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Stayin' alive

Sie hatten ihr gesagt, die Stadt sei tot.

Aber jetzt, wo der Wind brüllend an den verlassenen Häusern zerrte, die Regentropfen gegen ihre Mauern peitschte und die alten Gebäude stöhnten und heulten, als wären sie gewaltige, alte Tiere, die gequält und gefoltert würden, war sie sich sicher: etwas lebte an diesem Ort. Sie meinte den kalten Atem der unzähligen Seelen fast zu spüren, die einst dort gelebt und gelacht hatten, wo sie nun am Boden kauerte und betete, jemals wieder nach Hause zu finden.

Sie hatte Harry bereits vor Stunden im Regen verloren und mit jeder Sekunde rückten ihre Hoffnungen auf ein Wiedersehen ein paar Schritte weiter in die Unerreichbarkeit. Sie hatte es aufgegeben, sich an die Pistole zu klammern – ihre Finger waren längst viel zu blau um auch nur eine routinierte Bewegung auszuführen.

Die Stadt ist tot, hatten sie gesagt. Das ist eine reine Routinemission.

Sie schnaubte und zog ihre Jacke enger um ihren Körper. Routine war es spätestens nicht mehr gewesen, als der Regen so sehr zugenommen hatte, dass sie ihre Vorhut verloren hatten. Und dann waren auch irgendwann Harrys stahlblaue Augen kein Fixpunkt in all dem Chaos mehr gewesen und nun saß sie hier, schutzlos und durchgefroren inmitten einer fremden, ungesicherten Stadt.

Die Wolken vor ihren Augen wurden dichter und entgegen allen Lektionen, die man ihr im Krieg erteilt hatte, ließ sie den Schlaf ihre Gedanken überrollen. Es war zu kalt, als dass sie dagegen angekämpft hätte.

 

**

 

Well, now I get low and I get high

 

Verwirrt öffnete sie die Augen. Wo war sie? Der Boden unter ihr war hart. Ihr war kalt.

 

And if I can't get either, I really try

 

Die Sonne strahlte ihr hell ins Gesicht als sie ihre steifen Körperteile vorsichtig bewegte.

 

Got the wings of heaven on my shoes

 

Sie hatte die letzte Nacht auf einem Dach verbracht, doch das wurde ihr erst klar, als sie sich aufrichtete und ihren Blick über die Straßen unter ihr schweifen ließ. Es war das selbe Bild wie immer. Inzwischen war sie die zerbrochenen Fenster und all das getrocknete Blut beinahe gewohnt, aber da war etwas neu: Die Musik.

 

I'm a dancin' man, and I just can't lose

 

Am Ende der Straße vor ihr erschien ein Sportwagen. Das Schiebedach war zurückgefahren und er bewegte sich schleichend langsam über den von Pfützen übersäten Asphalt. Die Musik wurde laut und dröhnend von den leeren Gebäuden wider geworfen. Doch das war nicht was ihr den Atem verschlug, als sich das Gefährt näherte.

 

I'm a-stayin' alive, stayin' alive

Ah, ah, ah, ah, stayin' alive, stayin' alive

Ah, ah, ah, ah, stayin' ali-i-i-i-ive

 

Der Mann reckte seine angespannten Oberarme gen Himmel und das Sonnenlicht reflektierte die Tränen in seinen Augen genau wie sein blitzendes Lächeln, das für so viel Euphorie und Verzweiflung stand, wie es nur das derjenigen tat, die die letzten Jahre überlebt und trotzdem so viel verloren hatten.

Er lebte.

 

Und er schrie es in den blitzblauen Himmel wie einen Schmerzensschrei.

 

Ah, ah, ah, ah, stayin' alive, stayin' alive

 

Ihr Herz stockte für ein paar Sekunden. Sie hatten ihr gesagt, die Stadt war tot. Es gab keine Überlebenden jenseits der Grenzen. Sie waren alle im Säureregen umgekommen, mit den Infizierten. Aber der Mann, der auf dem Fahrersitz seines Cabrios stand und die geballten Fäuste in den Himmel stieß, mit nichts als einer Boxershorts und einem Bademantel am Körper, bewies ihr das Gegenteil.

Da waren keine Bisswunden. Keine Spuren von Blut.

Er war mehr am Leben als jeder, den sie in den letzten Monaten zu Gesicht bekommen hatte.

