Cover

I

„Hallo! Würden Sie mit mir tanzen?“

Sie war schon vieles gefragt worden, in ihrem Leben. Auch mitten auf der Straße. Auch im Regen.

'Wie spät ist es?', 'Darf ich mit Ihnen über Gott und die Welt reden?', 'Mögen Sie Katzen?'. Alles Fragen, die mehr oder weniger verständlich waren, oder über die man zumindest schmunzeln konnte, weil die Münder aus denen sie kamen ähnlich verrückt aussahen.

Aber diesmal war es anders. Der Mann vor ihr sah sie so ernst an, wie noch nie jemand zuvor. Sein Haar klebte klatschnass an seinen Schläfen, sein Mantel sah zerschlissen und abgenutzt aus, trotzdem nicht ungepflegt. Sie zögerte. Was sollte man in so einer Situation schon antworten?

'Vier Uhr fünfundzwanzig', 'Nein, kein Bedarf' oder 'Zu viele Haare' erschienen ihr keine passenden Antworten, obwohl der Gedanke, sie auszuprobieren, seinen Reiz hatte.

„Miss?“. Er wartete auf eine Antwort. Das angedeutete Lächeln auf seinen Lippen sah freundlich aus, nicht verrückt oder unberechenbar. Es war ein ganz normaler Mann. Mit unnormal roten Augen und unnormalen Fragen, vielleicht, aber sie spürte keine Angst, als sie seinen Blick erwiderte.

Ein Tanz. Was sollte daran schon verkehrt sein?

Also nickte sie. Der Regen traf sie im Gesicht, als sie den Regenschirm einklappte und zur Seite stellte. Der Platz war leer, abgesehen von dem Mann und ihr. Wieso nicht ein kleines Tänzchen? Sie hatte noch Zeit und der Mann sah so erfreut aus, dass sie jetzt keinen Rückzieher mehr machen konnte.

Ohne große Umschweife ergriff er ihre Hände und trotz der Kälte waren sie angenehm warm, als er sie schwungvoll an sich zog. Wie von selbst legten sich ihre Finger um seine, sein Arm um ihre Hüfte. Von irgendwo ertönte Musik. Und dann tanzten sie.

Er war nicht besonders gut darin, nicht besser als sie, trat ihr mehrmals auf die Füße, aber sie fühlte sich wohl in seinem Arm. Er war älter, schon klar, außerdem verliebte sie sich nicht gleich in den nächstbesten Verrückten, aber sie bereute nicht, auf sein Angebot eingegangen zu sein. Er tanzte. Und sie tanzte mit ihm, wirbelte über den menschenleeren Platz und vergaß den Regen und alles Andere. 

Denn auch wenn er oft Fehler machte, den Takt verlor oder auf ihre Füße trat, hatte er eine führende Energie in sich, der sie nach ein paar Minuten vertraute und so wirbelte er sie herum, mal langsamer, mal schneller, durch den Regen und unbeirrt von den Fehlern, die sie beide machten. Die Luft war frisch und kalt, aber in seinen Armen fühlte sie sich geborgen. Ein paar Schritte nach links. Ein paar nach rechts. Sie wogen sich hin und her, er übergab ihren Rythmus dem Wind und überließ es seinen Füßen, wohin sie tanzten. Sie hatten den Platz bereits mehrmals umrundet.

Und dann hörte der Regen auf. Irgendwo schlug eine Turmglocke. Sie musste nach Hause. Als die letzten Töne des Lieds verklungen waren, löste sie sich von ihm und sah ihn an. Er lächelte. Sie lächelte auch.

„Das war schön.“

Sie nickte. Er auch.

Die ersten Menschen kamen zurück auf den Platz. Ihr Regenschirm lehnte noch immer an der Sraßenlaterne. Es dämmerte.

„Möchten Sie nicht öfters mit mir tanzen?“

Seine Frage überraschte sie. Kurz dachte sie nach. Ob sie noch öfters durch den Regen tanzen wollte, mit ihm? Öfter alles vergessen? Sie war ehrlich. Und nickte.

Er lachte. Es war ein so herzliches, offenes Lachen, dass ihr ganz warm wurde.

„Sie gefallen mir. Wie ist Ihr Name?“

Sie redete nie besonders viel, aber ihn schien das nicht zu stören. Sie lächelte unsicher. „Polly.“

„Polly“, wiederholte der Mann. „Ein schöner Name. Hören Sie, Polly, hätten Sie Lust auf ein Abenteuer?“

Ein Abenteuer. Das Angebot klang verheißungsvoll, sein Lächeln sprach die selbe Sprache. Ein Abenteuer. Aber sie verlor nicht völlig das Misstrauen, das in ihr nagte. Ein Tänzer im Regen. Konnte man so jemandem trauen? Ihr Blick schweifte zu ihrem Regenschirm, der still auf sie wartete.

Er bemerkte ihr Zögern. „Kommen Sie mit mir, Polly. Tanzen Sie mit mir. Tanzen Sie mit dem verrückten Mann, fort von hier, über die Berge und weg. Sie müssen nicht wiederkommen. Aber Sie können. Ich würde mich freuen, wenn Sie dieses Abenteuer mit mir bestreiten würden.“

Sie neigte den Kopf. Eine Reise? Darauf war sie doch gar nicht ausgelegt... so, wie er es aussprach, klang es nach einer längeren Unternehmung. Es schien, als hätte er ihre Gedanken gelesen.

„Sie brauchen nichts, Polly. Kommen Sie einfach mit mir, so wie Sie sind. Sie müssen keine Angst haben. Denken Sie nicht so viel nach. Tun Sie's einfach. Ich würde mich sehr über Ihre Gesellschaft freuen.“

Dann drehte er sich um und ging. Er schien sich ganz sicher, dass sie ihm folgen würde.

Sie konnte nicht anders. Sie musste lächeln. Dieser Mann war verrückt. Genau so sehr wie der verwirrte Kerl, der sie gefragt hatte, ob sie Katzen mochte. Wahrscheinlich war er sogar noch schlimmer. Aber er hatte etwas Reizvolles, sein Auftreten, sein Angebot... wie nicht von hier. 'Denken Sie nicht so viel'. Wahrscheinlich hatte er Recht.

Nachdenklich sah sie ihm hinterher. Und dann griff sie ihren Regenschirm und folgte ihm. Weg aus der verregneten Stadt, in ein Abenteuer.

 

II

„Ist das Ihr erstes Abenteuer, Polly?“, fragte der Mann, als er die große Bahnhofshalle betrat. Er sah sie gar nicht an, ließ seinen Blick über die leuchtenden Anzeigetafeln schweifen und schien nach etwas zu suchen, das er nicht fand.

Sie zögerte. Ein Abenteuer... Was war das überhaupt? Hatte sie schon einmal eins erlebt? Sie erinnerte sich daran, wie sie vor vielen Jahren als kleines Kind einmal im Einkaufszentrum verloren gegangen war. Überall waren Menschen gewesen. Dicke, dünne, große, kleine Menschen. Sie war untergegangen in dem Strudel und hatte geweint, bis sie keine Tränen mehr gehabt hatte. Dann endlich war ihre Mutter wieder da gewesen, hatte ihre nassen Wangen getrockent und sie in den Arm genommen. Sie wachte immer noch manchmal schweißgebadet auf, wenn sie von dem Gedränge träumte. Sie hasste Menschenmengen und das unkontrollierbare Chaos, das sie beinhalteten. Selbst die halbleere Bahnhofshalle war ihr zu voll. Nein, das war kein Abenteuer gewesen. Zumindest kein Gutes.

Also nickte sie, zum vierten Mal, an diesem Tag. Der Mann schien es zu sehen, obwohl er noch immer fort sah.

„Dann will ich Ihnen erklären, wie ein Abenteuer funktioniert: Wir brauchen ein Ziel. Einen Ort, wo wir hin wollen. Haben Sie einen Vorschlag?“

„Das Meer.“ Die Antwort kam schnell, aus dem Innersten ihres Herzens und sie legte all ihre Leidenschaft in die beiden Worte. Das Meer. Ihre Mutter hatte ihr oft davon erzählt, nur gesehen hatte sie es nie.

„Das Meer... Polly, Sie sind wundervoll.“ Der Mann lächelte erneut und diesmal sah er sie dabei an. Sie musste schon wieder mitlächeln, sie konnte gar nichts dagegen tun. „Das Meer. Mir hätte nichts Besseres einfallen können. So beginnen sie doch alle, die großen Filme und Romane, nicht? Das Meer. Alle wollen ans Meer. Waren Sie schon einmal am Meer, Polly?“

Sie schüttelte den Kopf. „Und Sie?“

„Nein.“ Plötzlich klang seine Stimme wehmütig und sein Blick hing ein paar Sekunden in der Ferne. „Ich bin nie dazu gekommen.“

Sie schwieg, der Mann auch. Kurz wurde es still in der Halle, als würden alle auf etwas warten. Die Schritte verstummten, die Züge hielten. Polly hielt den Atem an und in der nächsten Sekunde war der Moment wieder vorüber. Die Massen bewegten sich wieder. Die Züge ratterten über die Gleise. Ihr Herz begann wieder zu schlagen.

„Na gut. Kommen Sie, Polly. Lassen Sie uns ans Meer fahren!“. Beschwing hielt er ihr die Hand hin und sie ergriff sie, ohne darüber nachzudenken.

Er war der Mann, der im Regen tanzte und sie war die, die mit ihm tanzte. 

III

Der Mann wühlte in den tiefen Taschen seines Mantels und warf ein paar Münzen und Scheine auf den Tresen.

„Wie weit kommen wir damit?“, fragte er. Ihre Hand ließ er dabei nicht los.

Die Frau hinter der Glasscheibe schaute gelangweilt auf, zählte mit langsamen Bewegungen das Geld und fragte: „Wohin soll's denn gehen?“

„Nach Norden. Ans Meer“, antwortete sie für den Mann. Er lächelte sie schon wieder an.

Die Frau runzelte die Stirn und drehte sich zur Seite, wo eine große Karte hing.

„Vielleicht bis hier...“, meinte sie dann und tippte auf einen der unzähligen roten Punkte, wobei sie leicht gähnte. „Aber bis zum Meer wird’s nicht reichen.“

Ihre Euphorie verschwand. Nicht bis zum Meer... was hatte sie auch gedacht? Dass sie von der einen Sekunde auf die Andere verschwinden könnte, mit einem Mann, den sie nicht einmal kannte, ans Meer?

Doch der Mann lächelte nur noch fröhlicher.

„In Ordnung. Dann bitte zwei Karten bis dahin. Polly, ziehen Sie nicht so ein Gesicht! Bis dahin reicht völlig, sonst wäre es doch kein richtiges Abenteuer!“

Sein Lachen war so überschwänglich und so liebenswürdig, dass sie jegliche Zweifel sofort wieder vergaß. Ein Abenteuer. Natürlich. Da durfte nicht immer alles perfekt laufen.

„Der Zug geht in einer Minute... an ihrer Stelle würde ich mich beeilen“, nuschelte die Frau hinter der Scheibe und widmete sich wieder ihrem Kreuzworträtsel.

„Vielen, vielen Dank, gute Frau!“, rief der Mann und sprintete los. Sie ließ sich bereitwillig mitziehen.

Der Blick hinter der Glasscheibe folgte ihnen lange und sehnsüchtig. 

IV

Der Zug hielt dröhnend und majestätisch Einzug in den Bahnhof, als sie und der Mann die Treppe hinauf kamen. Die Menschen wichen zurück, andächtig und schweigend und sie hatte ein bisschen das Gefühl, dass sie es wegen ihr und ihrem Begleiter taten. Vielleicht aber auch nur wegen dem Zug oder dem alten Schaffner, der finster das Treiben musterte, wie ein alter Wachhund.

Der Mann zog sie zu einer der Türen.

„Aber sollten wir nicht erst die anderen Leute hinaus lassen?“. So hatte sie es gelernt. Erst die Anderen raus, dann rein.

Der Mann lachte schon wieder. Er tat es öfter, als normale Menschen, das gefiel ihr.

„Das ist ja so, als würden Sie warten, bis alle Bonbons aufgegessen sind, bevor sie ins Glas greifen! Denken Sie doch mal wie viel man aus solchen Begegnungen lernen kann...“

Das klang verwirrend, aber schlüssig. Sie gab sich zufrieden und folgte ihm ins Innere, ohne auf die Passagiere zu achten, die sie böse anstarrten. Eine junge Frau mit Kinderwagen zeterte, doch ein älterer Mann lächelte nur. Er schien noch genug Zeit im Leben zu haben, die er warten konnte.

Der Mann zog sie durch den ganzen Zug, von Abteil zu Abteil. Es kamen immer mehr Menschen in die engen Wagons und ihr wurde schlecht, als sie sich an zwei dicken Männern vorbei pressen mussten. Irgendwann waren beinahe alle Sitzplätze belegt. Sie erspähte noch zwei Freie Notsitze. Nicht perfekt, aber in Ordnung. Sie wollte sie gerade belegen, als sie zurück gehalten wurde.

„Was machen Sie denn da?“, fragte der Mann mit gerunzelter Stirn.

„Na, die Plätze...“, stammelte sie verwirrt.

„Was wollen Sie denn mit Plätzen? Polly, ich habe Sie nicht gefragt, ob Sie mit mir herumsitzen wollen!“

Er zog ein kleines Kofferradio aus der Innentasche seines Mantels und schaltete es an. Es war die selbe, plärrende Musik, wie sie vorhin auf dem Platz gehört hatte. Er wollte tanzen. Natürlich. Das hatte sie völlig vergessen.

Die umsitzenden Fahrgäste musterten den Mann und sie seltsam abwertend, als der Mann das Radio an einem der Fenster befestigte. Sie wurde rot. Auf dem menschenleeren Platz war das Eine gewesen, aber hier im Zug...? Sie klammerte sich an ihren Regenschirm, in der Hoffnung, all den stechenden Blicken zu entgehen. Doch da hatte der Mann ihn schon ergriffen und einem jungen Mann gereicht.

„Würden Sie für meine Freundin kurz auf ihren Regenschirm aufpassen?“. Der Mann sah auf und zuckte mit den Achseln, nahm den Regenschirm desinteressiert an und widmete sich dann wieder seinem Handy.

„Na los, Polly! Was ist? Haben Sie Angst?“

Er lächelte schon wieder so freundlich und unbeschwert, dass sie nicht anders konnte, als seine Hände zu ergreifen. Als der Zug sich in Bewegung setzte, stolperte sie, doch er fing sie sicher auf. Der Boden vibrierte und sie schwankte unsicher hin und her. Im hintereren Abteil kicherten ein paar Mädchen. Sofort war sie wieder knallrot und wollte sich setzen.

„Keine Chance“, grinste der Mann und zog sie wieder zurück. „Jetzt kommen Sie. Was soll denn schon passieren?“

Verunsichert schaute sie zur Seite. Alle Fahrgäste starrten sie an, als schienen sie auf etwas zu warten. Ihr wurde schon wieder schlecht und sie senkte den Blick. Der Mann zog ihr Kinn jedoch bestimmt wieder hoch.

„Hey, Polly, hören Sie mir zu. Wenn sie heute Abend einschlafen werden... was werden sie mehr bereut haben? Mein Angebot ausgeschlagen und die ganze Fahrt rumgesessen oder einfach mal Spaß gehabt zu haben?“. Seine Augen blitzten und ergänzten sein Dauergrinsen zu einer schelmischen Maske. „Worauf warten Sie noch?“

Polly zögerte.

„Und wenn ich falle?“

„Dann stehen Sie wieder auf!“

Eine gute Antwort. Sie grinste und ergriff seine Hände erneut. Und dann tanzten sie. Der schwankende Boden wurde ihre Tanzfläche, die schmalen Gänge ihre Bühne. Sie tanzten wilder als auf dem verregneten Platz, aber enger. Natürlich taumelten sie immer wieder. Und natürlich begannen die Gäste, zu stöhnen und zu meckern. Aber irgendwie schaffte sie es, die Stimmen auszublenden, sich dem Gewackel anzupassen und einfach an nichts mehr zu denken. Es war ein befreiendes Gefühl. Tanzen im Zug. Wie hätte sie heute morgen, als der schrille Weckerton sie aufgeweckt hatte, jemals ahnen können, dass der Tag so enden würde? Sie schloss die Augen, bei der nächsten Drehung und überlegte, ob ihre Freundin wohl schon wartete. Bestimmt. Sie hätte sie anrufen sollen, Bescheid sagen. Später vielleicht. Jetzt wollte sie nicht daran denken, dass Zuhause ein normales Leben auf sie wartete. Sie wollte tanzen. Jetzt und für immer.

Irgendwann hörten die Leute auf, zu meckern. Sie schwiegen sogar. Vielleicht lauschten sie tatsächlich oder beobachteten sie und ihren Partner, aber ihr war es egal. Desto länger sie tanzten, desto entspannter wurden ihre Bewegungen und irgendwann verlor sie sich völlig in dem Fluss aus ratternden Schienen, der schäbigen Musik und all den unzähligen Drehungen. Es war nicht perfekt. Aber es war gut so, wie es war.  

V

Er war eingeschlafen. Einfach so. Als wäre es das Normalste der Welt gewesen, hatte er das Radio abgestellt, sich auf die nun freihe Sitzbank gelegt und war eingeschlafen. Kein Wort hatte er gesagt, keinen Laut von sich gegeben. Er war einfach eingeschlafen.

Sie saß an einem der Fensterplätze und betrachtete sein stilles Gesicht nachdenklich. Kein Entführer würde einfach so neben seinem Opfer einschlafen. Das war doch viel zu riskant, oder? Sie könnte einfach weggehen, ohne, dass er es bemerkte. Denn er schlief tatsächlich, das erkannte sie unter Anderem an dem dünnen Speichelfaden, der langsam auf den dreckigen Sitzbezug tropfte. Nein, er wollte sie nicht entführen, das war ihr inzwischen klar. Aber was wollte er dann? Tanzen?

