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Prolog

„Wir haben ihn.“

Selbst im flimmernden Halbdunkel der Bildschirme konnte sie sehen, wie die Müdigkeit aus seinem Gesicht schwand und von strahlender Euphorie ersetzt wurde, als er sich vom Schreibtisch abstieß und in seinem zerfetzten Bürostuhl quer durch den Raum rollte.

„Verdammt, Meg, wir haben ihn!“

Ungläubig starrte sie ihn an. Ihre Augen brannten. Hatte sie geschlafen? Sie kam nicht dazu, es herauszufinden, denn in der nächsten Sekunde rief er sie erneut.

„Komm her, sieh dir das an!“

Leere Chipstüten und eng beschriebene Zettel rutschten von ihrem Schoß als sie sich erhob und zu ihm eilte, um über seine Schulter zu die Zahlen zu beobachten, die sich in langen Reihen auf dem Bildschirm tummelten. Sie brauchte kaum ein paar Sekunden, um das Muster zu erkennen.

„Oh mein Gott...“, murmelte sie fassungslos und schüttelte langsam den Kopf. „Das... das ist er...“

Ihr Mund fühlte sich seltsam trocken an und selbst als Stev sich erhob um zu den unzähligen Kabeln zu hasten, die notdürftig durch ein paar Mehrfachsteckdosen verbunden waren, verharrte sie im blassen Licht der Technik und versuchte zu realisieren, was die Zahlenfolgen vor ihr bedeuteten.

Sie hatten ihn. Sie hatten ihn tatsächlich.

„Meg!“, rief Stev, „Du musst den Kontakt stabil halten. Wir dürfen ihn nicht verlieren!“

Sie hörte ihn kaum, über dem blechernen Summen, von dem der kleine Kellerraum plötzlich erfüllt war, aber es reichte, um sie in einen beinahe automatischen Zustand zu versetzen. Sie hatten das hier so oft durchgespielt.

Wie von selbst setzten ihre Beine sich in Bewegung und in dem Moment, in dem ihre Finger die bleiche Tastatur auf dem Schreibtisch vor ihr berührten, waren ihre Gedanken wieder klar. Sie durfte jetzt keinen Fehler machen. Sie bekam nur am Rande mit, wie Stev begann, die Anschlüsse umzustöpseln um die Schaltkreise zu aktivieren, als sie sich in das System einloggte und begann, die Verbindungen zu kontrollieren. Das hier war Wahnsinn, das hatte sie von Anfang an gewusst, aber ihr war nicht klar gewesen, wie unmöglich die Aktion ihr erscheinen würde, wenn sie erst einmal real war.

Du musst den Kontakt stabil halten.

Es klang so einfach aus seinem Mund, dass sie beinahe das Gefühl vergessen hätte, das jetzt wieder von ihr Besitz ergriff, als ihre Finger über die Tasten jagten und der Rest ihres Körpers in eine nerven zerreißende Anspannung verfiel, die ihre Gedanken lähmte. Sie musste sich konzentrieren.

Irgendwo im Raum brannte eine Sicherung durch und helle Funken sprühten auf. Der scharfe Geruch von Rauch zog ihr in die Nase und ließ ihre Augen tränen, aber sie drehte sich nicht um. Das hier war wichtiger.

Während das Rauschen der Kühlanlagen der Server zu einem Ohren zerreißenden Brüllen anschwoll und den Raum mit elektrischem Sirren erfüllte, tippten ihre Finger Befehle, die sie selbst kaum begriff und als der erste Schrei aus dem Nichts erklang, fuhr sie zusammen als wäre sie aus einem schlechten Traum erwacht.

„Stev!“, schrie sie gegen den Lärm und drehte sich um. „Was ist das?“

Inzwischen waren die Rauchschwaden so dicht, dass sie ihn kaum noch ausmachen konnte, gegen das Blinken der Lichter. Die Glühbirne an der Decke begann, zu flackern.

Und dann wieder: ein Schrei.

„Das ist er!“, tönte die Antwort aus der Dunkelheit und in der nächsten Sekunde stand Stev plötzlich wieder neben mir, heftig atmend und beide Hände in ihrem Gesicht. „Meggie, Schätzchen, wir dürfen jetzt nicht aufgeben! Wir sind so kurz davor...“ Seine rußigen Finger hinterließen Spuren in ihrem Gesicht als er ihr einen Kuss auf die Stirn drückte und sie anlächelte. „Wir...“

Er kam nicht mehr dazu, seinen Satz zu beenden, denn seine Worte wurden übertönt von einem erneuten Schrei. Inzwischen meinte sie beinahe, den Mann direkt neben sich zu haben, so sehr ging ihr das Gebrüll durch Mark und Bein. Aber Stev hatte so hoffnungsvoll ausgesehen, so glücklich und euphorisch, wie schon lange nicht mehr und so versuchte sie, den grausamen Laut auszublenden und fokussierte sich einzig auf ihre Aufgabe.

Wir sind so kurz davor...

Bald begannen ihre Hände zu zittern und ihr Mund trocknete aus. Ein stechendes Ziehen schoss durch ihre Nackenmuskulatur und mit jeder Sekunde fiel es ihr schwerer, ihre Gedanken zu sortieren, doch sie hielt nicht inne. Nicht einen Moment.

Und dann war es so weit.

Gleißendes Licht erfüllte den Raum, Kabel brannten durch, Funken sprühten und ein weiterer Schrei erklang, dieses Mal so lang und so laut, dass es ihr kalt den Rücken herunter lief.

„Meg!“, schrie Stev und zog sie auf die Füße. „Meg, es hat geklappt! Komm her, sieh dir das an, sieh dir das an, verdammt!“

Atemlos stolperte sie hinter ihm her und versuchte notdürftig, den Rauch vor ihrem Gesicht fort zu wedeln, doch in der nächsten Sekunde wurde sie abgelenkt.