Und er rollte durch die Straßen, als wäre das alles seins.

Ein einsamer König, und alles was ihm gehörte, war nichts.

 

Die Musik verstummte.

Ein letzter Überlebender in seinem Cabrio und eine verirrte Soldatin auf dem Dach.

Ihre Blicke kreuzten sich und für wenige Sekunden verband sie eine seltsame Einigkeit. Eine verworrene Zufriedenheit mit den Dingen, die in diesem Moment abwegiger hätte sein sollen, als sie es war. Die Sonne schien und sie waren am Leben. Es war einer der guten Tage.

Das rasselnde Laden eines Maschinengewehrs brachte sie zurück in die Wirklichkeit. Natürlich. Man überlebte nicht einfach so die Apokalypse. Ihre Hände wanderten langsam nach oben, doch sie hielt standhaft Blickkontakt mit dem Mann unter ihr, dessen Augen entschlossen funkelten. Eine Träne rann aus seinem Augenwinkel.

„Hallo“, meinte sie zögernd. Etwas in seinen Pupillen veränderte sich, aber er bewegte sich nicht einen Millimeter.

„Ich... ich komme jetzt runter, in Ordnung?“, fragte sie und wartete kurz ab.

Er reagierte nicht.

Mit langsamen, routinierten Bewegungen ließ sie sich zu Boden und rutschte an der Dachrinne hinab auf den Schutthaufen, der sich dort auftürmte. Der Lauf des Gewehrs, das ihr dabei stetig folgte, machte sie schon lange nicht mehr nervös. Es gab schlimmeres als den Tod, das hatte sie gelernt. Sie kletterte zum festen Boden, dann atmete sie tief durch und hob den Kopf.

„Verstehen Sie mich? Do you speak english?“

Er öffnete den Mund und schien mit sich selbst zu kämpfen. Für ein paar fürchterliche Sekunden dachte sie, sein zitternder Finger am Abzug würde zucken, aber ihm entfuhr lediglich ein bitterliches Schluchzen. Die Waffe blieb dennoch oben.

„Ich hasse euch“, flüsterte er und verzog sein Gesicht zu einer schmerzverzerrten Maske. Erst jetzt erkannte sie, wie rot seine Augen waren. Eine Waffe und Musik hatten nicht gereicht, um seine Psyche aufrecht zu erhalten. Sie roch Alkohol und wusste, dass das nicht das einzige Hilfsmittel war, zu dem er gegriffen hatte.

Nun schlug ihr Herz doch schneller.

„Hören Sie... es ist vorbei“, redete sie möglichst bestimmt auf ihn ein. „Wir sind in Sicherheit. Die Monster... sie sind weg! Schon seit sieben Monaten... Es ist vorbei... Sie sind in Sicherheit.“

Sie wollte einen Schritt nach vorne machen, doch er riss die Waffe wieder nach oben.

Ihr Mund trocknete aus. Sie wollte nicht sterben. Erst Recht nicht jetzt.

Sie schloss die Augen, atmete ein und wieder aus, dann hob sie die Hände erneut.

„Geht weg“, schrie der Mann und sie sah, wie ihm der Angstschweiß von der Stirn tropfte. „Ihr sollt mich alleine lassen!“

Sie würde hier nicht weg kommen, wenn sie ihn nicht beruhigte.

„Hören Sie...“, versuchte sie es erneut. „Es ist in Ordnung. Sie sind schon weg, sehen Sie?“

Seine viel zu weiten Pupillen zuckten panisch hin und her.

„Konzentrieren Sie sich. Sie sind weg. Okay? Okay?“

 

Für ein paar Sekunden hielt es ihn noch aufrecht, dann fiel die Waffe scheppernd zu Boden und sein Schluchzen wurde wieder lauter.

„Du lebst!“, rief er und das Salz auf seiner Wange wurde zu Euphorie. „Du lebst!!“

Dann stürzte er auf sie zu und küsste sie. Es war sowohl der intensivste, als auch der verwirrendste Kuss, den sie jemals erlebt hatte. In ihm steckte so viel von dem, was in all den grauen Augen der Leute im Camp verborgen war: eine Schicht aus Beton, doch aus ihm brach das Gold darunter hervor. Der Wille zu leben und nur zu leben, die Sehnsucht nach reiner, weicher Haut und Wärme, nach starken Herzen und Kraft.

