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To Hell

Ich habe dich nachts getroffen. Es war in einem dieser Clubs.

Ich war nicht betrunken. Nur ein bisschen. 

Wir kennen uns, du lächelst, als unsere Blicke sich treffen, und am Ende liegst du in meinem Arm, obwohl wir beide nicht mehr wissen, wie du dahin gekommen bist.

Du warst so betrunken.

Und ich so verzaubert.

Da war dein Lachen, deine Hand in meinem Haar, ich habe dein Shampoo gerochen und deine Gänsehaut gespürt, als ich dich immer näher zu mir gezogen habe, bis da nur noch der wummernde Bass zwischen uns war.

Die anderen haben geguckt. Aber das war mir egal.

Wir haben uns nie geküsst.

Das bereue ich bis heute. 

 

Und jetzt stehst du vor mir, in deinem Kleid, das dir so gut steht, du lächelst mich an, wie immer, und mein Herz bricht ein Stück, wie immer, als du dein Abizeugnis entgegen nimmst und mir zuwinkst.

Das hier ist das letzte Mal.

Ich sehe, wie du dich in den Armen eines Anderen drehst, auf der Tanzfläche am Abend, und ich wünschte mir, es wären meine, aber ich sitze nur da und trinke. Der Junge, der mich hinein geführt hat, ist längst fort, mit irgendwelchen Freunden. Und alle anderen haben mich vergessen, auf meinem Platz.

Wir stoßen gegeneinander, wenig später, vor der Toilette.

“Hi”, sage ich.

“Hey”, lächelst du.

“Wo gehst du hin?”, frage ich.

“Nach Afrika”, antwortest du, “Und du?”

“Ich weiß nicht”, meine ich und schlucke. “Wie lange?”

“Mal sehen”, lächelst du und lehnst dich ein winziges Stück vor, genug, damit ich zu zittern beginne. Dann verschwindest du, untergehakt bei einer Anderen, und du nimmst mich mit, einen Teil von mir, zumindest.

Wieso Afrika? Ich frage es mich immer wieder, abends, mit der Flasche Korn auf dem Bordstein, morgens, als ich im Bett meines Begleiters aufwache, mittags, als ich mit den Schuhen in der Hand Zuhause klingel.

“Wo warst du?”, fragt meine Mutter und ich schüttel den Kopf.

“Wohin gehe ich.”

“Was meinst du?”

“Ich gehe nach Afrika”, meine ich und versuche, das Blut an meinem Knie zu verbergen.

“Schätzchen”, sagt Mama, und ich beginne, zu weinen. Sie umarmt mich und streicht über mein Knie, und dann weine ich noch mehr. 

Wieso Afrika? frage ich leise und sie hört es nicht, aber ich und das reicht. Ich frage es mich in der nacht, als ich mit einer Wärmflasche im Bett liege und an die Decke starre, ich frage es mich morgens beim Frühstück, das ich stehen lasse und ich frage es mich nachmittags, als ich all die Nachrichten in meinem Handy ignoriere.

“Ich muss gehen”, sage ich ein paar Tage später, und meine Eltern nicken. Sie wissen das.

Und als ich das Flugticket buche, mit zitternden Händen, weiß ich immer noch nicht, warum du mir so weh tust, mit jedem deiner Blicke. 

Als ich am Flughafen stehe, ist meine Begleitung vom Ball da. Er sieht traurig aus. Ich breche noch ein Herz, als ich ihm zuwinke und im Gate verschwinde - ich weiß das, aber es ändert nichts.

Im Flieger sitze ich neben einem jungen Mädchen, aber sie ist nicht du. Wir reden eine Weile, dann schlafe ich, das erste Mal seit Tagen. Als ich aufwache, sind wir noch nicht da. 

“Wieso Afrika?”, fragt das Mädchen neben mir.

“Das frage ich mich auch”, erwidere ich und lächele, aber ich will weinen. Was tue ich. Als meine Freundin mich anruft, fühle ich mich schlecht.