„Oh mein Gott, Stev...“, hauchte sie tonlos und starrte das an, was sich vor den beiden auftat. „Es... es hat funktioniert...“

Der Lärm der Maschinen schwoll langsam ab, der Rauch verzog sich. Stevs Hand bebte in ihrer und als sie endlich vollends erkannte, was geschehen war, war ihr, als würde das Blut in ihren Adern für ein paar Sekunden stocken.

Der junge Mann, der vor ihr saß, war nackt und bedeckt mit Ruß und Dreck. Seine Schulterblätter hoben und senkten sich heftig und die Position, in der er vor ihnen kauerte, erinnerte sie an die Stellung eines Embryos, ein Neugeborenen, das zerbrechlich und verloren war ohne den schützenden Leib der Mutter – sie sah Blut zu Boden sickern. Er hatte den Kopf von ihnen abgedreht, aber sie hörte sein Schmerz verzerrtes Keuchen trotzdem.

Unwillkürlich krallte sie sich fester in Stevs Hand, als der Mann begann, sich zu regen und plötzlich bekam sie Angst.

„Das ist er...“, murmelte Stev ehrfürchtig und zog sich die Schweißerbrille vom Kopf, „Unser Engel...“

Sie machte einen Schritt zurück, als der Fremde vor ihr Anstalten machte, sich aufzurichten, doch Stev rührte sich kein Stück. Es war, als wäre ihm tatsächlich ein Engel erschienen und er schien bereit, sich ihm völlig zu opfern, koste es, was es wolle.

Der Fremde hustete. Er fuhr sich durch das aschblonde Haare, das in unordentlichen Strähnen von seinem Kopf hing und begann schließlich, sich langsam umzusehen.

„Stev“, flüsterte sie und zog unruhig an seiner Hand. „Stev, pass auf.“

Und dann drehte er sich um.

Strahlend blaue Augen sahen ihr entgegen, aus einem Gesicht, das trotz des Drecks und Ruß seltsam zart wirkte zwischen all den Kabeln, wie eine Hand voll Sand auf Beton – er sah nicht wütend aus, aber verzweifelt und als sein Blick ihren fand, zuckte er zusammen und starrte sie an, als hätte sie ihn geohrfeigt.

„S...Sir...?“, fragte sie unsicher und da öffnete er seinen Mund, heiser, kaum hörbar:

„Bringt mich zurück.“

„Wie bitte?“, fragte Stev und ging in die Knie, um das Gesicht des Fremden besser mustern zu können. Er strahlte noch immer, aber plötzlich wusste sie nicht mehr, ob das gut war.

Der Fremde ließ seinen Blick zwischen Stev und ihr hin und her schweifen, aber er sah wieder nur sie an, als er wiederholte: „Bringt mich zurück.“

Plötzlich wirkte er nicht mehr zerbrechlich und verloren, sondern zunehmend entschlossen. Wütend?

„Bringt mich zurück!“, wiederholte er lauter und jetzt war sie sich sicher: da war heißer Zorn in seinen eisblauen Pupillen.

„Stev...“, murmelte sie leise, aber da schrie er schon auf und trat gegen das nächstbeste, was ihm vor die Füße kam. Es war Stevs Bürostuhl, der polternd umfiel und am Boden rotierend liegen blieb. Das hohle Geräusch klang in ihren Ohren tausendfach verstärkt nach.

„Bringt mich zurück!“, brüllte er und drehte sich orientierungslos um sich selbst; eine Träne lief über seine Wange. „BRINGT MICH ZURÜCK!“

Ihr Blick wanderte zu Stev, doch der war zur Salzsäule erstarrt. Fassungslos starrte er den Fremden an, nicht in der Lage, etwas zu sagen oder sich zu rühren, und so griff sie nach der Pistole, bevor er es tat.

„Keine Bewegung, Sir“, zischte sie angestrengt und richtete den Lauf auf sein schmutziges Gesicht – nun sah sie, dass er aus einer Wunde an der Stirn blutete. Vielleicht war es das Blut, das seine Schläfe herunter lief, das ihm so einen verzweifelten Eindruck verlieh, als er aufschrie und Anstalten machte, auf sie loszugehen. Verzweifelt. Gefährlich.

Sie wusste den Unterschied nicht mehr, als sie abdrückte.

Eine Weile lag er zuckend am Boden, dann hörte der Strom auf, zu wirken, und die Elektropistole fiel polternd neben sein regloses Gesicht.

Ihr Blick wanderte von dem leblosen Körper des Fremden zu Stev, der sie genau so fassungslos anstarrte.

„Stev...“, flüsterte sie verzweifelt und sank in die Knie. Ihre Hose sog sich augenblicklich mit Blut voll.

 

„Was haben wir getan?“

 

 

**

 

 

1. Kapitel

Zuvor.

 

 

Die Erde unter Jaspers Füßen war noch frisch und seine Stiefel hinterließen tiefe Abdrücke, als er die Grabstätte betrat. Auf dem erst vor kurzem aufgeworfenen Hügel lagen unzählige Blumen und kleine, versiegelte Pergamentrollen, wie sie die alten Religionen noch zu verteilen pflegten, wenn ein Angehöriger verstarb. Sie bestärkten ihn nur noch mehr in der Vermutung, dass er sich zurecht von der Beerdigung fern gehalten hatte.

Der blanke Grabstein schimmerte schwarz im Licht der aufgehenden Sonne und reflektierte sein eigenes, graues Gesicht in den Namen seiner Mutter. Die winzige, kümmerliche Blüte in seiner Hand rutschte aus seinen Fingern und ging im Blumenmeer unter ihm unter. Niemand würde merken, dass sie dazu gekommen war und vielleicht war das besser so.