Er löst sich wieder von ihr, fasste mit fahrigen Bewegungen nach ihrem Haar, rieb es an seiner Wange, sog den Geruch ein, strich über ihre Haut, befühlte ihre Finger... es war eine seltsame Situation, aber sie ließ ihn gewähren, weil sie verstand, wie er sich fühlen musste. Endlich wieder Wärme zwischen all dem Blut und Beton.

„Ich dachte, ihr kommt nicht mehr“, flüsterte er. „Ich dachte, wir wären tot.“

„Wir?“, wiederholte sie. „Gibt es noch mehr?“

„Susie“, stieß er hervor und zu mehr brachte er es nicht. Immer nur „Susie. Susie, Susie, Susie.“

„In Ordnung.“ Sie nickte. „Ich komme vom Militär. Wir durchkämmen die Städte nach letzten Infizierten, um das Virus endgültig auszulöschen. Sie haben Glück, dass ich Sie gefunden habe.“

Ein Überlebender. Wenn es ihn gab und eine weitere – waren da draußen noch mehr? Ihr Herz klopfte schneller. Vielleicht würde es ein Sonderkommando geben und sie wäre die erste gewesen, die einen Verlorenen nach Hause gebracht hätte.

„Susie – wer ist das?“, fragte sie.

„Meine Freundin“, antwortete er, „Sie ist krank. Wir haben doch keine Medikamente...“

„Wo ist sie?“, fragte sie und versuchte, darüber hinwegzusehen, dass er sich noch immer an ihre Hand klammerte wie ein Kleinkind.

„Z...zuhause“, hauchte er. „Du lebst. Du lebst tatsächlich.“

Sie nickte. Und dann folgte sie ihm.

 

**

 

Er hatte sich ein Leben zusammen geflickt. Aus all den Überresten, den Überbleibseln von zerstörten Existenzen hatte er sich Dinge gegriffen, so viele seine schmutzigen Hände tragen konnte und damit etwas aufgebaut, das ein normales Dasein auf lächerlich kindliche Weise imitieren sollte.

Doch nichts täuschte darüber hinweg, dass das Cabrio Blut verschmiert, die Haustür mit tausenden Schlössern und Brettern verbarrikadiert und seine Hand unkontrolliert am Zittern war, als er den Schlüsselbund aus der Tasche zog und die Tür entriegelte.

„Susie“, flüsterte er. „Du musst ihr helfen.“

Sie nickte. „Wir werden sie in eine Kolonie bringen. Dort werden wir ihr helfen können.“

Vielleicht würde sie Harry wiederfinden, er würde helfen können. Hoffentlich hatte er es durch den Regen zurück geschafft, ohne auf Infizierte zu treffen. Sie sehnte sich nach seiner starken Hand in ihrer. Das hier war ein Fall, den sie nicht tausend Mal durchgespielt hatten, im Training. Das hier war neu.

Das Innere des verdunkelten Raum war ein Bunker, vollgestopft mit Essen, Waffen und Tarnvorrichtungen, aber der Fremde hatte sich Mühe gegeben, ihm eine heimische Atmosphäre zu geben. Ein Poster von Pink Floyd teilte sich eine Wand mit Maschinengewehren und Messern, ein gerupfter Teddybär saß auf einem Regal, in dem sich Äxte und Kettensägen stapelten und selbst das Golfset in der Ecke war Blut verschmiert.

Eine Weile standen sie nur da und starrten das seltsame Szenario vor sich an.

„Ich war Finanzberater“, flüsterte er und seine Stimme versagte, als er versuchte, weiterzusprechen. „Ich war... Finanzberater...“

Tränen tropften von seinem Kinn und die Pistole aus seiner Hand schlug unwirklich hart auf dem Boden auf. Unbeholfen legte sie eine Hand auf seine Schulter und versuchte, irgendetwas von der tiefen Verbundenheit auszudrücken, die sie für ihn empfand. Es war unwirklich, was in so kurzer

Zeit geschehen konnte.

„Ich habe Kunst studiert“, lächelte sie möglichst tapfer. „Aber das ist Vergangenheit. Es gibt da draußen ein neues Leben.“

Sein Blick wanderte zu dem Militärabzeichen auf ihrer Brust.