“Wo bist du?”, fragt sie aus dem Telefon.

“Im Flugzeug”, erwidere ich.

“Da darf man nicht telefonieren.”

“Stimmt.”

“Wo fliegst du hin?”

“Nach Afrika.”

Stille.

“Du lässt mich allein.”

Plötzlich frage ich mich, ob ich ihr Afrika-Mädchen bin, diejenige, die sie mit jedem Lächeln umbringt. Ich weiß es nicht, aber ich glaube es nicht. Weil es dich nicht zweimal geben kann.

“Ich komme wieder.”

“Wann?”

“Wenn ich sie gefunden habe.”

“Wer ist sie?”

“Was machst du?”

“Ich bin bei dir Zuhause.” Ich denke an mein Zuhause, das kleine Zimmer, voller Notizbücher, voll von dir - “Wieso hast du nichts gesagt?”, fragt es aus dem Hörer.

“Konnte ich nicht”, antworte ich und sehe aus dem Fenster, “Konnte ich nie.”

Sie weiß es - aber sie spricht es nicht aus. Wir legen auf. Das Mädchen neben mir sieht auf. 

“Suchst du jemanden?”, fragt sie leise und ich zucke zusammen. 

“Nein”, meine ich schnell und schüttel den Kopf, das Mädchen nickt. “Tust du doch.”

“Ja”, nicke ich. “Aber es ist besonders.” Du und dein verdammtes Augenzwinkern, die Art, wie du dich immer wieder ein Stück weiter nach vorne beugst, wenn wir sprechen.

“Das ist es immer”, meint die neben mir leise und als ich sie am Flughafen am Gepäckband wieder treffe, küsst sie mich zum Abschied. Sie schmeckt nach Salz und Reue. 

Ich weiß nicht, wie es ist, in Afrika, und ich weiß es immer noch nicht. Du bist hier irgendwo, das weiß ich sicher, und das macht den Raum kaputt, unbedeutend. Wieso Afrika, frage ich mich erneut, denn es ist heiß. 

Ich steige in irgendein Taxi. Afrika ist groß. Ich habe keinen Handy-Empfang, aber das ist nicht wichtig. Das Hotel, das ich mir aussuche, riecht nach Erde und Holz und die Rezeption besteht aus einem Stuhl. Der Junge, der meine Tasche ins Zimmer trägt, lächelt mir zu, aber ich setze mich bloß ins Fenster und sehe hinaus, in die glühende Hitze.

Ich habe mir Zigaretten gekauft, am Flughafen, obwohl ich nicht rauche. Du hast geraucht, manchmal. Ich puste den Rauch in die heiße Luft und er riecht nach dir.

Wir haben uns nie geküsst. Aber ich weiß genau, wie du schmeckst.

Anders, als das Mädchen im Flugzeug. Aufregender. Sie geht mir nicht aus dem Kopf. Ich weiß nicht, wieso. 

Es klopft, und der Hoteljunge steht da, er lächelt. Ich lächle auch. Er winkt und zeigt mir die Stadt. 

Sie ist nicht groß, dafür staubig, und es gibt mehr Leute, als ich verstehen kann. Sie sind überall. Vor und hinter Marktständen, in den fensterlosen Öffnungen der Lehmhäuser, sie schauen hinauf, herab oder geradeaus und sie machen mir Angst, obwohl sie sich kaum zu bewegen scheinen. 

Der Junge heißt Thomas. Seine Familie wohnt nicht in der Stadt, aber er hat einen Hund und jede Menge Gras. Während wir auf einem der Häuser sitzen und kiffen geht die Sonne blutrot am Horizont unter und ich denke an dich, während er sich vorbeugt und mich küsst. Er fasst an meine Brüste und ich will es, aber er belässt es dabei. Wir sitzen da, mein Kopf auf seiner Schulter und er streicht durch mein Haar.

“Du bist verloren”, sagt er leise und ich nicke. 

