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00. Prolog

Ein tiefes Wummern erschütterte ihren ausgemergelten Körper, und auch wenn sie sich gegen das Wachwerden sträubte, konnte sie nicht hoffen wieder in den Schlaf zu finden. Laute Stimmen, Musik und zahllose Geräusche einer Menschenmenge, welche sich durch die Straßen von New Orleans schob, drangen an ihre Ohren, und kurz flüchtete sie sich in Erinnerungen. Mardi Gras. Vielleicht war heute der letzte Tag des Karnevals samt der bunten Parade und zugehörigen Feiern. Schwer spürte sie zahlreiche klimpernde, bunte Perlenketten um den Hals. Ihre Freunde und sie hatten früher stets einen Wettbewerb daraus gemacht, wer es schaffte, die meisten Ketten zu ergattern. Für den Gewinner, der in der Regel sie war, gab es kostenlose Drinks den ganzen Abend über.

Schnaubend öffnete sie die Augen, während ihre Brust sich zuzog und Tränen hinter ihren Augen stachen. Heutzutage kam es selten vor, dass sie sich der Verzweiflung noch hingab.

Zu Beginn war sie voller Energie und Hoffnung gewesen, hatte versucht, die zahlreichen Fenster einzuschlagen, durch heftiges Winken und lautes Schreien auf sich aufmerksam zu machen. Immerhin befand sich ihr Gefängnis im dritten Stock eines schicken Apartmentkomplexes oder etwas Ähnlichem in der Innenstadt. Wie konnte es sein, dass die vielen Menschen auf der Straße sie nicht bemerkten und die Polizei informierten?

Zunächst war ihr nicht bewusst gewesen, dass sie entführt worden war, denn die ausladenden Räumlichkeiten, in denen sie und die anderen sich aufhielten, waren an Komfort und Luxus kaum zu überbieten. Helles Sonnenlicht fiel tagsüber durch Fensterfronten, die bis zum Boden reichten, und sämtliche für die Ausstattung benutzten Materialien waren hochwertig verarbeitet.

Dennoch waren sie Gefangene, konnten die Suite nicht verlassen und waren darauf angewiesen, dass die schweigsame Frau ihnen etwas zu essen oder zu trinken brachte. Manchmal erhielten sie auch Shampoos, Waschzeug oder andere Artikel, doch sie kam längst nicht jeden Tag, und vermutlich hätte es sie nicht wundern sollen, dass sie sich immer schwächer fühlte.

Mühsam richtete sie sich auf und begab sich ins Badezimmer, um sich frischzumachen. Als sie vor dem Waschbecken stand, hob sie ihren Blick auf die Höhe, in der normalerweise ein Spiegel hätte hängen müssen. Doch den hätte man einschlagen können, um sich mit den Scherben etwas anzutun. Hier gab es nichts, womit man sich verletzen konnte.

Nach einer Katzenwäsche schlurfte sie zurück zum Bett, als die Tür sich öffnete und ein Picknickkorb hereingeschoben wurde.

Mit einem Mal kam wieder Leben in die bis eben apathischen Gestalten auf den anderen Betten, Matratzen und Sofas. Schweigend und so schnell wie möglich fischte sich jeder etwas aus dem Korb. Es handelte sich um kalte Hühnerbrühe in Styroporbehältern, welche sie dankbar tranken. So ging es seit Jahren, man hielt sie am Leben und versorgte sie mit genau dem, was nötig war, um nicht zu sterben. Manchmal hatte sie sich vorgestellt, nichts mehr zu sich zu nehmen, dem eintönigen Dasein und ihrem Elend ein Ende zu setzen, doch wenn die Versorgung kam, griff sie immer wieder zu.

Erst als sie den leeren Becher zurück in den Korb steckte, bemerkte sie die Smartphones auf dessen Grund. Sie schluckte und wandte sich ab. Sie verstand nicht, was er damit bezweckte. Als er ihnen ihre Handys das erste Mal zurückgebracht hatte, war sie aufgeregt gewesen, hatte versucht, ins Internet zu gelangen oder einen Notruf abzusetzen, doch diese Funktionen waren abgeschaltet. Ohne genau zu wissen, wofür, hatten sie Fotos und Videos von sich aufgenommen, hoffend, dass die eines Tages ihren Familien zugespielt würden, doch mittlerweile war sie überzeugt davon, dass es ihm ein perverses Vergnügen bereitete, sich die Aufnahmen anzusehen und sich in ihrem Leid zu baden.

Zorn brannte unerwartet heiß in ihrer Brust auf. Kurzerhand nahm sie doch ihr Telefon zur Hand. Sie öffnete die Kamera, und als sie von ihrem eigenen Anblick überrascht wurde, ließ sie das Handy rasch sinken, während ihr Herz frenetisch im Brustkorb pochte und heiße Tränen aus den eingesunkenen Augen über ihre Wangen liefen.

Natürlich war ihr klar gewesen, dass der körperliche Verfall weiter vorangeschritten war, doch sie hatte es lange vermieden, sich anzusehen. Ihr Haar war dünn und verfilzt, ihre leblosen Augen starrten aus tiefen Höhlen, und statt ihrer früheren strahlenden Schönheit sprang sie der Anblick eines mit ausgetrockneter, von zahllosen Narben übersäter Haut überzogenen Skeletts entgegen.

Ich werde hier sterben. Nie zuvor war ihr dieser Umstand so schmerzlich bewusst gewesen wie in diesem Moment. Er würde sie oder die anderen niemals gehen lassen, sondern sich an ihnen laben, solange es ging. Was danach mit ihrem Körper geschehen würde? Verbrennung? Irgendwo verscharrt oder in den Sümpfen des Bayou versenkt werden? Ob er es letztlich zu Ende bringen oder man sie leise und unaufgeregt hier rausschaffen würde, wenn ihr Körper schließlich aufgab, wusste sie nicht. Sie hatte ihn lange nicht gesehen, was nicht bedeutete, dass man sie oder die anderen in Ruhe ließ. Da war immer noch die schweigsame Frau mit ihren Spritzen und Schläuchen. Wo er sich aufhielt, wenn sie ihn nicht zu Gesicht bekam, hätte sie nicht sagen können. Ab und an war einer oder eine der anderen geholt worden und nicht mehr wiedergekommen. Für gewöhnlich konnte sie dabei nicht einmal mehr Grauen empfinden, doch nun, da ihr eigener Tod unmittelbar bevorstehen dürfte, spürte sie den lange verloren geglaubten Überlebenswillen wieder.

Entschlossen wischte sie ihre Tränen fort, öffnete die Kamera erneut und drückte auf Aufnahme, dann sagte sie mit kratziger und schwacher, aber dennoch entschlossener Stimme: »Du krankes Schwein. Was willst du? Sind wir nur Puppen für dich, nur Spielzeuge? Was denkst du, wer du bist? Dass du mit Menschen spielen kannst, wie du willst? Irgendwann wird man dich schnappen, du Arschloch, und dann wirst du büßen. Für alles.«

Sie legte das Smartphone zurück in den Korb, und auch wenn es ihr nicht helfen oder etwas an ihrer Lage ändern würde, spürte sie doch eine gewisse Genugtuung. Hoffentlich würde er das Video sehen.