„Ist es gut?“, fragte er leise.

Sie versuchte krampfhaft, nicht an das hilflose Gesicht ihres kleinen Bruders zu denken, dem unbarmherzig ein Küchenmesser in die Hand gedrückt worden war und konnte nicht antworten. Stattdessen musterte sie die Stereoanlage am Ende des Raums und fragte: „Funktioniert die etwa?“

Sie hatte Jahre lang keine Musik mehr gehört.

Zur Antwort drückte er auf den Knopf einer Fernbedienung, die er aus seiner Tasche zog.

 

Follow me into the great unknown

Where pink flamingos grow

Diet soda flows

 

Sie kannte das Lied nicht, aber es war so ein überwältigendes Gefühl, sich nach unendlich langer Zeit der Musik hinzugeben und nichts anderes zu tun als die Kontrolle ihres Körpers dem Beat zu überlassen, dass ihr alles Recht war. In der Kolonie gab es keine richtige Musik. Die Batterien und der spärliche Strom der Wasseranlage wurden für wichtigeres gebraucht. Doch in diesem Moment konnte sie sich nichts wichtigeres als einen guten Song vorstellen.

 

So we all ride for nothing 

Cuz this train never stops

 

Sie verstand, wieso er mit den BeeGees durch die Stadt geritten war. Es war ein unglaublich mächtiges Gefühl, das zu tun, was ihr blieb und die einzige in dieser Stadt zu sein, die noch atmete. Ihr gehörte alles. Ihr gehörte die Welt. Und auch wenn sie Harry liebte, gab sie sich seinen Küssen hin und sank bereitwillig mit ihm zu Boden, als er sie mitzog. Er fühlte sich so gut unter ihren Fingern an, so lebendig, so... echt.

Seit Monaten hatte ihr Herz nicht mehr so wild geschlagen und so gierig nach Luft gerungen, wie jetzt. Er war wie das Leben. Und auch, wenn sie alle tot waren und sie das wusste, er lebte und sie lebte und in dieser Sekunde war das alles, was zählte.

 

People more is more

Ah we all want more

 

Es war der beste Sex ihres Lebens.

 

 

**

 

Als die Besinnung sie wieder fand sah sie in den Augen ihres Gegenübers die selbe Müdigkeit wie in ihren eigenen. Die Erschöpfung nach dem Höhepunkt der übersteigerten Extase im Rausch des Größenwahns.

„Ich liebe Susie“, murmelte er und seine Augen glitten langsam in den Schlaf.

„Ich liebe Harry“, erwiderte sie und erhob sich langsam, um sich anzuziehen.

Sie liebten sich nicht. Aber das war okay.

Während er schlief beschäftigte sie sich damit, vergilbte BRAVO Zeitschriften aus den staubigen Regalen zu ziehen und sie durchzublättern, um sich über ihre zauberhafte Sinnlosigkeit zu freuen, die in krassem Kontrast zum nackten Überleben vor der Tür stand.

 

Bereits da spürte sie das Ziehen in ihrer Magengrube, ein Gefühl der Erkenntnis, das langsam Überhand nahm und sich vollends festigte, als er erwachte und mit fahrigen Bewegungen nach den Tabletten griff, die das Beben aus seinen Gliedern verscheuchten. Die Feststellung traf sie so plötzlich, dass sie schlucken musste. Sein wässriger Blick, der still auf ihren traf, bestätigte die kalte Wahrheit, die sich schon seit Wochen ihren Weg mit Schauern über ihren Nacken fraß: es würde nie wieder das selbe Leben werden, wie früher. Auch, wenn die Leute in der Kolonie so taten.

Seine Pupillen weiteten sich, als die Drogen ihre Wirkung taten und er erhob sich ruckartig, als wäre ihm etwas wichtiges eingefallen.

„Susie“, flüsterte er. „Wir müssen sie retten.“

„Ja“, nickte sie und klammerte sich an die eine Aufgabe, die ihr in all der Sinnlosigkeit blieb. „Ja, das werden wir. Zeig mir, wo sie ist, wir bringen sie in Sicherheit.“

Er nickte und ging quälend langsam die Stufen zum Keller hinunter. Seine zittrigen Hände schlossen fünf Schlösser auf.