“In Afrika gibt es eine Legende”, erzählt er nach einer Weile und deutet auf den Mond, der hier viel größer ist - “Am Anfang waren Sonne und Mond Mann und Frau. Sie lebten zusammen, und ihre Kinder waren die Sterne. Eines Tages aber kam ein Häuptling und er war so reich und wohlhabend dass das Herz des Mondes entflammte, und die beiden verabredeten sich, miteinander zu fliehen. Doch die Sonne, ein zorniger Gatte, erfuhr von dem Plan und in seiner Rage fraß er alle Kinder, die er erreichen konnte. Da floh der Mond und seither jagen sie einander - der Mond ist frei und sie liebt ihre Kinder und schützt sie gut, und jede Nacht tanzt sie am Firmament, mit leuchtenden Augen und manchmal mit dem Band, das sie bei der Hochzeit mit Sonne trug. Aber eines Tages wird Sonne sie erreichen und der Mond kann nicht ewig tanzen.”

“Warum nicht?”, frage ich und starre Mond an, die heute ihr schönstes Band trägt.

“Es geht nun Mal nicht”, meint Thomas und küsst meine Stirn. Ich frage mich, wie viel er weiß.

“Es muss ein toller Häuptling gewesen sein”, stelle ich fest.

“Reich”, entgegnet Thomas.

“An was”, frage ich und denke an dich. Und ich weiß wieso Afrika.

Thomas holt mich am nächsten Morgen ab, mit seinem winzigen Motorrad. Sein Hund sitzt auf meinem Schoß, während wir fahren und ich höre, dass er singt, über dem Fahrtwind.

Afrika ist heiß. Aber alles ist nah. Thomas küsst mich nicht noch einmal.

 

Ich erinnere mich, es war in der Schule. Dein Lächeln war unschuldig wie immer und du standest vorne, hast Formeln erklärt und ich hab dir nicht zugehört. 

Da war so viel in meinem Kopf.

Jedes deiner Worte. Jede deiner Bewegungen - mein Kuli hat Kreise aufs Papier gemalt und meine Gedanken mit ihm. Da war nichts. Aber ich wollte mehr. 

Du hast mich angelächelt. Und ich zurück. 

Aber in mir tat alles weh.

 

Thomas Mutter lächelt auch - aber anders. Die Welt gerät nicht aus den Angeln, wenn sie ihren Weg geht, ihr Blinzeln lässt nichts bröckeln. Wenn du Tango bist, dann ist sie Walzer. Langsam. Ruhig. Aber stark.

Sie umarmt mich und lässt mich eine ganze Weile nicht los; als würde sie es wissen. 

“Mama”, sagt Thomas, aber da weine ich schon.

Es braucht eine ganze Weile in der sie mich vor und zurück wiegt und ein leises, afrikanisches Lied singt - mir ist heiß und mein Kopf tut weh, aber es tut gut. 

“Du bist eine Löwin”, meint sie leise, ihr Englisch ist schlecht. “Du kämpfst. Hör nicht auf damit.” Es klang schöner, auf Englisch.

Thomas streicht mir leicht über die Schulter. Es tut gut, zu wissen, dass jemand da ist, selbst hier wo ich allein gehen muss.

Ich lerne seine Schwester kennen, Namila. Ihr Lächeln ist breiter als das von Thomas und ich weiß, dass das so bleiben muss. Ich habe die blauen Flecken an seiner Seite gesehen und stelle keine Fragen.

Namila spricht nur afrikanisch, aber sie singt wie ein Engel und als Thomas Brüder und sein Vater vom Schrottplatz kommen, beginnen sie, zu trommeln. Es ist seltsam, all das zu hören - den Gesang, die Rasseln, die Rufe; ich esse Fladenbrot und lehne an Thomas’ Seite, während die Sonne immer größer wird und schließlich im Horizont ertrinkt.

“Er ist fort”, lächle ich leicht, “Jetzt kann Mond wieder rauskommen.”

Sie hört mich und bringt ihre Kinder mit - und zusammen mit ihnen klingt die Musik noch schöner.