 

***

 

Das ging schneller als erwartet. Sie spürte, wie ihr Körper zunehmend erschlaffte, während ihre Sicht verschwamm und die Gedanken immer leiser wurden. Er war da, war überall, und die Tatsache, dass sein Duft, seine beruhigende Stimme in ihrem Kopf und die Verbindung, die er zu ihr geschaffen hatte, sie in diesem Moment trösteten, war der Gipfel ihres sadistischen Martyriums. Kraftlos lag sie in seinen Armen, und schließlich löste er sich von ihr, um ihr in die trüben Augen zu blicken, während sie am Rande ihres Sichtfelds Menschen ausmachte, die sich gespenstisch und entrückt im Takt einer Metal-Ballade bewegten.

Sie erinnerte sich daran, wie sie ihm das erste Mal begegnet war. Selbst jetzt, im Angesicht des Todes, musste sie sich eingestehen, dass sie nie ein edleres Gesicht gesehen hatte als seins. Ein kaltes Lächeln umspielte seine vollen Lippen, und gerade als er ihr einen letzten Kuss gab, versank sie in Dunkelheit.

01. Kapitel

Die Stille ihres Wagens war ein willkommenes Geschenk für Bobby nach den letzten beiden Tagen. Kaum war die Fahrertür hinter ihr ins Schloss gefallen, lehnte sie mit geschlossenen Augen den Kopf an den Sitz hinter sich. Tief durchatmend ließ sie die Schultern kreisen, da die Verspannungen in ebendiesen und ihrem Nacken die hämmernden Kopfschmerzen nur verschlimmerten. Ihre Schläfen fühlten sich an, als müsste der enorme Druck sie jeden Moment platzen lassen, während das Gehirn unter ihrer Schädeldecke den Eindruck vermittelte, in einem Schraubstock zu stecken.

Sie nahm die Packung mit Kopfschmerztabletten aus ihrer abgewetzten, dunkelblauen Handtasche. Sie war ein äußerst pragmatischer Mensch. Gebrauchsgegenstände, wie Taschen, kaufte sie alle Jubeljahre und nutzte sie, bis sie sich unter ihren Händen auflösten. Marken suchte man bei ihr vergebens, da sie ihr Geld lieber für Reisen oder andere Hobbys ausgab.

Ihr Handy klingelte, und als sie den Namen ihres Vorgesetzten sah, hätte sie vor purer Erschöpfung weinen mögen. Seit die Leichen einiger vor Jahren verschwundener High-Society-Kids und Influencer gestern gefunden worden waren, hatte Bobby kein Auge zugetan. Kurz überlegte sie, nicht ranzugehen, doch dann würde sie zuhause keine Ruhe finden. Ihre Gedanken würden stets darum kreisen, was man von ihr wollte, und sie würde sich die Mailbox ja doch anhören.

»Ich dachte, ich soll nach Hause und schlafen.« Obwohl sie versuchte, es scherzhaft klingen zu lassen, war ihr klar, dass Hunter ihren Unmut mehr als deutlich heraushören konnte.

Er lachte, und sprach in beruhigendem Tonfall: »Keine Sorge. Wir haben alle nichts davon, wenn du uns umkippst. Also fahr heim und ruh dich aus. Ich wollte dich nur wissen lassen, dass wir ein Sonderkommando einrichten. Du sollst die Leitung übernehmen.«

Sie seufzte so tief, dass Hunter erneut lachte.

»Weißt du, Bobby, wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glauben, du hättest keine Lust auf eine große Karriere.«

»Natürlich will ich Karriere machen, aber du weißt so gut wie ich, wie undankbar es ist, eine SoKo zu leiten. Darf ich mein Team selbst zusammenstellen?«

Er zögerte, und ihr Mund wurde trocken.

»Hunter?«

»Ja und nein.«

»Heißt?«

Sein Seufzen war langgezogen, und dann sagte er: »Ro Harding hätte den Fall bekommen, wenn ich nicht zugestimmt hätte, ihm einen sicheren Platz im Team zu geben.«

Bobby atmete tief ein, hielt die Luft einen Moment lang an und atmete wieder aus, und erwiderte: »Okay, damit komm ich klar.«

»Super, Bobby, bist ein Schatz.« Hunters Stimme klang erleichtert, und nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob sie manchmal zu schnell einlenkte, es ihren Vorgesetzten und Kollegen zu einfach machte. Doch die Wahrheit war, dass sie als Frau nach wie vor den Druck spürte, zu beweisen, wie kooperativ sie war. Bloß nicht unbequem und schwierig sein. Selbst wenn man sich mit einem Ro Harding würde herumärgern müssen.

Sie verabschiedete sich und machte sich endlich auf den Weg nach Hause. Hunter hatte ihr noch mitgeteilt, dass er bis neun Uhr vormittags wissen wollte, wen sie noch im Team haben wollte, was bedeutete, dass sie spätestens um halb sieben in der Früh würde aufstehen müssen, um alles zu erledigen. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es bereits auf Mitternacht zuging. Bis sie also gefüttert und geduscht im Bett liegen würde, wäre es wahrscheinlich halb zwei. Doch fünf Stunden Schlaf stellten für derartige Ermittlungen schieren Luxus dar.

Zuhause angekommen stellte sie erleichtert fest, dass die Reste des Paneer Makhani in ihrem Kühlschrank noch genießbar waren. Im Stehen schaufelte sie das Essen gähnend direkt aus der Styroporbox in ihren Mund. Eilig wusch sie die benutzte Gabel ab und schmiss den Rest in den Müll, wobei sie mit einem schuldbewussten Lächeln an ihre jüngere Schwester Rosa dachte. Rosa, die es irgendwie schaffte, neben ihrem Studium und mit zwei kleinen Kindern wesentlich mehr Wert auf Nachhaltigkeit zu legen als sie.

»Ich hab nun mal keine Zeit, immer frisch zu kochen oder meine eigene Seife herzustellen«, grummelte sie vor sich hin, während sie ihre Kleidung achtlos auf den überquellenden Wäschekorb fallen ließ und dankbar unter den heißen Duschstrahl trat. Die Wahrheit war, dass sie sich in ihrer Freizeit wie ein Kind lieber ihren Hobbys widmete. Außerdem sah sie die Verantwortung für das Schicksal der Erde nicht zwangsläufig auf ihren Schultern, sondern bei den großen Konzernen, den Gesetzgebern und Lobbyisten.

Als sie fertig war und ihren zum Glück sauberen, dunkelblauen Lieblings-Jersey-Pyjama tragend mit Handtuchturban auf dem Kopf ihre Zähne putzte, glitten ihre Gedanken zum morgigen Tag.