Augenblicklich begann es in ihrem Kopf zu arbeiten, der Instinkt der Soldatin war wieder geweckt.

Fünf Schlösser. Im Keller.

Von drinnen drang ein Poltern.

Die Frau hatte nichts gesagt, all die Zeit, obwohl sie darin gewesen war.

Noch bevor er die Tür aufstieß, wusste sie, das ihre Hilfe zu spät kommen würde.

 

**

 

„Nicht!!“, schrie sie. „Zur Seite!“

Er schlug hart gegen die Wand, als sie ihn fort stieß und die Waffe auf die Infizierte vor sich richtete. Sie war in einem furchtbaren Zustand. Die Haare strähnig und verfilzt, die Augen aus dem Schädel quellend und die Haut in Fetzen von ihrem blanken Schädel hängend, versuchte das Zombiewesen sich vom Boden zu erheben, aber es war so abgemagert, dass es die Bewegung nicht zu Stande brachte. Ein gurgelnder Urlaut drang aus seiner Kehle.

„Sie ist krank“, ächzte er und hielt sich den Kopf. „Du musst ihr helfen...“ Aus seinen Augen sprach das Wissen, dass es zu spät war, aber alles in seinem Gesicht wehrte sich dagegen. „Du hast gesagt, du rettest sie.“

„Ich kann nicht“, stieß sie zwischen den Zähnen hervor und versuchte, die Pistole in ihren zitternden Händen auf das Wesen zu richten, um zu abzudrücken.

„Nein!“, rief er und versuchte, sich aufzurichten, doch binnen weniger Sekunden war sein Gesicht blutüberströmt und seine Beine sackten weg. „Nein, das darfst du nicht tun!“ Seine Stimme kippte ein paar Oktaven höher. „Du hast gesagt, du rettest sie!“

Angstschweiß strömte ihr über die Stirn, doch ihr pumpendes Herz, diesmal von der Todesangst angetrieben und nicht von dem Verlangen nach Leben machte es ihr unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie musste schießen. Sonst würde alles von vorn anfangen. Sie würde sich infizieren. Harry sich anstecken. Die Kolonie würde aussterben. Und dann wäre es wieder die Hölle der letzten Jahre. Die Menschheit hatte bereits einmal alles verloren. Und das konnte sie nicht erneut zulassen.

„Warte“, keuchte er und stolperte vor den Lauf ihrer Waffe, bevor sie abdrücken konnte. Aus seinem Gesicht sprach die blanke Verzweiflung. „Du kannst sie nicht töten... ich brauche sie... Du hast gesagt... du hast gesagt, du rettest sie!!“

Sein Gesicht verzog sich zu einer grotesken Maske des Schmerz' und da war keinStayin alivemehr in seiner Stimme, keine Kraft und kein Leben, als er auf die Knie sank und die bebenden Hände hob, eine letzte Kapitulation um seine Hoffnung zu wahren.

Doch ihre Hände klebten unerbittlich an dem schweißigen Griff der Pistole. Sie hatten sie auf solche Szenen vorbereitet. Stark bleiben. Keine Gnade zeigen. Diese Wesen haben deine Familie ausgelöscht.

„Du hast es versprochen... du hast es versprochen...“, brüllte er mit Tränen in den Augen und schlug auf den blutverschmierten Betonboden ein, vor Hilflosigkeit. „Du kannst sie nicht umbringen!“

„Ich kann nicht...“, flüsterte sie und würgte die Tränen in ihrem Hals herunter, „ich kann nicht...“

„Ich liebe sie...“, hauchte er und schrie, kein Wort, es war ein einfacher, verbitterter Schrei, der

alles, was passiert war, auf grausame Art und Weise zusammenfasste.

„Das ist nicht mehr die Frau, die du liebst“, kämpfte sie gegen ihr eigenes Mitgefühl an. „Sie ist schon lange fort... Susie ist nicht mehr hier!“

Er kämpfte sich auf die Knie, kalter Schweiß lief ihm über das Gesicht. „Wieso... wieso ist sie dann noch da? Wieso ruft sie mich? Wieso... wieso kann ich sie noch sehen?!“ Es war das pure Unverständnis dafür, wie unfair die Welt war. „Ich liebe sie“, wiederholte er und rutschte gefährlich nahe an die aufgerissenen Hände seiner verstorbenen Liebsten, die sich gierig seiner lebendigen Haut entgegen streckten.

