier ist deine Eintrittskarte in das Nachtleben von Oldenburg!"

"Wuhu", ruft Lysander und bindet sich jetzt ebenfalls ein Papierarmband an seinen Arm. Seins ist aber neongelb. "Nicht verlieren.", predigt er mir noch, bis wir die Wallstraße erreichen. In dieser Straße ist es fast unmöglich, miteinander zu kommunizieren. Aus Bars, Pubs und Kneipen dröhnt laute Rockmusik und überall auf der Straße tummeln sich junge Erwachsene mit Plastikbecher und guter Laune. Wir versuchen uns durch die Massen zu drängeln und ich versuche mir vorzustellen, dass ich hier nur mit meinen beiden Freunden bin.

Elena, du bist auf jeden Fall stärker, wenn du an dich glaubst. Und wenn es noch so unruhig in dir aussieht und der größte Sturm tobt. Wenn du es schaffst die Kontenance zu bewahren, dann wirst du sie täuschen können. Sie alle.

 "Sind wir bald da?", frage ich, nachdem wir ein paar gefüllte Gassen entlanggelaufen sind. Es ist schon Ironie, dass ich Oldenburg nun bei Nacht kennenlerne und mich spätestens morgen sowieso nicht mehr an den emsigen Weg zur Diskothek erinnern kann.

"Voila. Das Ama", brüllt Felipa, als wir plötzlich in einer unglaublich großen Masse von Menschen stehen.
"Ist das hier die Schlange?", frage ich verwirrt.

"Was"?, kommt es als Antwort von meiner Begleitung.

Ich winke ab und als wir uns anstellen beantwortet sich meine Frage von alleine. Erst etwas später wird uns klar, dass die meisten gar nicht anstehen, sondern einfach nur draußen stehen und quatschen. Erneut bahnen wir uns einen Weg nach vorne und stehen nun vor zwei Türstehern, denen wir unsere Bänder zeigen. Schon von draußen erschallt ein Green Day- Song zu dem Feli sich im Takt bewegt. Endlich dürfen wir passieren und Feli zieht mich als allererstes zu der Bar, die sich gleich links neben dem Eingang befindet. Während sie irgendeine Bestellung aufgibt, sehe ich mich um und schaue nach Lysander. Kann es sein, dass wir ihn schon jetzt verloren haben? Ich tippe Felipa nervös an: "Sander ist weg." Und dann noch einmal lauter: "Wir haben Lysander verloren!"

Mit einer schnellen Geste beordert sie mich Ruhe zu bewahren: "Alles gut. Wir finden ihn nachher bestimmt wieder." Im nächsten Moment habe ich einen Kurzen und eine Flasche Bier in der Hand. "Auf unseren ersten gemeinsamen Abend und auf sonst alles!", brüllt Felipa und unsere Gläser machen ein klirrendes Geräusch, das allerdings in der Masse untergeht. Ich schlucke das Zeug einfach herunter, ohne auch nur danach gefragt zu haben, was ich denn jetzt genau trinke.

"Tanzen", ruft Feli und ich kann nicht einordnen, ob es sich um eine Frage oder eine Aussage handelt. Ehe ich protestieren kann, zieht sie mich durch die vielen Studenten. Ab und zu rempeln wir ein paar Leute an und ich beginne gerade zu zweifeln, ob wir einen freien Platz zum Tanzen finden, da hält Felipa auch schon an. Sie schließt ihre Augen, wirft ihren Kopf zurück und bewegt sich taktvoll zu einem mir unbekannten Rocksong. Etwas scheu und unbeholfen hebe ich meine Arme und Beine. Ich möchte nicht wissen, wie andere meine schlechten Tanzkünste wahrnehmen. Während ich mit meiner Mitbewohnerin tanze, sehe ich mich neugierig im Amadeus um. Hohe Decken, wenig Platz zum Tanzen, Geruch nach frischem Schweiß und leichtem Nikotin, Damen in Hosen und Chucks, Bierflaschen und grölende Studenten. Dieses Ambiente bin ich nicht gewohnt. Nicht, dass ich so viel Diskoerfahrung habe, aber in Konstanz war das mit meiner großen Schwester schon irgendwie anders. Ich möchte jetzt noch keine Bilanz ziehen, denke aber, dass mein erster Eindruck durchaus positiv ist. Vielleicht würde ich mich sogar an diese Situation hier gewöhnen und erneut feiern gehen. Ja, in dieser Nacht schien mir irgendwie so vieles möglich. Plötzlich spüre ich, wie sich von hinten ein Arm um meinen schmalen Körper legt. Ich wirbel herum und schaue einem älteren Typen mit schulterlangen Rasterlocken ins Gesicht. Panisch merke ich, wie er mir immer näher kommt und mein Gesicht nur noch wenige Zentimeter von seinem entfernt ist. Genau im richtigen Moment tanzt Felipa allerdings dazwischen und reißt mich von dem Kerl weg.

