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Regen

1. Kapitel Regen

 

Egal was mir jemals passiert war, der Regen war schon immer da gewesen. Kalte, eisige Pfeile, die aus dem Himmel schossen und sich an mir brachen, zischende Geschosse, die die Kälte in meine Glieder schickten und es unmöglich machten, sich irgendwo Zuhause zu fühlen.

Tropfen fielen von meiner Kapuze, als ich mich bückte und Wasser schwemmte in meine Stiefel, so dass sie die Schächte in Seen verwandelten. Regen. Ich kannte ihn schon immer, er war eine fester Bestandteil meines Lebens, ich war mit ihm aufgewachsen und ich hatte ihn schon immer gehasst.

Meine Finger waren bereits wieder kalt und blau, trotz der fingerlosen Handschuhe, die wenigstens meine Handrücken ein bisschen warm hielten. Tropfen rieselten mir in den Kragen und ließen mich erschauern, trotzdem stand ich nicht auf. Wenn ich meine Arbeit nicht ordentlich machte, würde das böse ausgehen. Da waren Fußspuren im Matsch, kleine Vertiefungen. Mit eingeübten Blicken kontrollierte ich ihre Form und die Tiefe der Abdrücke. Keine Höheren... Erleichtert schickte ich einen Blick in das dunkle Unterholz. Heute ließen sie sich nicht blicken... noch nicht.

Ich besah mir die Spuren erneut und stellte fest, dass der Schwarzelch, von dem die Spuren stammten, erst vor kurzem hier gewesen war. Schnell schnappte ich mir meinen Bogen und folgte ihnen möglichst leichtfüßig. Die Dunkelheit legte sich wie ein Umhang um meine Schultern, verbarg mich vor Blicken und schützte mich vor Raubtieren, die in der Nacht schnell leichtsinnig wurden.

'Du musst ein Teil des Waldes sein, Rain. Du musst ihn atmen hören und dich der Lautlosigkeit anpassen, bis man dich nicht mehr von den Tropfen unterscheiden kann'. Stimmen meiner Kindheit, verschwommene Erinnerungen an Tage, an denen ich langsam begriffen hatte, dass dieses Leben eine grausame Treibjagd ohne Sinn und Zweck war.

Der Bogen schmiegte sich eng an meine Hand. Ja, jetzt war ich der Jäger, derjenige, der die Beute überwältigte, doch in der Realität sah das völlig anders aus. Höhere... alleine bei dem Gedanken verzog ich angewidert das Gesicht.

Der Schwarzelch graste am Rande einer Lichtung. Seine mächtigen, buschigen Ohren zuckten unruhig Hin und Her, doch er hörte mich nicht. Vorsichtig huschte ich von Baum zu Baum, darauf bedacht, die Rinde nicht zu berühren. Manchmal verbargen sich Rindenfären unter dem Holz und die bissen leicht einmal zu und auch die Baumgeister, die in diesen Wäldern wild und unberechenbar waren, sahen es nicht gerne, wenn man sich an ihre Bäume schmiegte.

Als ich meine ideale Schussweite erreicht und einen Pfeil eingelegt hatte, lächelte ich siegesgewiss. Heute Nacht würde ich sicher eine gute Mahlzeit haben und noch dazu das Geweih eines Schwarzelchs- Feuerholz, das bei einer der seltenen Regenpausen vielleicht sogar rauchfrei brennen würde. Ich spannte die Sehne an und im nächsten Augenblick surrte ein Pfeil durch die Nacht und bohrte sich in die Brust des Elches. Nur leider war es nicht meiner, denn dieser traf zwei Sekunden später in den Kopf des Tieres.

Schnell fuhr ich herum und sprang hinter einen Baum. Keine Sekunde zu früh: Ein zweiter Pfeil bohrte sich dumpf in das Holz des Stammes. Standhaft ignorierte ich meinen anschwellenden Herzschlag und huschte mit nachgeladenem Bogen hinter einen Busch, um von dort nach dem Schützen zu spähen. Der Elch war nun nebensächlich, ich konzentrierte mich einzig und allein auf den anderen Jäger.

Ein weiterer Pfeil schlug neben mir ein, doch diesmal war ich schneller. Ein gurgelndes Geräusch drang hinter dem bemoosten Baumstamm zehn Meter weiter -ich hatte getroffen.

Langsam näherte ich mich dem Baumstamm, doch meinen Bogen ließ ich gespannt. Die Blauen waren Meister darin, sich zu verstellen und in mir dominierte immer noch das Misstrauen, das ich nie verlieren würde.

Als ich mit einem lautlosen Sprung hinter den Baum setzte, war das Leben bereits aus dem Gesicht des Mannes gewichen und ich konnte nichts mehr tun, als meinen Pfeil aus seiner Kehle zu ziehen und ihm die Augen zu schließen. Sicher tat ich das nicht gerne, aber er hätte mich eben so gnadenlos getötet, wäre ich nicht den Pfeilen ausgewichen.

Er war jung gewesen. Ich kannte den Jäger nicht, doch er schien zu den Schwarzen gehören, denn auf seinem Gesicht thronte eine nachtfarbene Kappe, die seine auffällig blonden Haare verbarg.

Mit einem schnellen Griff überprüfte ich, ob das rote Tuch um mein Bein noch unter dem Stiefelschacht saß. Die anderen Stämme hausten zwar in einem ganz anderen Teil des Waldes, aber ich würde nicht darauf wetten, dass ein vorlauter Grauer sich nicht hierher verirrt hatte und nun nur noch auf der Suche nach einem Indiz war, dass ich zu seinen Feinden gehörte.

Kurz verharrte ich in meiner Position und sah mich um. Finstere Schwärze war alles, was ich sah. Selbst der Himmel barg nichts, außer dunkle, graue Regenwolken, aus denen unerbittlich der Regen prasselte. Der Wald. Für die Höheren ein Fluch, für mich die Hölle. Die Einzigen, die sich hier wirklich wohl zu fühlen schienen, waren die Tiere. Füchse, Elche, Eichhörnchen... und ihr Fell hatte immer die selbe Farbe, wie die Nacht.

'Es gab einmal Zeiten, da waren die Höheren noch keine Höheren und das Leben war gut'.

Egal, wie viel Mühe ich mir gab, ich konnte den Geschichten der Alten einfach keinen Glauben schenken. Es schien mir zu abstrakt, dass da jemals etwas Anderes gewesen war, als Regen und Schatten.

Mein Blick wanderte die dunklen Baumkronen hinauf, bishin zu den schwarzen Skeletten ihrer Äste.

Vielleicht stimmte die Sage ja und der ewige Regen und die dunklen Wesen stammten von diesem Fluch, vielleicht spielte die Natur hier einfach einen Streich. Wer konnte das schon wissen? Ich hatte schon vor Jahren aufgehört, mir über diese Frage Gedanken zu machen und widmete mich einer wichtigeren Sache: Dem Überleben.

Denn auch wenn die Höheren viele unwahren Geschichten über den Wald erzählten, in unserer Barbarei lagen sie vielleicht richtig. Täglich herrschte hier gnadenloser Kampf um Essen und Leben, ein Herz hatte niemand und wenn doch, zeigte es keiner. Liebe existierte schon lange nicht mehr, trotzdem starb unser Volk nicht aus.

Nachdenklich betrachtete ich den toten Schwarzelch. Wenn die Sagen stimmten und man immer wieder kam, dann könnte es gut sein, dass ich gerade einen ehemaligen Stammgefährten getötet hatte. Mit gerunzelter Stirn betrachtete ich die glasigen, braunen Augen und schüttelte entschlossen den Kopf. Nein, auch diesen Humbug glaubte ich nicht. Tot war tot und selbst wenn ich in meinem früheren Leben ein Wolf gewesen war, dann änderte das am Jetzt und Hier auch nichts mehr.