Nein, das konnte nicht sein Ernst sein.

Draußen zog die Landschaft vorbei, ratternd und brummend. Mit jeder Sekunde kam sie dem Meer näher. Was sollte sie ihrer Freundin schreiben? Ihr Blick wanderte zu dem leuchtenden Display.

Mach dir keine Sorgen. Ich bin...

Sie war. Sie war was? Ausgerissen? Nicht wirklich, das tat man als kleines Kind. Mit einem fremden Mann weggegangen? Ihre Freundin würde durchdrehen, vor Sorge. Unschlüssig sah sie auf das Einzige, was sie mit auf die Reise genommen hatte.

Mach dir keine Sorgen. Ich habe meinen Regenschirm dabei und komme bald wieder.

Sie klang schon genau so verrückt wie der Mann, der im Schlaf zuckte und etwas murmelte.

Er lächelte sogar im Schlaf.

VI

„Polly? Polly, wir müssen aufstehen“

Sie schreckte hoch und wusste erst gar nicht, wo sie war. Der Mann von gestern Abend hockte vor ihr und hatte an ihrer Schulter gerüttelt. Sie war bedeckt von einem Mantel, der nicht ihrer war. Er roch nach getrocknetem Regen und Wind.

Verschlafen nickte sie und richtete sich auf. Die Sonne draußen ging gerade erst auf, die roten Strahlen tasteten vorsichtig durch das Abteilfenster. Bis auf eine alte, strickende Frau waren sie alleine.

„Wo sind wir?“

Unwillkürlich presste sie den Mantel enger an sich, als sie aus dem wohlig warmen Zug in die kalte Morgenluft stiegen. Der Mann schien nichts dagegen zu haben, er trug seine verschlissene Weste und das Hemd mit genau so viel Überzeugung wie vorher den Mantel. Er bot einen seltsamen Anblick, in den feinen aber uralten Kleidungsstücken und sie fragte sich erneut, was sein Geheimnis war.

„Ich habe nicht den blassesten Schimmer. Aber näher am Meer als vorhin“, antwortete er auf ihre Frage und streckte seine Nase genießerisch in das rote Licht. Dann drehte er sich ein paar Mal um sich selbst, als würde er nach etwas suchen und deutete schließlich in eine unbestimmte Richtung. „Da lang. Da geht’s zum Meer“

Er marschierte los, zielstrebig und ohne auf sie zu warten. Vom Bahnsteig herunter, über die Schienen, bishin zu dem dünnen Drahtzaun, über den er sich schwang. Sie zögerte. Einfach so über die Schienen? War das nicht zu gefährlich?

Selbst auf diese Entfernung schien er ihre Zweifel zu riechen, er legte die Hände an den Mund und rief: „Sind Sie glücklich, Polly?“

Diese Frage verwirrte sie zutiefst. Glücklich... unschlüssig wandte sie ihr Gesicht in das rote Sonnenlicht und dachte nach. Und dann nickte sie. Vielleicht lag es an dem duftenden Mantel um ihre Schultern.

„Na also! Dann kommen Sie herüber! Selbst wenn ein Zug kommen sollte, dann sind Sie immerhin glücklich gestorben!“. Auf sein Gesicht hatte sich schon wieder dieses schelmische Grinsen geschlichen, dem sie einfach nicht widerstehen konnte. Ehe sie sich versah, stand auch sie im Kies der Schienen und überquerte die breite Spur.

Sie hörte ein Rattern in der Ferne. Ein Zug fuhr ein, er war schnell. Sie hatte keine Angst. Das Adrenalin, das in ihr hochkochte, kitzelte in ihrem Bauch, als sie sich in Richtung des Geräuschs wandte. Das schnaufende Gefährt sauste blitzschnell auf sie zu, war im Begriff, sie umzufahren. Sie stand mitten auf den Gleisen.

Eine Sekunde länger, schoss es ihr durch den Kopf, und ich sterbe. Ich sterbe glücklich. Vielleicht lieber so als einmal alt und einsam und mit dreißig Katzen. Mitten auf den Gleisen, mit dem Mann, mit dem ich im Regen getanzt hatte.

Ihr Herzschlag schoss bis in ihren Hals, doch sie blieb stehen. Starrte den glühenden Augen entgegen, die nun nur noch kurz vor ihr waren. Eine Sekunde.

Eine Sekunde, die entscheiden würde, wie sie einmal starb.

Sie wollte sich nicht bewegen.

Aber dann fiel ihr die Bitte des Mannes ein.

Ich würde mich freuen, wenn Sie mich begleiten, das hatte er gesagt.

Sie machte einen Satz zur Seite und der Zug bretterte vorbei. Der Fahrtwind hätte sie beinahe zurück gesogen, doch eine starke Hand packte sie bei der Schulter und hielt sie fest als würde sie sie nie wieder loslassen.

Sie wünschte sich, dass es immer so war. Dass jeder Moment so voller Leben steckte, wie dieser. Wie neugeboren, mit jedem einzelnen Herzschlag, der immer noch mehr Adrenalin in ihren Körper schickte. Und mit der Hand von ihm auf der Schulter.

Als sie sich umdrehte, wusste sie, was folgen würde, auch wenn sie sich wünschte, dass es nicht so wäre. Der verstörte Blick. Die Vorwürfe. Die Angst.

Aber der Mann lächelte nur, wie er es immer tat. Als wäre gar nichts passiert. Als wäre sie nicht gerade vor einen Zug gesprungen.

„Kommen Sie, Polly. Wir haben einen langen Weg vor uns!“

 

VII

„Ich liebe das das Leben, wissen Sie, Polly?“

Der Mann sagte es beinahe beiläufig, doch die Art, wie er auf der Hügelkuppe stehen blieb und auf die Stadt hinab sah, die vom schläfrigen Sonnenlicht betastet wurde, gab seinen Worten eine Bedeutung, die sie nicht ganz greifen konnte.

„Ich liebe es, zu lachen. Ich liebe es, zu weinen. Ich liebe es, zu fühlen“

Woher kam der wässrige Ausdruck in seinen Augen? Sie fragte nicht und griff nach seiner Hand, so wie er es getan hatte. Sie lächelte. Nicht so eindrücklich wie er, nicht so unvoreingenommen, aber sie lächelte. Er auch. Doch der Glanz seiner Pupillen blieb und brannte sich in ihrem Gedächtnis ein, nahm Platz neben dem Bild der Psychologin und dem einsamen Briefumschlag, den sie damals auf der Tischplatte gefunden hatte.

'Leb dein Leben'

Das erste Mal hatte sie das Gefühl, den Wunsch ihrer Mutter wirklich zu erfüllen. Seine Finger fühlten sich gut zwischen ihren an.

„Lassen Sie uns Kreide kaufen...“, murmelte der Mann abwesend. „Kreide zum Malen“

Zu ihrer eigenen Verwunderung überraschte sie sein Wunsch nicht. Straßenmalkreide. Was sonst? Also nickte sie, ließ seine Hand nicht los und zog ihn die Wiese hinab, in Richtung Stadt. Das letzte Geld ging für Kreide drauf. Aber was sollte daran seltsam sein? Der Hunger in ihren Bauch, der Durst in ihrem Hals, alles Nebensache. Er wollte Kreide, also kauften sie welche.

Die Fußgängerzone war noch leer und verlassen, als sie das Geschäft verließen, doch den Mann schien das wenig zu stören. Den Eimer Kreide trug er in der freien Hand, die nicht Pollys Finger umschloss und sein Lächeln war so selbstzufrieden wie eh und je. Fort die Trauer, fort das Wasser. Der kleine Junge war wieder da und er war es auch, der sich auf die Straße hockte und begann, zu malen.

Nun stockte sie doch.

Er konnte doch nicht... mitten in der Fußgängerzone...

Er stellte das Radio wieder auf und zog schwungvoll weiter seine Striche über den Asphalt, sich um sich selbst drehend und so in sich selbst vertieft, dass sie das Gefühl hatte, er hätte sie vergessen.

'Ich liebe das Leben, Polly'

Oh ja, er liebte es und das war ihr nun klarer denn je.

Er hatte eine Sonne auf das Pflaster gezaubert. Sie lächelte ein bisschen wie er selbst, als Polly sie betrachtete.

'Ich liebe das Leben'

Ein paar frühe Passanten blieben und stehen und taten es ihr gleich, sie betrachteten den Mann und seine eigene, kleine Welt, die er um sich herum schuf, ohne von der realen Notiz zu nehmen.

Es fielen viele Worte. Verrückt. Fabelhaft. Süß. Ihr ging nur eins durch den Kopf: sonnig.

Bald fielen die ersten Münzen. Sie klimperten wie eine Begleitung zur Musik und plötzlich wurde ihr klar, was sie zu tun hatte.

Binnen kürzester Zeit war es Mittag und der leere Kreide-Eimer voll geworden. Sie hatte mehrmals Nachschub geholt, an die Passanten verteilt und nun erstreckte sich durch die gesamte Straße ein Kunstwerk aus allen möglichen Farben und Formen, von unzähligen Händen geschaffen und fortgeführt. Die Sonne war das Zentrum des Chaos geblieben, lächelnd und standhaft, während sich um sie herum alles verändert hatte. Fotografen waren gekommen. Reporter auch.

Dann ertönten Stimmen. Sie drehte sich um und stand vor zwei uniformierten Männern, die beide sehr grimmig dreinblickten.

„Haben Sie eine offizielle Bescheinigung?“, fragte der eine. Er war klein und dick, wie sein Schnauzbart. Ihr war, als hätten die Männer den Zauber des Moments zerstört, mit ihren grimmigen Gesichtern in der lächelnden Flut.

Natürlich nicht. Ihr wurde heiß und sie brachte kein Wort über die Lippen, also schüttelte sie nur beschämt den Kopf.

„Ich muss Sie bitten, die Versammlung umgehend aufzulösen und die Beschmutzung zu beseitigen. Es tut mir sehr Leid“

Beschmutzung. So nannte er das Werk. Der Mann saß mitten auf seiner Sonne und lächelte abwesend. Er hatte noch nichts bemerkt.

Sie wollte protestieren, aber die Polizei schien ihr zu mächtig, um sich zu weigern. Polizei war groß. Das Gesetz.

Bedrückt beobachtete sie, wie die Männer die Passanten fort schickten und schließlich stirnrunzelnd neben dem Mann standen, der noch immer abwesend am Boden saß.

Wolken zogen auf.

„Bitten sorgen Sie dafür, dass die Kreide von der Straße kommt!“, wies der größere Polly an, als sie sich neben den Mann hockte.

„Das tut der Regen schon“, murmelte der Mann. Auf einmal schien es, als wäre er aus einem langen Schlaf erwacht. Er lachte fröhlich.

„Los Polly, spannen Sie Ihren Schirm auf! Jetzt wird getanzt!“

Nun fielen tatsächlich die ersten Tropfen. Die Polizisten schauten noch grimmiger.

„Sie sind gerade so um eine Strafanzeige herum gekommen. Sehen Sie das als Verwarnung an“

„Ich danke Ihnen, dass Sie sich Zeit genommen haben!“, rief der Mann. „Kommen Sie gut nach Hause! Werden Sie nicht nass!“

Dann zog er Polly an sich, nahm das Geld, den Schirm und das Radio und tanzte, wie er es immer tat, während die Farben unter ihnen verliefen und die Sonne wieder grau wurde wie ihr Zwilling zwischen den Wolken.

„Sind Sie gar nicht traurig?“, fragte Polly, nachdem sie mehrere Minuten im Weiß seines Hemdes versunken war.

„Es wird nicht das letzte Bild gewesen sein. Alles Gute hat ein Ende. Anstatt traurig zu sein, dass es fort ist, sollten Sie sich lieber freuen, es gesehen zu haben“

Sie drehten sich weiter durch die verlassene Fußgängerzone und Polly dachte über seine Worte nach.

„Wollten Sie nicht, dass es bleibt?“

Der Mann schwieg kurz und starrte auf die farbigen Schlieren an seinen Schuhen, die über die Straße wirbelten.

„Wenn es so gewesen wäre...“, sagte er dann, „hätte ich dann mit Kreide gemalt?“

VIII

Sie trocknete ihre nassen Haare und Kleider unter dem Handtrockner des Cafes.

Die Leute sahen sie abschätzend dabei an.

Sie hatte keine Bürste. Ihre Haare waren verknotet und strähnig.

Die anderen Besucher schlugen einen weiten Bogen um sie.

Ihre Augen waren mit tiefen Ringen unterlegt und ihre Haut war blass.

Eine Frau mit Kinderwagen sah sie mitleidig an.

Aber all das war ihr egal. Es war ihr so egal, dass sie jeden anlächelte, dessen kritischer Blick sie streifte. Manchmal lächelten die Leute sogar zurück.

Und als sie so aus der Damentoilette trat, den Mann am Tisch sah, vor ihm die zwei Kaffee und die Blaubeermuffins, wurde ihr auf einmal bewusst, wie wohl sie sich fühlte. Ihr wurde bewusst, dass sie den ganzen Tag mit ihm hätte tanzen können. Dass sie seit mehreren Stunden nicht mehr an Zuhause gedacht hatte.

Er schob ihr grinsend den Kaffee hin.

„Was lächeln Sie so, Polly? Ist irgendetwas passiert?“

Sie schüttelte den Kopf, immer noch strahlend.

„Nein? Na um so besser. Dann greifen Sie zu. Wie trinken Sie ihren Kaffee?“

„Schwarz“

Es schien ihr wie das schönste Wort der Welt. Schwarz. Der Geruch der dampfenden Tasse zog ihr in die Nase, als würde sie ihn das erste Mal riechen. Die Blaubeermuffins schmeckten so intensiv wie noch nie. Vielleicht achtete sie auch einfach mehr darauf, als sonst, aber das war ihr egal. Hauptsache, dieses warme Gefühl in ihrer Magengrube würde nie wieder verschwinden.

Mit einem tiefen Atemzug lehnte sie sich zurück und ließ ihren Blick über das Cafe schweifen. An der riesigen Frontscheibe zogen Regentropfen ihre Bahnen und malten Muster über die verschwommenen Gesichter in der Fußgängerzone, die eilig vorbei hasteten.

Kellnerinnen schoben sich zwischen den Tischen hin und her, Leute gaben Bestellungen auf, betraten und verließen den Raum. Sie waren alle geschäftig in ihrem Tun, wie pflichtbewusste Ameisen in einem riesigen Haufen und plötzlich kam sie sich seltsam sicher vor. Sie saß hier mit zerzausten Haaren und einem viel zu großen Mantel über den Schultern mit einem fremden Mann in einem Cafe, nachdem sie Leute dazu animiert hatte, die Fußgängerzone anzumalen und tat so, als wäre es das normalste der Welt.

Sie hielt inne. In einer Sache musste sie sich korrigieren. Der fremde Mann. Sein Dauerlächeln wirkte ihr inzwischen so viel vertrauter als das einiger Leute, die sie schon jahrelang kannte, dass ‚fremd‘ nicht wirklich als Bezeichnung in Frage kam. Neu vielleicht. Ja. Neu. Das passte gut. Sie musste schon wieder lächeln.

Er erwiderte ihre Geste im stummen Einverständnis und sah sich um, wie sie es getan hatte.

„Sehen Sie. Es hat aufgehört, zu regnen!“

Er hatte Recht. Ihr Blick folgte seinem. Die Sonne brach zwischen den Wolken hervor und tat ihr Bestes, die Fußgängerzone zu erhellen. Sie wussten Beide, was das bedeutete. Gleichzeitig standen sie auf, wünschten der Bedienung einen schönen Tag, hielten einer alten Dame die Tür auf und verließen das Cafe. Jetzt lächelte sie doch schon ein wenig wie er. 

IX

 „Uuuh! Eine Schaukel!“

Der Mann rannte. Und sie folgte ihm. Über den kleinen Grashügel. Durch den Sand. Auf die Schaukel. Die Kinder sahen sie lachend an, die Mütter musterten sie misstrauisch. Ihr war es egal. Sie bekam gar nicht mit, dass all die Blicke auf ihr lagen, sie sah nur ihn und die Schaukel. Er nahm Schwung. Und lachte.

„Na los, Polly! Worauf warten Sie noch?!“

Beschwingt durch seine Worte ließ sie sich auf einem der Gestelle nieder. Wie lange hatte sie das nun schon nicht mehr getan? Monate? Jahre? Die Bewegungen waren jedenfalls noch einprogrammiert. Vor. Zurück. Beine raus. Beine rein. Sie gewann an Fahrt.

„Spüren Sie das, Polly?“, fragte der Mann genießerisch und schloss die Augen, als er so hoch flog, dass die Sonne über den Baumwipfeln ihn blendete. „Spüren Sie das?“

Sie nahm noch mehr Schwung und ließ sich von dem warmen Licht blenden, dann fragte sie: „Was?“

„Den Wind. Den Wind in ihrem Blut“

Noch weiter. Noch höher.

„In meinem Blut?“

„Atmen Sie den Wind, Polly. Atmen Sie ihn. Atmen Sie ihn in Ihre Lungen und er wird auch in Ihr Blut gelangen. Atmen Sie den Wind...“

Er wiederholte es wie ein immer leiser werdendes Mantra, als würde ihm der Wind selbst die Worte von der Zunge streichen. Sie hatte selten so einfühlsame Worte gehört. Atmen Sie den Wind.

Und sie atmete den Wind. Mit jedem Luftholen, mit jedem Bogen, den sie flog, gelangte mehr davon in ihre Lungen und plötzlich spürte sie es auch: den Wind in ihrem Blut. Prickelnd und aufgeregt, wie eine Kraft, die sie immer wieder anstieß und höher trug und gleichzeitig so glücklich machte, dass sich ein Lachen in ihrer Kehle anstaute.