Als er schluckte schmeckten seine Lippen salzig. Er wusste nicht, wieso.

„Du warst nicht da.“

Jasper zuckte zusammen und fuhr herum. Da stand sie.

Schwesterherz.

Claire war die kleinste gewesen und aus irgendeinem Grund hatte ausgerechnet sie immer am meisten an ihn geglaubt. Wahrscheinlich sogar mehr als er selbst.

„Warum warst du nicht da?“, fragte sie und sah unglaublich verletzt aus. „Lisbeth hat gehofft, dass du kommst.“

„Hat sie nicht“, antwortete er abfällig. Natürlich nicht. Wieso sollte sie? Er hätte sich wahrscheinlich auch geleugnet, vor den edlen Männern und Jungfrauen in rüschigen Kleidern und Perücken. Ein Arbeiter der unteren Klasse, ein Mechaniker. Seit die Welt sich Flügel wünschte und immer mehr Flugzeuge abhoben, wurden die Kräfte am Boden beinahe sosehr verachtet, wie die Sklaven, die sie seit Jahrzehnten einschifften. Nein, so einen wollte man nicht zum Bruder haben.

Claire protestierte nicht. „Es war eine gute Beerdigung“, meinte sie leise. „Es waren viele Leute da. Gab Champagner. Und Musik. Mutter hätte es gefallen.“

„Ja“, nickte Jasper langsam. „Ja, wahrscheinlich.“

Dann schwiegen sie eine Weile, sahen sich nur an und versuchten, all die verlorenen Jahre zu überbrücken, die sie trennten.

„Wie geht es dir?“, fragte Claire. „Ich habe gehört, du arbeitest für Witherspoon. Man sagt er behandelt seine Angestellten gut.“

Jasper nickte. „Ja, ist wohl so.“ Er hatte keine Lust auf lange Gespräche. Aber da war diese eine Frage, die ihm schwer auf der Brust lag, seitdem er den Brief erhalten hatte, in dem ihm verkündet worden war, dass er nun Vollwaise war. „Hat sie... hat sie nach mir gefragt?“, fragte er vorsichtig, viel zu unsicher.

Claire sah auf. „Mutter?“

Jasper nickte bloß. Er musste die Antwort nicht hören, um sie aus Claires Gesicht zu lesen.

„Nein.“

Es war wie ein Schlag in die Magengrube.

„Aber ich bin sicher, sie hat an dich gedacht.“

Jasper schüttelte den Kopf und wandte sich zum Gehen. Er würde sich das hier nicht mehr antun.

„Jas.“

„Was?“, fragte er entnervt und drehte sich zu Claire. „Was? Willst du, dass ich bleibe? Schon wieder? Claire, was soll ich denn tun? Lisbeth würde mich sofort wieder rausschmeißen. Und Anna? Wahrscheinlich fliegt sie mal wieder, was? Ihr habt euch hier ein Leben aufgebaut und das ist gut so. Ich hoffe du und Richard ihr seid glücklich und so lange das so ist werde ich euch nicht stören, in eurem kleinen Paradies hier.“

Er klang verbitterter, als er wollte. „Nur weil ich für euch gesorgt habe, damals, heißt das nicht, dass ihr das jetzt anders herum tun müsst. Lisbeth ist doch froh, wenn ich in dem Loch bleibe, aus dem ich komme. Wahrscheinlich lässt sie gleich noch den Gärtner bestellen, damit er meine Fußspuren aus dem Grab harkt.“

Verächtlich spuckte er aus.

„Jasper!“, rief Claire entsetzt.

Aber jetzt war er in Rage. „Was denn?!“, rief er aufgebracht. „Meinst du, es interessiert Mutter noch, ob ich auf ihr Grab spucke? Es hat sie zu Lebzeiten ja nicht mal interessiert, ob ich noch lebe!“

Claire biss sich auf die Unterlippe und ihre Augen wurden von Tränen überschwemmt. Oh, wie er sie hassen wollte. Aber es ging nicht. Nicht sie.

„Oh, Jas“, schluchzte sie und fiel in seine Arme. Sein Hemd hinterließ dunkle Schlieren in ihrem Gesicht und vermengte sich mit der verwischten Schminke. Es war ihr egal. Sie war Jasper schon immer die liebste Schwester gewesen.

„Es... es tut mir Leid“, murmelte er und hielt sie fest. „Ich wollte das nicht. Das war kein Vorwurf. Ich liebe dich, Claire. Nichts in der Welt wird das jemals ändern. Nicht Anna und auch nicht Lisbeth. Nicht einmal Mutter.“

„Es ist so ungerecht“, weinte Claire. „Es tut mir so Leid, Jas...“

„Ssssh...“, machte er beruhigend, obwohl die Wut ihm den Hals zuschnürte. „Ist ja gut. Ich pack das schon irgendwie. Mach dir keine Sorgen. Ich komme wieder.“

Seine kleine Schwester sah mit verweintem Gesicht auf und wollte etwas sagen, doch plötzlich sah Jasper die blauen Flecken an ihrer Schulter.

„Claire“, flüsterte er entsetzt und fasste schob sie ein Stück von sich, um die Verletzungen besser sehen zu können, „Claire, was ist das?“

Sie schluckte. „Nichts“, murmelte sie und zog ihr Kleid höher, aber Jasper sah ihr an, was geschehen war. Er hatte es gleich gewusst. Von dem Tag an, an dem Lisbeth ihm Richard das erste Mal vorgestellt hatte.

„Dieses Schwein“, knurrte er und zog Claire wieder an sich. „Dieses miese Schwein. Was hat er mit dir gemacht, hm?“

Claire weinte stumm. Inzwischen hinterließ sie nasse Flecken auf seinem Hemd. Er würde Richard umbringen. Sobald er ihm in die Finger geriet, würde er leiden. Er war so wütend. Auf Lisbeth, auf Richard, auf die Welt.