Ambrose Harding, genannt Ro, war ein merkwürdiger und als schwierig geltender Eigenbrötler. Sie hatte ihn nur ein paar Mal zu Gesicht bekommen. Obwohl er einen recht abgeranzten Eindruck machte, wusste sie, dass die meisten Kolleginnen auf dem Revier ihn ziemlich sexy fanden mit seinen längeren Haaren und dem Kinnbart. Sie hätte nicht sagen können, wie alt er war, aber ziemlich sicher hatte er die vierzig bereits gut hinter sich gelassen. Trotz seiner Unzulänglichkeiten galt er als brillant, und niemand in der Mordkommission hatte eine höhere Aufklärungsrate als er. Immer mal wieder gab es Versuche, ihm Partner zuzuteilen, doch das ging selten lange gut. Erst letztes Jahr hatte sie LaTonya Lewis tränenüberströmt an Deputy Chief Maria Hernandez' Bürotür klopfen sehen, um dann kurze Zeit später einer anderen Einheit zugeteilt zu werden. Seitdem schien man sich damit zufriedenzugeben, dass Ro die Archive nach ungelösten Fällen durchstöberte, sie neu aufrollte und mit den ihm temporär zugewiesenen Teams Licht ins Dunkel brachte. Es hätte sie nicht wundern sollen, dass der Fall der toten Kids ihn interessierte, immerhin gab es einiges, was daran ungewöhnlich war. Offenbar hatte man die Opfer fünf Jahre lang irgendwo in New Orleans gefangen gehalten und immer mehr verkommen lassen. Ihre Körper waren in erbärmlichem Zustand, ausgemergelt und vor allem blutleer.

Sie spuckte aus und griff nach der Zahnseide. In der Pathologie konnte man sich keinen Reim darauf machen, wie das Blut der Toten abgelassen worden war, und da sie alle merkwürdig aussehende Narben und Bisswunden aufwiesen, geisterte seit Tagen der Begriff Vampir durchs Präsidium. Bobby fand dies alles andere als lustig. Auch wenn sie als Kind der Stadt die mystische Atmosphäre hier liebte und ein großer Fan der Anne-Rice-Bücher war, forderte sie den gebotenen Ernst bei einer Mordermittlung.

Mit feuchtem Haar legte sie sich ins Bett. Es war egal, dass es morgen Früh wie Kraut und Rüben aussehen würde, denn sie trug es stets zusammengebunden. Kaum dass ihr Kopf das Kissen berührte, war sie fest eingeschlafen.

Als sie kurz darauf hochschreckte, fühlte sie sich desorientiert, und es dauerte einen Moment, ehe ihr bewusst wurde, dass ihr Handy klingelte. Ein Blick auf die LED-Anzeige ihres Bluray-Players verriet, dass es kurz nach vier Uhr morgens war.

Während sie den Anruf entgegennahm und das Handy ans Ohr hielt, schlossen ihre Augen sich von selbst wieder.

»Bobby Snider hier. Was gibt’s?«

Als sie Hunters aufgeregte Stimme hörte, richtete sie sich auf. »Bobby, wir haben noch eine Leiche gefunden. Sie muss mit den anderen entsorgt worden sein, doch aus irgendeinem Grund ist sie im Bayou aufgetaucht. Sieht schlimm aus. Scheint, als hätten ein paar Alligatoren sich darüber hergemacht. Aber es handelt sich definitiv um das It-Girl, das mit den anderen Kids verschwunden war. Wir haben ihr Smartphone bei ihr gefunden.«

Nun fühlte Bobby sich hellwach. Sie schlug ihre Decke zurück und schwang die Beine aus dem Bett.

»Ich bin schon auf dem Weg.«

»Beeil dich, Bobby. Ro Harding ist schon hier, und ich kann ihn nicht ewig im Zaum halten.«

Sie legte auf und riss die Kommodenschublade auf, in welcher sie ihre Unterwäsche aufbewahrte.

»Fuck. Fuck.« Sie hätte ihre Waschmaschine einschalten sollen, denn tatsächlich befand sich keine einzige saubere Unterhose mehr in dem Schiebefach. Kurzerhand fischte sie den unteren Teil eines Bikinis hervor, dann schlüpfte sie in eine schwarze Jeans, die ein wenig knittrig war, aber sauber wirkte. Dazu zog sie ein schwarzes Tanktop und eine graue Strickjacke an. Für einen BH waren ihre Schultern zu verspannt, und mit der Jacke würde es auch ohne gehen.

Im Bad band sie ihr bis zu den Schulterblättern reichendes dunkelbraunes Haar zu einem Dutt zusammen. Dann griff sie nach der Feuchtigkeitscreme. Ein Blick in den Spiegel zeigte, dass der Schlafentzug sich bemerkbar machte, also behalf sie sich eilig mit ein wenig Concealer und Puder. Ihre Make-up-Truhe ließ sie offen auf dem Toilettensitz zurück. In die Tasche packte sie ihr Handy und den Schlüsselbund, während sie in ein paar graue Ballerinas schlüpfte. Ein kurzer Blick zurück. Das Licht war überall aus, also zog sie die Tür hinter sich zu.

Auf dem Weg zum Auto holte sie ihr Handy nochmals hervor, und auch wenn sie lieber darauf verzichtet hätte, schickte sie ihrer Mutter eine Sprachnachricht: »Hi Mom, ich müsste dich um was bitten. Ich steck momentan mitten in einer Mordermittlung. Könntest du heute vielleicht bei mir vorbeischauen, mir ein paar Unterhosen waschen und ein bisschen Ordnung schaffen? Danke.«

Eilig packte sie das Telefon weg, schloss ihren fuchsroten Chevy Sonic auf und machte sich auf den Weg zum Revier.

02. Kapitel

Ungeduldig saß er auf einem ziemlich unbequemen Stuhl im Büro von Commander Hunter Broussard, wo man ihn zurückgelassen hatte. Er würde die Ankunft von Detective Snider abwarten müssen, ehe er das auf dem Telefon des ermordeten Mädchens sichergestellte Material würde sichten können. Das geräumige Büro war modern, spartanisch und elegant eingerichtet. Der Schreibtisch war ein filigran gefertigtes Meisterwerk mit einer glänzenden Oberfläche, die an Marmor erinnerte, auch wenn es sich um ein robusteres und günstigeres Material handeln dürfte. Statt der alten, klobigen Computer stand darauf lediglich ein gerahmtes Bild von Hunter, groß, schlank, perfekt rasiert und die braunen Haare kurz und elegant frisiert, mit seiner Frau und den beiden Zwillingstöchtern, die seit diesem Jahr die Middle School besuchten. Außerdem gab es ein kabelloses Telefon samt Ladestation und einen in schickem Granit gefassten Stifthalter mit einigen Kugelschreibern und Textmarkern. Der genutzte Arbeitslaptop war mit Sicherheit weggesperrt oder Broussard gehörte zu den Kollegen, welche ihn immer bei sich trugen, um zur Not selbst während der Mittagspause agieren zu können.