Aber ich weiß, dass ich nicht bleiben kann. Thomas Küsse in meiner Halsbeuge sind gut, warm, weich, und ich sage ihm nichts, als ich zum Abschied durch sein dunkles Haar streiche, bevor ich im Hotel verschwinde. 

Er muss es nicht wissen. 

Noch ist er frei.

 

Ich gehe in der Nacht, vor Tagesanbruch. Das Geld lasse ich an der Rezeption, aber kein Brief, keine Telefonnummer. Ich habe lange nichts mehr von Zuhause gehört, aber das ist gut so. Das Zirpen der Grillen klingt nicht so scharf wie die Vorwürfe aus dem Telefonhörer. 

Ich habe kein Ziel, ich laufe einfach. Irgendwohin wird mich all das führen, vielleicht zu dir. Trampen ist gefährlich, ich habe Mama versprochen, es nicht zu tun, aber ich halte es nicht. Auf der Ladedecke eines Trucks fahre ich durch die trockene Welt - die Musik aus meinen Kopfhörern habe ich ausgestellt. Ich will alles hören.

Der Truck fährt in ein Reservat, das ist gut. Du wolltest in ein Reservat. Aber Afrika ist groß und obwohl das Mädchen mit den Sommersprossen Deutsch spricht, ist sie größer als du, kräftiger.

“Hallo”, strahlt sie und drückt meine Hand, obwohl sie staubig ist. 

“Ich bin verloren”, erwidere ich leise, “Ich brauche Arbeit.”

“Das sind wir alle”, lächelt sie, “Du kannst hier bleiben.”

Der Truck fährt, ich bleibe. Ob du auch dein Reservat gefunden hast, inzwischen? Ich könnte dich anrufen, aber ich lasse es. Stattdessen folge ich dem Sommer-Mädchen und ihrem Lachen. 

 

Ich weiß bis heute nicht ob ich unheimliches Glück habe, mit meinem Sommer-Zuhause oder ob jeder hier seine Hütte findet, früher oder später. Vielleicht geht man viel zu selten nach Afrika. Vielleicht müssten wir nur öfter die Wüste riechen und alles wäre gut. 

Das Sommermädchen heißt Anne. Oder Annabell. Ich weiß nicht, warum ich ausgerechnet das vergessen habe, denn den Rest von ihr weiß ich noch gut. 

Wir teilen uns ein Zimmer und sie redet viel und ein wenig erinnert sie mich an das Mädchen aus dem Flugzeug. Sie ist anders als du, das tut gut. 

“Wo kommst du her?”, frage ich sie eines Abends, als wir die letzten sind, die an dem kleinen Tisch vor dem Schlafgebäude zurück geblieben sind, zwischen leeren Bierflaschen und rauchenden Zigarettenstummeln. Die anderen Arbeiter lachen noch im Treppenhaus, aber gleich wird es still sein. Ich habe Recht - eine letzte Tür klappt und Ruhe kehrt ein. Ruhe bedeutet Grillenzirpen. Hitze. Und der Atem vom Sommermädchen.

“Aus der Hölle”, erwidert sie ruhig.

“Wie ist es da?”, frage ich.

“Laut. Und manchmal leise.”

Ich sehe die Narben an ihrem Unterarm nicht zum ersten Mal, als sie die Hand ausstreckt, um nach ihrer Flasche zu greifen. Sie erinnern mich ein bisschen an Thomas aber sie sind anders - sie trägt sie nicht für andere.

“Wartet keiner auf dich?”, frage ich vorsichtig und sie schüttelt stumm den Kopf.

“Dort fällt nicht auf wenn einer fehlt.”

“Und wenn einer dazu kommt?”

Sie sieht auf und plötzlich weiß ich ihren Namen wieder. 

“Wohin gehst du?”, fragt sie leise und greift nach meiner Hand, bevor ich auf die leeren Flaschen zwischen uns starre und schlucke.