Ich hockte immer noch neben der Leiche des jungen Mannes und mir wurde bewusst, dass es bald tagte. Wenn mich die Grauen oder Blauen erwischen würden, hätten sie keine Gnade, denn immerhin gehörte der Wald am Tag ihnen. Also griff ich den Elch beim Geweih und schleifte ihn durch den halben Wald, zurück zum Lager. Den Pfeil des Schwarzen zog ich zwar aus der Brust des mächtigen Tieres, legte ihn aber neben den ehemaligen Besitzer. Auch, wenn ich es nie verstanden hatte, der Tod schien die einzige, heilige Angelegenheit in diesem Wald zu sein.

Als ich endlich bei den großen, vertrauten Felsen ankam, wechselte der Himmel bereits von einem schwarzgrau in ein hellgrau; ich war gerade noch pünktlich gewesen. Zena stand auf einem großen Vorsprung und nickte mir kurz zu, dann richteten sich ihre Bernsteinaugen wieder in die Ferne. Wenn ich früher ein Wolf gewesen war, dann war Zena eine Raubkatze gewesen. Ein Leopard vielleicht. Die natürliche Anführerin. Sie brauchte keine Zustimmung, die Roten würden ihr immer folgen, bis in den Tod. Aufrecht stand sie wie eine Königin auf dem Vorsprung und musterte die Baumkronen, die in allen möglichen Größen vor ihr standen. Irgendwo in diesem Wirrwarr aus Grün und Schwarz hausten die Grauen, die immer ein Auge auf unser Lager hatten. Ein wenig wehmütig dachte ich an die großen Verluste, die wir beim letzten Kampf hatten einstecken müssen.. Es waren viele gute Leute drauf gegangen, damals.

Ich schleppte den Elch in eine geschützte Ecke und schlitzte ihm das Fell auf, erst müsste er ausbluten, damit ich ihn morgen zubereiten konnte. Zenas Augen verfolgten mich, als ich zu meinem angestammten Schlafplatz stapfte. Er war etwas abseits der Anderen, unter einem kleinen Stein. Ich warf noch einen letzten Blick zu ihr hinauf, dann ließ ich mich in der sichtgeschützten Kuhle nieder. Natürlich war es hier nass und unterkühlt, aber was brauchte ich einen trockenen Schlafplatz, wenn ich Nachts auch nur im Regen stand? Die Kälte kroch unter meine Kleidung und ich war froh, wenigstens ein Fell zu besitzen, dass mich vor dem matschigen Untergrund schützte. Mit schmutzigen Finger löste ich meinen Waffengürtel und legte ihn neben meine Schlafstätte. Als die ersten Lichtfetzen zu mir drangen, war ich bereits eingeschlafen.

 

 

Gnade

2. Kapitel Gnade

 

Ich wurde durch einen Schrei geweckt. Es war weder ein Hilfeschrei, noch ein Schmerzensschrei, nein dieser Schrei war jenes Geräusch, auf das alle Jäger schon seit der Kindheit geprägt waren. Der Ton rief eine Panik in mir aus, die seltsam vertraut war. Sie erinnerte mich an längst vergangene Tage, an denen noch die herrliche kindliche Naivität dominiert hatte und niemals einen bösen Gedanken zu gelassen hatte. Tage, an denen noch nicht jedes Geräusch Tod und jeder Schatten Gefahr bedeutet hatte. Vielleicht wurde es mir zum Verhängnis, so lange zu zögern, vielleicht rettete es mir auch mein Leben. Jedenfalls riss es mich erst aus meinen Gedanken, als erneut der Ton in mein Herz drang und mich erzittern ließ.

Gefahr. Gefahr.

Der Ton war ein wenig wie eine Witterung für ein Tier, für mich bedeutete er jedenfalls nur eines.

Gefahr.

Endlich reagierte ich und sprang auf die Füße, warf mir meine Kapuze über und sprang nach draußen. Für meine Verhältnisse gleißendes Licht blendete meine Sicht und ich brauchte kurze Zeit, um zu verstehen, was das bedeutete. Die Feinde griffen bei Tag an.

Auch wenn die Höheren uns für primitiv hielten, gab es nur wenige Regeln, die diesen Wald beherrschten. Eine davon, wahrscheinlich sogar eine der wichtigsten: Stämme griffen nur bei Dämmerung oder Morgengrauen an, wenn beide Seiten gleich Chancen hatten!

Kurz fürchtete ich, die Höheren würden angreifen, doch dann sah ich die grauen Stofffetzen, die man vielleicht irrtümlich als Fahnen bezeichnen könnte. Schnell schirmte ich mir die Augen mit meiner Hand ab und erklomm den größten Felsen, auf dem bereits der Rest meines Stammes stand.

Zena schrie immer noch, bis alle versammelt waren. Ich stellte mich neben Olon, einen sehr großen Jäger, mit dem ich mich einigermaßen verstand.

„Wieso greifen sie bei Tag an?“, fragte ich empört und blinzelte. Natürlich regnete es immer noch, doch die Umgebung war so hell, dass ich dachte, erblinden zu müssen. Tagsüber war der Wald ein Anderer- nicht mein Territorium, sondern ein fremdes Gelände.

Olon knurrte zur Antwort und ballte seine Fäuste, so dass seine Fingerknöchel weiß hervor traten. An seiner Seite ruhte eine Axt, sein ganzer Stolz. Zena verstummte und drehte sich zu uns um.

„Keiner rührt sich, bis ich ein Zeichen gebe“. In ihren Augen blitzte purer Hass und ihre schwarzen, kurzen Haare sahen selbst im Regen wild und voluminös aus. Ihre dunkelbraune Haut sah bei Tag viel seltsamer aus als bei Nacht; im Dunkel wirkte sie dadurch wunderschön, bei Tage allerdings war nur offensichtlich, dass sie nicht ins Licht gehörte.

Mein Stamm stand ganz still, keiner rührte sich und nichts war zuhören außer das durchgehende Platschen der Regentropfen.

Dann traten die Grauen aus dem Wald, vorneweg Anlar, ein sehr breiter Krieger und Anführer der Grauen. Er hielt ein Schwert in der Hand, was mich erstaunte. Gute Klingen bekam man kaum, aus dem Wald und selbst mein selbst geschnitzter Bogen war eine Seltenheit.

„Anlar!“, rief Zena aufgebracht. „Was macht ihr zu dieser Zeit in unseren Weiten?“

Anlar sah zu Zena auf, die mit dem Rücken zur Sonne stand und ich wunderte mich, dass er nicht einmal blinzeln musste.

„Zena, wir konfiszieren euer Territorium. Wollt ihr euch wehren?!“

Ich schnaubte. Diese Frage war so überflüssig gewesen, als wenn man einen Hasen fragen würde, ob er kurz still hielt, damit man ihn erschießen könne.

„Ich berufe mich auf die Regeln der Verfluchten! Kommt in der Dämmerung wieder, dann sind wir bereit, zu verhandeln!“, erwiderte Zena erstaunlich ruhig, obwohl ich sah, wie sich ihre Wut in ihr aufstaute.

„Die Regeln der Verfluchten sind uns egal“, zischte Anlar und spuckte aus.

Olon fluchte und trat nach vorne, doch ich legte meine Hand auf seine Brust und schob ihn schweigend zurück. Zena würde wissen, was sie tat.