"So kurz hier und schon begehrt", ruft sie und grinst mich an. "Kommst du mit auf Klo?"

Ich nicke und hoffe, dass ich sie richtig verstanden habe. Aber schon hat sie ihre langen Finger um mein Handgelenk gelegt und zieht mich vorbei an eskalierenden Studenten. Die Toiletten befinden sich direkt neben dem Eingang. Es riecht hier alles andere als frisch und das künstliche Deckenlicht schmerzt in den Augen. Während ich auf Felipa warte, schaue ich in einen großen Spiegel, der über den Waschbecken angebracht ist. Meine Wangen sind von der Nähe zu den Tanzenden und der stickigen Luft gerötet und meine Haare stehen etwas wirr von meinem Kopf ab.

 Aber ansonsten sehe ich noch ganz annehmbar aus. Und ich fühle mich noch nicht mal unwohl. Vielleicht, weil das hier drin kein Schönheitswettbewerb zwischen den Ladys ist. Es geht nicht darum, wer das kürzeste Kleid trägt, die längsten Beine hat oder auf den höchsten Heels stolzieren kann. Das hier ist einfach nur Ekstase, Lust und Tanz. Keine Oberflächlichkeit, sondern reine Wahrheit.

"Elena! Schön dich zu sehen." Eine bekannte Stimme dringt in meine Ohren.

"Hey Sarah", begrüße ich meine andere Mitbewohnerin. "Ist alles gut bei dir?" Ich habe eine neue Taktik. Wenn Sarah redet, dann konzentriere ich mich nur auf ihre Lippenbewegungen. Das lenkt enorm von ihren Augen ab und ich bin nicht der Gefahr ausgesetzt, mich an vergessenes Erinnern zu müssen.

"Klar. Mit Jovi ist alles im Lot und er kommt vielleicht heute Abend auch noch.", erklärt sie mir und lacht dann verlegen. "Bist du mit Feli hier?"

Ich deute auf die Toilettenkabinen und Sarah nickt schmunzelnd. "Echt schön, dass du heute mitgekommen bist. Ähm das hier ist übrigens Yola." Erst jetzt bemerke ich das Mädchen, dass sich die ganze Zeit etwas im Hintergrund gehalten hat.

"Du siehst ja aus wie Dornröschen" Habe dich das wirklich gerade gesagt? Aber die Feststellung stimmt. Das ist also das Mädchen, über das sich Sander und Feli unterhalten haben. Und Yola sieht wirklich aus wie Dornröschen. Wie eine Prinzessin, die allerdings kein Rüschenkleid, sondern ein kariertes Hemd und eine zerschlissene Jeans trägt. Yolanda hat ein schmales Gesicht, welches sanft von langen hellblonden Locken umrundet wird, eine gerade Stupsnase und perfekt geschwungene Augenbrauen.

"Ich bin geschmeichelt", sagt sie und mustert mich. Sie lächelt zwar und ihre Stimme klingt ziemlich aufrichtig und ernst, doch ihre Augen bleiben abschätzend und haben etwas kühles an sich.

Ich höre, wie sich hinter mir eine Tür öffnet und sehe ich Feli aus der Kabine heraustreten. Sie fasst sich an den Hinterkopf und registriert erst im nächsten Moment, dass ich nicht mehr alleine bin. Ihr Mundwinkel zucken leicht nach oben, als sie Yolas Namen flüstert.

"Welch eine Überraschung" Täusche ich mich oder schwingt etwas frostiges in Felis Stimme mit?

"Eine positive", ergänzt Dornröschen und hat immer noch diese perfekte Version eines Lächelns im Gesicht. "Muss ich dich erst einladen oder kommst du so mit mir nach draußen?"

"Wie könnte ich nein sagen", erwidert Felipa und meine Nackenhaare stellen sich auf. Was ist hier nur los?

Yolanda macht kehrt und Felipa folgt ihr nach draußen. Jetzt sind Sarah und ich allein.