Atmen Sie den Wind.

Der Mann stellte Musik an und nun hatten sie endgültig alle Blicke auf sich. Einige Eltern zogen ihre neugierigen Kinder besorgt davon. Alkohol. Oder Drogen. Eine andere Erklärung gab es nicht für das, was da auf der Schaukel vor sich ging.

Der Mann begann zu singen. Ein wenig wie er tanzte, schön schräg. Falsch und melodisch zugleich.

„Hey, you, with the pretty face, welcome to the hu-man race!“, trällerte er lächelnd und noch immer mit geschlossenen Augen.

Sie wusste, dass es ab jetzt ihr Lied war, ihre Töne und ihr Text. Welcome to the human race. Er war es tatsächlich. Er war der menschgewordene blaue Himmel. Beim nächsten Refrain stimmte sie ein und zusammen bildeten sie einen seltsamen, aber verträumten Chor.

Manche Kinder sangen mit, unzusammenhängende, falsche Einwürfe von selbsterfundenen Sprachen oder Lauten. Aber es machte das ganze nur noch perfekter. Der Wind wirbelte durch ihren Hals und ihren Magen und nun konnte sie es sich doch nicht verkneifen, zu lachen. Laut. Unbeschwert.

Neben ihr vertonte der Mann das Solo neu. Das Ganze war so wunderbar und leicht, dass sie einfach keinen Punkt fand, in ihrem Freudenausbruch. Schaukeln. Es war so einfach, glücklich zu sein. So unglaublich einfach.

Atmen Sie den Wind.

Irgendwann war das Lied zu Ende, doch sie sangen noch lange weiter, bis der Spielplatz leer wurde und ihre Stimmen heiser. Völlig außer Atem ließen sie sich ausschaukeln und warteten, bis die Welt wieder landete. Der Mann musterte sie mit einem seltsamen Blick.

Sie erwiderte ihn eine Weile, ließ ihn an ihr vorbeirauschen, um jedes Mal die neue Welle Glück zu spüren, wenn er wiederkam, bis sie irgendwann fragte: „Was ist?“

Der Mann lächelte, ernster als sonst. „Nichts...“. Seine Augen schweiften über den Spielplatz und blieben an den kleinen Sandburgen im Kasten hinter ihnen hängen. „Es ist nur...“

Er brauchte lange, um den Satz zu beenden, doch dabei sah er ihr wieder direkt in die Augen. Sie hörte ihn kaum, über das Klopfen ihres eigenen Herzens.

„...Sie sind unglaublich schön, wenn Sie lachen, Polly“

X

Die Straßen waren wieder leergefegt. Die Geschäfte hatten geschlossen, der Himmel war von finsteren Wolken bedeckt und von irgendwo drang der Bass eines Sportwagens durch die Nacht.

Der Mann ging direkt vor ihr und sie orientierte sich an seinem Schatten.

„Sie sind wunderschön, wenn Sie lachen“. Seitdem hatte er nichts mehr gesagt und dieser eine Satz ging ihr nicht mehr aus dem Kopf.

Sie fühlte sich unwohl. Unwohl und sicher zugleich. Sie kannte ihn doch gar nicht... wieso machte seine Anwesenheit sie dann so glücklich? Zu dieser Frage kam noch eine brennendere hinzu: Was sollten sie diese Nacht tun? Da war kein Zug mehr, kein öffentlicher Platz, an dem sie sich sicher fühlte. Da war nur die Nacht und er und sie. Was war, wenn sie die letzten eineinhalb Tage getäuscht hatten und er sie doch entführte? Ihre Finger wanderten zu ihrem Handy. Acht neue Nachrichten. Zwölf entgangene Anrufe. Alle von ihrer Freundin.

Der Akku war fast leer. Sie musste jetzt anrufen. Jetzt oder nie.

Sie blieb stehen.

Der Mann schien es zu bemerken, er tat es ihr gleich und drehte sich um.

„Alles in Ordnung?“

Schweigend deutete sie auf ein öffentliches Toilettengebäude. Der Mann nickte.

„Ich werde hier auf sie warten. Kommen sie bloß wieder!“. Er meinte es als Scherz. Aber ihr wurde trotzdem schlecht.

In der engen Kabine angekommen überflog sie mit zittrigen Fingern die Kurznachrichten. Sie hatten alle den selben Inhalt, aber in der letzten kam ein erschreckendes Stichwort hinzu: Polizei.

Hastig wählte sie die Nummer. Freizeichen.

Niemand ging dran.

Eine SMS.

Aber was sollte sie schreiben? Die rote Anzeige auf dem Display machte ihr die Entscheidung nicht leichter.

Ich bin nicht allein. Es ist alles in Ordnung.

Aber war es das wirklich? Gerade war sie sich nicht sicher. Wenn sie jetzt entführt würde und ihre Freundin nur wüsste, dass alles in Ordnung wäre, dann würde sie niemals gerettet werden.

Ich bin nicht allein.

Fieberhaft suchte sie nach einem Satz, der erklären konnte, in welcher Lage sie sich befand.

Ihr Herzschlag ging schneller und plötzlich stellte sie alles in Frage, was sie bisher getan hatte. Sie war mit einem Fremden mitgegangen. Einfach so. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war und vor allem: mit wem. Sie hatte mit einem fremden Mann geschaukelt, Händchen gehalten und gelacht. Sie hatte sich mit dem Gesetz angelegt. Und ihr Leben komplett vergessen.

Ihr wurde heiß. Was tat sie hier?!

Das Handy in ihren Händen fiel mit einem leisen Aufschlag auf den dreckigen Fliesenboden. Was sollte sie denn jetzt tun? Nach draußen gehen und ihm sagen, dass sie das nicht tun konnte? Was war, wenn er aggressiv wurde? Oder noch schlimmer: wenn er alles, was er gesagt hatte, ernst gemeint hatte? Sie würde ihn verlassen, ihn, derjenige, der ihr gesagt hatte, wie schön sie war.

Aber sie konnte nicht bleiben. Die Worte ihrer Freundin klangen zu verzweifelt und ihr Kanarienvogel brauchte dringend Wasser. Dinge, an die sie bisher noch gar nicht gedacht hatte. Sie musste bald wieder arbeiten gehen, die Semesterferien waren ebenfalls fast vorbei.

Man konnte nicht einfach so aus dem Leben aussteigen. Es war einfach nicht möglich.

Ich komme nach Hause.

Die Worte waren abgeschickt, schneller, als sie darüber nachdenken konnte. Noch in der selben Sekunde wünschte sie sich, sie zurücknehmen zu können. Doch dann wurde der Bildschirm schwarz und verdeckte das spöttische Ihre Nachricht wurde gesendet.

Ich komme nach Hause.

Sie konnte es ihm nicht ins Gesicht sagen. Als sie vor den beschmierten Spiegeln und dem zersprungenen Waschbecken stand und in ihr eigenes, panisches Gesicht sah, wurde ihr klar: sie musste weglaufen. Einen anderen Weg gab es nicht.

Irgendwie fanden ihre Hände ein Weg, das kleine Fenster zu öffnen, ihre Füße setzten leise auf dem Boden auf. Sie hörte den Mann auf der anderen Seite des Häuschens. Er summte das Lied von heute Nachmittag und selbst aus seiner Stimme konnte sie sein Lächeln hören.

Es war ihr inzwischen so vertraut, dass es weh tat.

Mit geschlossenen Augen lehnte sie sich an die selbe Wand, an der auch er vermutlich gerade stand, als könnte sie seine Berührungen dadurch ein letztes Mal spüren. Ein letztes Mal seine Stimme hören.

Irgendwann verstummte der Mann und sie war ihm dankbar dafür. So konnte sie sich fast vorstellen, dass sie nur das Kloshäuschen zurück ließ, als sie sich auf den Weg zum Bahnhof machte. Da gab es Telefone. Ihre Freundin würde sie bestimmt abholen. Und wenn nicht sie, dann die Polizei.

Ich komme nach Hause.

Es schien ihr, als würde der Mann ihr ihren Namen nachrufen.  

XI

Sie stand an der Brückenbrüstung und starrte ins das dunkle Wasser unter sich.

Der Wind rüttelte an ihr und ihrer Entscheidung.

Ein Obdachloser saß neben ihr und nippte trocken an einer Flasche Korn.

„Mädl...“, lallte er. „Nisch traurisch sein. Lohnt sisch ey net“

Sie hatte Mühe, ihn zu verstehen, doch als sie den Sinn seines Genuschels erfasste, konnte sie die Tränen in ihrem Hals nur mit Mühe herunter würgen.

Sie hatte ihn verlassen. Vielleicht für immer. Und sie war sie noch immer nicht sicher, ob es die richtige Entscheidung gewesen war. Die Panik in ihrer Brust schwoll an, aber dieses Mal fokussierte sie sich nicht auf den Mann, sondern auf ihre Hilflosigkeit.

„Ich bin Fred. Willste was?“

Der bärtige Typ hielt ihr die Flasche hin. Ohne groß darüber nachzudenken nahm sie einen großen Schluck. Jeglicher Ekel schien ihr lächerlich, gegen das, was in ihr vorging. Dem Mann wäre es auch egal gewesen. Der Alkohol brannte in ihrer Kehle und machte den Schmerz erträglicher, aber ihre Gedanken kreisten stetig weiter, immer nur um ein Thema:

Was wäre, wenn sie nach Hause käme? Würde sie es bereuen, weggegangen zu sein? Sie musste an seine Worte im Zug denken.

'Wenn Sie heute Abend einschlafen, Polly, was werden sie mehr bereuen? Mit mir getanzt oder eine ganze Fahrt nur herumgesessen zu haben?'

Was würde sie morgen mehr bereuen? Der Mann, der im Regen tanzte würde zu einer Geschichte werden. Vielleicht würden sie in der Zeitung über ihn schreiben. Dann würde sie ihren Enkeln erzählen, dass ihre Wege sich gekreuzt hatten, für einen Tag. Und sie würde darüber nachdenken, was gewesen wäre, wenn sie mit ihm gegangen wäre.

Und wenn sie mit ihm ging? Umkehren konnte sie immer noch. Es würde immer Menschen geben, wie Fred, die sie aufnahmen, Hilfe oder eine Flasche anboten und sie sicher nach Hause brachten, wenn es brenzlig wurde. Außerdem würde er sie nicht entführen. Bestimmt nicht. Oder?

Auf einmal war sie furchtbar müde.

„Fred...“, flüsterte sie. „Ich will schlafen“

Ihre Augen schmerzten zu sehr als dass sie sich Gedanken darüber machte, dass sie diesen Typen weder kannte, noch richtig sehen konnte. Es war auch egal. Wenn sie heute Nacht sterben würde, müsste sie immerhin nicht mehr darüber nachdenken, wohin sie gehen würde.

Fred gab ein irritiertes Geräusch von sich, als sie neben ihm zu Boden rutschte, doch dann legte er ihr eine stinkende Decke um die Schultern. Sein Dackel schnaufte und leckte ihr die Hand. Sie wünschte sich so sehr, nicht mehr denken zu müssen.  

XII

 

Sie wachte mit dröhnenden Kopfschmerzen auf. Die Decke um ihre Schultern roch noch übler als in ihrer Erinnerung und dem Dackel war über Nacht die glorreiche Idee gekommen, sie als lebendes Kissen zu benutzen. Freds Flasche war umgekippt und der beißende Geruch drang nun nicht nur aus seinem Mund, sondern auch aus ihren Kleidern.

Sie blieb liegen und schloss die Augen. Sie wusste, dass es inzwischen hell war. Schritte hasteten an ihr vorbei. Sie wollte die abschätzenden oder mitleidigen Blicke nicht sehen. Sie fühlte sich schrecklich.

Vor zwei Tagen war sie im großen und ganzen zufrieden gewesen. Und dann war er gekommen und hatte ihr klar gemacht, dass ihre Zufriedenheit eine Lüge gewesen war. Oder sie hatte es selbst begriffen.

Aber das, was sie gerade erlebte, war keine Freiheit. Das war nicht das Gefühl von geatmetem Wind. Vielleicht lag es daran, dass sie seinen Mantel und den Geruch nach Wind nicht mehr um die Schultern liegen hatte. Sie wollte nicht nach Hause. Nicht so. Denn dann würden sie nie verstehen, was sie dazu getrieben hatte, fortzulaufen.

Plötzlich erwachte in ihr so etwas wie Ehrgeiz. Sie wollte nicht nach Hause kommen und sich selbst verteidigen. Sie wollte nach Hause kommen und bewundert werden, für das, was sie getan hatte. Und in diesem Zustand ging das nicht. Um zu triumphieren brauchte sie ihn, der, der mit ihr im Regen getanzt hatte.

In Gedanken bedankte sie sich bei Fred und erhob sich langsam. Der Dackel schnaufte im Schlaf, aber er erwachte nicht. Mit brennenden Augen richtete sie sich auf und versuchte, all die Passanten zu ignorieren. Sie brauchte dringend eine Dusche.

 

Das eiskalte Wasser traf sie unerwartet hart. Mit einem Mal waren die Kopfschmerzen verschwunden, genau wie das Brennen ihrer Augen. Das letzte Geld war weg, verschwunden in der Kasse des Bahnhofmitarbeiters. Aber für diese Erkenntnis hatte es sich gelohnt: sie musste zurück. Jetzt. Sonst wäre es zu spät.

Die Angst davor, ihren Tänzer zu verlieren, war auf einmal so groß, dass sie noch mit nassen Haaren und offenen Schnürsenkeln aus dem großen Gebäude stürzte. Die Leute schauten ihr hinterher, aber dieses Mal war es ihr egal. Denn ein neuer Gedanke war ihr gekommen.

Was war, wenn der Mann fort war? Ob er die ganze Nacht gewartet hatte? Ganz sicher nicht, auch wenn sie es sich wünschte. Wenn er nun fort war, weitergezogen? Oder die Nächste gefragt, ob sie mit ihm tanzen wollte. Sie war austauschbar. Vielleicht war es nur der Wind, aber ihr stiegen Tränen in die Augen. Denn sie war nicht so einzigartig, wie er. Er könnte doch jeden mitnehmen, wenn er wollte. Und dieses eine Mal hatte er sich für sie entschieden. Und was hatte sie getan? Sie war weg gelaufen. Mit klopfendem Herzen setzte sie über eine Parkbank und sprintete weiter. Dann war da eine Bordsteinkante. Sie stürzte und schlug sich Hände und Knie auf. Die Tränen wurden mehr. Doch sie blieb nicht stehen.

Am liebsten hätte sie seinen Namen geschrien.

Er durfte nicht fort sein.

Nicht jetzt, wo sie die Wahrheit begriffen hatte:

sie brauchte ihn.

Und dann endlich: Das Toilettengebäude. Bekanntes Graffiti. Aber da war niemand. Kein Mann. Kein Mantel. Niemand.

Fassungslos starrte sie die beschmierten Wände an. Der Schmerz in ihrem Knie erschien ihr auf einmal unerträglich. Sie hatte ihn gehen lassen. Einfach so. Der Mann, der ihre Rettung hätte sein können war fort.

 

XIII

 

„Polly...?“

Da saß er. Als wäre er nie fort gewesen. Sie schluchzte auf. Er hatte gewartet, die ganze Zeit. Hatte geschlafen. Auf der Bank. Er musste fürchterlich gefroren haben, und seine Stimme klang heiser, aber er hatte auf sie gewartet.

„Na, das war aber ein langer Toilettengang...“, murmelte der Mann schläfrig und rieb sich durch das Gesicht. Er hatte Bartstoppeln bekommen. Sie sahen einfach wunderbar aus.

Mit einem erleichterten Lachen stürmte sie los, geradewegs in seine Arme. Und dann weinte sie noch mehr, ein bisschen wegen ihrem Knie, ein bisschen wegen seinem Husten und ein bisschen weil sie ihn liebte. Auf irgendeine, verschrobene Weise.

„Mein Gott, was haben Sie denn gemacht? Sehen Sie doch, ihr Knie...“. Besorgt musterte er das Blut an ihrer Strumpfhose.

Sie zog die Nase hoch. Umarmte ihn noch einmal. Und heulte wieder los. Sie war mit einem Mal so erleichtert, dass sie es selbst nicht ganz begreifen konnte.

„Gute Güte...“, murmelte der Mann und strich ihr über den Rücken. „Was ist denn los? Jetzt beruhigen Sie sich erst einmal!“

Es dauerte lange, bis sie sich zusammenreißen konnte. Das Knie hatte bereits aufgehört zu bluten und nun fühlte sie sich um Längen besser. Erst jetzt fiel ihr auf, wie schrecklich er aussah. Sein Auge war angeschwollen. Und blau.

Er bemerkte ihren entsetzten Blick.

„Hey, bloß keine Panik! Das ist nur ein blaues Auge. Ist nicht mein erstes. Das geht wieder weg“

Ihr klappte der Mund auf. „Sie...?“

Der Mann zog eine Augenbraue hoch. „Nur weil ich schaukle, heißt das nicht, dass man mich nicht reizen kann...“

Sie zuckte zusammen und starrte ihn an. Da war es wieder. Das Gefühl, dass sie ihn überhaupt nicht kannte. Eine Nacht allein. Und er prügelte sich. Wenn er so leicht reizbar war... sie rutschte von seinem Schoß, ein wenig zurück. Vielleicht wäre sie doch lieber nach Hause gefahren.

Der Mann erwiderte ihren Blick lange. Und dann begann er zu lachen.

„Ach, Polly, ich nehm' Sie doch nur auf den Arm! Ich bin gestolpert und voll auf die Kante der Bank gefallen...“

Er deutete auf die metallische Lehne neben sich. Polly blieb misstrauisch.