Auch Zena registrierte Anlars Zeichen der Verachtung missbilligend und strafte Anlar mit einem bösen Blick. „Anlar, ich bitte dich. Wir sind nicht auf Kampf aus, aber ihr lasst uns so keine andere Wahl!“

„Glaub mir, wenn wir keinen Kampf wollten, wären wir nicht hier!“. Zena musterte Anlar lange, dann meinte sie: „In Ordnung, ich kann nichts gegen diesen Kampf tun, aber ihr müsst mir eines versprechen!“

Anlar neigte den Kopf und seine schwarzen Augen funkelten wild in der Sonne, während seine dunklen Haare nass an seiner Schläfe klebten.

„Was ist es, Zena?“

„Wenn wir uns auf diese Kampf einlassen und ihn verlieren, müsst ihr einen unversehrt lassen“

Ich sah überrascht auf. Das war eine neue Forderung...

„Und wer ist das?“, fragte Anlar. In seinem Gesicht spiegelte sich die selbe Überraschung, die mich auch ereilte.

„Rain“

Ich brauchte ein paar Momente, um zu verstehen, dass es mein Name war. Er hörte sich so fremd an, wenn Zena ihn aussprach und mir wurde unwillkürlich bewusst, wie selten ich ihn hörte. Rain. Der Name klang nach Schlamm und Abscheu, nach Regen und Verderben. Und trotzdem sprach sie ihn aus, als wäre er kostbar, ein Geschenk. Oder war es vielleicht nicht nur der Name, sondern... ich selbst? Alle Blicke lagen auf mir und ich musste mir Mühe geben, nicht zu zeigen, wie entsetzt ich über ihre Worte war. Wieso ausgerechnet ich? Ein paar geheime Schriften, die ich in jungen Jahren auswendig gelernt hatte, ein paar Worte mit ihr, wegen der Organisation der Jagsbestände, mehr hatte ich niemals mit ihr zutun gehabt und jetzt? Die Sicherheit meines Stammes gegen mich.

All diese Gedanken verbarg ich hinter der ausdruckslosen Maske, an der ich so lange trainiert hatte. Inzwischen gelang es mir, beinahe all meine Regungen hinter ihr zu verstecken und es wirkte. Keiner sagte ein Wort und alle wandten sich wieder nach vorne, zu Zena, die das gefühllose Dreinblicken nicht so gut beherrschte wie ich. Sie wurde erst blass, dann rot, dann zornig.

„Seht mich nicht so an“, zischte sie und sah zu Anlar. Dieser nickte langsam.

„In Ordnung, wir werden ihn nicht töten“. Seine schwarzen Augen musterten mich langsam von oben bis unten und ich fühlte mich höchst unwohl in meiner Haut. Erleichterung. Misstrauen. Ich wusste nicht ganz, was ich fühlen sollte. Ratlosigkeit, das war es wohl, was mein Inneres am Besten beschrieb.

Mit einem Schlag wurde ich wieder ins Hier und Jetzt geholt. Ein Schrei. Das Klirren von Waffen. Neben mir ging jemand zu Boden. Blut. Überall Blut. Der Regen weichte die rote Flüssigkeit auf Olons Brust auf und verwandelte die Pfütze in einen See, der sich rasend schnell über meine Füße ergoss. Wie paralysiert starrte ich meinen Stammgefährten an, doch der regte sich bereits nicht mehr.

Der Regen prasselte unerbittlich auf mich und die Leiche neben mir ein. Olon war tot. Und er war nicht der Einzige.

Pax. Bolg. Emie. Yra. Krea.

Sie alle lagen da, ihr Blut vermischt mit dem von Olon, starre Augen, verkrampfte Glieder. Tot.

Mir wurde schlecht.

Wo war mein Kampfgeist? Mein Überlebenswille? Mein Stolz?

Der Lärm um mich herum vermischte sich zu einem ekeligen, monotonen Kreischen, der Geruch nach Blut und Tod rief einen Würgreiz in mir hervor. Und dann endlich brachte ich es fertig, meinen Bogen zu schnappen und zu schießen, immer und immer wieder. Kämpfen. Wie ein Wolf.

Zena stand noch, beharrlich wie sie war, genau wie zwei junge, unerfahrene Kämpfer, die sich Seite an Seite verteidigten und eine Gruppe alter kampferprobter Krieger, der sich in dem Tanz aus Messern und Pfeilen wunderbar ergänzten. Ich hastete an Zenas Seite und verteidigte sie so gut wie es eben ging.

Mir lagen so viele Fragen auf der Zunge, doch ich kam nicht dazu, ihr auch nur eine davon zuzuschreien.

Ich tat wirklich mein Bestes, doch die Sonne blendete mich erbarmungslos und immer wieder konnte ich Zena nur im letzten Moment vor einem Angriff bewahren. Mir war klar, dass die Grauen ihr Versprechen brechen würden, sobald Zena tot war, und nicht nur deswegen verteidigte ich sie mit all meinen Kräften. Die beiden jungen Krieger waren bereits geflohen und immerhin war ich mir versichert, dass die Roten nicht ausgelöscht würden, zumindest nicht an diesem Tag.

Die Alten wurden immer mehr zurück gedrängt und so fanden wir uns in einem Grüppchen wieder, Rücken an Rücken, Waffe an Waffe. Die Grauen hielten kurz inne und so spürte ich nur das keuchende Atmen meiner Stammkameraden und die Regentropfen, die mir den Nacken hinunter liefen.

„Ergebt ihr euch? Wir lassen euch laufen, wenn ihr uns euer Territorium überlasst!“, knurrte Anlar und hob sein Schwert.

Ich warf einen Blick nach links, zu Kranor, und einen Blick nach Rechts, zu Zena. Kranor, dessen grauer Bart an seinem Kinn klebte, brummte entschlossen: „Niemals. Ich werde kämpfen, bis zum Schluss“

Ich teilte seine Entschlossenheit nicht ganz so sehr, immerhin lag mir doch ein bisschen was an unserer Anführerin... Aber auch Zena schüttelte den Kopf.

„Lauft, wenn ihr wollt, aber ich werde hier stehen bleiben“, rief sie entschlossen.

Dabei funkelte sie zwei Krieger an und die nickten. Blitzschnell schmissen sie sich durch die Reihen der Grauen und noch bevor irgendwer reagieren konnte, waren drei Graue niedergeschlagen und die Alten im Wald verschwunden. Natürlich, die beiden Jungen bräuchten Unterstützung, wenn sie die Roten bewahren wollten. Nun standen nur noch Zena, Kranor, Efian und ich vor den riesigen Felsen, die ich wohl als mein Zuhause bezeichnen würde.

„Wieso ich?“, zischte ich Zena zu, froh, endlich einen Moment gefunden zu haben, um mir ihr zu reden. Ob er nun passend war oder nicht, war mir ziemlich egal.

„Du wirst es noch früh genug erfahren, Lyen“. Ich übersah, dass sie mich beim falschen Namen nannte und erwiderte: „du weißt, dass sie ihr Versprechen brechen werden, sobald du tot bist!“

„Werden sie nicht“, entgegnete Zena und sprang mit einem Kampfschrei nach vorne.

Und sie kämpfte. Wie eine Löwin.

Doch der Kampf war ein Kampf ohne Sieg, das wusste sie genau so gut wie ich. Und die Grauen wussten es auch.

Es dauerte nicht lange, kaum ein paar Sekunden, bis sie zu Boden ging. Ich wollte ihr helfen, doch meine Finger waren wie erfroren. Und da kniete sie, die wilde Zena, die Hände ungläubig an ihren Bauch gepresst, als könne sie nicht begreifen, dass es vorbei war. Anlar drehte sich zu uns Verbliebenen um, Efian und Kranor flohen. Ich hätte auch fliehen können, doch Zenas Tränen verschwommener Blick fesselte mich stärker als ein Seil es hätte tun können.