"Lass dich nicht verwirren", rät sie mir und gibt mir einen leichten Schubs. "Komm, ich lad dich auf einen Drink ein und dann schnappen wir auch etwas frische Luft?" Nickend laufe ich ihr nach, darauf bedacht, sie nicht auf dem Weg an die Theke zu verlieren. Erstens zieht sie mich nicht so energisch mit sich und zweitens hat sie einen ganz schön flotten Gang drauf.

"Für mich nur eine Cola", rufe ich, als wir uns zur Bar durchgeschlagen haben. Im nächsten Moment halte ich ein eisgekühltes Getränk in den Händen und bin mit Sarah auf dem Weg nach draußen.

"Hätte schon gedacht, dass ich dich komplett verloren habe", flüstert plötzlich jemand in mein Ohr und Sanders Locken kitzeln mich an der Schläfe.

"Tut mir echt leid. Plötzlich waren wir getrennt und..", setzte ich zu einer Entschuldigung an.

"Alles gut", schnurrt Lysander in mein Ohr. "Jetzt habe ich dich ja wieder."

Er schließt sich uns an und gemeinsam verlassen wir das Ama. Ich bin so im Rausch, dass ich von der frühwinterlichen Kälte nicht viel mitbekomme. Kleine Schneeflocken rieseln vom schwarzen Firmament auf den Erdboden und ein frostiger Ostwind umhüllt uns und lässt unsere Haare in alle Richtungen tanzen. Wir drängeln uns durch Studenten, die rauchend und lachend in kleinen Grüppchen vorm Ama stehen, bis wir einen Platz gefunden haben. Jetzt stehen wir vor einer Bäckerei.

"Wir sind direkt in der Innenstadt", erklärt Sander, der meinem Blick gefolgt ist. "Wenn du diese Gasse weiter entlanggehst, dann kommst du direkt zum Zentrum und zu den Einkaufsstraßen."

Ich habe leichte Schwierigkeiten ihm zuzuhören, weil es in meinem Kopf hämmert und ich von der lauten Musik

Druck auf meinen Ohren habe.

"Ich denke, dass ich dieses Wochenende die Innenstadt besichtigen werde", antworte ich grinsend und wende mich dann an Sarah. "Ist mit Jovi denn jetzt echt alles wieder gut?"

Sarah nickt nachdenklich: "Ich hoffe es. Also wir haben vorhin noch eine gute Stunde telefoniert und er klang echt so, als ob er bedauern würde, wie er mich behandelt hat. Und naja, ich habe ihm verziehen. Ich kann irgendwie nicht lange eingeschnappt und verletzt sein. Nicht bei Jovi. Ich glaube, dass es mich zerstören würde, würde ich ihn verlieren."

 Ich schnappe nach Luft. Zerstören würde.. ihn.. verlieren.

"Ich könnte mir wirklich nicht vorstellen, die Person zu verlieren, die ich liebe...", fährt Sarah unbeirrt fort und lässt sich darüber aus, dass es für sie nur Jovi gibt und keinen anderen Kerl auf der Welt. Währenddessen muss ich feststellen, dass meine Augen glasig werden und ich den Tränen nahe bin. Mit aller Kraft versuche ich meine Augen offenzuhalten, damit die Tränen nicht über mein Gesicht kullern. Außerdem versuche ich alle Erinnerungen zu verdrängen, die tief aus meinem Unterbewusstsein empor kriechen wollen. Dabei verkrampfe ich mich und blende Sarahs Stimme, die anderen Menschen, die verworrenen Gerüche und meinen lauten Herzschlag aus. Erst als sich ein Arm um mich legt, werde ich abrupt in die Realität gerissen.

"Sorry, mir ist einfach nur richtig kalt", sage ich zu niemand bestimmten und versuche gleichmäßig zu atmen.

"Ist dir nicht gut?", Sanders Arm ruht auf meiner Schulter und fühlt sich unglaublich schwer an. Ich würde eher wollen, dass er mich den Armen hält. Oder nach Hause trägt.

Deswegen  meine ich: "Es tut mir wirklich leid, aber mir ist echt etwas schlecht. Ich glaube, dass ich mich auf den Weg nach Hause mache."

"Oh, Elena", ruft Sarah. "Dann suche ich jetzt Yola und Feli und bringe dich zurück."

"Ne", ich schüttel meinen Kopf. "Geht ihr nur weiter feiern, ich komm schon klar."