“Ich weiß nicht”, sage ich dann, “Vielleicht dahin wo du her kommst.”

Wir bleiben noch eine Weile sitzen und schweigen. Ich starre in den Nachthimmel der hier tausend Mal so hell scheint wie Zuhause - es sind so viele Sterne, dass man das Dunkel zwischen ihnen kaum sehen kann. 

“Geh nicht dahin”, meint Anne nach einer Weile. “Egal wer es ist, das ist niemand wert.”

Überrascht sehe ich auf. “Wer?”, frage ich und weiß nicht, wieso ich so offensichtlich bin, für die ganze Welt, außer für dich.

“Es ist immer irgendjemand”, murmelt Anne leise, “Es kann noch so schlimm sein, irgendjemand tritt immer den entscheidenden Stein los.”

Ich weiß nicht, was ihre Geschichte ist, aber ich würde sie gern wissen. Trotzdem frage ich nicht. Man hat so viel Zeit, in Afrika. Die Hitze macht die Sekunden lang. Und es dauert lange, bis Anne spricht.

“Manchmal vermisse ich ihn immer noch”, sagt sie leise, “Obwohl er mich umgebracht hätte, wenn es nötig gewesen wäre.”

“Nötig für was?”, frage ich.

“Den nächsten Fix”, erwidert sie und es klingt viel zu trocken. Sie spricht nicht zum ersten Mal davon, das spüre ich. “Mein Vater hat meine Mutter geschlagen”, erzählt sie weiter, “Mein Bruder war Dauergast im Jugendknast. Nachdem Dad weg war hat Mum nur noch getrunken - ich hab die Schule geschwänzt, und irgendwann abgebrochen, dann war ich auf der Straße, ein paar Tage, weil Mum mich nicht mehr ins Haus lassen wollte. Es war scheiße, all die Jahre, aber er war mein Waterloo.”

Ihre Stimme schwankt kein bisschen, beim Erzählen, aber ich spüre, wie ihre Finger zwischen meinen beben. Ich fasse sie fester.

“Ich hab alles mitgemacht.” Ihre Stimme wurde immer leiser, das Zittern schlimmer. “Der Stoff hat es besser gemacht, zumindest dachte ich das. Die Wahrheit ist, er hat die Welt noch schlimmer gemacht. Nach jedem Fix wurde die Realität noch unerträglicher. So lange wir drauf waren, zusammen, war es okay. Dazwischen waren wir nichts. Ein absolut jämmerliches, hysterisches Nichts. Er... er hätte mich umgebracht für den nächsten Fix und ich... ich wäre gestorben, für ihn.”

Im Dunkel glänzten ihre Augen, angefacht von all dem Licht im Himmel. “Kein Mensch ist es wert, in die Hölle zu gehen”, meint sie leise und dreht ihr Gesicht zu mir, “Auch wenn du das denkst.” 

Ich denke an dich. Und plötzlich macht es mir Angst. Weil du nicht einmal Drogen brauchst, keine Familienprobleme, keine Verzweiflung, um mich in deine Arme zu treiben. Es reicht dein verdammtes Lächeln. Deine Art, dich vorzubeugen, dein Shirt noch ein Stück runterzuziehen und dir durch die Haare zu fahren, du.

“Wie hast du es weg geschafft?”, frage ich leise und bin mir nicht mehr sicher, welche unserer Hände zittert. 

“Er ist verschwunden”, antwortet sie und senkt den Blick. “Einfach weg, eines Morgens. Ich hatte kein Geld mehr, vielleicht war es das.”

Plötzlich ziehen sich leuchtende, Sternen übersäte  Bahnen über ihre Wangen und ihre Stimme bricht. 

“Ich hasse mich dafür”, flüstert sie, “So sehr. Dass er mich freigegeben musste, damit ich gegangen bin. Dass ich es nie selber hätte schaffen können.”