Rache. Vielleicht würde das gegen den Schmerz in meiner Brust helfen. Doch die Pfeile waren leer und als ich nach meinem Messer greifen wollte, fassten meine Finger ins Leere. Der Waffengürtel lag noch in meiner Schlafkuhle.

Mein Bogen fiel mit einem hohlen Scheppern zu Boden, meine Füße fanden den Weg alleine zu meiner keuchenden Anführerin. Die Grauen ließen mich durch, kein Versuch mich aufzuhalten, kein Fluch. Ich rechnete ihnen das hoch an.

„Zena“, flüsterte ich und stützte sie im Rücken. „Kannst du mich hören?“

„Ich... ich sehe dich...“, krächzte Zena. Sie schien abwesend, fast verwirrt, als ihre Hände sich in meinen Kragen krallten. „Lyen...“

Das war nicht mein Name. Lyen klang weicher, angenehmer als Rain, fast schon zart.

„Zena...“.

Ich wollte etwas sagen, doch mir fiel nichts ein. Von all den Fragen, die sich in mir aufstauten, wollte keine geeignet erscheinen, um die Letzte zu sein.

„Gib... gib dir Mühe, Rain“

Dann erschlaffte ihr Körper und sie ließ nichts zurück, als den Nachgeschmack meines eigenen Namens. Rain. Nicht Lyen. Rain.

Ich hielt Zenas Leiche im Arm und starrte zu Boden, meine Kapuze ließ ich über gezogen. Vielleicht wegen der Sonne, vielleicht auch, weil ich nicht wollte, dass die Grauen meine Trauer sahen. Ich weinte nicht, ich konnte mich nicht einmal daran erinnern, wann ich es das letzte Mal getan hatte, aber ich hatte Sorge, dass ich zu verwirrt war, um die undurchdringliche Maske aufzusetzen. Mein Stamm war ausgelöscht, innerhalb einer halben Stunde und das wirkte so unwirklich, dass ich es immer noch nicht glauben konnte. Oder wollte.

Irgendwann packte mich eine kräftige Hand bei der Schulter und zog mich hoch. Aufrecht und starr stellte ich mich hin, blickte Anlar genau in die Augen, obwohl mich zwei finstere Typen bei den Schultern festhielten.

„So und jetzt zu dir“, knurrte er und zog ein Messer.

„Bringt mich nur um, aber dann müsst ihr damit rechnen, dass euch der Fluch der Brecher bis ans Lebensende verfolgt“, meinte ich und wunderte mich selbst, wie viel Stolz in meiner Stimme mit schwang.

„Keine Sorge. Ich halte meine Versprechen, du wirst nicht sterben“.

Diese Tatsache überraschte mich sosehr, dass ich beinahe zurück gestolpert wäre, wenn da nicht die beiden Typen hinter mir gewesen wären.

Ich räusperte mich. „Darf man erfahren, was ihr dann mit mir vorhabt?“

„Du denkst zu viel, für meine Geschmack“, zischte Anlar.

Darauf folgte ein dumpfer Schlag auf den Hinterkopf und der erdige Geschmack nach Schlamm.

Schweigen

3. Kapitel Schweigen

 

Als ich wieder zu mir kam, spürte ich einen unangenehmen Druck auf meinen Handgelenken und musste feststellen, dass ein dicker Strick darum gewunden war. Mein Kopf hämmerte und ich war gar nicht begeistert von der Tatsache, dass ich völlig Orientierungslos war. Vielleicht wäre es das Beste gewesen, ich hätte mich einfach wieder ohnmächtig gestellt, aber stattdessen fing ich an herum zu brüllen. Anscheinend war der Schlag auf den Kopf doch ein wenig zu heftig gewesen, denn normalerweise hätte ich mich einfach stumm ins Unterholz gestohlen.

„Hey! Hallo! Hört mich niemand?! Euer Gefangener muckt auf, da muss was gegen unternommen werden“.

Wie auf Kommando kamen zwei Graue, zerrte mich hoch und schleiften mich durch die Gegend. Ich fand diese Situation ziemlich amüsant. Ich war der letzte meines Stammes und hockte bei den Grauen... Ironie des Schicksals...

„Hähähähä... Ihr seid grau, ich bin rohoooot“. So dämlich gelacht hatte ich noch nicht einmal, als ich versehentlich die falschen Pilze gegessen hatte... Trotzdem gluckste ich glücklich vor mich hin, als ich vor Anlar gezerrt wurde. Ich sah meine Umgebung nur verschwommen und einzig und allein Anlar stach daraus hervor wie ein Geist.

Das einzige, was ich von dem Gespräch mit ihm in Erinnerung behalten habe, sind das durchgehende Gekicher und die leise und immer bedrohlicher werdende Stimme von Anlar.

Als ich das nächste Mal zu mir kam, sah ich die Welt wieder in normalen Farben und das einzige, was meine Sinne etwas einschränkte, war das scharfe Pochen in meinen Schläfen. Ich sah mich langsam und setzte mich auf, Anlar saß vor mir und fixierte mich mit seinem schwarzen Pupillen.

„Jetzt besser, Bastard?“

Ich schüttelte verwirrt den Kopf und zog meine Hände aus dem Matsch, während die Tropfen munter auf mich einprasselten.

Anscheinend hatten sie mir noch eine verpasst. Ich war ihnen dafür in gewisser Weise dankbar. Trotzdem verzieh ich ihnen nicht, dass sie all meine Freunde getötet hatten. Wenn ich überhaupt etwas wie Freunde hatte.

„Also, jetzt kommen wir zum Reden!“, rief Anlar und ich wurde zum Dritten Mal an diesem Tag auf die Beine gezerrt. Das Sonnenlicht stach erbarmungslos auf mich ein und verursachte ein Wattegefühl in meinem Kopf, zudem hatte ich keine Kapuze auf, was ich allerdings schnell änderte.

„Nun gut. Möchtest du uns irgendetwas sagen?“, fragte Anlar leise und begann, langsam um mich herum zu stolzieren.

Ich schwieg eisig und blieb aufrecht stehen. Kein Wort sollte über meine Lippen kommen, niemals würde ich mit dem Anführer der Mörder meines Stammes sprechen.

„Sicher?“. Anlar blieb direkt neben mir stehen und ich verkrampfte mich am ganzen Körper, als er über mein Ohr streichelte und hauchte: „Oder kannst du mich nur nicht hören?“

Am liebsten hätte ich diesem Mann eine verpasst.

„Sprich!“, befahl er nun barsch und ein wütendes Funkeln trat in seine Augen. „Oder du wirst es bereuen!“

Sie hatten mir versprochen, mich nicht zu töten, was konnte also passieren?

Anlar schien meine Gedanken zu erraten, denn er sagte: „Natürlich... Das Versprechen... Vielleicht wäre es besser gewesen, es nicht zu geben, denn so müssen wir dir leider lebend die Worte herausprügeln“

Ich schluckte, behielt mich aber zusammen. Ich würde nichts sagen, egal was er wollte. Die Geheimnisse, die unser Stamm schon seit Ewigkeiten hütete blieben in meinem Herzen verstaut, für immer!

All die Dinge, die Zena mich gelehrt hatte, all die Schriften und Geheimdaten, die in mein Hirn eingebrannt waren, niemals würden sie sie aus mir heraus bekommen!Aber natürlich hatte Zena mich interessanter gemacht, dadurch, dass sie darauf bestanden hatte, mich am Leben zu lassen.