„Ich hol dich da raus“, murmelte er leise, als Claire keine Tränen mehr hatte und stumm in seinen Armen lag, zitternd und zerbrechlich. „Ich habe gute Aussichten auf eine Versetzung. Vielleicht komme ich in die Flugindustrie. Sobald ich genug Geld habe komme ich und nehme dich mit. Du musst nur durchhalten, ja?“

Vorsichtig legte er die Hand unter ihr Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. Seine dreckigen, aufgeschürften Finger streiften ihre Haut nur, als hätte etwas in ihm Angst, ihre Schönheit zu zerstören. Sie war so perfekt. So unbegreiflich perfekt. Kleine Schwester. Er wollte sie beschützen, vor allem Übel da draußen, vor Richard, der es nicht wert war, sie auch nur anzusehen, vor Lisbeth, die sie nur für ihren Vorteil ausspielte und vor den einsamen Nächten, die sie hier an Mutters Grab verbringen würde, um zu beten. Jasper wusste, dass er das nicht konnte und diese Tatsache machte ihn rasend.

„Versprich mir etwas“, flüsterte Claire mit brüchiger Stimme.

„Alles“, antwortete Jasper ernst.

„Mach keine Dummheiten.“ Sie sah viel zu besorgt aus. Er musste lächeln. Es war so typisch. Selbst in dieser Situation sorgte sie sich mehr um ihn, als um sich selbst. Sie war genau so verrückt, wie er und das war nicht der einzige Grund, warum er ihr einen Kuss auf die Stirn gab und nickte.

„Ich verspreche es.“

„Nein, Jasper, ich meine es ernst.“ Sie machte sich von ihm los und sah ihn direkt an. „Sei nicht leichtsinnig. Ich schaff das hier schon. Du hast so viel für mich... für uns geopfert, tu das nicht wieder. Pass auf dich auf. Ich will nicht, dass es wird wie früher.“

Es ist immer wie früher; es hat sich nie geändert, dachte er, aber er sprach es nicht aus und nickte stattdessen.

„Ich passe auf“, wiederholte er. „Sei stark. Ich glaube an dich. Und wenn du es nicht mehr aushältst... eine Nachricht und ich bin da. Verstanden?“

Claire nickte und setzte zu einem weiteren Satz an, als sie durch einen Knall unterbrochen wurde. Zeitgleich fuhren die beiden herum und starrten auf die Quelle des Geräuschs: eine Hügelkuppe nicht weit von ihnen.

„Was war das?“, fragte Claire und warf Jasper einen beunruhigten Blick zu. „Jas?“

„Geh nach Hause“, erwiderte er, ohne den Blick vom Horizont abzuwenden – wieso jetzt? Er war zu früh, sein letzter Besuch war erst drei Wochen her.

„Was...?“, setzte Claire an, doch er ließ sie nicht ausreden.

„Geh nach Hause, Claire“, fuhr er sie an und schon war sie wieder verschwunden, die vertraute Nähe zwischen den beiden, mit einem Wimpernschlag, fort geblasen wie ein Blatt im Sturm.

Und schon wieder bist du Schuld.

Jasper verbannte den Gedanken in die hinterste Ecke seines Bewusstseins und warf Claire stattdessen einen ernsten Blick zu. „Das hier ist nicht deine Angelegenheit.“

Er sah ihr an, dass sie am liebsten protestiert hätte, aber sie tat es nicht.

„Pass auf dich auf“, murmelte sie leise, dann drehte sie sich um verschwand, ohne einen weiteren Blick zurück. Jaspers Blick hing noch ein paar Sekunden auf dem wippenden Saum ihres Kleids, bevor er sich ebenfalls abdrehte.

Sie ist zu schön für diese Welt. Zu fein. Sie sollte frei sein, nicht in einem Korsett.

Er schaltete die beißenden Gedanken ab und fokussierte sich stattdessen auf das, was vor ihm lag. Lewis war zurück gekehrt. Viel zu früh. Er verstand es nicht, aber er war sich sicher.

 

 

„Was tust du bloß...“, murmelte er leise, dann machte er sich auf den Weg.

 

 

**

 

2. Kapitel

Die Luftschiffe flogen hoch, heute.

Als Lewis die brennenden Augen aufschlug, war das das erste, was er bemerkte.

Dann kam der Schmerz.

Stechend und brüllend verbiss er sich in seiner Brust, wie jedes Mal, wenn er sich an einem anderen Ort wieder fand, aber dieses Mal hatte er keinen Kopf für die bestialischen Stiche in seinem Herzen. Es war nicht er selbst, um den er sich Sorgen machte.

May lag im dichten Gras wie ein Fremdkörper, ein Glassplitter im Ruß. Ihre Züge wirkten zart, beinahe zerbrechlich und als er sich über sie beugte, hatte er kurz Sorge, keinen Atem auf ihren Lippen zu spüren. Sie sah so klein aus, in dieser Welt. So viel verlorener als drüben.

Als er ihr vorsichtig das Haar aus dem Gesicht strich, das beinahe so rot war wie der Rost der Schienen, neben denen sie lagen, hatte er das Gefühl, jede seiner Berührungen würde ihr etwas von dem Zauber nehmen, den sie aus ihrer Welt mitgebracht hatte.

„May“, flüsterte er behutsam, „May, wach auf...“

Ihre Augenlider begannen zu flattern, doch ihr Gesicht blieb still.

Mit einem Blick in den Himmel stellte Lewis fest, dass der Himmel, den die Luftschiffe kreuzten, sich bereits rot verfärbte. Dämmerung. Nicht die beste Zeit, um sich in dieser Gegend aufzuhalten. Der Wind spie ihm Gänsehaut über die nackten Schultern, als er vorsichtig die Arme unter Mays reglosen Körper schob und sich erhob.