"Quatsch", protestiert meine Mitbewohnerin. "In deinem Zustand lasse ich dich bestimmt nicht gehen."

"Ist schon gut", antwortet Lysander im selben Moment für mich. "Sarah, ich sorge dafür, dass unsere kleine Pädagogin eure WG sicher erreicht."

"Wirklich?", hakt Sarah nach und schaut Sander durchdringend und skeptisch an. "Wenn ihr was passiert, dann werde ich Jovi den Auftrag geben, dich qualvoll sterben zu lassen."

"Oh ho", feixt Sander gespielt. "Da habe ich aber Angst."

"Solltest du", Sarah versetzt ihm einen leichten Schlag und umarmt mich dann. Kurz bevor wir uns zum gehen wenden, ruft sie hinterher: "Sander! Ruf mich an, wenn Elena angekommen ist. Ich suche die anderen und sage ihnen Bescheid!"

"Ai Ai" Sander nimmt meine Hand und gemeinsam laufen wir durch die Oldenburger Innenstadt. Es kommt mir alles irreal vor. Würde Lysander mich nicht halten und würde ich nicht seine warme Hand in meiner spüren, dann hätte das hier alles etwas von einem Traum. Wobei ich mir dann nicht sicher wäre, um was für eine Art von Traum es sich handelt. "Ich rufe uns ein Taxi." Sander holt sein Handy aus seiner Hosentasche, doch ich schüttel energisch meinen Kopf:"Nicht. Ich brauche etwas Nachtluft und Stille."

"Ok", antwortet er und führt mich weiter. Von der Innenstadt bis zum Fireplace Manor dauert es zu Fuß circa eine Stunde. Aber das ist mir im Moment egal. Ich möchte nicht in irgendein enges, verruchtes Auto steigen und dann mit meinen schlimmen Gedanken alleine in meinem Bett liegen. Ich möchte... irgendwie reden und mich ablenken. Oder Trost und Geborgenheit finden.

Eine Weile lang schweigen Lysander und ich einfach nur und ich frage mich, ob es in seinem Schädel auch so rattert wie in meinem.

"Was ist nur los mit dir?", fragt er nach einer gefühlten Ewigkeit endlich. "Das ist jetzt schon das zweite Mal, dass du in diesem komischen, apathischen Zustand bist. So als ob du dann in deiner eigenen Welt verschwinden würdest."

"Hast du was dagegen?", erwidere ich zickig und schäme mich im nächsten Moment. Er hat ja recht. Aber eigentlich möchte ich nicht zugeben, dass mir etwas fehlt. "Du bist doch der, der Psycho studiert."

"Ja. Das bin ich", antwortet Sander. "Aber ich bin noch nicht erfahren und noch nicht imstande irgendetwas zu diagnostizieren. Dafür kenne ich dich auch zu wenig."

"Bei mir muss ja auch nichts diagnostiziert werden", versperre ich mich gegen ihn. "Mit mir ist alles vollkommen in Ordnung."

"Ok", antwortet er verlegen. Und dann nochmal: "Okay."

"Wie gefällt dir die Uni bis jetzt?", will Sander nach einer weiteren Welle des Schweigens wissen.

"Gut", antworte ich angebunden. Ich habe mir meinen nächtlichen Spaziergang mit ihm irgendwie anders vorgestellt. Dabei bin ich selbst schuld, wenn ich einen auf unerreichbar und zickig mache. Ich hoffe, dass er mir mein Verhalten nicht übel nimmt.

"Es tut mir übrigens leid, dass ich dir nicht von Anfang an gesagt habe, dass ich Felipa doch besser kenne."

"Was?", frage ich geistesgegenwärtig.

"Feli ist eine echt großartige Person", fügt er fast stumm hinzu.

"Weiß sie, dass du mehr für sie empfindest?", hake ich möglichst desinteressiert nach.

 "Huch?", Sander lacht auf. "Nein, ich wollte dir damit nur sagen, dass du ihr echt vertrauen kannst. Falls du jemanden zum Reden suchst oder mal Hilfe brauchst. Sie ist wirklich aufrichtig und loyal. Aber ich wäre nicht an einer Beziehung mit ihr interessiert." Das klang wirklich ehrlich, auch wenn es mich nicht kümmern sollte. Schließlich lebe ich erst seit einer guten Woche in Oldenburg und will auf keinen Fall überstürzt handeln oder Männerherzen für mich gewinnen.