„Ach, kommen Sie schon. Denken Sie wirklich, ich würde eine Schlägerei anfangen, wenn ich mal eine Nacht alleine bin?“. Er hustete rasselnd. Er hatte sich wohl wirklich erkältet.

Nun lächelte sie auch, mit brennenden Augen. Ihr Tänzer war wieder da. Endlich.

„Na los, kommen Sie. Wir sollten dringend etwas essen“

Er hielt ihr die Hand hin und sie ergriff sie euphorisch. Er fragte gar nicht, wo sie gewesen war. Und trotzdem. Sein erleichterter Blick, als er aufgewacht war und sie gesehen hatte, wich nicht mehr aus ihrem Kopf. Er hatte ein Geheimnis, dessen war sie sich sicher. Er hatte Angst, vor irgendetwas. Entsetzliche Angst.

Aber wovor?

XIV

 

„Kennen Sie das, Polly?“

Der Mann und sie saßen nebeneinander auf einer Bank. Er drückte eine Packung Tiefkühlerbsen auf sein Gesicht, sie eine Schachtel Fischstäbchen auf ihr Knie. Ein mitleidiger Angestellter des Supermarkts hatte ihnen die abgelaufenen eisgekühlten Waren überlassen.

Sie sah ihn fragend an. Die schwachen Sonnenstrahlen des Morgens entfachten träge das Wasser des Flusses, an dem sie saßen. Ein paar morgendliche Jogger liefen vorbei, Rentner mit ihren Hunden durchquerten die nassen Wiesen.

„Dieses Verlangen danach, etwas Verrücktes zu tun?“

Sie hielt den Blick weiterhin fragend auf sein eines, unbedecktes Auge gerichtet.

„Wenn Sie... Wenn Sie zum Beispiel einen Autoschlüssel in der Hand halten. Und Sie sich denken, was wäre, wenn Sie jetzt ausholen und ihn im Fluss versenken würden? Und dann denken Sie auf einmal viel zu intensiv daran, sodass Sie sich kaum zurückhalten können, es zu tun, obwohl es überhaupt gar keinen Sinn oder Zweck hat“

Sie dachte eine Weile nach. Eigentlich hatte sie dieses Gefühl noch nie gehabt, aber als ihr Blick auf das Wasser gerichtet war und sie fühlte, wie das Kondenswasser der Fischstäbchen ihre Finger herunterrann, wusste sie auf einmal, was er meinte. Kurz konnte sie noch dagegen ankämpfen, aber nach wenigen Sekunden stand sie am Wasser und leerte den Inhalt darin aus. Ein paar Enten kamen aufgeregt angeflattert und versuchten, ein Stück zu ergattern.

„Meinen Sie das?“, fragte sie, als sie wieder neben ihm saß und versonnen betrachtete, wie die Fischstäbchen einträchtig nebeneinander durch die Wellen glitten.

Der Mann stutzte kurz, dann lachte er. So laut und so warm, dass sich alle nach ihm umdrehten. Zumindest fand Polly keine andere Erklärung dafür.

„Wissen Sie, Polly, ich habe das Gefühl, heute ist ein guter Tag, um verrückt zu sein“

Sie grinste und nickte.

Er auch.

 

**

XV

 

„Hunde oder Katzenmensch?“, fragte der Mann, als sie auf der Brücke standen und die verwirrten Enten mit Tiefkühlerbsen fütterten.

Darüber musste sie nicht lange nachdenken.

„Katzen“, antwortete sie.

„Hunde“, erwiderte der Mann grinsend.

Sie zog eine Augenbraue hoch.

„Freundlicher“, erklärte er.

„Ehrlicher“, gab sie zurück.

„Fröhlicher“

„Würdevoller“

„Vorurteilslos“

„Überlegt“

„Treu“

„Menschlich“

„Menschlich?“, wiederholte der Mann irritiert.

„Hundeliebe ist unmenschlich“, antwortete sie. „Sie lieben einen so sehr, das würde kein Mensch Zustande bringen. Dieses anhimmeln. Diese unerbittliche und ständige Zuneigung, egal, was passiert. Das ist unnatürlich. Katzen sagen einem wenigstens die Meinung, wenn ihnen was nicht passt. Außerdem weiß man dann auch, dass sie es ernst meinen. Katzen sind Freunde. Hunde sind die Anbeter einer Gottheit“

Der Mann starrte sie an.

Erschrocken schlug sie sich die Hand vor den Mund.

So viel hatte sie ja noch nie gesagt... es war einfach passiert. Ohne, dass sie darüber nachgedacht hatte.

„Katzen also. Das ist ihr Geheimnis“

Der Mann lächelte und hielt die Tüte hin.

„Tiefkühlerbse?“

Sie lachte und warf den Rest der Packung in den Fluss unter ihnen. Sie wusste, was jetzt kam.

Er hatte das Radio schon aufgestellt und seinen Mantelkragen zurück geschlagen, den er bis eben noch oben gehabt hatte, um seinen Hals zu schützen. Er hatte sich doch erkältet, über die Nacht.

Erwartungsvoll stieß sie sich von dem Geländer ab und wartete darauf, dass seine Arme sie in Empfang nahmen und perfekt neben dem Takt durch die Luft wirbelten.

Die ersten Takte des Lieds erschallten. Es war alt und rau, gefüllt mit einem rauschigen und verwaschenen Klang und ganz beiläufig schlug es dem Mann alle Farbe aus dem Gewicht.

Sie sah ihn unsicher an, als er den Kopf schüttelte. Seine Hände zitterten.

„Polly...“, flüsterte er. „Machen Sie das aus“

Verwirrt wanderte ihr Blick zum Radio. Die Musik schickte noch immer einen wunderbar verregneten Klang in die Luft.

„Aus..“, keuchte er.

Waren das Tränen? Seine Finger bebten so sehr, dass sie an dem Ausschalter abrutschten.

Ihr wurde kalt.

Was war los?

„Polly!“, der Mann schrie beinahe und es war das erste Mal, dass da nicht einmal der Ansatz eines Lächelns in seinem Gesicht zu sehen war. Stattdessen sprach die blanke Panik aus seinen Augen. „Machen sie das aus!“

„Er klemmt...“, stieß sie hervor, als sie an dem Schalter herumwerkelte.

„Polly... Polly...“ Er stand völlig neben sich. Lehnte am Geländer. Und flüsterte ihren Namen, immer wieder. Vor seinen Augen stand grauer Nebel.

Nun setzte die Sängerin ein. Es war eine helle, melodische Stimme, die sich perfekt an das Rauschen und Knistern anpasste. Sie meinte fast, die Schwingungen in seiner Brust widerhallen zu hören. Sie hatte selten so schöne Musik gehört.

If I give my heart to you

Will you handle it with care?

„Weg da!!“, brüllte jemand. Das war nicht der Mann, der immer lächelte. Das war eine Stimme, die in sich selbst gebrochen war.

Das Radio wurde ihr aus der Hand getreten. Im hohen Bogen flog es gegen das Geländer und blieb blitzend und knisternd liegen. Die Musik brach ab.

Aber er war noch nicht fertig.

Der Mann begann, darauf einzutreten. Immer und immer wieder. Und er schrie.

Alles in ihr gefror.

Und dann wurde es still. Nichts war zu hören, außer seinem zitternden Atem und dem Quaken der Enten.

Sie starrte ihn an.

Er hatte die Augen geschlossen und keuchte. Eine einzige, verlorene Träne rollte über seine Wange.

Eine Weile geschah nichts.

Und dann sah er auf und erwiderte ihren Blick.

In diesem Moment wurde ihr etwas bewusst. Er war nicht viel älter als sie. Das waren nur seine Augen. Seine traurigen, unglaublich alten Augen.

„Wir müssen hier weg“

Er klang heiser.

„Kommen Sie mit?“

Sie wusste, dass es Wahnsinn war.

Aber sie hatte ihre Entscheidung bereits heute Nacht getroffen. Sie würde ihm folgen. Ihm und seiner Geschichte.

Und deshalb nickte sie.

Er lächelte schwach.

Sie auch.

„Danke“

Ein verlorenes Wort in der Stille, an das sich so viel mehr klammerte.

'So viel Liebe kann ein Mensch nicht Zustande bringen'

Als ihr Blick auf dem zerschmetterten Radio lag, war sie sich auf einmal nicht mehr so sicher.

XVI

 

Es war das erste Mal, dass sie sah, wie ein Anhalter tatsächlich mitgenommen wurde.

Julie und Thomas kamen von weit her, hörten scheppernde Country-Musik und stellten keine Fragen, als die Beiden auf die vollgestopfte Rückbank des rostigen Kleinwagens kletterten.

Der Tänzer blinzelte die Tränen gekonnt aus seinen Augen und war schon bald in ein Gespräch verwickelt, aber seine zitternden Finger verrieten ihn.

Er war so ein schlechter Lügner.

Sein englisch war nicht das Beste, aber schon bald herrschte eine neue Sprache im Wagen: Die der Hände und Füße.

Thomas lachte ein warmes, tiefes Lachen und griff in den großen, blauen Wanderrucksack zwischen seinen Beinen.

Darauf folgte ein kleines Picknick auf Rädern, bei dem Julie immer wieder etwas zwischen die Zähne geschoben bekam. Thomas' zärtliches 'Darling' trieb nicht nur seine Angebeteten die Hitze ins Gesicht.

Und trotzdem wurde sie die drängende Frage in ihrem Hinterkopf nicht los. Wann würde er mit der Wahrheit herausrücken? Sie hatte ihm bereits mehr als einmal vertraut, aber seine Zurückhaltung überwog ständig.

Der Mann fuhr sich lachend durch Haar und sie bemerkte, dass er seine Hände wieder unter Kontrolle hatte.

Nicht jetzt.

Nicht hier.

Aber bald.

Thomas und Julies Weg trennte sich nun von ihrem. Die große alte Poleroyd-Kamera flackerte und hielt sein Lächeln, ihren Regenschirm und den Kleinwagen für immer fest.

Ein Winken.

Der kräftige Händedruck von Thomas.

Dann waren sie wieder allein.

Hinter ihnen die Autobahn.

Vor ihnen ein Ortsschild und ein kleiner Teich.

Er lachte wieder und als sie seine Finger zwischen ihren spürte, beschloss sie, dass sie ihm diesen einen Tag lassen würde. Einen letzten Tag, um ihr zu beweisen, dass es sich lohnen würde, bei ihm zu bleiben, auch wenn sie sein Geheimnis kennen würde.

Sie atmete tief durch und genoss das Prickeln des Abenteuers in ihrer Lunge.

Einen letzten Tag.

Plötzlich lag ihr Handy unglaublich schwer in ihrer Tasche. Und sie beschloss in dieser Sekunde, ihm zu vertrauen.

Er bekam gar nicht mit, wie das kleine elektronische Teil mit einem dumpfen Plumpsen im Wasser versank, so sehr wollte er die neue Stadt entdecken.

„Kommen Sie, Polly?“, fragte er.

Und sie nickte.

Einen letzten Tag.

 

XVII

 

Es war eine große Stadt, voller Lichter und Werbung und getrocknetem Regen, Hunden, Katzen, Menschen und Autos. Jede wusste, wo er hin wollte, jeder wusste, was er überhaupt wollte und so fielen die Beiden umso mehr auf, als sie durch die Straßen wanderten und dahin gingen, wohin der Tag sie führte.

„Sie mögen keine Menschenmengen, hab ich Recht?“, fragte der Mann nach einer Weile des Schweigens, in der sie einträchtig zwischen den Häusern hindurch flaniert waren.

Sie schüttelte stumm den Kopf. Erneut erinnerte sie sich an das Gefühl, verloren und allein zwischen all den Menschen zu stehen und nie mehr nach Hause zu finden. Ihr Herz schlug höher, in der Erinnerung an all die Alpträume.

„Wieso nicht?“

Sie wusste, dass er keine Antwort brauchte.

„Menschenmengen sind so inspirierend. Kommen Sie!“

Er zog sie in einen Hauseingang, einfach so. Dann drückte er alle Klingelschilder durch. Das Sirren tausender Türöffner erklang und ehe sie reagieren konnte, fand sie sich auch schon in einem Treppenhaus wieder. Verwirrte Gesichter schienen am Treppengeländer über ihnen.

„Schornsteinfeger!“, erklärte der Mann. „Bei Ihnen sind ein paar Dachziegel lose! Darf ich?“

Er zwängte sich an den Bewohnern des Erdgeschosses vorbei und lächelte freundlich.

„Na, da hätten Sie aber auch schon Mal eher auftauchen können!“, meckerte eine alte Frau. „Seit Tagen versuche ich Sie zu erreichen!“

„Keine Sorge, jetzt bin ich ja hier“. Der Mann schüttelte beruhigend ihre Hand und machte sich an den Aufstieg der unzähligen Treppen. Sie folgte ihm, wenn auch nicht so leichtfüßig. Die Anderen Nachbarn hatten sich schon wieder in ihre Wohnungen verzogen und so fiel es keinem auf, dass er sich ein paar Mal um sich selbst drehte, beim Aufstieg und überhaupt gar nicht wie ein Schornsteinfeger aussah.

„Kommen Sie, Polly! Wir sind fast oben!“

Dann hatten sie es geschafft. Eine kleine Treppe führte auf das Dach des Gebäudes, das ein paar mehr Stockwerke besaß, als ihr lieb war. Noch dazu handelte es sich um ein Spitzdach, also schlüpfte der Mann kurzentschlossen zunächst auf den Dachboden, der als Abstellkammer für alles mögliche Zeug diente und dann aus dem Fenster, nach draußen. Ihr wurde flau im Magen, als sie nur den Kopf hinaus streckte.

„Kommen Sie hoch! Es ist herrlich hier!“

Der Mann streckte ihr die Hand entgegen. Zögernd sah sie nach unten, auf den viel zu weit entfernten Asphalt, doch dann gab sie sich einen Ruck. Verrückt sein. Das war des Ziel des heutigen Tages. Da gehörte es dazu, auf fremde Dächer zu klettern.

Vorsichtig erstieg sie die moosig-rutschigen Dachziegel und es ging erstaunlich gut. Unwillkürlich fragte sie sich, warum man nur so selten Menschen auf Dächern antraf. Es war fast gemütlich, auf dem Giebel zu hocken und die Welt von oben zu betrachten, während man sich von der Sonne die Nase kitzeln ließ.

Der Mann atmete genießerisch aus. „So... schon viel besser“

Er lächelte mit zusammen gekniffenen Augen gegen die Sonne an und deutete dann auf die Straße unter ihnen.

„Jetzt schauen Sie sich das an“

Ihr Blick wanderte auf die Menschenströme unter ihnen. Von hier oben wirkten sie viel zu winzig, um furchteinflößend zu sein. Kleine, geschäftige Punkte, die gegenseitig ihre Wege kreuzten, sich voneinander lösten und sich wiedertrafen, ohne System und Regel. Ein heilloses Durcheinander. Und doch irgendwie malerisch systematisch.

„Es gibt ein System“, bestätigte der Mann. „Es gibt immer ein System. Aber das ist so groß und unvorstellbar, dass wir es Zufall nennen“

Verträumt beäugte er den bunten Strom.

„Weil wir ihn nicht kontrollieren können, denken wir, es gäbe keinen Weg, das zu tun. Aber es gibt immer einen. Denn es gibt immer eine Regelmäßigkeit. Was wäre, wenn wir die immer erkennen könnten?“

Sie seufzte. Er hatte ja Recht.

„Langweilig“, sprach er ihren Gedanken aus. „Absolut langweilig. Wir sollten anfangen, den Zufall zu genießen. Wir sollten uns überraschen lassen, von dem System“

Ihr Blick lag weiterhin auf den Menschen unter ihnen. Sie sahen so unschuldig aus, von hier oben. So winzig und zerbrechlich. Vielleicht würde sie das öfter tun, aufs Dach steigen und sie beobachten. Einfach so. Um ihr selbst klar zu machen, dass es ein System gab, das sie nur nicht verstehen konnte. Das machte die Unberechenbarkeit auf einmal so viel harmloser.

„Lassen Sie uns tanzen, Polly.“ Auf einmal klang die Stimme des Tänzers leise, als wollte er etwas beschützen, dass in ihr lag. „Lassen Sie uns tanzen“

Hier?

Er beantwortete ihre unausgesprochene Frage, indem er sie auf die Abdeckung des Schornsteins zog. Sie war schmal und schwindelerregend hoch, aber in seinen Armen fühlte sie sich mit einem Mal so sicher, dass sie sich keinen besseren Ort vorstellen konnte.

Sie hatten kein Radio mehr. Aber seine Stimme.

Und so summte er eine kleine Melodie, untermalt von den Autos weit unter ihnen und dem Heulen des Windes in ihren Ohren, zu der sie sich langsam schwingend im Kreis bewegten. Sie konnte seinen Herzschlag hören. Kein bisschen zu schnell. Seine Sicherheit war nicht mehr gespielt, wie vorhin im Auto.

Seine Finger umschlossen ihre und seine Stimme klang doppelt verstärkt von seinem Körper in ihren, sodass sie die Augen schloss und seinen Duft roch und den Regen und die Autos, bis sie irgendwann vergaß, wie unsicher der Boden unter ihren Füßen war. Sie atmete tief durch.

Und so tanzten sie, Arm in Arm, eng umschlungen, auf dem Schornstein eines vierstöckigen Hauses. Manchmal huschten Blicke zu ihnen hinauf, einige Hände wanderten zu ihren Handys. Fotos wurden geschossen. Hochgeladen. Sie wurden bewundert und geteilt, aber davon bekam sie nichts mit. Sie hörte nur ihn. Und wollte es auch gar nicht anders.

 

XVIII

 

„Hier. Die ist für Sie“

Der Mann war nur kurz fort gewesen, kaum ein paar Minuten und nun war er wieder da, mit einer Rose in der Hand.