Also schwieg ich weiterhin und Anlar war nun wirklich zornig, als er wiederholte:

„Sprich! Dein Stamm ist TOT! Euer Wissen wird vernichtet werden, wenn du es nicht weitergibst! Sei nicht dumm...“

Lieber dumm, als verwirkt. Ich schwieg weiterhin und starrte durch Anlar hindurch.

„Bringt ihm zum Reden!!“, nun tobte Anlar regelrecht, er sprang auf und ab und warf die Fäuste in die Höhe. Mir wurde bewusst, wie jung er war, noch jünger als ich. Achtzehn, wenn es hochkam.

Einer der Männer neben mir sprang vor mich und versenkte seine geballte Faust in meiner Magengrube. Er entlockte mir ein unterdrücktes Stöhnen, jedoch keinen einigen Satz, geschweige denn ein Wort.

„Mehr!“.

Die nächsten Schläge prasselten nur so auf mich ein, doch ich hielt stand und schwieg eisern.

„Stopp“, Anlar hob die Hand und die Männer stoppten. „Auf die Knie!“.

Ich? Vor dem Grauen? Niemals! Ich kniff meine Lippen zusammen und blieb stehen, ignorierte das Pochen in meinem Magen. „AUF DIE KNIE!“, brüllte Anlar und jemand trat mir in die Kniekehle, so dass ich aus Rexlex zu Boden sank. Ich wollte wieder aufstehen und kämpfte, aber zwei Mann gegen einen, noch dazu gefesselt, war kein fairer Kampf. So saß ich kurz darauf mit gesenktem Haupt auf dem Erdboden. Mein Gesicht glühte vor Demütigung.

„Also. Jetzt sprich. Sag mir die Geheimnisse deines Volkes... SAG, WARUM DU NICHT STERBEN DARFST!“.

Ich schüttelte den Kopf, trotzig wie ein kleines Kind. Dafür bekam ich prompt ein Knie ins Gesicht gestoßen. Ich biss die Zähne zusammen und versuchte, mich loszureißen, aber die Kerle hielten mich fest im Griff. Keuchend wehrte ich mich gegen die Hände in meinem Gesicht, doch zum Schluss rissen sie mir doch die Kapuze vom Kopf und zwangen mich, hoch zu blicken. Anlar starrte mich an, in seinen Augen sprachen sowohl Wut als auch Faszination.

Ich hasste das Gefühl der Finger in meinem Gesicht und wünschte mir, die Männer hinter mir würden einfach tot umfallen. Bedauerlicherweise taten sie dies jedoch nicht, sondern rammten mir einen Fuß in die Seite, so dass ich gar nicht anders konnte als einen Laut des Schmerzes von mir zu geben.

Anlar lächelte überlegen und seine Pupillen stachen auf mich ein wie Pfeile. Trotzdem kam kein Wort über meine Lippen. Ein Roter brach seine Versprechen nicht, oh nein. Niemals würde ich etwas sagen.

Ich irrte mich.

 

Drei Tage. Drei verdammte Tage saß ich nun in diesem dreckigen Lager, dem verfluchtesten Ort im ganzen Wald! Irgendwie hatte ich anfangs noch gehofft, irgendwer würde mich hier raus holen, aber woher sollten Kranor und die Anderen denn auch wissen, dass die Grauen ausnahmsweise ihre Versprechen gehalten hatten?!

Zitternd hockte ich zusammen gekrümmt in einer Ecke des Lagers, um den Hals einen Strick, der an einem Pfahl befestigt war. Wie Vieh hatten sie mich hier angebunden, im Matsch.

Drei verdammte Nächte. Drei verdammte Tage, die meine Augen immer mehr abstumpften. Meine Lage sah nicht gut aus. Am ganzen Körper übersäht mit blauen Flecken war ich immerhin den Kompromiss eingegangen, mit ihnen zu reden. Natürlich erwähnte ich nie auch nur ein Wort der Geheimnisse, sondern zögerte das Ende nur heraus. Auch nun war ein langer Tag voller Tritte und Brüllen vergangen. Ich hatte lediglich ein wenig Regenwasser getrunken, dass letzte, was mir zwischen die Zähne gekommen war, war ein harter Brocken Brot gewesen, vor eineinhalb Tagen. Aus Verzweiflung zog ich es schon in Erwägung, das spärliche Gras zu essen, das neben dem Pfahl aus der Erde spross, aber so tief war ich dann doch nicht gesunken.

In dieser Nacht saß ich einfach nur da, ließ mir das Haar nass regnen (obwohl es ja schon sowieso nass war) und starrte in den Himmel.

Am Hals angebunden... Mit dem Gedanken, Gras zu fressen, wie ein Tier...

Also ich hatte noch nie etwas gegen Tiere gehabt, aber mich mal wie eins zu fühlen, dass hätte ich auch nicht erwartet. Wehmütig dachte ich an den schönen fetten Schwarzelch zurück, den ich vor wenigen Tagen geschossen hatte und was für ein schönes Abendessen er abgeben würde... Dann rissen mich Schreie aus meinen Gedanken. Ich fuhr hoch und strangulierte mich schmerzhaft an dem Strick. Die Sonne ging gerade auf und ich wunderte mich, wie lange ich hier gesessen hatte.

Die Sonnenstrahlen wanderte langsam über den Boden, auf mich zu und ich zuckte zurück und zog mir die Kapuze ins Gesicht, als mich das Licht erfasste. Zusammen gekauert nahm ich Getrampel und Schreie wahr, so dass ich doch unter dem schützenden Stoff hervor lugte. Da war eine Gruppe Grauer, die zu dritt ins Lager stürmten. Einer wäre fast auf mich drauf gesprungen, was ich mit einem beherzten Wurf nach Rechts noch verhindern konnte, wobei ich mir allerdings erneut den Hals am Seil aufscheuerte.

Die Drei Grauen waren jung, zwei hatten pechschwarzes, einer strohblondes Haar. Alle waren außer Atem und ihnen stand die Hast aufs Gesicht geschrieben. Der Blonde lief mit Pfeil und Bogen in den schlanken Händen und ich war mir sofort sicher, dass er genial zielen konnte.

Die Drei machten erst Halt, als Anlar aus seinem kleinen Zelt, genäht aus Tierhäuten, trat.

„Edris! Rey! Dee! Was treibt euch so sehr, dass ihr nicht einmal eure Etikette beweist und unserem neuen Gefangenen die Ehre erweist? Sieh, Dee, das ist der widerspenstigste Rote, den ich je gesehen habe“. Anlar deutete auf mich und ich funkelte den Blondschopf sosehr an, dass dieser sich sofort wieder zu Anlar drehte. Vielleicht aber auch aus einem anderen Grund.

„Mein Meister, ich bin beeindruckt von diesem Fang, doch ich habe schlechtes zu verkünden“.

Meister... Sie nannten ihren Anführer Meister? Anlar war wahrlich von Selbstliebe zerfressen. Ich seufzte und setzt mich auf, an Schlafen war nun sowieso nicht mehr zu denken.

„Was ist, Dee?“, fragte Anlar und seine Miene verfinsterte sich augenblicklich.

„Wir haben sie gesehen, die Höheren. Sie kommen von Süden, aus Partheon!“, ächzte der Bogenschütze.

Ich zuckte zusammen. Die Höheren... Ich hätte mit vielen gerechnet, aber nicht mit ihnen.

„Wie weit sind sie von uns entfernt?“, fragte Anlar, aus dessen Gesicht der selbe Groll sprach wie aus meinem.

„Etwa drei Tagesreisen, Herr“.

„Rey, ist an Flucht zu denken?“, fragte Anlar den größeren der beiden Schwarz haarigen.