Unbemerkt hatte sein rechtes Bein angefangen zu zucken, und er knetete seine Handflächen. Kurzerhand griff er in seine Hosentasche und hortlte ein Snus hervor. Für gewöhnlich bevorzugte er losen Kautabak, doch die kleinen Päckchen hatten den Vorteil, dass man weniger ausspucken musste. Da er die Finger auch im Büro nicht vom Nikotin lassen konnte, behalf er sich gerne mit den praktischen Tütchen.

Fast augenblicklich entspannte sein Körper sich, als er das Snus an seinen hinteren, oberen Gaumen schob und das Nikotin direkt in seine Blutbahn geriet.

Endlich öffnete die Tür sich, und Broussard trat herein, gefolgt von einer Frau, die dem Commander etwa bis zur Schulter reichte und mit ihren Ballerinas locker als Mitte zwanzig durchgegangen wäre. Doch Ro kannte die Akte von Detective Roberta Snider und wusste, dass sie mit ihren vierunddreißig Jahren eine beeindruckende Laufbahn vorweisen konnte. Sie war es gewesen, deren Hartnäckigkeit, einer scheinbar unwichtigen Spur nachzugehen, vor drei Jahren dazu geführt hatte, dass der Mörder von zwei jungen Gospelsängerinnen geschnappt worden war. Sicher wäre ohne ihren Einsatz bald ein dritter Mord hinzugekommen.

So manche Stimme im Präsidium tuschelte hinter vorgehaltener Hand, dass ihre Beförderung zum Lieutenant immer wieder aufgeschoben wurde, weil sie eine Frau war. Ro bezweifelte das. In den höheren Rängen war man voll des Lobes für ihre Arbeit, doch es gab auch Zweifel bezüglich ihrer Fähigkeit, sich emotional von gewissen Fällen zu distanzieren. Bei der Befragung des Mörders der Sängerinnen hatte sie die Beherrschung verloren, und zwei Kollegen waren nötig gewesen, um sie davon abzuhalten, weiter auf den Mann einzuprügeln. Das wiederum war gefundenes Fressen für seinen Strafverteidiger gewesen, und fast wäre der Prozess ihretwegen in den Sand gesetzt worden. 

Ros Ansicht nach war das ein äußerst sympathischer Zug, und letztlich würde auch er für immer im Rang eines Detectives herumdümpeln, weil er nicht genügend nach den Regeln spielte, um sich irgendwann etwas anderes erhoffen zu dürfen. Der Unterschied zwischen ihnen beiden war wohl, dass sie unter diesem Umstand litt, während er ihm gerade recht kam. Das Letzte, was er gebrauchen konnte, war, von einem Schreibtisch aus die Arbeit anderer Polizisten überwachen zu müssen.

Er erhob sich von dem etwas zu weichen Bürosessel und schüttelte zunächst die Hand seines Vorgesetzten, um sich dann Snider zuzuwenden.

»Ro, Bobby, ich hoffe, dass ihr beide gut zusammenarbeiten werdet«, meinte Broussard mit einem mahnenden Ton in der Stimme und einem leicht nervösen Lächeln.

Als er ihre Hand schüttelte, schien sie ihn mit einem durchdringenden Blick aus ihren hellgrünen Augen ergründen zu wollen. Vielleicht wollte sie ihm auch mitteilen, dass sie von ihm erwartete, anzuerkennen, dass sie die SoKo leiten würde, und sich ihrem Kommando unterzuordnen. Er schmunzelte innerlich. Ihr Ehrgeiz gefiel ihm, doch wie hätte sie verstehen können, weshalb es ihm kaum möglich war, sich an Vorschriften und Rangordnungen zu halten. Im Gegensatz zu ihr wusste er genau, womit sie es in diesem Fall zu tun hatten, und er würde alles tun, was nötig war, um den Täter zu fassen. Hierbei würde er zwangsläufig Ärger machen, doch das brauchte sie zum jetzigen Zeitpunkt nicht zu interessieren.

Gemeinsam setzten sie sich auf nebeneinanderstehende Bürostühle, wobei sie offenbar ein wenig zu klein war, um bequem darauf zu sitzen. Hunter startete währenddessen einen Beamer, mit welchem er Fotos und kurze Videos auf eine ausklappbare Leinwand projizierte.

»Bei einem der Opfer, das wir als sogenanntes It-Girl Beverly Landry, online auch bekannt als GoldilocksGoneBad, haben identifizieren können, die vor etwas mehr als fünf Jahren verschwunden ist, konnten wir ein Smartphone sicherstellen. Informationen zu Hersteller und Modell entnehmt ihr bitte Anhang 1F aus der vorgelegten Akte.«

In diesem Moment reichte er ihnen jeweils einen noch dünnen, hellbraunen Papierordner, und die beiden schlugen die entsprechende Seite auf.

»Wie ihr feststellen werdet, war es weder Zufall, dass sie während ihrer Entführung Zugriff zu ihrem Telefon hatte, noch, dass es bei ihrer Leiche gefunden worden ist. Offenbar gehört es zum Modus Operandi unseres Täters, doch bevor das Täterprofil vom FBI veröffentlicht ist, möchte ich dazu noch nicht viel sagen.«

Ro schnaubte, was von Hunter komplett ignoriert wurde, also sagte er: »Ich bezweifle, dass diese überbezahlten Fuzzis uns was Brauchbares werden liefern können. Das hier ist kein gewöhnlicher Serienkiller.«

Fast hätte es ihn amüsiert zu beobachten, wie Broussard versuchte abzuwägen, inwiefern er auf seinen Einwand eingehen sollte. Da der sich dagegen entschied, etwas zu sagen, wandte er sich direkt an Snider: »Keine Sorge, ich will niemandem ans Bein pissen, aber wir sollten uns nicht zu sehr versteifen und auch unkonventionelle Optionen in Betracht ziehen.«

Zu seinem Erstaunen musterte die jüngere Polizistin ihn mit einem Mal interessiert, und schließlich nickte sie anerkennend, ehe sie antwortete: »Ich weiß nicht, inwiefern Sie mit meiner Akte vertraut sind, Harding –«

»Ro«, unterbrach er sie kurzerhand, und sie nickte erneut.

»Alles klar, Ro, dann bin ich gerne Bobby. Jedenfalls rennst du da bei mir offene Türen ein.«

Er mochte Bobby, das stand für ihn auf Anhieb fest. Sie wirkte direkt, aufrichtig und wie jemand, dem es vor allem am Herzen lag, den Fall aufzuklären und so Gerechtigkeit für die Opfer zu erlangen. Beide tauschten einen kurzen Blick und ein überraschend warmes Verschwörerlächeln, als Hunter sich räusperte, um ihre Aufmerksamkeit zurückzugewinnen.