„Lew.“

Er wusste, wer hinter ihm stand, noch bevor er sich umdrehte und in Jaspers Gesicht sah. Er sah blasser aus als letztes Mal, beinahe ausgemergelt, nur das Blitzen in seinen Augen war das selbe wie immer, das abenteuerlustige Funkeln, das selbst jetzt durch seine Pupillen brach, wo seine Züge von Sorge überschwemmt waren.

„Jas“, erwiderte er und unwillkürlich fragte er sich, wie viel Zeit seit seinem letzten Besuch vergangen war. Zu viel.

„Wieso bist du hier?“, fragte Jasper und er kam nicht näher, als sein Blick Mays leblosen Körper streifte. Stille. „Wer ist sie?“ Er klang misstrauisch, beinahe vorwurfsvoll. Jasper hatte die Geschichten über die andere Welt nie hören wollen und jetzt, wo er vor ihm stand, nackt und mit nichts als dem einzigen Beweisstück für die seltsamen Dinge, von denen er Jasper versucht hatte, zu erzählen, fühlte Lewis sich auf eine seltsame Art und Weise schuldig.

„Das ist May“, meinte er also leiser als beabsichtigt und schloss die Arme fester um ihren Körper. Die Angst, sie fallen zu lassen und zu verlieren, hier, in der viel zu vertrauten Fremde, schickte ihm ein Zittern in die Hände. Langsam wurde er sich bewusst, was er getan hatte – was er May angetan hatte.

Aus Jaspers Augen sprachen die selben Vorwürfe, als er Lewis' Blick erwiderte.

„Ist dir bewusst, was das bedeutet?“, fragte er und ohne dass er weiter sprach wusste Lew, was Jasper meinte. Mays Gesicht. Im Schlaf sah sie so zerbrechlich aus, unschuldig und zerbrechlich, aber sobald sie die Augen aufschlagen und diese Welt mit eigenen Augen sehen würde, wären ihre Gesichtszüge eine Gefahr. Natürlich hatte er gewusst, was er tat, als er sie mitgenommen hatte. Das richtige Gesicht am falschen Ort – sie würden in Schwierigkeiten geraten. Große Schwierigkeiten. Jasper schüttelte ungläubig den Kopf.

„Sie werden Sie holen.“ Er hatte sich noch immer keinen Zentimeter gerührt. Keine Spur von Wiedersehensfreude, keine Euphorie, nicht einmal ein Lächeln. Er sah müde aus und unwillkürlich fragte Lewis sich, was passiert war, während seiner Abwesenheit. Jaspers Augenringe waren tiefer geworden, seine Kleidung schmutziger. Wenn die Arbeiter aufhörten, die Löcher in ihren Hemden zu stopfen, war das ein schlechtes Zeichen. Es ging seinem Gegenüber nicht gut, aber gerade hatte Lewis nur Mays stilles Gesicht im Kopf.

„Sie werden ihr nichts tun“, erwiderte er ruhig. „Wieso sollten sie.“

„Rowena.“

Ein Wort reichte, um Lewis das schlechte Gewissen zurück in den Hals zu schicken. Rowena. Ihr Name war wie Gift für die Zuversicht, die er noch gehabt hatte, vor Stunden, als Mays Hand sich in seine gelegt und ihr Lächeln wie Honig seine Sinne verklebt hatte.

„Es wird niemandem auffallen“, murmelte er und senkte den Blick, aber er glaubte seinen Worte selber nicht. Jasper auch nicht.

„Lewis“, meinte er und etwas in seiner Stimme ließ Lew aufsehen, „Wann warst du das letzte Mal hier?“

Jaspers Tonfall ließ ein ungutes Gefühl in seiner Magengrube aufkeimen. Da war etwas, was er ihm verheimlichte. Etwas wichtiges.

„Wieso?“, fragte er also vorsichtig und versuchte, sich nicht ablenken zu lassen von den Gedanken in seinem Kopf, die sich kreiselnd in einen Tornado aus Zweifeln verwandelten – er machte sich verrückt. Manchmal glaube ich, du denkst zu viel, das hatte May immer gesagt und langsam begann er, ihren Worten zu glauben.

Jasper schüttelte langsam den Kopf. „Du weißt es nicht, oder?“

Lewis erwiderte nichts. Er hatte zu große Angst, dass Jaspers Neuigkeit all das hier als riesigen Fehler entpuppen würde.

„Sie ist fort.“

Der Satz traf ihn unvorbereitet, wie ein Schlag ins Gesicht. Sie ist fort. Augenblicklich verlor er die Kontrolle über den Wahnsinn in seinem Kopf und die Fassungslosigkeit, die ihn jetzt lähmte, erstickte Mays Stimme in eisiger Stille.

„W...was...?“, stammelte er ungläubig und starrte Jasper an. „Sie kann nicht weg sein. Sie...“

„Ich weiß“, erwiderte Jasper ruhig und schüttelte leicht den Kopf. „Keiner hat es geglaubt, als es in den Zeitungen stand. Sie suchen im ganzen Land nach ihr, jeder spricht von ihrem Verschwinden – Lewis...“ Jas musterte ihn sorgenvoll, „...an jeder Straßenecke hängen Bilder von ihr.“

Lewis schluckte und sah hinab auf Mays regloses Gesicht. Ihre schmalen, geschwungenen Lippen, die er normalerweise für nichts in der Welt verändert hätte, erschienen ihm plötzlich wie ein Todesurteil. Wieso bist du so hübsch?

„Sie werden nach ihr suchen“, stellte er leise fest und musste nicht aufsehen, um zu wissen, dass Jasper nickte.