Sie starrte ihn ein paar Sekunden an, unfähig zu reagieren, doch dann nahm sie die Blume an. Sie war wunderschön rot und roch süß und bezirzend.

„Aber... wofür?“, fragte sie. Trotzdem konnte sie nicht aufhören zu lächeln, als sie den glatten Stiel unter ihren Fingern spürte.

„Das verstehen Sie später“, zwinkerte der Tänzer. So langsam wurde sie wirklich nicht mehr schlau aus ihm, aber sie lernte, seine Schrullen zu akzeptieren.

„Und jetzt?“, fragte sie und roch erneut an der Rose.

„Jetzt gehen wir essen“, beschloss der Mann. „Und zwar richtig.“

Sie wollte protestieren. Wovon? Und mit welchem Outfit? Mit wem? Wohin genau?

Aber da hatte er sie schon mitgezogen, durch die Straßen, vorbei an all den Leuten in Richtung des nächstbesten Restaurants. Sie hatten so lange auf dem Dach gesessen, dass es bereits dämmerte und so waren die Tische schon besetzt von Frauen mit eleganten Kleidern und Männern in teuren Anzügen.

Der Mann legte sich den Mantel über seinen Arm und strich seinen verschlissenen Anzug glatt. Mit viel Fantasie konnte man diesen Stil als vornehm bezeichnen, aber sie selbst? Ihr Blick wanderte zu der gemusterten Bluse, der Jeansjacke und dem kurzen Rock. Keine Kleidung für ein teures Essen.

„Ach, kommen Sie, Polly“

Der Mann hielt ihr schwungvoll die Tür auf. „Voila! Willkommen im Reich des Champagners!“

In der ersten Sekunde wurde sie geblendet von dem tausendfachen Strahlen der Kronleuchter, dem sprudelnden Champagner und all dem glänzenden Gold, bis sich ein streng aussehender Ober vor all das Licht schob.

„Kann ich Ihnen helfen?“

„Wir hätten gerne einen Tisch“, lächelte der Mann perfekt zurück.

„Haben die Herrschaften reserviert?“

„Nein... aber wir würden das jetzt gerne nachholen“

„Entschuldigung, aber ohne Reservierung ist das Speisen hier nicht möglich“

Der Tänzer wiegte langsam den Kopf hin und her. Eine Weile sah er so aus, als müsse er über etwas nachdenken, etwas, das schwerwiegende Folgen haben könnte. Seine Augenbrauen kräuselten sich angestrengt und eine Haarsträhne fiel ihm über das Gesicht. Dann seufzte er, griff in seine Innentasche und zückte einen Ausweis.

Einen Ausweis.

Er hatte tatsächlich einen Ausweis.

Die Augen des Obers huschten über das glänzende Papier, dann nickte er langsam.

„Ich denke, unter diesen Umständen können wir da noch ein Plätzchen freiräumen“

Polly stierte den Tänzer ungläubig an.

Er war der Mann, der im Regen tanzte. Er war kein Mann mit einem Ausweis, dessen bloßer Name ihnen einen Tisch im edelsten Restaurant der Stadt beschaffen konnte. Das durfte einfach nicht die Wahrheit hinter ihm sein. Er konnte nicht ein gelangweilter Neureicher sein, der beschlossen hatte, das Leben zu genießen und einen auf normal zu machen. Sie schüttelte langsam den Kopf und ließ sich abwesend zu dem kleinen Zweiertisch an der großen Glasfront führen.

Nein.

Das war nicht der Mann, der im Regen tanzte. Er hatte keinen Namen.

„Wollen Sie ihn wissen?“, fragte der Tänzer, als sie mit der Tageskarte allein gelassen worden waren. „Meinen Namen? Wollen Sie ihn wirklich wissen?“

XIX

 

„Und was wäre, wenn ich Ihnen sage, dass ich Zeitreisen kann...“

Der Mann sah lächelnd in sein funkelndes Champagnerglas.

Ja, er war noch der Mann. Und niemand Anderes. Kein Name. Kein Ausweis. Nur der Tänzer.

Sie schob ihren leeren Dessertteller mit den Resten der Creme Braulee zur Seite und nahm einen Schluck Wein. Die vier Gänge feinster Speisen füllten ihren Mund noch immer auf eine sonderbar angenehme Weise.

Zeitreisen.

Er bemerkte, dass sie ihm nicht glaubte. Natürlich nicht.

„Ich beweise es Ihnen“

Der Mann erhob sich langsam und ließ seinen Blick durch das Restaurant schweifen, bis er sein Ziel erfasst hatte. Er kehrte mit einer Rose zurück. Unwillkürlich wanderten ihre Finger zu dem dornigen Stiel in ihrer Jackentasche.

Er beugte sich verschwörerisch vor.

„Ich werde jetzt in der Zeit zurück reisen. Und, haben Sie die Rose in ihrer Tasche?“

Sie lächelte und senkte den Blick.

Er hob ihr Kinn an.

Das Gemurmel der anderen Gäste wurde mit einem mal noch viel leiser.

„Haben Sie?“

Sein Blick traf unbeweglich auf ihren, ein lebendiges Glitzern spiegelte sich in seinen Pupillen und sie wünschte sich so sehr, dass sie ihm glauben könnte. In seinem Gesicht spiegelte sich Enttäuschung.

„Wieso glauben Sie mir nicht, Polly?“

Ja, warum nicht? Sie wusste, dass es nicht an ihrer Vernunft lag. Nicht daran, dass er nur wieder versuchte, sie zu verzaubern. Nein, nicht einmal daran, dass die Rose in ihrer Tasche rot und nicht weiß wie die in seinen Händen war.

„Wenn Sie Zeitreisen könnten...“, begann sie langsam und plötzlich fiel es ihr nicht mehr schwer, ihm in die Augen zu sehen.

„...dann wären Sie jetzt nicht hier“

Ein Tag.

Seine Hand sank langsam von ihrem Kinn hinab zur Tischplatte. Ihr Herz erschallte lauter als die Schritte des Kellners, der ihre Teller abräumte. Keiner von ihnen sah auf. Nackte Pupillen streckten ihre Finger nacheinander aus und als sie sich berührten, ergoss sich ein Schauer aus kalten Tropfen über ihrem Rücken.

„Sie sind gut, Polly“, meinte er nach einer halben Ewigkeit. Und es brauchte eine weitere, bis er sagte: „Kommen Sie mit“ und sie von ihrem Stuhl zog.

Sie bezahlten nicht. Ließen die einsamen Pfützen Wein in ihren Gläsern zurück. Weg vom Lärm der Gesellschaft.

Nur für Personal.

Treppen hinauf. Ewige Treppen. Sie sagten kein Wort. Aber das war in Ordnung. Denn sie wusste, wie viele heute Nacht noch folgen würden.

Dann die kalte Nachtluft. Erneut spürte sie Dachziegel unter ihren Händen und als sie irgendwann vom Dunkel umringt auf dem Sims angekommen waren und die Lichter ewig weit unter ihnen betrachteten, wusste sie, dass sie Recht gehabt hatte.

Er wollte hier nicht sein.

„Woher?“ Seine Stimme klang heiser.

„Keiner lebt das Leben so wie Sie“, murmelte sie leise. „Keiner“

Er schwieg, doch sie spürte, wie das Lächeln aus seinem Gesicht wich.

„Sie tun so, als wäre es das einfachste auf der Welt, glücklich zu sein. Sie gehen durch die Welt und die Menschen denken darüber nach, was sie falsch gemacht haben. Darüber, was sie noch ändern könnten. Sie sähen schlechtes Gewissen“

Er wollte fort sehen, aber diesmal war sie es, die sein Gesicht herum drehte und ihm in die Augen sah. Keine Tränen. Noch nicht. Aber die Lichter der Straßenlaternen füllten seine Pupillen aus wie ein Meer, das tiefer reichte.

„Sie lügen“, schickte sie die bittere Wahrheit in die Nachtluft hinaus. „Sie lügen Sie alle an“

Jetzt wurden ihre Augen nass. „Sie lachen ihnen ins Gesicht. Denen, die denken, dass es Ihnen besser geht, als allen Anderen“

In seinem Gesicht regte sich kein Muskel, aber er sah wieder unglaublich alt aus, als er den Mund öffnete und ihn schließlich doch wieder schloss. Sie hatte Recht.

„Denn die einzige Wahrheit ist, dass... dass...“ Sie würgte die Tränen hinunter. Er war ihr Tänzer. Derjenige, der sie mitgenommen hatte und dessen ewiges Glück für sie beide reichen würde. Er war ihr Tänzer. Ihr Held. Und jetzt drohte all das in der Wahrheit zu ertrinken, die sie nicht aussprechen wollte. „Dass Sie Angst haben“

Eisige Stille, vernebelt von ihrem eigenen Atem.

„Ich liebe das Leben, Polly...“, hauchte der Mann stimmlos. Er kämpfte gegen etwas an, dass sich in seinen Augen aufbäumte. „Ich liebe...“

Sie schüttelte den Kopf. Erst langsam. Dann heftiger. „Sie haben es geliebt. Aber das ist Ihnen erst viel... viel zu spät aufgefallen“

Seine Finger suchten nach etwas, was sie nicht fanden und so blieb er sitzen, auf dem Dach und starrte verloren auf die leuchtende Autobahn in der Ferne, während der Wind seinen Mantel aufblähte und seine Silhouette gegen den Nachthimmel zeichnete.

„Und Sie fragen sich, warum ich Sie mitgenommen habe“, flüsterte er. Sie griff nach seiner Hand, wie er es sonst immer tat und dachte an das Gefühl, dass sie gespürt hatte, als sie gedacht hatte, er hätte sich eine neue Begleiterin gesucht. Einfach so. Sein letzter Satz machte diesen Gedanken unmöglich, aber das konnte er nicht wissen. Oder doch?

„Es ist nicht der Tod, oder?“, fragte sie und sah ihn an. Er bewegte sich immer noch keinen Zentimeter. Er tanzte auf Dächern. Er lachte dem Tod ins Gesicht.

„Und auch nicht die Gefangenschaft“, fuhr sie fort. Er tanzte, ja. Aber er tanzte sich nicht frei. Dafür war sein Lächeln zu ernst, seine Schritte zu unkoordiniert.

„Es ist nicht die Vergangenheit“ Die Rose zwischen ihren Fingern erinnerte sie daran, wie sehr er sich zurück wünschte, an einen Ort, den sie noch nicht kannte.

Und dann dachte sie an die Einzigartigkeit seiner Ideen. An die Kindlichkeit in seinen Augen. An den Drang, jeden Tag zum Besten zu machen und die totale Sorglosigkeit, wenn es um die Zukunft ging. Sie dachte an den Antrieb, der hinter all dem saß. Hinter dem Lächeln. Hinter den Tänzen. Und hinter all dem Schmerz.

„Sie haben Angst vor dem Vergessen“

Er zuckte zusammen.

„Nicht davor, vergessen zu werden. Nicht davor, dass sich niemand an Sie erinnert. Sie selbst wollen sich erinnern. Weil Sie irgendwo gelernt haben, wie wenig Gelegenheit wir dazu haben, etwas festzuhalten, ohne dass es verloren geht, in all dem Rest aus Unzufriedenheit und Wut. Sie wollen den Moment, den Sie leben, nicht vergessen. Sie wollen sich erinnern. An jeden einzelnen. Und dafür machen sie ihn einzigartig“

Plötzlich waren sich ihre Gesichter unglaublich nah. Sein bebender Atem war lauter als die Straße.

Sie begann zu zittern, als er sie küsste. Er war der glücklichste Mensch, den sie kannte. Und der traurigste. Der verrückteste. Und der normalste.

Sie küsste ihn. Sie kannte ihn. Sie liebte ihn.

Irgendwie.

Auf irgendeine verschrobene Art und Weise, wie damals auf der Bank.

Aber jetzt wusste sie, was ihn antrieb.

Vergessen.

Diese Sekunden würden ewig bleiben.

Darin war sie sich sicher.

 

**

XX

Sie erwachte mit dem gewohnten Gewicht seines Mantels auf ihrer Schulter. Es roch nach Wind und Regen, doch die Kälte machten diese Gerüche beißend und scharf, als sie sie einsog. Die Dunkelheit um sie herum verschluckte alles.

Wieso war sie wach?

Mit klopfendem Herzen lauschte sie und hörte ein Keuchen neben sich.

Er hatte aufgehört zu lächeln.

Seine Gesichtszüge waren eingefroren vom kalten Schweiß, der ihm über das Gesicht floss und seine routinierten Bewegungen waren durch unkontrollierte, zitternde Hände ersetzt worden.

Sie wollte seinen Namen sagen.

Doch sie kannte ihn nicht.

„Was ist los?“ Ihre Stimme klang viel zu hilflos in der kalten Nacht.

Der Mann rang nach Luft und hustete scheppernd. Seine Stirn glühte.

Ihr Hals schnürte sich enger.

Das war keine einfache Erkältung mehr. Er konnte nicht einmal mehr antworten. Seine Hand rutschte kraftlos von ihrem Rücken, wo sie die ganze Nacht geruht hatte und ging zu Boden, wo seine Finger sich krampfhaft in den Boden krallten.

Verzweifelt strich sie ihm durchs Gesicht, immer und immer wieder, aber sie wusste, dass es nichts helfen würde. Vielleicht würde sie ihn nun für immer verlieren. Der Gedanke verbiss sich so kalt in ihrer Brust, dass sie ebenfalls begann, zu zittern. Konfus strich sie sich die Haare aus dem Gesicht.

„Wir... wir müssen zu einem Arzt...“, stotterte sie.

Der Mann reagierte, indem er sich zusammenkrümmte und vor Schmerzen aufschrie, beim Husten. Es war ihre Schuld. Sie trug seinen Mantel. Für sie hatte er eine ganze Nacht auf der Parkbank verbracht. Es war so klar gewesen, dass es nicht so bleiben konnte, wie es gewesen war.

Mit aller Kraft zog sie ihn auf die Füße und stützte sein Gewicht auf dem Weg zur Straße. Er war so schwer. Und konnte kaum einen Fuß vor den Anderen setzen. Wo war bloß das nächste Krankenhaus? Sie hatte das Schild gesehen, aber bei Nacht sahen alle Straßen gleich aus.

Immer wieder mussten sie halten, weil er von Hustenanfällen geschüttelt wurde und Halt an einer Wand suchen musste, um nicht ohnmächtig zu werden. Er rief Namen, die sie nicht kannte.

Er würde sterben.

Sie war sich fast sicher.

Er würde sterben.

Und sie hätte ihn umgebracht.

Irgendwann wollten ihre Beine sein Gewicht nicht mehr tragen und so sackte sie an einer Hauswand zusammen, schluchzend und um Hilfe flehend.

„Bitte... bitte, halt durch...“, weinte sie und legte ihre Hände an sein Gesicht. Es durfte einfach nicht so enden. Doch er öffnete die Augen nicht und sein Atem rasselte durch seinen ganzen Körper, sodass sie ihn sogar noch in ihren Händen spürte. Ihre Tränen vermischten sich mit seinen.

„Hört mich denn niemand?“, schrie sie in die Dunkelheit. Hier musste doch jemand sein... „Irgendjemand?“

Verzweifelt klammerte sie sich an seinen leblosen Körper und vergrub das Gesicht in seiner Schulter. Er würgte.

Wie lange sie da saßen? Irgendwann wusste sie es nicht mehr. Sie hockte nur da, betete und flehte darum, dass er nicht sterben würde und krallte sich an ihn. Ein paar Mal versuchte sie, ihn wieder auf die Beine zu bekommen, aber es war hoffnungslos. In ihrem Kopf kreisten ständig die selben Gedanken:

Er darf nicht unglücklich sterben. Nicht so.

„Polly“, flüsterte er mit so rauer Stimme, dass sie ihn kaum verstand.

„Ich bin hier...“, antwortete sie mit Tränen erstickter Stimme.

In diesem Moment: Schritte. Leute näherten sich. Sie stellten Fragen. Aber sie konnte nicht antworten. Er versuchte etwas zu sagen, aber er schaffte es nicht.

„Ich ruf' den Krankenwagen“, sagte ein Mann weit über ihr.

„Polly“ Der gebrochene Tänzer rief nach ihr.

„Ich bin hier...“, haspelte sie. „Ich... alles wird gut...“ Mit bebenden Fingern strich sie ihm die Haare aus dem brennenden Gesicht. Er wurde erneut von Hustenkrämpfen geschüttelt und stöhnte. Da war nichts mehr von dem Mann, der im Regen tanzte. Grelle Sirenen näherten sich durch die Nacht. Sanitäter knieten neben ihr nieder.

„Polly!“, seine Stimme wurde lauter, sein Atem schwächer.

„Nimmt er Medikamente?“

„Polly, Sie...“

„Wie alt ist er?“

„Sie müssen... sie dürfen...“

„In welcher Verbindung stehen Sie zu diesem Mann?“

Sie brachte kein Wort heraus. Er sah so verzweifelt aus, als die Sanitäter ihn auf eine Bahre zogen, dass sie wusste, dass er ihr etwas wichtiges sagen wollte.

„Ich bin hier...“, wiederholte sie. „Ich bin direkt neben Ihnen...“

Seine eiskalte Hand schloss sich um ihren Arm. Mit erstaunlicher Kraft zog er sie hinab zu sich. Und dann flüsterte er ihr kraftlos ins Ohr:

„Geben Sie denen nicht meinen Ausweis. Die dürfen... die dürfen nicht wissen, wer ich bin“

Der Krankenwagen verschwand schreiend in der Nacht. Tausende Hände auf ihren Schultern. Ihr wurde etwas zu trinken angeboten. Aber sie wollte nichts.

Die dürfen nicht wissen, wer ich bin.