»Wie auch immer, unser Täter hat das Handy so präpariert, dass man damit weder ins Internet gehen, noch anrufen konnte. Letztlich hat unser Opfer in mehr oder weniger regelmäßigen zeitlichen Abständen die Möglichkeit gehabt, Fotos zu machen oder Videos aufzunehmen. Dabei sieht man, dass sie sich mit anderen Gefangenen in schicken Räumlichkeiten aufhält, jedoch immer mehr körperlich verfällt. Scheinbar hat sie auch versucht, die Umgebung durch eine Fensterscheibe zu filmen. Vielleicht, um Anhaltspunkte über ihren Aufenthaltsort zu geben, doch was auch immer sie gesehen haben mag, auf der Aufnahme sind ausschließlich milchige, undurchsichtige Fenster zu erkennen.«

Von einigen Fotos oder Momentaufnahmen gab es Kopien im Ordner, und als sein Blick auf das einst so hübsche Mädchen fiel, das zum Schluss im wahrsten Sinne des Wortes nur noch Haut und Knochen gewesen war, spürte er Wut und Ekel in seiner Brust hochkochen.

Selbst für jemanden seiner Art war dies ein über alle Maßen grausamer Fall, und er würde nicht eher ruhen, bis dieses sadistische Monster aufgehalten war.

»Alle Informationen, die wir bisher haben, sind in dieser Mappe. Bobby, hast du die Liste von Leuten, die du im Team haben willst?« Auf Broussards Frage hin wurde ihm ein eilig bekritzeltes Blatt gereicht, welches er zunächst auseinanderfalten musste. Kurz überflog er die Namen und zog die Stirn kraus.

»Hanako Murakami? Ich dachte, ihr beiden redet nicht miteinander?«

Bobby lachte kurz und zuckte mit den Schultern, dann antwortete sie: »Wir müssen keine Freundinnen werden, aber während ich mich manchmal in meinem kreativen Chaos verliere, bin ich froh jemanden zu haben, der so detailverliebt und gründlich arbeitet. Sie ist ein Hauptgewinn, wenn es darum geht, etwas zu sehen, das alle anderen übergehen.«

Ro und Bobby erhoben sich, um gemeinsam das Büro zu verlassen. Draußen räusperte er sich und konnte seine Neugier nicht zurückhalten. »Wieso redet ihr nicht miteinander?«

Wieder lachte Bobby und schüttelte den Kopf. »Nicht wichtig. Wir arbeiten super zusammen, sind aber wohl einfach zu unterschiedlich.«

Damit ließ sie ihn stehen und wandte sich ab, um zu ihrem Büro zu gehen, während er überlegte, wo er den stärkst möglichen Kaffee herbekam.

03. Kapitel

»Ich nehm doch lieber das rote Kleid«, meinte sie mit kritischem Blick in den Ganzkörperspiegel, während sie sich ein wenig drehte und den Bauch einzog.

Hinter ihr ertönte ein genervtes Seufzen, das sie gekonnt ignorierte. Dann schlüpfte sie kurzentschlossen aus dem weißen Einteiler, den ihr bester Freund und Cousin für sie ausgesucht hatte. Als der fließende Stoff ihres roten Lieblingskleids ihre Haut berührte, entspannte sie sich, und ein Blick in den Spiegel bestätigte, dass es wesentlich schmeichelhafter ihre Figur betonte.

»Klar siehst du in dem Kleid heiß aus, aber der Einteiler hat einfach was von Urlaub an der Cote d’Azur oder auf Capri.«

Sie rollte mit den Augen auf Behzads Kommentar hin und zuckte mit den Schultern. »Wenn ich mich fett und unwohl fühle, mach ich beschissene Bilder.«

Das schien er gelten zu lassen. Während die Dritte im Bunde, Sahar, ihr dabei half, ihre schimmernden, dunklen Haare zu glätten, kümmerte er sich um sein spektakulär buntes Augen-Make-up.

Behzad, Sahar und Mahsa waren nicht einfach nur befreundet, sondern über verschiedene Ecken miteinander verwandt und zusammen aufgewachsen. Als Kinder wohlhabender persischer Migranten waren sie in den Vereinigten Staaten geboren und genossen ein Leben voller Luxus, Annehmlichkeiten und die Freiheit zu tun, worauf immer sie Lust hatten.

Heute würde Mahsa Bilder für ihren MeCam-Account machen, durch den sie ihre knapp sechshunderttausend Anhänger an ihrem beneidenswerten Leben teilhaben ließ. Während sie sich fertig machten, lief über Lautsprecher der Soundtrack eines neuen Bollywoodfilms, zu dem Suraj Singh, ein Freund ihrer Familie, Regie geführt hatte. Von all den einflussreichen und wohlhabenden Bekannten ihrer Eltern war der schmal gebaute Sikh ihr stets am liebsten gewesen. Er behandelte jeden Menschen mit Respekt, und wenn er lächelte, zwangen seine Grübchen einen dazu, mitzumachen. Seine samtige Stimme zog jeden zusätzlich in seinen Bann.

Obwohl es heute ganz um sie gehen sollte, ließ es ihr Cousin Behzad sich natürlich nicht nehmen, alle Blicke auf sich zu ziehen. Vor zwei Monaten hatte er ihnen verkündet, dass er sich von nun an als ungeschlechtlich identifiziere und weder Mann noch Frau wäre. Im realen Leben hatte das zur Folge, dass Behzad seine weichen Rundungen mit grellbunten Stoffen in Szene setzte, sich jeden Tag eine Tonne Farbe ins Gesicht klatschte, Turbane mit Pfauenfedern sowie Stiefeletten mit hohen Absätzen trug und seine Eltern regelmäßig an den Rand eines Nervenzusammenbruchs brachte, worum es letztlich vermutlich ging. Sahar und sie waren sich einig, dass er der gleiche durchgeknallte schwule Bär war wie zuvor auch, doch er war seit jeher anfälliger als die beiden für jeden, vor allem ›queeren‹, Internettrend, und so ließen sie ihn sich eben ausleben, wie es ihm gefiel.

Schließlich setzte sie sich auf der Terrasse des Hotelzimmers, das sie für diesen Zweck angemietet hatten, in Szene. Mal blickte sie verträumt in die Ferne, dann hielt sie sich den Strohhalm ihres pinken Mädchendrinks an die Lippen, ohne auch nur einen Schluck zu nehmen. Mit Sonnenbrille, dann ohne. Haare offen und schließlich hochgesteckt. Nach dem roten Kleid folgte noch der neue schwarze Markenbadeanzug mit viel Schmuck und einem breiten Sommerhut, wobei sie sich geschickt verrenkte, damit ihre Beine möglichst lang und ihre Taille besonders schmal aussahen.

»Ich hasse es, das zuzugeben, aber Mahnusch hat recht. Ich brauch wirklich eine größere Oberweite«, kommentierte sie mit einem Seufzer, als sie durch die bisher geschossenen Aufnahmen sah. Erst vor vier Monaten hatte sie sich ihre Nase endlich begradigen lassen, und nach einer Fettabsaugung war sie auch deutlich zufriedener mit ihrem Bauch. Seit dem Eingriff versuchte sie auf Süßigkeiten zu verzichten und sich mehr zu bewegen.