Doch dieser schüttelte den Kopf. „Sie sind zu Pferd, alle Mann, plus zwei Packpferde“

Nun wandte anlar sich an den Dritten. Er war klein und gedrungen, der Älteste der Drei. „Edris, wieviele?“

„27 an der Zahl, Meister“, antwortete Edris und drehte sich kurz zu mir um, wobei ich eine breite Narbe über seinem Auge bemerkte.

Anlar nickte langsam. „Bereitet alles für einen Kampf vor. Sie rechnen damit, uns zu überraschen und das könnte uns einen Vorteil verschaffen. Alarmiert auch die Blauen! Sie sollen ihr Bündnis einstehen und uns Krieger schicken!“

Sofort ging Bewegung in das Lager. Alles, was nicht Niet und Nagelfest war, wurde dazu gemacht, Waffen wurden geschärft, Boten liefen los um zu den Blauen zu gelangen und ich wurde vollkommen vergessen. Einige Zeit saß ich nur da, an meinen Pfahl angelehnt und beobachtete das bunte Treiben vor mir, bis mir dann schließlich doch die Augen zufielen.

Unausgeschlafen schreckte ich wenige Stunden später wieder hoch und brauchte kurz, um mich zu orientieren. Das Lager war nicht mehr das Lager der Grauen, sondern eine ausgeklügelte Festung! Palisaden aus dünnen Eichenstämmen zogen sich wie eine dicke Mauer gen Süden, dahinter wurden tiefe Gräben geschaufelt. Mir wurde bewusst, wie verletzlich das Lager der Grauen im Gegensatz zu unseren Felsen doch war und fragte mich, wie lange sie wohl gebraucht hatten,um sich eine solche Taktik hatten einfallen lassen. Jemand rannte an mir vorbei und blieb mit dem Stiefel in meinem Strick hängen. Augenblicklich zog sich die Schlinge zu und schnürte mir die Luft ab. Der Graue bemerkte das gar nicht, sondern rannte unbeirrt weiter. Ich meinerseits lag hustend auf dem Boden und rang nach Luft.

Wie ironisch, jetzt hatte ich die Folter der Grauen überlebt und würde schlussendlich doch noch verrecken, weil irgend so ein Vollidiot nicht aufgepasst hatte, wo er hinlief!

Hustend rüttelte ich an dem Strick und versuchte, mit klammen Fingern die Stricke auseinander zu ziehen, doch meine Finger waren zu unterkühlt und der Strick so rau, dass er sich in sich selbst verhakte.

Ich krächzte und hustete, bis mich jemand bei der Schulter packte und den Strick durchschnitt. Mit Tränen in den Augen sah ich auf. Dee stand da. Er zog mich beim Kragen hoch und kam meinem Gesicht immer näher.

„Mach keinen Schwachsinn“, zischte er und legte einen neuen Strick an. Diesmal aber netter Weise um meine Handgelenke. Dann stieß er mich zurück in den Dreck und eilte weiter.

Verwundert sah ich ihm hinterher und rieb mir den Hals. Kam auch nicht alle Tage vor... Kein Tritt, kein Schlag, nicht mal eine Beleidigung... Dieser Junge wurde mir immer sympathischer.

 

Am Abend bekam ich dann doch noch etwas zu Essen. Ein Stück Brot. Besser als nichts, aber satt machte es mich lange nicht. Ich kaute nur ganz kleine Stücke davon, damit es möglichst lange vor hielt. Diesen Trick hatte ich bereits in Kindertagen benutzt, wenn es im Winter kaum Nahrung für einen so kleinen, dürren Kerl gab wie mich. Inzwischen war ich zwar noch größer und auch breiter geworden, trotzdem zerrte der Hunger nicht selten an mir und meinen Gliedern.

Ich lehnte mich wieder an den Pfahl und genoss die wohltuende Dunkelheit, die sich langsam über den Wald legte. Überall wurden Fackeln angezündet und ich verstand nicht, wieso die Grauen darauf bestanden, immerzu den Tag mit sich zu führen. Immerhin brachten wir auch keine Schattenspendenden Dunkelkristalle an unseren Felsen an, wenn es tagte!

Ich seufzte und rieb mir die Handgelenke, die bereits wieder wund gescheuert waren.

Ich wollte einfach nur noch hier heraus... Ich wusste, was Höhere mit Bastarden wie uns anstellten, auch wenn ich selbst noch nie Zeuge davon geworden war. Unser Lager lag zu weit entfernt von der Menschenstadt Partheon, meist griffen sie nur die Grauen und manchmal auch die Blauen an.

Was ich nicht wusste, war, was sie mit Gefangenen der Bastarde machten, denn es war ja noch nie zu einem Gefangenen gekommen, zumindest soweit ich mich erinnerte. So saß ich also im Ungewissen, in Aussicht auf den Tod oder das Leben. Die Frage war nur, was in Gesellschaft der Höheren besser war. Vielleicht sollte ich mich irgendwie vorher von meinem Leben entledigen? Nein, Selbstmord bedeutete nur noch mehr Verachtung, als Geheimnisse auszuplaudern. Wenn sterben, dann in Ehre und nicht durch die eigene Hand. Angeblich wirkte sich das auch auf das zweite Leben aus, sofern es das gab.

Also blieb ich weiterhin im Ungewissen sitzen, während Gestalten an mir vorbeihuschten, Regentropfen auf mich ein prasselten und zeitweise sogar Vögel an mir vorbei flatterten.

Mit den Vögeln in unserem Wald war es besonders. Man sagte, im Reich der Höheren gäbe es sie in Massen, man würde sie sogar erschießen und essen oder gar an die Wand hängen! Doch hier waren sie selten. Selten und kostbar. Meistens brachten sie uns den Sommer, in dem es manchmal sogar Regenpausen gab. Und diese Regenpausen waren das wertvollste, was der verfluchte Wald geben konnte. Vögel waren Boten des Lichts, des Lebens und der Freude. Noch flogen sie, aber bald würde der Winter wieder einkehren und sie würden sich zurück in das Menschenreich flüchten. Die meisten hatten schwarze Federn, die ihnen glatt um den Körper lagen und jeder, der eine fand, konnte sich glücklich schätzen. Sie brachten angeblich Glück. Ich selbst hatte auch eine, allerdings war sie nur winzig klein und lag bei meinem alten Lager, in meiner Schlafkuhle. Ich hatte noch so viele Sachen, die mir teuer waren und doch schienen sie alle unerreichbar. Vermutlich würde ich sie nie wieder sehen, sollte nicht ein Wunder geschehen.

 

Solche und ähnliche Gedanken, geführt von einer seltsamen Frucht an einem Busch etwas entfernt von mir bis hin zu all meinen Bekanntschaften, die ich je im Wald gemacht hatte gingen mir durch den Kopf, während ich auf die Höheren wartete. Es war eine furchtbare Zeit, noch furchtbarer als jene, die ich noch vor einem halben Tag zur schlimmsten erklärt hatte. Niemand sprach mit mir, niemand beachtete mich und alle taten, als hätten sie nichts mit mir zu tun. Dabei verband uns gerade jetzt eine seltene Gemeinsamkeit; die Angst vor den Höheren.

Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Ich hatte keine Angst, nein, ich nicht. Ich war ein Roter. Das Band war um mein Bein geschlungen, wie immer und dort sollte es auch bleiben! Ich war immerhin der Letzte. Irgendwie hatte ich es immer noch nicht verstanden. Ich war der Letzte, ich war der letzte eines Stammes! Ich seufzte erneut und schloss meine Augen. Es war ein seltsames Gefühl, eine Art Ziehen im Magen. Ich hatte keine Angst, nein.