Wie sollte sie das verhindern, wenn sie es selbst nicht einmal wusste?

Rette mich.

Es war, als würde der Hilfeschrei noch jetzt in der Luft hängen.

 

 

 

 

**

XXI

Die Lichter des Krankenhauses waren so weiß, dass sie sie bereits von weitem blendeten. Eine fremde Jacke über ihren Schultern. Es war nicht seine.

Ein Glas Wasser in der Hand.

Sie hatte keinen Durst.

Die Angst um ihn und sein Lächeln saß wie ein großes, schwarzes Tier in ihrer Brust, dass nur darauf lauerte, zuzubeißen. Da waren ein paar Leute, die mitgekommen waren und nun an der Rezeption nach seinem Eintreffen fragten.

Eine Frau fragte sie, wie es ihr ginge.

Sie antwortete nicht.

Wer er sei.

Sie wusste es nicht.

Ob sie Hilfe brauchte.

Sie reagierte nicht.

Vielleicht hätte sie sich eine Umarmung gewünscht. Finger in ihren Haaren. Verständnis. Zuversicht.

Doch es blieb bei der unsicheren Hand auf ihrer Schulter und den ratlosen Blicken.

Wo war er?

Sie durften ihn nicht behandeln, als wäre er normal. Er durfte keinen Schlauch in seinen Arm bekommen, keine Geräte in den Hals oder ein weißes Krankenhausleibchen. Er war besonders. Er wurde nicht wie ein Mensch behandelt.

Abwesend schüttelte sie den Kopf. Ihr wurde gesagt, dass er auf der Station lag. Sein Zustand war stabil. Eine Lungenentzündung. Sie könnte ihn sehen.

Mit aller Kraft würgte sie ihre Tränen herunter. Sein Zustand war stabil. Aber das war eine Lüge. Sein Zustand war nie stabil. Er war nicht nur der Mann, der im Regen tanzte, er war der Mann, der im Regen weinte.

„Wo bist du?“, flüsterte sie heiser, als sie die ewigen Gänge entlang irrte.

Sie hätte auf eine Krankenschwester warten sollen, aber sie hatte es nicht ausgehalten, dazustehen, mit der fremden Jacke und dem Glas, an das sie sich klammerte wie ein Rettungsring, in Gedanken daran, wie es ihm ging.

Doch alles sah gleich aus. Sicher, manchmal waren die Wände bemalt oder mit Bildern verziert, aber die Menschen waren alle gleich müde. Sie wollte nur noch hier raus. Seine zitternden Finger in ihren waren noch immer zu spüren, sein Hilfeschrei hallte noch immer in ihren Ohren.

„Sag doch was“, rief sie leise. „Wo bist du?“

Dann brach sie schluchzend auf dem kalten Linoleumboden zusammen. Vielleicht war er gar nicht kalt. Nicht so kalt wie das Gras, in dem sie bis eben noch geschlafen hatte, aber unendlich viel härter und abweisender.

„Wo bist du...?“, wiederholte sie stimmlos, immer und immer wieder.

Sie würde ihn nicht finden. Nicht in diesem Haus, in dem alle Augen traurig waren. Er würde sterben, hier. Kein Regen. Kein Radio.

„Wo...?“

Mit brennenden Augen presste sie die Hände auf die Schläfen, in der Hoffnung, ihre Gedanken würden aufhören, zu kreisen.

Flur 3. Zimmer 215.

Als sie aufsah, stach die Zahl an der Tür aus all dem weiß hervor wie ein Todesurteil. Mit bebenden Händen drückte sie die Klinke und schob sich in den halbdunklen Raum. Von draußen drang das nasse Geräusch von Autos durchs Fenster. Das Piepsen der Apparate schrillte durch den Raum.

Sein Gesicht war bleich wie das von Schnee und da waren zu viele Kabel.

Er war kaputt.

Sein Gesicht. Seine geschlossenen Augen. Einfach kaputt.

Als hätte ihn jemand von einer Kante geschubst, an der er zerbrochen war. Die glänzende Spur einer getrockneten Träne zog sich über seine Wange.

Kaputt.

Das war nicht er.

„Wo bist du?“, fragte sie in den dunklen, leeren Raum. „Wo bist du?“

Eine Weile starrte sie den Mann an, der da blass und klein vor ihr lag. Er sah so normal aus. So winzig und verloren im Tag. Zerbrochen.

Sie schloss die Augen.

Und schrie.

Ihre Stimme zerbrach an den Wänden und splitterte durch den Raum, so scharf und so lange, bis sie Schritte auf dem Gang hörte, die sich näherten.

„Bitte... bitte...“, stammelte die Schwester, und packte sie bei den Schultern.

Sie hörte nicht auf, zu schreien. Vielleicht wollte sie Hilfe.

Ein Krankenpfleger kam angelaufen. Im Arm der Mantel. In der Hand einen Ausweis.

Die dürfen nicht wissen, wer ich bin.

Die Erkenntnis, dass sie versagt hatte, durchfuhr sie so heftig, dass sie zitternd verstummte. Alles verschwamm vor ihren Augen.

„Kennen Sie... kennen Sie diesen Mann?“, fragte der Krankenpfleger und hielt ihr den Ausweis hin. Das Licht verspiegelte sein Foto. Also drehte sie sich zu dem Geist in dem Raum hinter ihr um, der an den Maschinen und Schläuchen hingen, die nichts mit dem Lachen und Leben zu tun hatten, dass er so liebte.

„Bitte, können Sie mir antworten? Kennen Sie den Mann in diesem Zimmer?“ Die Stimme klang eindringlich. Als würde ihre Antwort mehr zählen als sie wusste.

Für ein paar Sekunden starrte sie die leblose Gestalt noch an. Das Piepsen der Maschinen übertönte alles.

„Nein“, hörte sie sich sagen. „Nein.“

Ihre Brust explodierte beinahe, als sie weitersprach.

„Ich kenne ihn nicht. Ich... ich habe ihn auf der Straße gefunden. Ihn... und seinen Mantel“

Das ist nicht er, sagte sie sich. Das ist nicht er. Denk dran. Das ist nicht er. Er hat aufgehört zu tanzen.

Der Krankenpfleger nickte misstrauisch.

„Dann müssen wir Sie bitten, das Zimmer zu verlassen“

„Ja... ja.“, nickte sie langsam. „Ich werde ihn verlassen“

Und dann ging sie. Einen letzten Blick zurück.

Das ist nicht er.

Doch die Tränen auf seiner Wange waren mehr geworden.

 

**

XXII

Sie stürzte durch die weißen Krankenhausgänge, als hinge ihr Leben davon ab.

Vielleicht war das nicht einmal gelogen.

Fünf Tage.

Fünf Tage war sie ohne ihn über die Runden gekommen, hatte die Tage verschlafen und die Nächte geweint, war umher geirrt und hatte ihn gesucht, in dem bitteren Unverständnis für sein Verschwinden. Sein bleiches, gebrochenes Gesicht hatte sie bis in den unruhigen Schlaf verfolgt, in ekeligem Misch-Masch mit der Sängerin des Liedes, das ihn wahnsinnig gemacht hatte.

Seine Lippen auf ihren.

Ihre Finger in seinen.

Es waren Dinge, die in letzter Zeit selbstverständlich geworden waren, die sie dazu gebracht hatten, sich selbst zu verlieren, in dem Strudel aus Hilflosigkeit und Einsamkeit.

Sie wollte nicht zurück nach Hause. Alles, nur das nicht. Sie wollte ihn. Nur ihn. Nicht so krank. Nicht so verloren. Sie wollte ihn strahlend, lachend, tanzend. Und sie hatte ihn bereits einmal verlassen, als er noch so gewesen war. Sie hatte sich geschworen, ihm zu folgen. Und dann? War sie fortgelaufen. Fortgelaufen vor der bitteren Wahrheit, dass ihr Mann, der im Regen tanzte, ihr Held, ihr Wunder, doch nur ein Mensch war.

Wohin willst du gehen?

Die Gesichter der Menschen hatten ihr die Frage ins Gesicht geschrien, das Flackern der Straßenlaternen, der Kontoauszug, der ihr grinsend ihren Bankrott verkündet hatte, sie alle starrten sie an und fragten sich, was sie da gerade tat.

Ihn verlassen.

Wenn es das gewesen wäre, wäre sie längst aus der fremden Stadt verschwunden, hätte all das zurück gelassen und vor allem endlich ihre Freundin angerufen, die noch immer nach ihr suchte, aber sie hatte nichts davon getan.

Stattdessen waren da die einsamen, kalten Nächte gewesen und die Angst davor, ihn erneut in seinem Bett zu sehen, todkrank und dem absoluten Tiefpunkt nahe. Die Krankenschwestern wussten, wer er war. Und sie noch immer nicht.

Fünf Nächte hatte es gebraucht, um ihr den Mut zu geben, aufzustehen und das Hotelzimmer zu verlassen. Um neue Kleider kaufen zu gehen und die alten, an denen inzwischen so viele Erinnerungen hingen, wegzulegen. Fünf Tage lang war sie schweigend an den Schildern vorbei gelaufen, die zum Krankenhaus wiesen und fünf Tage lang hatte sie sich alle möglichen Szenarien im Kopf ausgemalt.

Sie hatte nicht an der Rezeption gefragt. Stock 3. Nummer 215. Die Ziffern bedeuteten für sie mehr als nur Zahlen. Es war die Angst und die Sehnsucht zugleich. Wie das Adrenalin auf den Schienen. Eine verlockende Panik. Die Herausforderung.

Mit klopfendem Herzen näherte sie sich der Tür. Dahinter würde er liegen und vielleicht wäre er schon wieder wach. Er würde lächeln. Ihr nicht böse sein. Er würde sie umarmen und ihr sagen, wie gut ihr das neue T-Shirt stand. Er würde ihre Hand nehmen, aufstehen und Tanzen, mit dem Tropf am Arm, bis alles wieder gut und vergessen war.

Doch es kam anders.

Da war kein Mann. Keine Enthüllung. Der sterile Raum war leer. Ein leeres, zerwühltes Bett. Mehr nicht. Er war bis vor kurzem noch hier gewesen. Sie roch ihn. Wie der Duft seines Mantels. Frei und windig. Besagtes Kleidungsstück hing über einem Stuhl, ein gescheiterter Versuch, eine heimische Atmosphäre in den Raum zu bringen.

Zögernd näherte sie sich dem Bett und dem Stuhl. Griff in die samtgefütterten Taschen des Mantels. Der Ausweis war fort. Ein Kassenbon für eine Rose. Ein zerknitterter Zwanziger. Kleingeld. Und ein Stück Papier, das sie für einen Zettel hielt. Sie erkannte ihren Irrtum schnell, als sie den zerknitterten Zettel herum drehte und das Bild darauf sehen konnte. Ein Foto. Darauf war eine lachende Frau, blond und hübsch, jung und lebendig. Sie passte zu ihm wie ein Deckel zum Topf – die Lachfältchen um ihre Augen waren tief und viel genutzt für ihr junges Alter, ihre Augen strahlten Leben und Freude aus. Als sie die Aufnahme langsam wendete, sah sie, dass etwas auf der Rückseite stand.

Marla.

Ihr Name. In der selben Sekunde, in der sich in ihrem Kopf die Puzzlestücke zusammenfügten, wurde ihr kalt. Ihr Herz raste und sie musste nicht auf die Krankenakte am Bett schauen, um zu wissen, dass es gefährlich war, dass er nicht mehr in seinem Bett lag.

Aus der kleinen Tür, die zum Bad führte, drang ein Poltern. Und sie hoffte mit aller Kraft, dass sie nicht zu spät gekommen war, als sie die leere Packung Tabletten auf dem Nachttisch sah.

 

**

XXIII

 

„Polly“, er flüsterte ihren Namen, als wäre er das letzte, an dem er sich festhalten könnte, um nicht unterzugehen. „Polly...“

Er lag da, halb an der Wand, halb am Boden, die Augen rot vom Weinen. Sein Hals hatte gegen die unzähligen Tabletten rebelliert, die am Boden verstreut lagen und so teilten sie sich ihren Platz mit Erbrochenem und Blut von seinen Fingern, als er sich an der Verpackung geschnitten hatte.

Er konnte kaum aufrecht sitzen und schluchzte so erbärmlich, dass sie sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte. Eine Weile stand sie nur da und starrte das Häufchen Elend an, dass da in Krankenhausleibchen vor ihr saß und würgte, vor Tränen.

„Polly“, flüsterte er erneut, schaffte es aber nicht, ihr in die Augen zu sehen. Ihr inneres Bild von ihm löste sich in tausende Flocken auf und flatterte lächerlich leicht davon.

„Ich wollt's tun...“

Etwas in ihr zerbrach. Und sie fiel ihm in die Arme. All das Erbrochene und die Tränen interessierten sie kein bisschen.

Zitternd bäumte sich sein Körper gegen ihre Arme auf und sie wollte alles, nur nicht dafür verantwortlich sein, ihn weiter am Boden zu halten, aber trotzdem drückte sie ihn an sich, egal wie sehr er sich wehrte.

„Lass mich...“, flüsterte er. „Bitte...“ und versuchte, sich aus ihrem Griff zu drehen, aber sie blieb unerbittlich.

Es gab keinen anderen Weg. Verzweifelt presste sie ihn an sich, versenkte ihre Nase in seinem Haar und war so glücklich ihn noch riechen zu können, durch all das Desinfektionsmittel, dass sie hätte weinen können..

„Nein“, stieß er hervor. „Nein, hör damit auf“

Er siezte sie nicht mehr. Und alleine das ließ sie ihren Griff noch mehr verfestigen. Es dauerte lange, bis er sich beruhigte. Bis sein Atem langsamer wurde. Und schließlich ergab er sich ihren Armen und sackte weinend an ihre Schulter.

„Es tut so weh, Polly...“, schluchzte er. „Es tut so weh“

„Ich weiß“, antwortete sie leise und starrte die gekachelte Wand hinter ihm an. „Ich weiß“

Eine Weile hingen sie nur da und sie ließ ihn schreien, so laut er wollte, mit seiner Hand auf den Boden schlagen, so oft er wollte und so Tränen weinen, so viele er wollte, aber irgendwann war auch dies vorbei.

Er hing schlaff in ihren Armen und schloss die Augen.

„Ich wollt's tun, Polly...“, wiederholte er müde. „Aber ich kann nicht...“

Sie hielt ihn fest. Und das war alles, was sie tun konnte. Da sitzen, ihn halten und warten, bis er nicht mehr zitterte. Er hatte die Tabletten nicht geschluckt. Nicht eine von ihnen. Und sie wusste, dass er das nicht tun würde. Dazu war er nicht fähig. Nicht er.

Diesmal weinte sie nicht mit ihm. Ihr Blick hing leer an der gekachelten Wand und sie fragte sich, warum sie ihm so sehr vertraute. Ihm, der nun zitternd und bebend in ihren Armen hing, nicht fähig, auch nur einen vernünftigen Satz herauszubekommen. Ihm, der ihr nie von sich selbst erzählt hatte.

„Wer ist Marla?“, fragte sie leise. Ihre Stimme klang klar und ruhig.

Er antwortete nicht.

„Hey“. Sie drückte ihn von sich, nahm seine Schultern und sah ihm ins Gesicht. „Wer. Ist Marla?“

Sie musste es jetzt einfach wissen. Er konnte nicht erwarten, dass sie ihm aufhalf, wenn er unten war und weiterhin hin nahm, dass er ein lebendes Geheimnis war.

Er starrte sie an, als hätte sie ihn geschlagen.

„Wieso kann es nicht so bleiben?“, fragte er leise.

„Weil es nie so bleiben kann, wie es ist“, antwortete sie und lächelte traurig. „Sonst wäre es doch langweilig...“

Er lacht ein kurzes, verzweifeltes Lachen und sah zur Seite. „Ich würde wirklich gerne wissen, wer Sie sind, Polly“, murmelte er kopfschüttelnd. Seine roten Augen sahen bei aller Verzweiflung voller Faszination in ihre.

„Aber es geht jetzt nicht um mich“, antwortete sie.

„Und warum nicht?“

„Weil ich keine Radios zertrete oder versuche, mich umzubringen, wenn es um meine Vergangenheit geht.“ Es waren harte Worte und er zuckte zusammen, als sie sie aussprach, aber sie erzielten ihre Wirkung. „Wer ist Marla?“, wiederholte sie ihre Frage.

Und wieso müssen Sie sich ihren Namen aufschreiben, um ihn nicht zu vergessen?, geisterte es durch ihren Kopf, doch sie behielt die Frage vorerst für sich. Die Puzzleteile in ihrem Kopf hatten sich längst zu einem Bild zusammengesetzt, doch sie wollte es von ihm hören. Und er sprach es tatsächlich aus.

„Was wäre, wenn ich Ihnen sage, dass ich es selbst vergessen habe?“

Sie starrte ihn an, für ein paar Sekunden, dann ließ sie ihn los. Er sackte zurück, gegen die Wand. Und wirkte noch immer so verloren.

„Alzheimer“ Sie schickte das Wort in den leeren, kalten Raum und ihr Herz schlug so schnell, als würde es jeden Moment explodieren.

Er schüttelte den Kopf. „Gott sei Dank nicht, nein...“ Für ein paar Momente herrschte Stille.

Ihre Pupillen fixierten sein und zwischen ihnen bildete sich eine Distanz, die ihr in dieser Sekunde unüberwindbar erschien.

„Es war ein Unfall.“, erzählte er dann. Sein Blick wanderte hoch, zur Decke und die Tränen liefen weiter, aber sein trauriges Lächeln blieb. Als würde er selbst darüber lachen, wie hoffnungslos er aussah. Der Mann, der im Regen tanzte. Eine Illusion, nichts weiter.

„Ein Unfall... und alles war weg“

Weil Sie Angst vor dem Vergessen haben.