„Sie werden sie erkennen, Lew. Du musst sie zurückbringen. Zu ihrer eigenen Sicherheit – zu deiner Sicherheit. Sie werden denken, du hättest...“

Lewis schüttelte ungläubig den Kopf, erst zögernd, dann schneller. May murmelte etwas im Schlaf und plötzlich schossen ihm Tränen in die Augen.

„Nein...“, murmelte er, „Nein, das kann ich nicht. Sie... sie...“

„Lewis“, unterbrach Jasper ihn und obwohl er noch immer keinen Schritt näher gekommen war, klang seine Stimme viel näher als noch vorhin. „Du hast keine Wahl.“

„Du hast Recht“, meinte Lewis und schluckte, als er aufsah. „Ich hab keine.“

„Siehst du“, bestärkte Jasper.

„Nein, du verstehst nicht.“ Lewis schüttelte verzweifelt den Kopf. „Ich habe keine Wahl – weil ich sie nicht zurückbringen kann. Es geht nicht. Sie sitzt hier fest, zusammen mit mir.“

Ein paar Sekunden herrschte Stille und kurz sah Lewis, wie sich sein eigenes Entsetzen in Jaspers Zügen spiegelte. Er machte ein paar Schritte zurück, ruckartig, beinahe mechanisch, dann starrte er May noch misstrauischer an, als er es ohnehin schon getan hatte. Als wäre sie ein Fremdkörper, ein Eindringling, vor dem er seine Heimat verteidigen musste. Unwillkürlich fragte Lewis sich, ob Jasper damit Recht hatte. War sie ein Fehler gewesen?

„Sie werden dich hängen“, stellte Jasper fest und er konnte das Beben nicht völlig aus seiner Stimme verbannen, als er Lewis ins Gesicht blickte. „Die werden dich suchen und wenn sie dich finden, werden sie dich hängen.“

Lewis schüttelte den Kopf, immer wieder. „Das werden sie nicht. Sie werden uns nicht finden. Ich werde sie verstecken, ich werde...“

„Wo?“, fragte Jasper und breitete die Arme aus. „Wo willst du sie verstecken? Du bist doch genau so heimatlos, wie sie!“ Seine Worte trafen Lewis tiefer, als sie es hätten tun sollen. Heimatlos.

Ich habe eine Heimat, schoss es ihm durch den Kopf, aber von der willst du nichts hören.

„Lew!“, riss Jasper ihn aus seinen Gedanken, bevor er sie aussprach. „Du kannst sie nicht hier lassen.“

„Ich weiß“, erwiderte er und schüttelte erneut den Kopf. „Ich werde sie verstecken. Ich kriege das hin. Wir brauchen Zeit, Zeit um einen Plan zu schmieden. Ich kann sie nicht zurück bringen, Jas, ich werde sie nicht zurückbringen.“ Seine Worte ließen keine Widerrede zu und auch wenn sie beide wussten, das nicht Lewis der Starrkopf der beiden war, versuchte Jasper nicht, ihm zu widersprechen.

„In Ordnung“, nickte er. „In Ordnung.“ Und dann war sie wieder da, die traute, brüderliche Atmosphäre zwischen den Beiden.

„Ich werde dir helfen.“

 

**

3. Kapitel

 

May hatte Lewis in einem Cafe kennen gelernt.

Er war keiner dieser Menschen, die einem sofort ins Auge fielen. Kein Mann, dessen Augen Geschichten erzählten, dessen Haut von einem rauen Leben sprach oder dessen Gesicht ihn älter schienen ließ, als er war; er war ein Mann, den man betrachtete und dann wieder vergaß. Kein Held. Kein extraordinäres Lebewesen.

Nein, es waren es nicht seine Augen, die sie dazu gebracht hatten, ihn näher zu betrachten. Es waren seine Hände gewesen.

Seine langen, drahtigen Finger, die den Kuli in seiner Hand kräftig umschlossen und kurz und ruckartig über das Papier fuhren, hielten den Stift so angespannt und fest, dass das scharfe Geräusch die Luft in zwei teilte. Seine Handschrift war klein und abgehakt, sie hatte zu dieser Zeit besonders auf die Schrift ihrer Mitmenschen geachtet, weil ihre Bemühungen um eine Stelle an einer Grundschule gerade begonnen hatten.

Er hatte die Schreibschrift aufgegeben und an der unnatürlichen Haltung seines Handgelenks bemerkte sie, dass sie versucht hatten, ihm die Linkshändigkeit auszutreiben, jedoch ohne Erfolg. Er schrieb die Zahlen falsch herum. 63. Erst die 3, dann die 6. Er dachte anders herum. Ein Rebell. Die frisch verheilten Brandwunden auf seinen Handflächen erzählten eine ähnliche Geschichte.

„Miss, kann ich Ihnen helfen?“, hatte er gefragt und erst jetzt war ihr klar geworden, wie ungeniert sie auf das kleine Büchlein gestarrt hatte, in das er kritzelte. Das Tablett in ihren Fingern wurde schweißig und hastig stellte sie den schwarzen Kaffee vor ihm auf die Tischplatte, so ungeschickt, dass er seinen Inhalt über die Seiten ergoss und in flüssiger Nacht tränkte.

Sie erhaschte einen weiteren kurzen Blick auf das Geschriebene.

63 Tage. Es werden immer mehr. Ich habe Angst.

„Das tut mir Leid“, entschuldigte sie sich erschrocken. „Wirklich, ich wollte nicht...“

Er nickte resignierend. „Kein Problem. Passt schon.“ Erst jetzt war ihr aufgefallen, wie müde er aussah. Seine Hand wanderte zu seinen Schläfen.

„Kater?“, fragte sie mitfühlend.

„Was?“, fragte er verwirrt zurück.