„Nein“, flüsterte sie und wusste, dass es jede Sekunde zu spät sein würde, ihn zu retten.

Der Abzug unter ihrem Finger schmiegte sich kalt an ihre Haut, als sie die erste Sicherung herunter drückte und für den Bruchteil einer Sekunde setzte ihr Herz aus.

Er starrte sie an und dieser winzige Moment reichte, um eine Entschlossenheit in seinen Blick zu sähen, den sie zu diesen Zeiten immer seltener sah. Die Wolken vor seinen Pupillen zogen sich zurück und schneller, als sie reagieren konnte, drehte er sich herum und empfing bereitwillig die Arme der Infizierten. Es war sein letzter Kuss – und auch ihrer.

Der Schuss hallte kalt durch das Halbdunkel und etwas zerriss in der Stille und ihrem Herzen, als ihr Finger erneut abdrückte. Und wieder. Noch einmal. Blut spritzte auf. Er röchelte, sie verstummte. Ein erneuter Schuss hallte durch den kalten Raum. Sie konnte nicht anders. Alles in ihr schrie sie an, aufzuhören, mit dem was sie tat, aber sie wusste, sie würde es nicht noch einmal schaffen, die Überzeugung zu finden, ihn umzubringen. Die Infizierten bedrohten das Allgemeinwohl. Ihr Wohl. Sie schoss. Und schoss. Und schoss. Bis die Munition aufgebraucht war und alles, was auf ihr Zucken folgte, ein hohles Klicken war.

Und dann war da Harry.

Mit traurigem Blick musterte er ihr blutverschmiertes Antlitz, die beiden Leichen vor ihr, die sich stumm ein letztes Mal umarmten und all die Patronen um sie herum. Er fing ihren Sturz ab und presste sie stumm an sich, als sie begann zu schluchzen und um sich zu schlagen, flüsterte beruhigende Worte in ihr Haar und trug sie mit langsamen Schritt aus dem Bunker.

Sie wollte nicht mehr leben.

Aber seine Arme waren stärker als die desjenigen, dessen Namen sie nicht mehr herausgefunden hatten und machten es unglaublich schwer, ihr Herz zum Stillstand zu bewegen.

„Ich hab die Schüsse gehört“, murmelte er. „Wusste, dass du es sein musst. Ich hab dich. Es ist alles gut. Hey. Clare. Es ist alles in Ordnung, ich bin ja da.“

Nach einer Weile waren die Tränen aufgebraucht und sie hockten im Dunkel der aufziehenden Dämmerung, mit brennenden Augen und zitterndem Atem, jeder in seine Gedanken vertieft.

„Wieso tut ein Mensch so etwas?“, fragte sie heiser und starrte auf den rissigen Asphalt der nun wirklich toten Stadt. „Er hätte überleben können... wie wir alle überlebt haben. Er hätte ein Leben anfangen können, ein neues. Seine Freundin war tot... er hätte überleben können...“

Harry legte schützend einen Arm um sie.

„Ich glaube, manche Leute sterben in der Apokalypse, noch lange bevor ihrem wirklichen Tod.“

„Weil sie infiziert sind“, erwiderte sie. „Aber was ist mit den Überlebenden?“

„Eigentlich gibt es keine Überlebenden. Wir sind alle Zombies. An irgendeinem Punkt gehen wir alle drauf. Und wenn das den Leuten bewusst wird, gibt es manchmal kein Leben danach mehr. Das gibt es für uns alle nicht. Irgendwie...“, er seufzte,

„wir wollen es nicht wahr haben, aber wir sind wir alle infiziert, auf irgendeine Art und Weise.“

Langsam sah sie auf.

„Ich will ein Leben danach“, flüsterte sie.

Er nickte. „Ich auch.“

„Dann lass uns abhauen“, meinte sie und lehnte den Kopf an seine Schulter. „Weg von der Kolonie.“

„Warum?“, fragte er erstaunt.

„Wir suchen uns unser Leben danach“, lächelte sie traurig. „Wir erstehen wieder auf.“

 

 

ENDE

 

 

Impressum

Bildmaterialien: Elise C. Cartrose - danke für das fantastische Cover :)
Tag der Veröffentlichung: 02.04.2015

Alle Rechte vorbehalten

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