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Mein Vater wirft mir einen seltsamen Blick zu. Stundenlang haben wir im Keller Großvaters "Schätze" sortiert und über ihn gesprochen. Damals, vor vier Jahren, konnten wir es nicht. als Großvater starb wurden die Sachen einfach zusammengepackt und hier vorerst begraben.
Sacht streiche ich über die mitgenommenen Einbände einiger uralter Pappkinderbücher. Ich kenne sie. Großvater gab sie mir früher, wenn er, Zigarre schmauchend und ein Buch auf dem Schoß, in seinem Sessel saß und in Ruh gelassen werden wollte.
Er wusste genau, dass mich die uralten Märchenbilder blitzschnell in mein Traumzauberland entführen würden, in dem es nichts gab außer Gucken und Malen. Stifte und Papier lagen auf dem riesigen Tisch.
Alle meine Erinnerungen an Großvater haben mit Ruhe zu tun. Er war mein Idol. Da er kein sehr umgänglicher Mensch war, Berührungen nur schwer ertrug und selten sprach, wog jedes Lob von ihm schwer.
"Ich war drei oder vier Jahre", beginnt Vater zögernd, als überlege er, ob er von der Sache reden wolle. "Vater war von der Front zu Besuch. Auf dem Kirchplatz, gegenüber unserem Haus, arbeiteten russische Kriegsgefangene. Trotz der recht strengen Bewachung gelang es uns Kindern ab und zu, ihnen eine Scheibe Brot zu zu stecken. Wir waren nicht "gegen" irgendetwas, sie sahen einfach nur so hungrig aus, dass wir Mitleid hatten.
Eines Tages erwischte mich Vater dabei. Er schlug mir das Brot aus der Hand und dann eine gewaltige Backpfeife. In mein Aufheulen hinein sagte er:
'Den Vaterlandsfeinden gibt man kein Brot.'"
Wir sitzen auf den Kisten im Keller und schweigen. Vieles geht mir durch den Kopf.
Irgendwann fragte ich die Großeltern nach dem Krieg und nach Hitler. Sie sprachen von Arbeit und Brotpreisen. Von Politik hatten sie beide nicht viel gehalten. Die Partei? Großvater war ihr nie beigetreten. Krieg? Der begann für sie erst, als Großvater eingezogen wurde. Judenverfolgung? Großmutter war Kindermädchen bei einem jüdischen Arztehepaar und dessen zwei Kindern. Eines Tages erklärte ihr ihr Arbeitgeber, sie müssten Deutschland verlassen und ob sie nicht mitkommen wolle.
Sie wollte nicht.
Die Familie verließ unbehelligt das Land.
Großmutter war traurig und verstand es nicht. Doch was man ab und an über andere Arten der Judenverfolgung hörte, hielt sie für Stimmungsmache. Und die KZs? Na ja, da kamen doch die Schwerverbrecher hin, um umerzogen zu werden. Oder? Das Leben ging weiter. Erst nach dem Krieg kamen die Fragen:
"Hätte man nichts merken müssen?"
Nein, sie waren nicht ignorant, sie lebten nur in einer kleinen abgeschlossenen Welt in der Welt, mit eigenen Regeln und einem hohem Zaun aus Alltagsproblemen zwischen sich und dem Rest.
Ich wuchs bei den Großeltern die wichtigsten Jahre meiner Kindheit auf. Wenn heute meine Freunde mein Gerechtigkeitsgefühl und meine Toleranz loben, weiß ich, dass sie dafür Großvater Dank schulden.
Meine Art zu denken, mich mit Dingen auseinanderzusetzen, Fragen zu stellen - er legte den Grundstein dazu.
Die Liebe zur Kunst und Literatur - Großvater schleppte mich in die Museen und in die Oper und lehrte mich spielend die Freude daran.
Vater wartet auf eine Antwort von mir.
Ich habe keine.
Jedenfalls keine, die das, was den kleinen Jungen derart verletzte, dass er es noch 50 Jahre später weiß, erklären oder entschuldigen würde.
"Glaubst du mir nicht?" fragt er.
"Doch. Schon. Aber allein bekomme ich das nicht in Großvaters Bild und der einzige, der es mir erklären könnte, lebt nicht mehr. Verstehst du?"
Er wendet sich der nächsten Kiste zu und nickt, trotz allem irgendwie zufrieden.

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Texte: Copyright by Xelanja
Tag der Veröffentlichung: 19.04.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Meiner Familie

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