"Ist ja auch deine Sache", sage ich zufrieden und stoße ihn leicht an. "Danke übrigens, dass du mich nach Hause begleitest." Und meine Hand gehalten hast, füge ich im Stillen dazu.

"Gerne wieder", antwortet er grinsend. "Ich lasse dich bestimmt nicht nachts alleine durch die Straßen ziehen. Besonders nicht in einer fremden Stadt."

"Sander" Ich nehme all meinen Mut zusammen. "Mir tut es leid, dass ich so impulsiv bin. Ich hab es nicht so mit der Regulierung meiner Stimmung."

"Kein Problem. Glaubst du mir, dass ich dich gerade deswegen noch interessanter finde?"

"Auf keinen Fall", diesmal muss ich lachen und meine es auch so. Ich bin keineswegs interessant, sondern anstrengend und komisch. Schluss!

Die letzten Kilometer reden wir noch über nichts erwähnenswertes und ich genieße die eisige Nachtluft. Ich habe irgendwie ein Gefühl von Leichtigkeit in mir. So als ob ich in einer Schiffsschaukel hin und her schwingen würde. Allerdings weiß ich nicht, ob mir dieses Gefühl behagt. Als wir die Straße erreichen, in der sich auch meine WG befindet, hält Sander meine Hand immer noch.

"Wir haben gar nicht getanzt", bemerke ich, als wir vorm Fireplace Manor stehen.

"Ist mir auch aufgefallen", erwidert Lysander. "Wir haben zwar keine Musik, aber darf ich trotzdem um diesen Tanz bitten. Ich weiß ja nicht, wann wir das nächste Mal feiern gehen!" Er hält mir seine rechte Hand hin und ich tu so, als ob ich mir das zwei Mal überlegen müsste.

"Nur ein Tanz", flüstere ich dann und greife entschlossen nach seinen langen Fingern. Er wirbelt mich herum, aber langsam und vorsichtig. Wir drehen uns und irgendwann müssen wir beide lachen.

"Was für ein Tanz", lacht Sander gespielt keuchend.

"Der beste", sage ich zwinkernd. "Ich gehe jetzt rein. Einen schönen Abend."

"Dir auch, liebe Elena. Pass auf dich auf!"

Ich spüre genau, wie er mir noch nachschaut, als ich die Stufen zum Fireplace Manor emporsteige. Aber hier muss ich doch nicht aufpassen. Das ist doch ein sicherer Ort. Ein Ort der Seligkeit.

 

 

 

Kapitel vier- Tränen der Stärke

Ich schlage die schwere Flügeltür zum Auditorium auf und hetzte zu einem der freien Plätze. Mein Kopf fühlt sich schwer an und vor meinen Augen schwirren irgendwelche Punkte. Bewusst setzte ich mich ganz nach hinten in eine der letzten Reihen. Innerlich schwöre ich schon jetzt dem Alkohol ab und verfluche mich dafür, dass ich erstens zu viel getrunken habe und zweitens auch noch zu spät zur Ringvorlesung in Grundbegriffe der Pädagogik komme. Viel zu schnell ist die gestrige Nacht an mir vorbeigesaust. Entnervt krame ich meinen Collegeblock und Schreibutensilien aus meiner Aktentasche. Meine Hände zittern etwas, als sie um meinen Kuli greifen. Und meine Sicht ist auch leicht verschwommen, als mein Blick durch den Hörsaal wandert.