If I gave my heart to you...

„Auch Marla?“, fragte sie vorsichtig.

„Auch Marla.“

Der Mann, der vergaß. Langsam rutschte sie an der Wand zu Boden, direkt vor ihn. So saßen sie da, zu zweit verloren im Bad, den Blick auf den jeweils anderen gerichtet, in der Hoffnung, ein erlösendes Wort zu hören, dass die Zeit irgendwie zurück drehen konnte.

„Was ist passiert?“ Sie wusste nicht, wie sie fragen sollte, ohne den ohnehin schon gebrochenen Glanz seiner Pupillen in Splitter zu zertreten.

Es schien, als brauchte er ein paar Sekunden, um zu antworten.

„Schädelhirntrauma.“

Sie schluckte und er erwiderte ihren Blick noch immer nicht, stattdessen starrte er leer die Decke an.

„Nein. Was ist Ihnen passiert?“, fragte sie dann. Keine Medizin. Sie wollte eine Geschichte.

Nun wandte er doch den Blick von der Decke ab. Eine Weile musterte er sie schweigend. Dann sagte er: „Sie wachen auf. Und in Ihrem Kopf ist nichts mehr. Keine Erinnerung, kein Gedanke. Und dann ist da diese Frau. Und... dieses... Kind.“

Dieses Kind. Ihr wurde kalt. Dieses Kind. Seine raue Stimme drohte an dem Wort zu zerbrechen. Er hatte ein Kind.

„Und Sie... Sie werden angeschaut, als... als ob...“ Seine Stimme ertrank in Salzwasser. Er schluckte. Atmete tief durch. Sie griff nach seiner eiskalten Hand. Sie waren noch nie eiskalt gewesen.

„...als ob ein Wunder geschehen wäre. Als ob Sie ein lebendiges Wunder wären. Ich war ein Wunder, Polly.“ Er lachte traurig. „Aber... ich wusste nicht mehr, wieso.“

Unwillkürlich griff sie seine Hand fester. Marla.

„Vergessen werden tut weh“, sagte er leise. Seine Stimme brach. „Aber... ich konnte doch nichts dafür...“

In ihr regte sich etwas. Er erzählte seine Geschichte. Der Mann, der im Regen tanzte, hatte aufgehört, davonzulaufen und sich zu drehen. Er erzählte seine Geschichte. Nur ihr.

„Sie haben sich nicht erinnert...“, sprach sie für ihn weiter, weil er es nicht konnte. „Sie haben alles vergessen“

...und das hat sie nicht ausgehalten, vollendete sie den Satz im Kopf. Auf einmal brannte sich sein trauriger Blick mehr in ihre Gedanken ein als alles Andere. Vergessen werden tut weh.

„Es gab Therapien... sie hätte warten können...“, stammelte der Mann und begann wieder zu zittern. „Sie hätte doch warten können...“ Sie meinte fast, seinen Herzschlag hören zu können.

„Aber sie hat Sie verlassen“, murmelte sie. „Mit Ihrem Kind. Weil sie Angst hatte.“

Marla. Sie wollte diese Frau hassen, dafür, dass sie ihn im Stich gelassen hatte, aber das Gefühl, das in ihrem Hals pulsiert hatte, als sie ihn so gebrochen im Krankenbett gesehen hatte, hatte auch sie dazu getrieben, ihn zu verraten. Was war es, was ihn so besonders und gleichzeitig so gefährlich machte?

„Ich... ich habe Therapien gemacht...“, erzählte der Mann und starrte mit leeren Augen an ihr vorbei.

„Und wieder angefangen, sie zu lieben“, vollendete sie die bittere Wahrheit.

Er schüttelte langsam den Kopf, als könnte er selbst es nicht glauben und seine Hände suchten nach etwas zum festhalten. Kalt rutschten sie aus ihren und fanden seine Knie. „Sie hat es nicht ausgehalten. Sie meinte... sie meinte, ich wäre... anders geworden.“

Anders. Vielleicht hatte er nicht schon immer im Regen getanzt. Vielleicht hatte er in einem Büro gearbeitet. Und war ein normaler Mann mit normalen Alltagssorgen gewesen.

„Sie haben mir meine Tochter weg genommen, Polly...“, flüsterte er. „Einfach so“

Psychisch labil. Sie hatte dieses Wort schon oft gehört, aber nun hallte es auf grausame Art in ihrem Kopf nach.

„Wie lange ist das her?“, fragte sie leise.

„Zwei Jahre“

Er hatte sich nicht wieder gefangen. Mit jeder Sekunde verstand sie Marla besser. Und gleichzeitig verabscheute sie sie so sehr.

„Es kommen immer noch neue Erinnerungen“, murmelte sie. „Jeden Tag. Nicht wahr?“

Er nickte stumm. „Seit ich Sie getroffen habe immer öfter“

„Warum?“, fragte sie und plötzlich zitterte sie auch. „Warum haben Sie mich mitgenommen?“

Er lächelte eine abgrundtief traurige Version seines Lächelns und sah sie für ein paar Sekunden einfach nur an, als würde sie etwas nicht verstehen. Er hatte sie geküsst. Aber Liebe war ein Wort, das zu groß war, um es leichtfertig zu benutzen.

„Ich wollte mich nicht mehr an Dinge erinnern, die hoffnungslos verloren sind“, sagte er und plötzlich klang seine Stimme wieder klarer. „Ich wollte neue Erinnerungen schaffen, die ich nie wieder vergesse. Und dann waren da Sie, mit ihrem Regenschirm und ihrem Lächeln...“

„Sie sind einfach abgehauen und mit mir durchgebrannt“, stellte sie lächelnd fest.

„Als ich aufgewacht bin...“, flüsterte er. „Ich dachte, Sie wären tot. Oder Sie hätten mich verlassen. Und ich würde mich nicht mehr erinnern“

„Aber sie wollten nicht sterben.“ Mit einer Handbewegung schob sie die Tabletten fort.

Er schüttelte den Kopf, immer schneller und bebender.

„Denn Sie lieben das Leben und Sie leben es, irgendwie. Auf ihre eigene Weise“

Ein paar Sekunden hielt er sich noch, dann sank er erneut in ihre Schulter und weinte. Abwesend strich sie durch seine Haare und dachte nach. Das war er also. Der Mann, der im Regen tanzte, um zu vergessen und sich gleichzeitig zu erinnern.

„Wenn ich Sie jetzt mitnehme, ist das ein Verbrechen?“, fragte sie irgendwann. Ihr Blick wanderte zum Fenster, durch das die sachten Sonnenstrahlen hineinspähten.

„Sie nehmen mich nicht mit, Polly. Ich habe Sie mitgenommen. Und es war ein Fehler. Sie stecken schon viel zu tief in dieser Geschichte drin...“, antwortete er abwesend.

„Und genau deshalb ist es jetzt an der Zeit, dass ich Sie mitnehme. Ich hätte das schon viel früher tun sollen. Sie wollen ans Meer. Wir fahren ans Meer“

Er sah auf. „Warum?“

„Weil Sie aus mir das Mädchen gemacht haben, das im Regen tanzt“

Er lächelte schwach und sie schüttelte den Kopf.

„Und ohne Partner funktioniert dieses Mädchen einfach nicht.“

 

**

XXIV

 

Sie saßen wieder im Zug.

Wie ganz am Anfang.

Er hatte geduscht, seine eine, widerspenstige Haarsträhne, die sie so sehr liebte, hing feucht glitzernd in sein Gesicht und sein Mantel roch bereits nach ein paar Metern nicht mehr nach Krankenhaus.

Niemand hatte wirklich auf sie geachtet, aber sie wusste, dass sie nach ihnen suchen würden. Jetzt nicht mehr nur nach ihr, nein. Sie suchten ihn.

„Wir haben uns gegenseitig entführt“, lächelte sie und musterte die vorbei zischende Landschaft hinter der Scheibe.

Der Mann schmunzelte kurz. Sein Blick hing abwesend am Horizont und seine Augenringe reichten tief, aber er war wieder da. Und er saß neben ihr.

Plötzlich spürte sie das unbändige Verlangen danach, ihn kennen zu lernen. Alles in ihr zog sich zu ihm und seinem Gesicht hin, das inzwischen wieder frei von Bartstoppeln und Trauer war, dafür angefüllt mit Müdigkeit und Erleichterung.

Kurz überlegte sie, nach seinem Namen zu fragen. Aber sie entschied sich dagegen. 'Der Mann' war eine Bezeichnung, die ihm würdig geworden war, im Laufe der Zeit.

„Was ist Ihre Lieblingsfarbe?“, fragte sie und siezte ihn wieder. Das war in Ordnung so. Das 'Du' gehört den Tränen und der Verzweiflung.

Überrascht sah er auf. „Was?“

„Was ist Ihre Lieblingsfarbe?“, fragte sie erneut.

Er sah erneut nach draußen, dann in ihr Gesicht und richtete sich schließlich in seinem Sitz auf. „Was haben Sie vor, Polly?“

Sie lächelte leicht. „Ich will Sie kennen lernen. Und zwar nur Sie. Nicht Ihre Vergangenheit. Ich will das kennenlernen, was Sie jetzt sind“

Sein Blick flog zum Boden und nun sah sein Lächeln beinahe verlegen aus. Sie hatte ihn noch nie so unsicher gesehen.

„Meine Lieblingsfarbe?“

Sie nickte bekräftigend.

Sein Blick schweifte nach draußen ab. Kurz musterte er die Felder in der Ferne.

„Grün“, sagte er dann. „Das saftige, kräftige“

Sie grinste und holte Luft, um zur nächsten Frage anzusetzen, doch er unterbrach sie, indem er sich nach vorne lehnte und ihr den Finger auf die Lippen legte.

„-ah! So geht das Spiel nicht. Ich bin dran. Jetzt kommt meine Frage“

Die Regel war neu. Abwartend musterte sie ihn.

Er lehnte sich zurück und ein paar Sekunden kreuzten sich ihre Blicke, bevor er seine Frage aussprach: „Wohin wollten Sie, als ich sie aufgegabelt habe?“

Sie hatte banale Dinge fragen wollen, doch sie bemerkte sofort, dass ihm der Sinn nach Tieferem stand. In Gedanken ging sie zurück zu dem Zeitpunkt, an dem er plötzlich vor ihr gestanden hatte, mit seinen roten Augen und dem Mantel, den sie von der ersten Sekunde an geliebt hatte.

„Nach Hause“, antwortete sie. „Nur nach Hause.“

Sie wusste, wie wenig ihn das befriedigte, doch nun war sie wieder dran.

„Was ist Ihr Lieblingstier?“

„Hund“, antwortete er knapp. Keine weiteren Ausführungen. Er wollte mehr wissen. „Wo kamen Sie her?“

„Von der Arbeit“, antwortete sie und versuchte, das Thema um zuschmeißen. „Lieblingslied?“

„Mr. Blue Sky. Haben wir schon zusammen gesungen“, erwiderte er. „Als was arbeiten Sie?“

„Kellnerin... Nur nebenbei“

„Was tun sie denn hauptberuflich?“

„Hey, erst ich! Lieblingsessen?“

Er schüttelte ungeduldig den Kopf. „Keine Ahnung... Blaubeermuffins. Also, hauptberuflich?“

„Ausbildung zur Hotelkauffrau“

Kurz herrschte Stille. Er zog die Augenbrauen hoch. „Wow“

„Wieso hat der Kellner so empfindlich auf ihren Namen reagiert?“ Jetzt hatte sie doch nach seiner Vergangenheit gefragt. Sie bemerkte, wie sehr es ihn anstrengte, davon zu sprechen, aber er tat es dennoch auf der Stelle.

„Alter Perso. Angeheirateter Name. Marlas Vater ist Politiker. Schulabschluss?“

Sie schluckte und spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. Das war eine der Fragen, die sie hasste. „Hauptschule. Hab das Fachabi nachgemacht.“

Nun war er wirklich erstaunt. Hauptschule. Das böse Wort. Das war der verfluchte, sagenumwobene Ort, wo nur die Asozialen und Dummen her kamen. Kurz erwartete sie, einen Kommentar zu hören, doch er lächelte nur noch doppelt so warm wie vorher. Schnell stellte sie die nächstbeste Frage, die ihr in den Sinn kam.

„Würden sie lieber fliegen oder unter Wasser atmen können?“

Er atmete aus. „Fliegen... nein, Atmen. Beides. Am Besten einfach Beides“ Er zwinkerte ihr zu, doch dann wurde er wieder ernster. „Wer hat Ihnen weh getan, Polly?“

Kurz wich jede Luft aus ihrem Brustkorb und sie hatte das Gefühl, dass Blut würde in ihrem Kopf Karussell fahren. „Hören Sie auf“, sagte sie leise.

Er fragte nicht weiter nach und sie war ihm unendlich dankbar dafür.

Eine Weile breitete sich beklemmendes Schweigen im Abteil aus.

„Wann haben Sie Geburtstag?“, fragte sie dann, um von dem Thema weg zu kommen, das sie so sehr hasste.

Er starrte sie an, für ein paar Sekunden und sie sah Hass in seinen Augen auflodern, Hass auf sich selbst. Seine Hand zuckte, aber sie bewegte sich nicht zu seiner Manteltasche.

„Heute“, antwortete er zu hastig. Zu schnell.

Sie wusste ganz genau, dass er log. Dass er nicht nach seinem Ausweis greifen wollte, um diese Frage beantworten zu können. Aber sie ließ ihm die Lüge und lächelte.

„Heute“, wiederholte sie. „Was sitzen wir dann noch hier? Wir müssen feiern!“

 

**

 

 

XXV

„Prost“

Sie stießen an, mit zwei Pappbechern und einer winzigen, billigen Sektflasche. Auf der Brüstung einer Autobahnbrücke. Unter ihren Füßen die freie Luft und weit unten die rasenden, rauschenden Autos, über ihnen der blaue Himmel.

Der Mann lehnte sich zurück und streckte sein Gesicht genießerisch ihn die Sonne.

„Ich glaube...“, lächelte er, „Das ist der beste Geburtstag, den ich je hatte“

Sie nahm einen großen Schluck von dem prickelnden Getränk und genoss das Gefühl, wie sich das Kribbeln über ihren ganzen Körper ausbreitete.

„Es ist so einfach“, stellte er fest und blickte auf die Straße unter sich. „Es ist so einfach, wild und gefährlich zu leben“

„Ich springe über den Zaun und lebe wild und gefährlich“, murmelte sie und lächelte, bei dem Gedanken an ihr altes, Lieblingskinderbuch.

„Der Zaun ist zu weit gedacht“, schüttelte er den Kopf. „Es gibt keinen Zaun. Höchstens eine Linie. Eine Grenze. Eine selbsterfundene, gedachte Grenze. Ein Schritt -“, er wies auf seine Beine, die unter der Absperrung hindurch frei hingen, „-und man lebt wild und gefährlich. Wenigstens für ein paar Minuten“

„Danke“, meinte sie und legte den Kopf auf seine Schulter. Er sah sie an.

„Wofür?“

Sie spürte sein Herz klopfen.

„Für's mitnehmen.“

Er lachte leise, wie er es immer tat, und richtete sein Gesicht wieder gen Sonne. Sie leuchtete die Schatten unter seinen Augen einfach fort.

„Danke ebenso“

„Wofür?“, fragte sie verwirrt.

„Für's mitkommen.“

„Das hätte jeder getan“, wehrte sie ab und dachte an seine blitzenden Augen unter den nassen Haarsträhnen. An seinen Blick, an die pure Abenteuerlust.

„Das ist gelogen. Und das wissen Sie“

Er richtete sich auf und sah ihr ins Gesicht.

„Es ist nicht jeder so besonders wie Sie, Polly“

Sie schlug die Augen nieder und schüttelte leicht den Kopf.

„Sie haben darauf gewartet, nicht?“, fragte er und ließ sich nach hinten, um ihr in die Augen schauen zu können. „Sie haben dagesessen, nachts, und in die Sterne geschaut, stimmt's? Sie haben gelebt und es war in Ordnung so, wie es ist, aber Sie haben sich gewünscht, dass etwas passiert, was Ihr Leben besonders macht, oder? Sie wollten etwas außergewöhnliches tun, etwas, das alles verändert, Sie haben auf den einen Punkt gewartet, an dem Ihr Leben sich dreht und Sie die Welt erobern, nicht?“

Sie sah auf. „Woher wissen Sie das?“, fragte sie leise.

Er lächelte und ließ seinen Blick über die Autobahn schweifen.

„Weil das allen so geht“, antwortete er dann. „Mal mehr, mal weniger. Aber eigentlich warten wir alle auf den, der uns abholt. Aber der Fehler daran ist...“ er sah sie wieder an, „dass, wenn alle warten... niemals dieser jemand kommt. Wie in den Büchern. Diese Leute kommen nicht aus dem Nichts. Sie dürfen nicht ewig warten. Nehmen Sie sich das Leben eines Anderen und machen es besonders. Dann wird das selbe mit Ihrem geschehen“

Er prostete ihr zu.

„So poetisch, heute...“, lächelte sie versonnen.

„Nicht poetisch, Polly. Ehrlich“, erwiderte er. „Denn der Punkt ist, dass Sie mitgekommen sind. Und das ist das, was Sie besonders macht. Das hätte niemand getan. Weil alle zu viel Respekt vor dieser Grenze haben. Aber Sie...“ Er zog seine Beine aus den Streben der Brüstung und rutschte näher an sie heran. Seine Augen waren ihren nun unglaublich nah. „...Sie kennen die Menschen, Polly. Und deshalb hatten Sie keine Angst. Sie kennen die Menschen, weil Sie verletzt worden sind. Sie haben keine Angst mehr vor ihnen. Weil Sie sie alle kennen. Die schlimmsten der schlimmsten. Sie wissen, wozu Menschen im Stande sind. Und deshalb haben Sie die Furcht verloren.“

Sie war nicht mehr überrascht. Sein Blick im Zug hatte viel zu viel von dem ausgesprochen, was sie verheimlicht hatte und so hatte sie nur darauf gewartet, dass er es aussprach. Und deshalb nickte sie. Wie damals, ganz am Anfang. Sie kannte die Menschen. Und deshalb hatte sie keine Angst mehr vor ihnen.