 

 

Angst

4. Kapitel Angst

 

Angst ist relativ. Man kann Angst nicht fassen, man kann sie nur fühlen. Und doch ist sie nur ein Erzeugnis seines eigenem Bewusstseins. Ich war immer der Ansicht gewesen, Angst war Quatsch, nicht von Bedeutung. Ich hatte es für eine unnötige Regung gehalten, nichts weiter als eine eingeredete Panik, gesteuert von unseren Gedanken. Ich dachte, Angst kann man unterdrücken. Vermutlich hatte ich noch nie wirklich Angst gehabt, zumindest bis zu diesem Zeitpunkt. Zitternd hockte ich in einer Höhle und wartete auf mein Schicksal. Dabei ließ ich mir die vergangenen Moment noch einmal durch den Kopf gehen.

 

Sie waren in der Nacht gekommen. Die Regenwolken waren dünn gewesen und nur leichter Nieselregen hatte die Krieger der Grauen behindert. Ich hatte am Rande des Lagers gehockt, um meine Hüften einen dicken Strick. Ich war an einen Pfahl gefesselt worden, damit ich während des Kampfes nicht abhaute oder Probleme machte. Dazu kam noch ein alter, dreckiger Fetzen Stoff, den man vielleicht irrtümlich als Knebel bezeichnen könnte. Sein erdiger, scharfer Geschmack biss sich in meinen Rachen und ich konnte nicht einatmen, ohne einen Würgereiz zu unterdrücken. Vielleicht war die Angst dort schon gekommen, aber ich glaube, die Höheren hatten sie mit gebracht, als eine Art Gestgeschenk.

Es hatte harmlos angefangen, wie bei jeder Schlacht. Ein paar Pfeile, die lustlos über die Wand geschickt wurden und von denen nur wenige ihr Ziel fanden. Ich hatte ihre Stimmen gehört, nur wenige Meter von mir entfernt, nur eine Palisade hinter mir. Ihre Stimmen waren seltsam. Irgendwie... reiner und höher als unsere. Sie hießen nicht umsonst die Höheren, denn so ziemlich alles wirkte höher an ihnen, außer ihre Größe. Wenigstens darin waren wir Jäger ihnen ebenbürtig. Sie hatten in einer seltsamen Zunge geredet, zwar unsere Sprache, doch verwirklicht mit einem seltsamen Akzent.

„Kommandongt“, sagten sie zum Beispiel, was mich vermuten ließ, dass sie mit ihrem Kommandant sprachen. Auch die anderen Wörter wurden oft mit einem „ng“ verändert. Sie sprachen die Worte weicher aus als wir. Aber wie konnte man seine Sprache auch weich gestalten, wenn man als verflucht galt und täglich ums Leben rang? Ihre Zungen waren von Weichheit geprägt, von Sauberkeit und Liebe im Heimatland, unsere von Dreck, Härte und Tod. Es war nur verständlich, wie die Sprachen sich entwickelt hatten.

Als Nachfolge der Pfeile waren ein paar Krieger über die Wand geklettert, doch ich hatte irgendwie gespürt, dass das noch nicht alles war. Sie hatten bessere Waffen als wir und doch hielten sie sich zurück. Die Roten hätten es längst bemerkt, doch die Grauen freuten sich anscheinend, dass der Kampf für sie doch nicht ganz so schlecht aussah. Und genau das schien das Ziel der Höheren gewesen zu sein. Blut floss viel in dieser Nacht, auf beiden Seiten gleichermaßen. Ich wurde nicht bemerkt und musste zusehen, wie Leute fielen und starben. Einer direkt vor meine Füßen.

Es war ein Höherer. Seine blauen, eiskalten Augen stachen kalt und starr aus der Dunkelheit hervor und es schien, als würde er mich selbst im Tod noch anklagen. Mir wurde schlecht und die Kriegsgeräusche um mich herum vermischten sich zu einem, ekeligen Hintergrundgeräusch. Und dann vernahm ich das Poltern. Ich öffnete meine Augen schlagartig und fuhr herum, so gut es gefesselt ging, doch ich konnte nichts erkennen. Da war etwas hinter der Palisade.

„Ach, mein gutes Mädchen. Wer hätte gedacht, dass dein erster Mord an Bastarden begangen wird?“, fragte einer der Höheren beinahe zärtlich und schallendes Gelächter erschallte. Augenblicklich hielten alle Kämpfenden inne und starrten zu Palisade. Ich konnte nichts erkennen, nur das Geräusch eine gespannten Seils und das Rollen eines schweren Dings. Vermutlich ein Felsbrocken. Was in Teufels Namen...?

Dann hörte ich ein Zischen. Etwas großes, schwarzes flog durch die Dunkelheit und schlug krachend weiter hinten im Lager ein. Bäume splitterten, Leute schrien und Knochen knackten. Ich riss meine Augen weit auf und Blut rauschte in meinen Ohren. Bei der ewigen Hölle der Wiedergeburt! Sie hatten tatsächlich ein Katapult konstruiert und es den ganzen Weg durch unseren Wald geschafft! Ich wollte nicht wissen, wie sie es vor den Spähern verborgen hatten.

Immer mehr Felsbrocken sausten durch die Luft, immer mehr Jäger ließen ihre Leben unter den gewaltigen Geschossen. Die Höheren hatten sich zurück gezogen, weshalb sich wenige Graue in den Schutz der Bäume retten konnte. Ich schätzte sie auf ungefähr 8 Mann. Nur einen Einzigen fingen sie sich ein. Es war Anlar.

Binnen kürzester Zeit war das Lager zerstört und die Grauen vernichtet. Ihre Palisade kam den Grauen zu Schaden, denn sie konnten weder die Leute abschießen, die dort hinter standen, noch die, die das Katapult bedienten. Urplötzlich herrschte Stille im Wald. Kein Ästchen knackte, kein Verwunderter stöhnte, niemand sagte auch nur einen Ton. Dieses unerwartete nichts erschien mir fast schon unheimlich und mein Herzschlag sauste in die Höhe, als ich Anlars Stimme hörte.

„Bitte... bitte, ich weiß nichts davon...“

Er klang verzweifelt und völlig aufgelöst, gar nicht mehr cholerisch und unausstehlich. Sein Wimmern wurde von den Baumstämmen stumm verschluckt, und alles, was folgte, war dumpfe Stille, einzig unterbrochen von meinem eigenen, rasenden Puls.

Dann sprach ein fremder Mann. Er war älter und wirkte autoritär, vermutlich der 'Kommandongt'. Seine Stimme war nicht so weich wie die der Soldaten, die klang rau und benutzt, wie seine eingefurchte Haut.

„Lüg nicht, du kleiner, stinkender Bastard! Wir wissen, dass ihr ihn habt! Wo. Ist. Der. Kris. Tall?!“

Der Kristall... mir war nicht klar gewesen, dass der Feldzug der Höheren ein Ziel gehabt hatte. Der Kristall... Ein Bild ging mir durch den Kopf. Eine Karte. Ein Vers. Zenas Stimme.

'Gib gut acht auf sie, Rain... sie sind entscheidend für uns alle'.

„Ich habe keinen Kristall... ich weiß nichts von einem Kristall...“, jammerte Anlar mit Tränen getränkter Stimme.

„Gibt es noch andere Bastarde in diesem Wald? Sprich!!“

Ich hielt den Atem an. Bitte, Anlar, sei wenigstens dieses eine Mal vernünftig...