„Kopfschmerzen? Zu lange aus gewesen, gestern?“

Er stutzte, dann nickte er langsam. „Ja... ja, so kann man es auch sagen.“ Sein Blick wanderte zu der großen Frontscheibe des Cafes, an die sich unzählige Regentropfen drückten und zu Boden glitten. Sie war schon dabei, sich abzudrehen, um einen Lappen zu besorgen, als er das Wort erneut an sie wandte.

„Hören Sie...“

„Ja?“ Ihre Antwort kam zu schnell und zu aufgeregt. Es war ewig her, dass sie das letzte Mal jemanden getroffen hatte, der auf den ersten Blick kein Arschloch oder Langweiler gewesen war.

„Darf ich Sie auf einen Kaffee einladen oder verstößt das gegen irgendwelche Dienstvorschriften?“

Sie lächelte.

„Ich denke, ein paar Minuten kann ich ihnen schenken.“

Nein. Liebe auf den ersten Blick war es nicht gewesen. Wie auch. Wie konnte etwas, das so tief unbegreiflich war, innerhalb weniger Sekunden entstehen? Es hatte lange gedauert und mit Lewis' Nähe war seine Geschichte gekommen.

„Ich werde bald gehen“, hatte er ihr an einem Abend gesagt, als sie in ihren verschwitzten Decken lagen und Mays Gedanken bereits halb im Traum lagen.

„Wohin?“, hatte sie gefragt. „Wann kommst du wieder?“

„Ich weiß nicht“, war seine Antwort gewesen, „Weit weg. Weiter, als du denken kannst.“

Am nächsten Morgen hatte sie ein leeres Bett vorgefunden.

Und erst vier Monate später war er wieder gekommen.

Es war Winter gewesen. Ihr eigener Atem stand ihr wie Nebel vor dem Gesicht, als sie nach einem langen Tag an der Uni zurück nach Hause gekehrt war, in ihre kleine Wohnung, in ihrem kleinen Viertel, in ihrer kleinen Stadt. Generell erschien ihr alles unglaublich klein, seit er fort war. Manchmal überlegte sie, ob er wirklich wiederkommen würde, oder ob sie für den Rest ihres Lebens ein kleiner Vogel mit gebrochenen Flügeln bleiben müsste. Seit er fort war liebte sie ihn noch mehr.

Das Blut war ein unwirklicher Kontrast zum Schnee gewesen; viel zu rot und zu kräftig für diese Jahreszeit, und das Leben, das in seinem zitternden, verwundeten Körper gesteckt hatte, war zu intensiv gewesen für die seichte Melancholie der Winterabende.

„Lewis“, flüsterte sie fassungslos, „Lewis... du bist wieder da... was machst du hier?!“

Er konnte nicht antworten. Sein Körper kämpfte gegen den Blutverlust. Eine Schusswunde in seiner Schulter, ein Bruch in der reinen Symmetrie seiner blassen Haut, und sie spie seinen Atem aus, als bräuchte er ihn nicht mehr.

Die Lichter des Krankenwagens waren für lange Zeit die letzte Farbe gewesen, die sie in seinem Gesicht gesehen hatte. Woher er gekommen war? Wo er gewesen war? Ob er bleiben würde? Ihr war alles egal. Bisher war es Liebe gewesen – jetzt wurde es zu Hingabe. Faszination.

Das Mädchen, das schon mit vier Jahren auf viel zu hohe Bäume geklettert war, nur um die Angst vorm Fallen zu spüren, hatte sich ein neues Risiko gesucht, und das war er. Lewis, der Mann, der nicht bleiben konnte.

Und so hatte es immer nur einen Entschluss gegeben: Sie würde ihm folgen, eines Tages.

 

**

 

Als May die Augen aufschlug, bemerkte sie sofort, dass die Luft in ihren Lungen eine Andere war. Es war keine Einbildung oder eine Vorahnung, die ihr durch den Kopf schoss, sondern Wissen.

Sie meinte fast, sie riechen zu können, die heiße Luft und den Ruß. Den Rauch der Eisenbahnen, das glühende Metall der Schienen und die Funken – Lew hatte diese Welt November getauft und plötzlich wusste sie, wieso. Es war ein ewiger November. Rau und unwirtlich, aber auf eine seltsame Art und Weise vertraut.

Die Welt, die sie empfing, als sie sich langsam aufrichtete, war in sanftes Dunkel getaucht. Unzählige Sterne tummelten sich am Himmel über ihr, viel mehr, als sie von Zuhause kannte, aus der Stadt mit den vielen Lichtern, es waren sogar mehr als jene von dem Himmel, den sie an den Wochenenden mit ihren Freunden beobachtet hatte, wenn sie nach draußen aufs Land gefahren waren.

„May?“ Plötzlich tönte eine Stimme aus dem Dunkel und sie wusste sofort, zu wem sie gehörte.

„Lewis“, flüsterte sie leise und ein Lächeln fuhr ihr über das Gesicht. Es hatte funktioniert. Es hatte tatsächlich funktioniert, einfach so.

Lewis‘ Gesicht tauchte aus dem Dunkel auf und in dieser Sekunde hätte sie weinen können, vor Glück. Er war hier, er war unverletzt und sie atmete die Luft, die er ihr unzählige Male beschrieben hatte, in seinen Geschichten.

Es ist anders, drüben. Dein Atem geht stärker. Jeder Luftzug ist wie ein neuer Antrieb und alles, was du siehst, scheint dich dazu anzutreiben, etwas auf die Beine zu stellen – sie sind überall, die Maschinen. Eisenbahnen. Luftschiffe. Du würdest es lieben.

Sogar seine Lippen schmeckten anders, in dieser Welt. Als er sich von ihr löste und zaghaft lächelte, drehte sie sich um, nach links und rechts und nach oben, um bloß nichts zu verpassen, von diesem Moment, in dem all ihre Vorstellungen lebendig wurden.