Nächstes Jahr würde ihre Hochzeit mit Azad stattfinden, für die so viel Geld ausgegeben wurde, dass selbst ihre luxusverwöhnte Mutter kurz die Augenbrauen erhoben hatte. Doch Mahsa hatte sie davon überzeugt, dass die Feier dasgesellschaftliche Event nächstes Jahr werden musste. Die Verwandtschaft würde von überall aus der Welt eingeflogen werden, und für einige Tage hatten sie eins der renommiertesten Hotels der Stadt nur für die Feier und ihre Gäste gebucht. Mit ihrem maßgeschneiderten Hochzeitskleid mit einem engen, mit Diamanten übersäten Korsett und einem ausladenden Rock für etwas über fünfundzwanzigtausend Dollar hatte sie sich ihren Mädchentraum erfüllt. Der dazugehörige Schleier mit Diadem allein kostete so viel, wie manch anderer in mehreren Monaten verdiente.

Sie hatte ihren Vater, der sich nach außen hin gern streng gab, sich aber seit jeher von seiner einzigen Tochter schnell um den Finger wickeln ließ, rehäugig angesehen und gesagt: ›Willst du nicht, dass das der schönste Tag in meinem Leben ist, Baba?‹

Da war er von einem auf den anderen Moment geschmolzen und hatte seine schwarze American Express Card gezückt und sich als Dank einen Wangenkuss und ein süßes Lächeln von Mahsa abgeholt.

Jedenfalls würde sie sich vor der Hochzeit noch die Oberweite ein wenig vergrößern lassen, damit auch wirklich alles perfekt war. Musste die Designerin das Kleid eben nochmal etwas anpassen. Was konnte das schon kosten?

Irgendwann waren eindeutig genug brauchbare Bilder dabei, die sie später noch bearbeiten würde. Sie machten sich daran, die mitgenommenen Outfits, Schminke und Accessoires zusammenzupacken, damit sie nachher von einem Angestellten abgeholt werden konnten. Dann überprüften sie ihre Outfits, Make-up und Haare nochmal, bevor sie sich an die Hotelbar begaben.

 

***

 

»Was ist denn nur los mit den Männern? Da will man ein wenig flirten und kassiert so eine dumme Abfuhr? Im Leben war der doch nicht hetero.« Behzad schlürfte missmutig und geräuschvoll an seinem Strohhalm, der außer schmelzendem Eiswasser nichts mehr im ansonsten leeren Glas finden würde. Aufgrund der geringen Gästeanzahl an der Hotellobby waren sie weitergezogen und befanden sich nun in einer ihrer Lieblingslocations.

»Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll, Schatzi, aber du siehst nun mal aus wie ein Kleinkind, das sich mit einem Wasserfarbkasten bemalt hat und Verkleiden spielt. Mag sein, dass schwule Männer manche Sachen anders bewerten, aber wenn ich als Frau sowas an einem Mann niemals sexy finden würde, warum soll das dann bei anderen Männern anders sein?«

Behzad sah so ungläubig aus, wie Mahsa sich fühlte. Sahar war in der Regel die Schweigsamste unter ihnen, sie ließ die zwei ihre Show abziehen, und auch wenn man durchaus Spaß mit ihr hatte, war sie oft genug die Stimme der Vernunft. Dass sie Behzad so knallhart mit der Wahrheit konfrontierte, war ungewöhnlich, zeigte aber auch, dass sie genug von seinem Selbstmitleid hatte. Mahsa feierte sie innerlich.

Bevor ihr Cousin wütend werden konnte, erhob sie sich und verkündete: »Die nächste Runde geht auf mich.«

Damit machte sie sich auf den Weg zur Bar. Als sie mit drei Long Island Iced Teas zurückkam, war eine hitzige Diskussion zwischen ihren beiden Begleitern ausgebrochen.

»Wie kannst du mich wegen meines Aussehens angreifen? Wenn ich mich auf meine Freunde nicht verlassen kann, auf wen dann?«

»Oh bitte. So ein Blödsinn. Ich bin ehrlich zu dir, weil ich dich gernhab. Meinetwegen lauf rum, wie du willst, aber heul hier nicht rum, weil irgendwelche Kerle, die du heiß findest, dich nicht ernst nehmen.«

Genervt ergriff Mahsa ihr Handy zur Hand und öffnete ihren MeCam-Account. Desinteressiert sah sie die Reaktionen auf diverse Posts von ihr an, dann warf sie einen Blick auf die eingegangenen Mitteilungen. Mit erhobener Augenbraue las und löschte sie anzügliche Anfragen von Männern. Dann antwortete sie auf ein paar nette Zeilen, und schließlich setzte ihr Herz aus, als in einer Nachricht stand: Hey Schönheit. Lass dich von den Streithähnen nicht ärgern.

Eilig hob sie den Blick und ließ ihn durch den Raum gleiten, doch niemand beobachtete sie oder sah auch nur vage in ihre Richtung. Also las sie weiter.

In der zweiten Kabine der Damentoilette wartet eine Überraschung auf dich. Keine Sorge, nur etwas, das einer Prinzessin wie dir zusteht. In tiefer Verehrung, ein Bewunderer.

Ihr Herzschlag war beschleunigt, und das Blut rauschte ihr in den Ohren. Ein Teil von ihr fühlte sich geschmeichelt und war eindeutig neugierig, ein anderer war besorgt und fragte sich, wer wissen konnte, wo genau sie gerade war. Natürlich könnte jeder hier drin sie von einem ihrer Fotos erkannt haben.

»Mahsa, erklär dem Vollidioten bitte, dass es mir sonst wo vorbeigeht, wie er sich anzieht. Ich wollte einfach helfen. Mir kann es egal sein, ob er nie wieder Sex hat.«

Mahsas Atmung ging beschleunigt, und statt Sahar zu antworten, stand sie auf und sagte: »Ich muss mich kurz frischmachen.«

»Ich komm mit.« Dankbar erhob sich auch Sahar, und die beiden Mädels liefen geübt auf ihren hohen Absätzen zu den Toiletten. Die ganze Zeit über, auch, als sie beide in ihren jeweiligen Kabinen waren, drang die Stimme ihrer Freundin weiterhin an Mahsas Ohr, doch sie konnte sich nicht auf deren Lästereien konzentrieren. Stattdessen sah sie sich eilig um. Nichts. Na toll, scheinbar hatte jemand sich einen üblen Scherz erlaubt und amüsierte sich nun prächtig über die Tatsache, dass sie den Köder geschluckt hatte. Sie wollte wieder gehen, als ihr Blick auf einen goldenen Fetzen fiel, der hinter dem Spender mit Desinfektionsmittel für den Sitz steckte. Er entpuppte sich als kleines, quadratisches Kuvert, in dem etwas dickeres Papier in der Größe einer Visitenkarte steckte. Es war ebenfalls golden und mit fein geschwungenen, schwarzen Buchstaben beschriftet:

 

Vollmond-Maskenball

In der Nacht, da der Mond in seiner vollen Pracht erstrahlt,

Wollen wir uns wonnevoll in ewiger Jugend und Schönheit baden.