“Das stimmt nicht”, meine ich leise und stehe auf, um auf ihre Bank zu wechseln. Dort ziehe ich sie neben mir auf den Boden und lege den Arm um sie. Es ist seltsam, wir kennen uns nicht, aber anders halte ich es nicht aus. “Du hättest gehen können”, meine ich leise, “Aber du wolltest nicht. Da gibt es einen Unterschied.”

“Macht es das besser?”, fragt sie heiser - ich spüre wie ihre Tränen in meine Schulter ziehen.

“Nein”, erwidere ich. “Aber es ist wie es ist.” 

Anne weint weiter und ich denke über uns nach. Wir sind die Suchenden - und du, du und Annes Waterloo, ihr seid die Gesuchten. Meistens sind wir beides, irgendwann. Ich denke an meine Begleitung vom Ball und die Nachrichten, die er mir noch immer schreibt - ich schreibe nie zurück.

“Wer ist deiner?”, fragt Anne und ich zucke zusammen, weil ich nicht damit gerechnet hätte, dass die Stille zwischen uns noch einmal bricht. 

“Meiner?”, frage ich und versuche, nicht an dich zu denken, aber ich schaffe es nicht.

“Dein Grund in die Hölle zu gehen”, meint Anne heiser - sie weint nicht mehr, aber ihre Stimme reicht mir.

“Sie heißt Lina”, sage ich leise und mir wird schlecht, als ich deinen Namen ausspreche, das erste Mal seit Monaten. Und dann würde ich auch gerne weinen, aber ich schaffe es nicht. Nicht schon wieder. 

“Weiß sie es?”, fragt Anne leise und ich zucke mit den Schultern.

“Wahrscheinlich nicht...”, murmele ich dann, “Sie wissen es doch nie. Sie nehmen sie alle mit... aber sie merken es nicht.”

“Zumindest wollen wir das glauben”, erwidert Anne und starrt auf den staubigen Boden vor uns - “Alles Andere würde zu sehr weh tun.”

Jetzt weine ich doch. 

 

Es gab diesen einen Abend. Es war kurz nach unserer Begegnung, zwischen den Discolichtern und dem Rauch, und wir waren bei Mark. Ihr habt getanzt. Ich hab zugeschaut. 

Und ich habe ihn verstanden, in der Art wie er dich angesehen hat. Wie er gezittert hat, als du durch seine Haare gestrichen hast. 

Es hat weh getan. 

Ich war nichts besonderes, das wusste ich in dem Moment. 

Genau so wenig wie er.

Du warst betrunken vom Alkohol und wir betrunken von dir und diese Mischung war gefährlich. Weil jedes Lachen, jeder Wimpernschlag von dir, die Welt bedeutete. 

Ich habe euch zugesehen, beobachtet, wie dein Lachen dich in der Zeit hat reisen lassen - es war das selbe wie damals, mit mir. Deine Bewegungen waren die selben. Deine Augen.

Ich war nichts besonderes mehr. Und das hat so weh getan, dass ich aufgestanden und gegangen bin. Ich bin weg gelaufen. Vor dir und dem was du mit mir machst, mit Mark, mit der Welt. Die anderen dachten ich wäre nüchtern und genervt von ihrem Lachen. Sie haben danach aufgehört, mich einzuladen. Aber die Wahrheit, die furchtbare, mich krank machende Wahrheit war: wir haben dir nie etwa bedeutet. Und es war dumm von mir zu glauben, dass du das selbe fühlen könntest wie ich, dass ich für dich das selbe wäre, wie du für mich - du hast mein Herz gestohlen ohne dass etwas passiert ist zwischen uns, und du hast es zerbrochen, ohne ein Wort mit mir zu sprechen.

Und das hat weh getan. So viel mehr als alles zuvor. Ich konnte es keinem erzählen. Wer warst du denn schon? Ich bin mit Jungs zusammen und du bist ein Mädchen. Du bist nicht die hübscheste und stürzt viel zu oft ab. 

An deiner Geschichte hängt so viel mehr. Aber all das war nie wichtig, wenn du mich angelächelt hast.