„Sind wir wirklich da?“, fragte sie ungläubig und sah Lewis aufgeregt an.

„Ja“, nickte er, doch aus irgendeinem Grund wirkte er nicht so glücklich, wie noch vor ein paar Stunden, im gekachelten Zimmer, umringt von all den Schläuchen, die sie hierher gebracht hatten. „Ja, wir sind da.“

„Ist alles in Ordnung?“, fragte sie vorsichtig und musterte ihn besorgt. Er lächelte, doch Lewis war noch nie ein guter Lügner gewesen. „Natürlich ist alles in Ordnung, was sollte denn nicht?“ Sein Grinsen verrutschte, doch sie kam nicht mehr dazu, zu fragen, denn in dieser Sekunde drang eine neue Stimme durch die Dunkelheit.

„Lewis – sieh dir das an.“

Verwirrt drehte sie sich um und erst jetzt bemerkte sie, dass sie ihre alten Sachen nicht mehr bei sich hatte, sondern nur ein ausgefranstes, altes Hemd trug, das ihr beinahe über die Schulter rutschte. Auch Lewis‘ Kleidung sah eher improvisiert aus, doch noch bevor sie sie näher betrachten konnte, hatte er sich erhoben und war in der Dunkelheit verschwunden.

Zögernd erhob sie sich auf die Füße und folgte ihm mit kleinen Schritten. Das Gras unter ihren nackten Zehen war feucht und sie fröstelte in der kühlen Brise, außerdem konnte sie kaum ein paar Meter weit sehen, bis sich endlich zwei Silhouetten aus dem Dunkel lösten.

Als sie beide Arme um die Schultern schlang und neben Lewis trat erkannte sie die Gestalt neben ihm nur schemenhaft, doch sie schien ein Mann im ähnlichen Alter zu sein, ein knabenhaftes Gesicht, das von struppigen, blonden Haarsträhnen eingerahmt wurden, von denen sie selbst im Dunkel sehen konnte, dass sie dunkler waren als die von Lewis.

Beide starrten sie in die Dunkelheit vor sich, als könnten sie etwas sehen, das May entging und so folgte sie ihren Blicken, ohne weitere Fragen zu stellen. Da war nichts als Schatten.

„Was…?“, fragte sie, doch sie wurde von einem unwirschen „Psssh!“ des Fremden unterbrochen.

Und dann hörte sie es auch.

Ein Rattern, kaum zu unterscheiden vom leisen Heulen des Windes, metallisch, rhythmisch, schnell. Eine Eisenbahn?

„Wieso fährt sie nachts?“, fragte der Fremde und sah Lewis mit zusammen gezogenen Augenbrauen an; er sah älter aus, als zuerst angenommen, seine Wangen waren schmutzig und die Schatten unter seinen Augen tief. „Sie fährt niemals, nachts.“

Lewis atmete tief ein und aus, wie er es immer tat, wenn er sich nicht sicher war, was er von der Situation halten sollte. „Vielleicht eine Nachtlieferung“, mutmaßte er dann.

„Nein.“ Der Fremde schüttelte den Kopf. „Nicht heute.“

Eine Weile herrschte Stille und obwohl May keine Ahnung hatte, worum es ging, spürte sie die angespannte Stimmung zwischen Lewis und dem Anderen.

„Meinst du… sie suchen?“, fragte Lew schließlich vorsichtig und der Fremde brauchte kaum ein paar Sekunden, um zu antworten: „Möglich.“

May spürte, wie Lewis Finger sich in ihre legten und sie hielt sie fest, in der Hoffnung, dass das alles dadurch mehr Sinn machen würde, aber die Erleuchtung blieb aus.

„Was ist los?“, fragte sie leise und musterte das zerkratzte Gesicht des Fremden. „Und wer ist das?“

„Mach dir keine Sorgen“, murmelte Lewis und schüttelte den Kopf, während er May in seine Arme zog. Seine Hände zitterten. „Das ist Ja...“

„Niemand“, unterbrach der Fremde Lewis, bevor er zuende sprechen konnte, „Ich bin niemand.“ Er warf Lewis einen mahnenden Blick zu, als wäre er im Begriff gewesen, einen unheimlich dummen Fehler zu machen, wenn er May seinen Namen verriet.

„Ich kann mir keinen Ärger leisten“, murmelte er leise und irgendetwas sagte ihr, dass diese Worte nur für Lewis bestimmt waren, doch sie hörte sie trotzdem. Lewis nickte verständnisvoll, auch, wenn sie seinen Ärger spürte und so kehrte erneut Stille ein.

„Ich bin May“, meinte sie nach einer halben Ewigkeit, einfach, um irgendetwas zu tun, damit die eiserne Stille verschwand.

„Ich weiß“, erwiderte der Fremde und wandte sich ab, um im Dunkel zu verschwinden.

„Jas.“ Lewis hielt ihn am Arm zurück. „Ist alles in Ordnung? Wie geht es Claire?“

„Fabelhaft“, erwiderte der Andere bissig und machte sich los. In der nächsten Sekunde nahm May von ihm nichts mehr wahr außer leiser werdende Fußschritte im Dunkel.

„Wer war das?“, fragte sie erneut, in der Hoffnung, nun eine vollständige Antwort zu bekommen.

„Du kennst ihn“, erwiderte Lewis abwesend. „Er war meine Rettung, vor langer Zeit.“

Jasper, schoss es ihr durch den Kopf, es ist Jasper.

„Er hat dich angeschossen, damals“, murmelte sie und sah Lewis entsetzt an.

„Du kennst die Geschichte“, antwortete er bloß und griff erneut nach ihrer Hand. „Komm, wir legen uns schlafen. Morgen zeige ich dir die Berge.“

 

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Tag der Veröffentlichung: 16.08.2015

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