Ein Fahrer wird euch an den Ort geleiten, dich und eine Begleitperson.

Sprichst du zu jemandem sonst über diese Einladung, siehe sie als nichtig an.

 

Eilig machte sie ein Foto von der Einladung und klickte auf die Nachricht, die ihr geschickt worden war. Das Profil hieß Full.Moon.Ball und verriet ihr absolut gar nichts. Die Person hatte keine Anhänger, und es gab weder Bilder noch sonst etwas darauf zu sehen. Sie schickte das geschossene Bild als Antwort in die Nachricht und schrieb: Woher weiß ich, dass du kein Creep bist, der mir was antun will?

Jemand tippte, und Mahsa setzte sich mit pochendem Herzen auf den geschlossenen Toilettendeckel, während Sahars Stimme von draußen ertönte: »Geht’s dir gut da drin?«

»Ja, alles gut. Geh bitte schon mal zurück. Ich komm gleich.«

In dem Moment erschien die Antwort: Gar nicht. Deswegen kannst du jemanden mitnehmen. Es ist exklusiv, um etwas Besonderes zu bleiben. Aber wenn du kommst, verspreche ich dir die Nacht deines Lebens.

04. Kapitel

Die Kopfschmerzen waren wieder da, doch die erste Unterweisung war überstanden. Obwohl sie bei Hunter über die Leitung der SoKo gejammert hatte, war Bobby nun voll in ihrem Element, und mit ihrem Team hätte sie nicht glücklicher sein können. Natürlich waren aus irgendeinem Grund auch die beiden Knallköpfe Pete O’Donnell und Felipe Ramirez dabei, doch immerhin beklagten die sich nicht, als Bobby sie dazu einteilte, die Klingeln in der Gegend, in welcher die Leichen gefunden worden waren, zu putzen und die Zivilbevölkerung zu befragen.

Sämtliche Aufgaben waren delegiert, und sie packte sich einen Stapel Akten mit Obduktionsberichten unter den Arm, welche sie zuhause noch einmal durchsehen würde. Unter vier Augen bat sie Ro Harding darum, ihr ein paar Stunden dringend benötigten Schlaf zu ermöglichen, indem er sie vertrat.

»Ich dachte schon, dass du normalerweise frischer aussiehst. Geh pennen, sonst denken die Leute noch, wir drehen hier `ne neue Zombieserie.«

Jemand anderes hätte ihm diesen Kommentar vielleicht übelgenommen, doch sie lachte, während er ihr zuzwinkerte. Ein wenig ihrer Anspannung fiel ab, und sie lief mit Akten bepackt zu ihrem Auto.

Zuhause angekommen fiel ihr Blick zuerst auf einen Wäschekorb mit fein säuberlich gefalteten Unterhosen für mindestens drei Wochen und auf ein paar auf dem ausgeklappten Wäscheständer hängenden Blusen. Auf dem Küchentresen lag ein Zettel:

 

Hallo Engel,

guck in den Kühlschrank. Bevor du wieder nur Fast Food isst, komm gern bei mir vorbei.

Die Bluse mit dem Rotweinfleck habe ich mitgenommen. Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du solche Flecken gleich einweichen sollst?

Mama

 

Im Kühlschrank fand sie eine Tupperware mit herrlich duftendem Gemüseeintopf vor. Während ein voller Teller in der Mikrowelle warm wurde, schickte sie ihrer Mutter noch eine Nachricht, um sich zu bedanken.

Mit vollem Magen und nach der Einnahme einer Kopfschmerztablette sank Bobby schwer wie ein Stein ins Bett. Sie schlief wie eine Tote, und als ihr Wecker nach fünf Stunden klingelte, fühlte sie sich erholt genug, um sich mit den Obduktionsberichten zu befassen. Ro Harding hatte ihr eine Sprachnachricht geschickt, in welcher er sie auf dem Laufenden hielt und ihr erklärte, dass er sie anrufen würde, sobald sich etwas Neues ergab. Das Verhalten des älteren Ermittlers wollte so gar nicht zu den Erzählungen passen, welche auf dem Revier über ihn kursierten. Noch war sie nicht sicher, ob das Entwarnung bedeutete, was ihn anging, oder ob sich erst im Laufe der Zusammenarbeit zeigen würde, weshalb niemand es auf Dauer mit ihm aushielt.

Während sie sich die Schlüsse der Rechtsmedizin durchlas, gönnte sie sich zwei Tassen starken Kaffees. Irgendwann war es an der Zeit, wieder in Richtung Präsidium aufzubrechen, da die anderen Ermittler ihr in einer halben Stunde Bericht über ihre Ergebnisse zu erstatten hatten. Im Anschluss würden sie versuchen, so gut es ging, aus den bisher gewonnenen Erkenntnissen eine grobe Skizze zu zeichnen. Ihr Telefon piepte, und Hunter ließ sie wissen, dass ein erstes Täterprofil vom FBI eingetroffen war. Nun würde es an ihr sein, die Behörde in Washington über alles zu informieren, was helfen konnte, das Bild desjenigen, den sie suchten, zu vervollständigen.

 

***

 

»Wie ihr also dem Täterprofil entnehmen könnt, ist auch das FBI ziemlich ratlos, mit wem wir es hier zu tun haben. Zum jetzigen Zeitpunkt müssen wir davon ausgehen, dass der Täter ein Mann ist. Während er mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit über vierzig ist, können über Herkunft und Motiv bisher keine Angaben gemacht werden. Er ist überdurchschnittlich intelligent und arbeitet eventuell nicht alleine. Eine oder mehrere devote Persönlichkeiten scheinen in seinem Auftrag zu handeln.«

Seit sie die vagen Angaben zu ihrem Täter gelesen hatte, waren Bobbys Kopfschmerzen zurück. Dass der Täter männlich und sehr intelligent war, hätte sie auch ohne Spezialausbildung in Quantico sagen können. Das war, als würde man auf einen Kackhaufen auf einer Wiese zeigen und sagen: ›Mit großer Wahrscheinlichkeit war der Täter ein Hund.‹

Ein wenig ratlos sah sie in die Gesichter ihrer Kollegen und meinte mit einem Seufzer: »Gibt es sonst noch etwas, das wir wissen sollten?«

Ihr Blick blieb an Hanako Murakami hängen, der aus jeder Pore zu dünsten schien, dass ihr etwas auf der Seele brannte. Doch ihre fein geschwungenen Lippen blieben geschlossen. Sie konnte nicht genau erklären, was es an der anderen Frau war, das sie irritierte, doch ihre stets beherrschte Zurückhaltung im Gegensatz zu Bobbys eigener Impulsivität war mit Sicherheit einer der Gründe.