Keiner weiß es. Keiner wird es je wissen. 

Aber es hat nie aufgehört, weh zu tun, dich auf dem Flur zu umarmen. 

 

Nun bin ich also in Afrika.

Annes Blick trifft an diesem Morgen anders auf meinen, wärmer, viel näher. Die Anderen bemerken das nicht. Ich fege den Staub von der Veranda, in glühender Hitze, und füttere die zotteligen Straßenhunde, obwohl ich es nicht soll. Es ist fast wie ein richtiges Leben.

Aber ich weiß, dass es das nicht ist.

Du bist nur ein Mädchen. Egal, wie surreal das klingt. Ich suche dich, zwischen Hitze und Menschen, aber ich vermisse mein Zuhause.  

Ich weiß nicht, was passiert ist, letzte Nacht, immer noch nicht. Aber ich vermisse mein Handy Klingeln, ich vermisse meine beste Freundin, deren Enttäuschung ich klarer höre als ihre Wut - ich vermisse den Jungen, der mit mir auf dem Ball war, und alles kommt mir sinnlos vor.

 

Keiner rechnet damit.

Aber ich fahre wieder nach Hause. Weil Afrika zu groß ist, um dich hier zu finden. 

Ich sage es Anne und sie lächelt.

“Fort von der Hölle”, flüstert sie in mein Ohr als sie mich umarmt und ich nicke, während ich ihr über den Rücken streiche. 

Das Geld reicht für ein Taxi, und dann fahre ich wieder fort von der kleinen Farm, auf der alles anfangen sollte - und am Ende alles geendet hat. 

Ich sehe Thomas nicht nochmal, und auch nicht das Mädchen vom Hinflug. Ich sitze auf dem Wartesitz und denke an ihre Lippen, bis mein Flieger da ist. Im Flugzeug denke ich nicht viel, ich trinke Champagner und höre auf, da zu sein, bis ich den Asphalt unter den Rollen höre.

Das hier ist nicht das Ende, mit dem ich gerechnet habe. Ich wollte weiter gehen, weiter suchen, mehr fühlen, mehr lieben - aber mir ist etwas klar geworden. Ich habe zu weit weg angefangen, um irgendwo anzukommen.

Ich stehe im Flughafen, es ist wieder kalt, um mich herum, ich suche meinen Koffer - und finde dich.

Unsere Blicke treffen sich quer, durch den Raum. Da bist du, mit deinem Gesicht, deinem Lächeln, der Art, wie du dir durch die Haare fährst und die Leute neben dir ansiehst, bevor du dich von ihnen löst und zu mir gehst; ich beginne zu zittern und will weinen, aber ich tue es nicht.

“Hallo”, sagst du, ganz einfach. Als wäre es selbstverständlich.

Ich will dich küssen. 

Und ich tue es.

Meine Hand legt sich in deinen Nacken, du folgst mir, ohne, dass ich etwas tun muss und in der nächsten Sekunde liegen deine Lippen auf meinen und ein Beben geht durch meinen Körper, das ich nicht verstehe. Ich will mehr von dem hier. Aber ich hole es mir nicht.

Stattdessen lasse ich dich los.

Du starrst mich an.

Du schmeckst ganz anders, als ich dachte.

“Es tut mir Leid”, sage ich leise, senke den Blick, bevor ich dich noch einmal ansehe, Auge zu Auge. 

“Was?”, fragst du und ich weiß nicht, ob du Angst hast, aber es ist mir egal. Es wird egal, mit jeder Sekunde mehr.

“Ich hab dich viel zu sehr gesucht”, murmele ich und fahre über meine Lippen, “Das war zu viel.” 

“Warst du in Afrika?”, fragst du mit Blick auf den Aufkleber auf meinem Rucksack,

“Nein”, erwidere ich, “Nicht richtig.”

Und dann gehe ich.

Fort von dem Flughafen.

Fort von dir.

Fort von dem, was ich tun musste

um richtig anzufangen. 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 16.07.2019

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