Erst jetzt fällt mir auf, dass irgendetwas anders ist. Die akademische Viertelstunde müsste schon längst vorbei sein. Aber ich höre die Stimme der Dozentin nicht, die schrill und meistens unmöglich laut durch ihr Mikro hallt. Alles ist still. Mein eigener Atem ist das einzige, was ich wahrnehme. Wo ist die Dozentin und was ist mit meinen Kommilitonen? In mir beginnt Panik zu keimen. Ich sehe mich erneut um und meine Sicht ist dieses Mal etwas klarer. Es ist, als hätte sich der Nebel um meine Augen gelichtet. Allerdings kann ich weit und breit keine Menschenseele entdecken. Verwirrt stehe ich auf und merke, dass meine Beine nicht können, wie ich will. Trotzdem schlurfe ich die Sitzreihen zu den großen Ausgängen entlang. Bevor ich die großen, massiven Holztüren erreiche, sehe ich mich noch einmal um. Nichts hat sich verändert. Unheimliche Stille liegt über dem Auditorium, das ansonsten mit unzähligen Studenten besetzt ist. Kopfschüttelnd hole ich meinen Stundenplan aus dem inneren meiner Tasche. Aber ich kann meine eigene Schrift kaum entziffern. Es ist, als hätte ich kryptische Zeichen statt deutscher verwendet. Allerdings komme ich zu dem Entschluss, dass ich mich ganz einfach im Saal verirrt habe. Beruhige dich, mahne ich mich und versuche dann zu lächeln. Elena, das ist erst deine zweite Studienwoche. Da kann so ein kleiner Fehler mal passieren. Viel unangenehmer wäre doch gewesen, wenn ich mich in die falsche Vorlesung gesetzt hätte. Mit neuem Enthusiasmus greife ich zum Türknopf und beginne zu ziehen. Wieder und wieder. Die Tür bewegt sich keinen Millimeter. Auch als ich mit beiden Händen wie verrückt nach der Klinke greife tut sich nichts. Langsam laufen Schweißperlen meine Stirn entlang und ich bin außer Atem. Ich gebe nicht auf. Der Saal hat mehr als einen Ausgang. Ich bin mir zwar sicher, dass ich durch diese Tür hereingekommen bin, aber vielleicht habe ich mich in all der Eile auch getäuscht. Also renne ich zum nächsten Ausgang. Doch wieder ziehe ich an einer verschlossenen Tür.

"Was zum Henker", rufe ich und verschwende meine Energie unnötigerweise noch weiter, indem ich rüttel und nicht aufgeben will. "Das kann doch einfach nicht sein. Verflixt." Es gibt noch einen letzten Ausgang, wird mir siedend heiß bewusst. Genau neben dem Rednerpult am anderen Ende des Saales. Ich ziehe die Luft scharf ein und will mich gerade umdrehen. Da höre ich etwas. Es ist eine Art Husten oder Räuspern. Vielleicht irgendetwas dazwischen. Jedenfalls lässt es mich zusammenzucken und ein Schauder läuft mir über den Rücken. Das Geräusch erfüllt den ganzen Saal und hallt nach. Jemand muss das Mikro verwenden. Den optimistischen Gedanken, dass die Dozentin plötzlich aufgetaucht sein könnte, verwerfe ich ganz schnell und drehe mich langsam um. Hinter dem Pult steht, nein sitzt, eine Person in einem schwarzen Kapuzenmantel. Mein erster Impuls ist es, einfach wegzulaufen. Die große Frage ist nur, wohin ich mich wenden soll. Immerhin sind beide Fluchtwege verschlossen und ich müsste an dieser Gestalt vorbei, damit ich den letzten Ausgang überprüfen könnte. Einen Moment lang beobachte ich die Person. Sie sitzt irgendwie leblos dort, den Kopf nach unten hängend. Das Gesicht kann ich also nicht erkennen. Von hier hinten sehe ich noch nicht mal, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt. Ich meine, etwas anderes kann es ja nicht sein. Oder doch? Vor Angst und Aufregung kann ich kaum einen klaren Gedanken fassen. Soll ich einfach mal "Hallo!" rufen? Aber das machen die Teenies in allen Horrorfilmen und meistens enden die nicht gut. Mit viel Glück wurde ich noch gar nicht gesichtet. Was nach meiner Fluchtaktion allerdings unlogisch erscheint. Diese Person in ihrem unheimlichen Outfit muss doch auch irgendwie ins Auditorium gekommen sein. Und wenn beide Eingänge hier oben zu sind, dann muss sie doch eigentlich den Eingang neben dem Pult und der großen Leinwand benutzt haben. Rational denke ich, dass das meine einzige Chance ist. Fragt sich nur noch, ob ich sprinten oder schleichen soll? Ich entscheide mich für letzteres und tapse geduckt durch die Sitzreihen bis zum Ende. Jetzt muss ich nur noch die Treppe nach unten nehmen und dann an dieser Gestalt vorbei. Schritt für Schritt schleiche ich voran, meine Augen sind starr auf die Person in schwarz gerichtet. Noch immer hat sie sich kein Stück bewegt und ich frage mich, ob es sich um ein lebendes Subjekt handelt. Insgeheim hoffe ich es...