Sie seufzte erneut, fuhr sich mit beiden Zeigefingern mit etwas Druck über die Augenbrauen und Schläfen, dann sagte sie betont ruhig und offensichtlich genervt: »Ich denke, wir profitieren alle davon, wenn wir unsere Erkenntnisse oder auch nur Vermutungen miteinander teilen. Wir sollten uns auch nicht alles aus der Nase ziehen lassen.«

Kurz färbte sich das ebenmäßige Gesicht ihrer Kollegin rot, dann nahm sie einen Schluck Wasser und atmete durch. Als sie sprach, klang ihre Stimme hell, jünger, als es Hanakos tatsächlichem Alter entsprach, und doch melodiös. »Es ist nur ein Gerücht, das ich noch nicht bestätigen konnte. Deswegen wollte ich noch nichts sagen, aber angeblich gibt es in unregelmäßigen Zeitabständen in verschiedenen Ländern geheime Zusammenkünfte. Angeblich gibt es wenige Informationen dazu im Darknet, doch selbst da ist man sich nicht sicher, was real ist und was urbane Legende. Jedenfalls sollen in den letzten Jahrzehnten auf solchen Zusammenkünften immer wieder junge Leute verschwunden sein, die Jahre später in ähnlichem Zustand wie unsere Leichen aufgefunden wurden.«

Bobbys Kiefer klappte auf. »Und was weiß man darüber, wer diese Zusammenkünfte veranstaltet?«

»Nichts. Angeblich heißen diese Events Vollmondbälle. Ich war früher ziemlich in der Goth- und Emo-Szene unterwegs, und da gab es verschiedene Gerüchte. Natürlich wollten wir alle immer eine der sagenumwobenen goldenen Einladungen dazu bekommen, aber ich habe es irgendwann als Mythos abgetan und lange nicht mehr daran gedacht. Laut der Klatschgeschichten im Internet hat so ein Vollmondball damals in New Orleans stattgefunden, als Beverly Landry und die anderen Kids verschwunden sind.«

Sie hätte niemandem erklären können, woher sie wusste, dass sie dieser Spur nachgehen mussten. Auch bei den getöteten Gospelsängerinnen war es so gewesen. Eine absolute Ruhe und Klarheit überkam sie innerlich, wenn außer Frage stand, dass sie eine richtige Abzweigung nahmen. Schon früh hatte sie erkannt, dass diese Intuition sie von anderen Menschen unterschied. Bedacht nahm sie einen Schluck Wasser und erlaubte sich, zu Harding zu blicken, welcher mit überkreuzten Armen an der Wand lehnte. Was sie auf seinem Gesicht las, bestätigte eine weitere Vermutung: Auch in seinen Augen war das nicht ausschließlich eine urbane Legende, sondern eine Spur, der sie würden nachgehen müssen.

Sie räusperte sich und sagte an Hanako gewandt: »Bitte schnapp dir Hank von der IT und durchforstet das Internet. Ich will alles sehen, was ihr zu diesen Bällen finden könnt, egal, ob aus dem Darknet oder von irgendwelchen Goth-Foren. Ich geb Hunter Bescheid, dass wir Hank brauchen.«

05. Kapitel

Von seinem Platz an der Bar aus beobachtete Ro den Neuankömmling, seit er das Pub betreten und sich an einem der freien Tische im hinteren Bereich niedergelassen hatte. Der junge Mann mit der dünnen Drahtgestellbrille, der sich nervös die etwas zu langen aschblonden Haare hinter die Ohren strich und seine Ledermappe an sich drückte, wirkte hier so fehl am Platz wie Ro in einem Ballettstudio. Selbst als die junge Kellnerin mit ihrem Pferdeschwanz und den etwas zu kurzen Jeansshorts, die ihr sicher eine Menge Trinkgeld einbrachten, bei dem Hinterteil, ihn ansprach, zuckte er vor Schreck zusammen. Ro seufzte tief, exte seinen Whiskey und machte sich dann auf den Weg zu dem Tisch.

»Wird aber auch Zeit. Ich dachte schon, Sie haben mich versetzt«, meinte er mit seiner tiefen Brummstimme, während sein Termin sich eilig die Brille nach oben schob.

»Ich bitte vielmals um Verzeihung, Mr. Harding, doch mit Sicherheit verstehen Sie, dass meine zahlreichen Verpflichtungen mich –«

Ro hob eine Hand, und sein Gegenüber verstummte schlagartig. »Ersparen Sie mir dieses Blabla. Seien Sie so gut.«

Kurz stand dem jungen Mann die Empörung ins Gesicht geschrieben, während er mit offenem Mund nach Worten suchend an einen Fisch an Land erinnerte.

Dann kam die Kellnerin zurück, stellte einen Gin Tonic vor ihm ab und wandte sich mit einem gekonnten Lächeln an Ro. »Und für dich sicher was Stärkeres, Daddy? Wir haben erstklassigen Bourbon hier.«

Ihre freche Art ließ ihn grinsen, und er stieg nur allzu bereitwillig auf ihren Flirt ein. »Gibt nichts Besseres als ein Mädel, das weiß, wie man einen Mann glücklich macht. Immer her mit dem Bourbon.«

Sie zwinkerte ihm zu, und als sie sich abwandte, um in Richtung Bar zu verschwinden, räusperte sich sein Gegenüber, um Ros Blick von der Rückansicht der Kellnerin zu sich zurückzulotsen.

»Mr. Harding, wären Sie so gütig, mich einzuweihen, weshalb Sie mich sprechen wollten?« Der britische Akzent seines Gesprächspartners ließ Ro grinsen, denn natürlich sorgte seine elegante Art, sich auszudrücken, dafür, dass er erst recht nicht in diese abgeranzte kleine Spelunke passte.

Dr. Daniel Atkinson war Dozent für antike und mittelalterliche Philosophie sowie für Latein und Altgriechisch an der Notre Dame University, aber er war auch Mitglied der S.E.P., der Société pour d'événements particuliers. Diese im Untergrund operierende, von Sterblichen geführte Geheimgesellschaft beschäftigte sich mit der Dokumentation und Untersuchung übernatürlicher Vorkommnisse und Begebenheiten. Bereits im achtzehnten Jahrhundert gegründet, spannte sich ihr Netzwerk über den gesamten Globus, und auch wenn ihre Mitglieder seinesgleichen stets mit Skepsis und Distanz gegenübertraten, war beiden Seiten klar, dass sie voneinander profitieren konnten, wenn es um den Schutz unschuldiger Menschen ging.

»Ich hasse es, wenn ihr kleinen Korinthenkacker euch dumm stellt. Sie wissen

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Jacqueline Schiesser, Katarina Jensen
Bildmaterialien: Ionesco_stefania, Digital Curio
Cover: Katarina Jensen
Korrektorat: Dr. Andreas Fischer
Satz: Katarina Jensen
Tag der Veröffentlichung: 25.10.2022
ISBN: 978-3-7554-2403-1

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