Eine Weile sahen sie sich nur an.

Und dann fragte sie: „Denken Sie, unser Geld reicht für ein Skateboard?“

 

**

XXVI

 

Sie roch das Meer, lange, bevor sie es sah. Es lag in der Luft. Im Wind, der an ihren Haaren und der Jacke zog, in ihrem Herzen, das schneller schlug, als jemals zuvor, im lauten Brummen der Skateboardrollen unter ihren Füßen, in dem Vibrieren der Straße, das ihren ganzen Körper durchdrang und in seinen Freudenschreien, als sie Seite an Seite die ewige, leere Landstraße hinunter schossen.

„Ich hab's mir anders überlegt, Polly“, schrie er gegen den Fahrtwind, „Ich wünsche mir doch die Flügel!“

Sie waren schnell, so atemberaubend schnell, dass alles in ihr danach schrie, abzuspringen. Aber nicht nur, dass das nicht ging, nein – da war dieser andere, neue Teil in ihr, der nach mehr verlangte. Der, der ihre Stimme gegen den Wind ankämpfen ließ und der, der ihren linken Fuß immer wieder zum Beschleunigen brachte. Der Regenschirm in ihren Händen war geschlossen, aber sie war sich sicher, wenn sie ihn geöffnete hätte, wäre sie einfach weggeflogen, wie Mary Poppins.

„Riechen Sie das, Polly?“

Als sie sich umdrehte, hatte er die Arme ausgebreitet und der Mantel umhüllte ihn wie eine gewaltige Schwinge.

„Riechen Sie das Meer?“

Der Wind und das Salz stachen ihr Tränen in die Augen und vielleicht half ihr Glück ein wenig nach, als sie weinend nickte. Es war so schön. So perfekt, in diesem Moment. So sollte es immer sein.

„Ich liebe diesen Geburtstag!“, jubelte er und gab sich erneut Schwung. Im Sturzflug schoss er an ihr vorbei, den Abhang hinunter, der sich vor ihr auftat.

Was, wenn ein Auto kommt?, schoss es ihr durch den Kopf. Aber sie hörte nicht auf den Einwand. Dazu fühlte sich das hier viel zu gut an. Und so flog sie ihm hinterher, den Berg hinunter und wieder hinauf und plötzlich war es da: Das Meer.

Es kam so unerwartet und erschlug sie mit so einer Macht, dass sie für ein paar Momente vergaß, zu atmen. Das Board verkantete sich und die Welt wurde aus ihren Angeln gehoben. Sie schlug hart im Gras auf, drehte sich ein paar Mal, schmeckte den Geschmack von Erde auf ihrer Zunge und blieb schließlich liegen, mit stechendem Schmerz in Ellbogen und Nase. Blut rann ihr in den Mund.

Und sie lachte. So laut, und so erleichtert, dass sie den Mann, der panisch und besorgt zu ihr sprintete, sofort ansteckte. Das Meer. Es hatte eine so magische Wirkung, mit seinen Wellen und Möwen und dem Salz in der Luft, dass ihr Herz einen Überschlag machte.

Er war nicht mehr der perfekte Moment von vorhin, mit all dem Brennen und dem Blut, aber sie genoss, dass der letzte vorbei war und nun ein neuer gefolgt war.

„Oh Polly“, lachte er, „Wir sind da...“

Und dann war da wieder die furchtbar plärrende Musik und das halb kaputte Radio, ihr Schirm, der verlassen im Gras lag und er, mit seinen Armen. Das Gras des Deiches unter ihr roch besser und saftiger als je zu vor und die Wellen, die sich am Ufer brachen und ihr zubrüllten, klangen wie Applaus in ihren Ohren wieder.

Sie kannten weder Takt, noch Ordnung, in diesem Moment. Ein bisschen herum springen, ein bisschen drehen, ein bisschen Lachen und schwungvoll umher wirbeln – es war alles, was sie bisher getan hatten, vereint in einem einzigen Tanz.

„Wir haben es geschafft“, lachte er immer wieder, „Wir haben es geschafft, Polly“

Ein Lächeln nahm von ihrem Gesicht Besitz. Und sie wollte nie mehr aufhören. Liebe war ein so großes Wort. Aber in dieser Sekunde kamen sie nah daran heran.

Und irgendwann, als die Musik verstummt, die Sonne im Meer versunken war und ihr Atem sie verlassen hatte, liefen sie durch das Gras bis sie zu der steilen Küste kamen, an der sich, Meter unter ihnen, die Wellen aneinander brachen und sich fraßen, laut und brüllend. In der Ferne wog sich das ewige Blau im Licht der Abendsonne und begrüßte sie, wie ein alter Bekannter.

Sie hatte das Meer so sehr vermisst. All die Zeit, obwohl sie es nie gesehen hatte.

„Oh Polly“

Sie lachte ein Tränen erfülltes Lachen und er fing sie auf, als sie zu Boden ging, legte sich neben sie und starrte in den dunklen Himmel, an dem langsam die Sterne aufzogen. Für eine Weile war da nichts, außer den funkelnden Kristallen über ihnen und die gewaltigen Wellen unter ihnen. Sie lachten. Seine Finger zwischen ihren. Pures Adrenalin. Die kalte Nachtluft beruhigte ihren Atem und bald wurde es still. Nichts war zu hören, außer dem Schreien der letzten Möwen.

Es war vorbei.

Mit einem Schlag wurde ihr das bewusst.

Ihre Reise war vorbei.

„Wir sind am Ziel“, flüsterte sie und obwohl sie es nicht wollte, hörte er sie.

„Ja“, murmelte er, „Wir sind am Ziel...“

Die Erkenntnis stand ihnen vor Augen wie ein Monster, dass sich leise angeschlichen hatte und nun mit voller Kraft zubiss.

Es konnte nicht ewig so bleiben. Und das wussten sie beide. Er würde weiterziehen. Er würde dahin gehen, wohin es ihn leitete. Für ein paar Sekunden blieb sie noch liegen, versuchte, den Moment so zu halten, wie er war, aber im nächsten Augenblick war er aufgestanden und tigerte in der Dunkelheit umher wie ein unruhiges Tier. Er wollte sie verlassen. Sie wusste nicht warum, oder warum genau jetzt, aber sie las es aus seinen Augen, als sie sich langsam erhob und versuchte, seinen Blick einzufangen.

„Bitte...“, versuchte sie, etwas zu sagen, aber er unterbrach sie.

„Ssssh“, machte er und stand plötzlich genau vor ihr. Sie mit dem Rücken zum Meer. Der Mond schien bleich gegen sein Antlitz. „Polly...“

Sie sah genau, wie er mit sich kämpfte. „Schließen Sie die Augen“

„Nein.“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein.“

„Schließen Sie. Die Augen.“, wiederholte er eindringlicher, während aus seinem Gesicht der blanke Schmerz sprach.

„Warum?“, fragte sie verzweifelt. „Warum? Warum gerade jetzt?“

Er entspannte sich, seufzte und griff nach ihren Händen.

„Wissen Sie was, Polly? Die selbstlosesten Menschen sind die, die Versprechen geben. Die, die dem Zufall und der Unberechenbarkeit ins Gesicht lachen und ihnen einen Ausgang geben. Ein Ziel. Einen Fixpunkt.

Die Menschen, die es auf sich nehmen, die Schuld zu tragen, wenn es das große, weite Universum anders mit uns meint, die, die Hoffnung schenken, obwohl es keine gibt, Hoffnung aus dem Nichts schaffen, mit einem einzigen Wort.

Versprochen.

Wissen Sie, was das heißt, Polly? Das Unmögliche. Das einzigartige Können, so zu tun, als wüssten Sie, was geschieht, mit der Welt, mit uns, mit Ihnen und mit mir. Für ein paar Sekunden stellen Sie sich in das Chaos und beherrschen es, Sie, ganz allein und selbst wenn Sie selbst nicht wissen, wohin, warum oder für wen, tragen sie für ein paar Momente das Konstrukt von Allem.

Aber es kann zusammen brechen. Und wenn es zusammenbricht, stürzt es auf sie. All die Verantwortung, das Risiko, sich über das Chaos zu stellen und falsch zu liegen, könnte sie begraben. Aber das ist Ihnen egal.

Und deshalb bedeutet dieses Wort so viel. Versprochen.

Und deshalb werden Sie Ihre Augen schließen. Sie werden sie schließen und bis drei zählen, ganz wie ich es gesagt habe.“

Tränen sickerten durch seine Stimme.

„Und dann... wird es da keine Last, keine Schuld, keine Verantwortung mehr geben. Sie werden gehen. Mit mir.“

Sie schüttelte den Kopf. Ein kläglicher Versuch, das Chaos in ihr zu ordnen, aus dem am Ende nur eine Tatsache hervor ging:

„Ich liebe Sie“

Der Wind strich ihr die Worte sanft von den Lippen und trug sie salzig in ihre Augen.

„Ich weiß“, antwortete er und vergrub die Nase in ihrem Haar, während seine Augen weit entfernt nach etwas suchen, das nicht sie war. „Ich weiß.“

Er musste nichts antworten. Seine zitternden Finger, die ihr Gesicht berührten, als wäre es kostbares, zerbrechliches Glas sagten so viel mehr als die drei abgenutzten Worte, die ihren alten Zauber ewig bargen. Seine Berührungen waren Sehnsucht. Reine Sehnsucht.

„Oh, Polly“, flüsterte er, nahm ihr Gesicht in beide Hände und strich ihre Tränen weg, egal, wie viele folgten. „Oh Polly...“

Er wollte so viel. Er wollte so viel sehen, so viel erfahren, so vieles spüren und kosten. Seine Energie brannte auf ihrer Haut, sein Wille gab ihr neuen Atem, aber als er begann, sich langsam mit ihr zu drehen, kaum merklich und sie ansah, mit diesen glitzernden, faszinierten Augen, wusste sie, dass es nicht ging.

„Kommen Sie mit mir“, flüsterte er und lachte so sehr, dass die Tränen noch mehr wurden. „Verdammt, Polly, kommen Sie mit mir.“

Sie drehten sich weiter. Kein Lied. Kein Gesang. Nur ihre eigenen, klopfenden Herzen, die mehr von dem wollten, was begonnen hatte.

Sie küsste ihn.

Einmal.

Zweimal.

Öfter.

Er wollte sie verlassen, um sie zu entlasten, aber er konnte es nicht. Liebe. Es war so ein großes Wort und es passte perfekt.

„Polly...“ Er liebte ihren Namen. Ihr Haar. Ihre Haut. Ihren Duft. Er küsste sie und liebte sie und alles hätte so perfekt sein können, in seinem Arm, ohne Boden unter den Füßen und Luft im Herzen. Sie liebte ihn. Und er hatte ihr die Welt gezeigt. Aber er hatte sich Flügel gewünscht.

Sie blieben stehen, nun stand er mit dem Rücken zum tosenden Meer.

Er wollte fliegen, er wollte sehen und fühlen und schmecken und nie zur Ruhe kommen und er wollte, dass sie genau so war. Aber irgendwann würde dieser Zeitpunkt kommen, an dem sie landen wollen würde. Und dann wären sie alt und zu lange zusammen um auseinander zu gehen und er würde mit ihr landen, aus Liebe.

„Ich würde Sie umbringen“, lächelte sie verzweifelt, als sie sich voneinander lösten. „Irgendwann würde ich Sie umbringen. Und das will ich nicht.“

„Polly...“ Seine Worte versuchten, ihr Herz festzuhalten und sie waren gut, zu gut, doch sie war bereits lange fort. „Bleiben Sie, bitte...“

Er ist so allein in der Welt, riefen seine Augen. Lass das nicht zu.

Sie schluckte. Nahm einen letzten Atemzug von seinen Lippen. Legte ihre Hände an seine Wangen.

„Schließen Sie ihre Augen“, flüsterte sie mit bebender Stimme.

Er schüttelte den Kopf. „Polly“

Sie hielt ihn fest. „Schließen Sie die Augen“, wiederholte sie.

Ein letztes Mal starrte er sie an, mit seinen Augen, die so besonders waren, dass sie sich nicht mehr an ihre Farbe erinnern konnte und dann schloss er sie.

„Zählen Sie bis drei“, hauchte sie in sein Ohr. „Dann werde ich fort sein.“

Sein Atem brachte ihn zum Zittern.

„Aber ich will, dass Sie die Welt sehen, wenn Sie die Augen wieder öffnen“, fuhr sie fort und starrte auf das Meer, das wunderschöne, vollkommene Meer. „Denn die Welt liebt sie.“

Sie roch den Wind in seinen Kleidern. Die Freiheit.

„Die Welt liebt Sie. Und Sie lieben die Welt. Ich will, dass Sie da rausgehen und glücklich sind, verstanden?“

Woher kamen bloß all die Tränen?

„Denn das ist es, was Sie tun. Sie tanzen im Regen. Sie sind der Mann, der im Regen tanzt. Sie sind glücklich. Ich gebe Sie frei.“

Sie küsste ihn. Ein letztes Mal. Strich durch seine Haare. Roch den Wind.

„Vergessen Sie mich nicht“, flüsterte er.

„Werd ich nicht.“

„Versprochen?“

Die selbstlosesten Menschen sind die, die versprechen.'

Da war kein Risiko zu tragen. Sie beherrschte das Chaos, für ein paar Sekunden lachte sie der Unwahrscheinlichkeit ins Gesicht.

„Versprochen“

Er öffnete seine Augen nicht.

„Zählen Sie bis drei“, murmelte sie erneut.

Musterte ihn ein letztes Mal, wie er da stand.

Hinter ihm das Meer.

Vor ihm die Welt.

Er war der Mann, der mit ihr im Regen getanzt hatte. Der mit ihr glücklich gewesen war.

Der Wind bauschte seinen Mantel auf wie ein paar braune Flügel. Er hatte sie längst.

Er zählte.

Eins.

Zwei.

Drei.

Sie rannte.

Und als er die Augen öffnete, war sie fort.

 

**

XXVII

 

Sie fanden niemals heraus, dass es eine Verbindung gab, zwischen ihren Fällen.

Das Mädchen, das plötzlich verschwand und der Mann, der vergessen hatte und fortlief.

Sie fanden niemals heraus, dass für ein paar Wochen eine Verbindung bestand, zwischen diesen beiden, ungewöhnlichen Leben und sie fanden niemals heraus, dass diese Verbindung niemals aufhörte.

Er war fort. Genau wie sie.

Ihre gemeinsamen Tage wurden zu einer Geschichte. Und sie wurde erzählt.

Sie wusste nicht, woher der Brief kam, den sie viele, viele Jahre später in ihrem Briefkasten fand. Vielleicht lag es daran, dass sie seine Handschrift so lange nicht mehr gesehen hatte. Er war glücklich gewesen. Zumindest war das ihre Überzeugung, als sie da stand, den Brief in ihren Händen, im Hintergrund der Lärm ihrer Enkelkinder im Garten. Er war glücklich gewesen. Genau wie sie.

 

Ich bin geflogen, Polly. Mein ganzes Leben lang. 

 

 

Es waren viele Worte, sauber geschrieben und obwohl sie sofort, wusste, dass es seine letzten gewesen waren, liebte sie sie mehr als alles Andere. Weil er sie nicht vergessen hatte. Sie las den Brief einmal, zweimal, öfter, vom ersten bis zum letzten Buchstaben. Da war seine Unterschrift.

 

Ein letztes Mal, Polly.

Für jetzt.

Für immer.

Ihr Mann, der im Regen tanzte.

 

Sie stand da, im Regen. Wusste nicht, wie sie auf den Platz gekommen war, an dem alles begonnen hatte. Tropfen rieselten in ihr Gesicht und vermischten sich mit ihren Tränen, die ihre alten Augen längst rot gemacht hatten. Sie war alt geworden. Aber nun war er für immer fort und die Sterne riefen sie noch immer, nachts.

Sie können nicht ewig warten, Polly.

Sie stand da. Die Hände in den Taschen. Und ihr Blick erfasste einen Mann, im selben Alter. Er stach aus der Menge heraus, denn als einziger lächelte er.

Ihre Blicke trafen sich.

Sie lächelte.

„Hallo!“

Er sah sie verwundert an. Tausend Fragen geisterten durch sein Gesicht, so wie damals durch ihres. Sie würden nach ihr suchen. Und vielleicht würde sie wieder kommen, eines Tages. Sie könnte. Aber nur, wenn sie wollte.

„Hallo“, wiederholte sie, „würden Sie mit mir tanzen?“

 

The End.

Danke

 Danke allen, die bis hierher gelesen haben.

 

Danke Johanna, für deine Ideen. Für deine Fantasie, was man mit dem Leben alles anfangen könnte.

 

Danke Someknights für deine Rückmeldungen, die mich immer angetrieben und bis hierher gebracht haben.

 

Danke Madness, Danke Electric Light Orchestra, Danke Mika, Danke Kitty Kallen, für das Schreiben der Songs, die meine Inspiration waren.

 

Danke Leben, dafür, dass du so wunderbar skurril bist. 

 

~

 

Hör auf, zu warten.

Spring über den Zaun und lebe wild und gefährlich.

Genau jetzt.

Impressum

Bildmaterialien: Selbstgemacht, mit Gießkanne und Regenschirm! Danke an LeCoon für die Hilfe :D
Tag der Veröffentlichung: 14.06.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Mary Poppins, Gandalf und all die anderen Helden, die aufgehört haben, zu warten.

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