Ich komme dem anderen Ende der Halle immer näher und um so näher ich komme, desto mehr beschleunigt

 

                                     

 

 

 

 

 

sich mein Herzschlag. Ich höre es so laut und deutlich pochen, dass ich fürchte zu überhören, wenn das Wesen einen Laut von sich gibt. Inzwischen bin ich nur noch circa zehn Meter von dem Pult entfernt. Immer noch kann ich nicht erkennen, wer da auf dem Stuhl kauert. Aber ich bin sehr nahe am Ausgang dran. Nur noch wenige Schritte. Nur noch eine Hand weit entfernt. Jetzt kann ich nach dem Türknopf greifen. Noch einmal sehe ich zum Rednerpult und... Schockiert schüttel ich den Türgriff. Das Wesen ist weg. Das ist kein gutes Zeichen! Und die Tür lässt sich auch nicht öffnen. Ich bin eingeschlossen! Tränen schleichen wie kleine Schlagen über mein Gesicht und vermischen sich mit dem Schweiß zu einer salzigen Flüssigkeit. Ich schließe die Augen. Möchte nichts mehr sehen, sondern nur noch diesem Alptraum entfliehen. Aber anscheinend ist das hier bittere Realität. Als ich meine Augen nach einer gefühlten Ewigkeit dann doch öffne, sehe ich einen Augenblick gar nichts mehr. Alles ist schwarz wie die dunkelste aller Nächte. Es ist doch eigentlich erst früh am Morgen und trotzdem verirrt sich kein Sonnenstrahl mehr in den Saal. Erneut höre ich dieses widerliche Husten und beginne nun zu Schluchzen.

"Hör auf", rufe ich in die Dunkelheit. Ich greife in meine Aktentasche und hole mein Handy heraus. Das Display spendet minimales Licht und ich kann immer noch nichts erkennen. Erneut wende ich mich zum Ausgang und versuche ein letztes Mal, die Tür zu öffnen. Es ist hoffnungslos, sie lässt sich nicht bewegen. Irgendwer muss alle Türen und Ausgänge verriegelt haben.

Auf einmal ertönen Stimmen, die sich durch den ganzen Saal verteilen. Es ist ein Gewirr aus flüsternden Stimmen, die bedrohlich und einschüchternd klingeln.

"Was wollt ihr?", entsetzt halte ich mein Handy von mir und wage mich etwas zur Seite. Aber ich kann einfach nichts erkennen. Ich irre auf der Bühne herum und schreie auf, als mein Bein gegen etwas Hartes stößt. Mein Gesicht verzieht sich vor Schmerz und erst im nächsten Moment begreife ich, dass ich gegen das Pult gestoßen bin. Etwas fällt klirrend neben mir zu Boden und das Geräusch des Aufpralls hallt durch den riesigen Raum. Ich bücke mich und hebe das Mikro auf. In dem Moment blendet mich das grelle und künstliche Licht von Scheinwerfern. Ich stehe direkt in einem Strahl aus gelben Licht. Geblendet halte ich meine Hände vor die Augen und blinzel mehrmals. Als ich mich an das Licht langsam gewöhne, bemerke ich, dass ich wirklich nicht alleine bin. In den Sitzreihen sitzen vereinzelt ein paar Personen. Allerdings tragen alle einen schwarzen Umhang und schauen gen Boden.

"Hallo?", rufe ich und meine Stimme hallt durch das Mikrofon. "Was wollt ihr von mir? Das ist wirklich nicht witzig!" Ich erhalte keine Antwort und in mir schlagen Angst und Schrecken langsam in Wut um. Wieso passiert gerade mir sowas? Wieso muss ich in so eine gruselige Situation geraten und in diesen Alptraum verwickelt werden? In meinem Kopf sammeln sich aggressive Worte und ich möchte sie gerade loswerden, als die in schwarz gehüllten Gestalten wieder zu Flüstern beginnen. Diesmal verstehe ich allerdings einzelne Fragmente und mir graut es. "Elena...", "Elena!", "Ele..." "ena.", "Erzähl uns...", "Erzähl sie uns.", "Erzähl es uns!"

"Was?", schreie ich verzweifelt ins Mikro. "Was soll ich erzählen?"

"Milas. Milas. Milas", hallt es von allen Seiten und ich beginne zu schreien. Ich zucke zusammen und stoße erneut gegen das Rednerpult.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 21.05.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für M., weil es eben doch Engel gibt. Auch wenn sie keine Flügel haben und vielleicht nicht ganz so rein sind, wie man sich Engel eben vorstellt.

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