Es wurde still. Anlar zögerte, schien nachzudenken, dann antwortete er: „Keiner, der nicht von unserem Stamm ist... bitte, bitte lasst mich gehen...“

„Was ist dein kleines, erbärmliches Leben schon noch wert? Wir könnten dich genau so gut den Hunden zum Fraß geben, es würde keinen interessieren!“

Mir blieb die Luft weg und ich verabscheute die Höheren vom ganzem Herzen. Ich musste hier weg, bevor sie mich auch noch in ihre Hände bekamen... Mein Blick fiel auf die Leiche vor meinen Füßen. Der Mann hatte sein Schwert noch in der Hand. Mit meiner Fußspitze kam ich an die Klinge und schob sie zu mir. Hastig sah ich mich um- niemand hatte etwas bemerkt.

Mit einem gekonnten Kick schoss ich das Schwert hoch in die Luft und bekam es mit meiner linken Hand zu fassen. Ich verrenkte mich akrobatisch und begann, meine Fesseln aufzuschneiden. Nach wenigen Minuten, in denen ich versuchte, nicht auf Anlar und die Höheren zu achten, war ich frei. Nun hieß es handeln. Ich steckte das Schwert des Soldaten in meinen Gürtel und huschte lautlos wie ein Schatten zur Seite. Vielleicht würde ich ihnen wirklich entkommen...!

Doch das Schicksal schien sich meiner nicht zu erbarmen, im Gegenteil: Kaum hatte ich die Lichtung verlassen und mich aufatmend an einen Baumstamm gelehnt, spürte ich eine kräftiges Paar behandschuhter Hände. Eine legte sich auf meine Schulter, die Andere auf meinen Mund. Aber so leicht würde ich meine wieder gewonnene Freiheit nicht wieder hergeben, nein. Ich holte aus und rammte meine Ellenbogen mit aller Wucht in den Körper hinter mir. Ich hörte ein Stöhnen und stellte fest, dass mein Gegner glücklicherweise keinen Panzer trug, an dem ich mir sicherlich die Knochen eingeschlagen hätte.

Blitzschnell duckte ich mich unter seinem Griff weg und rannte, so schnell ich konnte. Leider dämmerte es gerade und die Sonnenstrahlen, die ausnahmsweise mal durch die Wolken brachen, blendeten mich so dermaßen, dass ich kurz stehen bleiben musste, um mich neu zu orientieren.

Sofort spürte ich Metall an meiner Kehle.

„Bleib stehen“, zischte jemand und ich stellte fest, dass mein Verfolger weiblich war.

Ich versuchte, mich erneut aus seinem, nein, ihrem Griff zu winden, aber diesmal funktionierte es nicht. Sie legte mir erneut die behandschuhte Hand auf den Mund und drückte fester mit dem Messer zu. Ergeben hielt ich still und ließ mir eine Augenbinde umlegen.

„Kommondongt“, rief sie. „Ich habe hier einen Morgenschwärmer aufgegriffen, der sich aus dem Staub machen wollte!“.

Ich schluckte und presste die Lippen zusammen. Warum hatte ich auch angehalten? Natürlich stellten die Höheren Wachen auf, immerhin hatten sie noch nicht jeden Verstand verloren.

Ich wurde nach vorne geschubst, und da ich damit nicht gerechnet hatte, fiel ich zu Boden, direkt in den Schlamm. Ich hörte verächtliches Lachen und wurde, wie so oft in den letzten Tagen, am Kragen gepackt und auf die Beine gezogen. Dann lichtete sich die Dunkelheit um mich und brennendes Licht stach in meine Augen. Geblendet blinzelte ich ein paar Mal, bis sich aus den verschwommenen Gestalten um mich herum Gesichter bildeten. Ein großer, breiter Mann stand vor mir. Er war älter, hatte schwarze Haare und einen Bart.

„Lynnea! Wo hast du den denn aufgegabelt?“, dann wandte er sich an mich. „Kennt ihr euch?“

Dabei deutete er zu Boden und mein Blick fiel auf einen wimmernden Haufen vor meinen Füßen. Ich brauchte kurz, um Anlar zu erkennen und das schockte mich so sehr, dass mir kurz der Mund aufklappte.

„Also?!“. Der Hauptmann machte einen Schritt auf mich zu.

Ich entschied mich zu einer Antwort, denn dass hier war etwas Anderes, als Anlar.

„...Ja, Sir. Ich... war Gefangener“, stammelte ich .

„Gefangener...“. Der Kommandant strich sich über den Bart. „Fesselt ihn. Zu ihm kommen wir später!“

Dann drehte er sich wieder zu Anlar und ich wurde in eine Höhle gestoßen, in der einst wohl die Vorratskammer der Grauen gewesen war.

 

Und nun saß ich hier und wartete auf mein Schicksal, während von draußen immer noch das Flehen von Anlar tönte... Es war grausam. Niemand beachtete mich, aber es rechnete wohl auch kaum einer damit, dass ich einen Fluchtversuch starten würde. Aus dem Verhör des Hautpmannes vernahm ich, dass er tatsächlich auf der Suche nach einem Kristall war. Dem Kristall. Angeblich wäre es von höchster Dringlichkeit, so wiederholte er immer wieder, bevor sie Anlar weiterhin ausquetschten. Irgendwann krümmte ich mich in einer Ecke zusammen und schloss die Augen.

Gegen Abend fand ich zurück in klarere Gedanken, das rote Abendlicht strahlte mir ins Gesicht und langsam begann ich, über meine Lage nachzudenken. Mein Stamm war so gut wie ausgerottet, genau wie die Grauen. Alle, die ich kannte, waren tot und ich war ein Gefangener der Wesen, denen ich niemals in meinem ganzen Leben begegnen wollte. Abwesend starrte ich in die roten Regenwolken, ließ mir Wasser ins Gesicht spritzten, war mit meinem Kopf völlig woanders.

Anlar erlebte den Sonnenuntergang nicht mehr.

 

Vielleicht war es die Angst, die die Höheren zu Höheren machten. Nicht ihre eigene Angst, sondern die der Anderen. Vielleicht war sie nicht berechtigt, vielleicht auch mehr als das. Keiner wusste viel über sie, aber alle fürchteten sie.

Diese Angst gab ihnen Befriedigung, man sah es in ihrem Blick. Überall sah ich ihre Augen, in seltsamen Farben. Vor allem Braun war oft vorzufinden. Ich hatte noch nie braune Augen gesehen, so fesselten sie mich einen Augenblick länger, als sie es sollten. Ich stand steif und gerade da, ließ mir nichts anmerken und schwieg eisig.

Der Kommandant musterte mich eingehend und neigte sich zur Seite, zu einem großen, schlanken Soldaten. Er war noch jung und hatte kurzes, blondes Haar. Seine blauen Augen strahlten Intelligenz und Wachsamkeit aus.

Ich lauschte angestrengt und konnte tatsächlich verstehen, worüber sie sich berieten.

„Kommandongt, denkt ihr, er hat gelogen?“, fragte der Blonde, worauf der Kommandant brummte: „Ich weiß es nicht. Und wir werden es wohl auch nicht mehr erfahren“

„Vielleicht weiß der Gefangene...“

„Er wird wohl kaum etwas wissen, was der Anführer des Stammes nicht wusste“

„Aber wäre es denn nicht einen Versuch...“

„Nein. Wir sind sicherer, wenn so wenige Leute wie möglich von dem Kristall wissen“

Da war er wieder, dieser Kristall. Ich erinnerte mich an meinen Verdacht und plötzlich erschien er mir logischer als zuvor. Man munkelte, der König der Höheren wäre ganz verrückt nach Gold und Geschmeide. Und der Kristall war weit mehr als nur Schmuck, zumindest wenn man den verlaufenen Buchstaben auf dem Pergament glaubte, die Zena mir damals gegeben hatte...

Der Kommandant riss mich aus meinen Gedanken.

„Hey! Bastard! Dir ist klar, was dein Schicksal ist?!“

Ich hatte keine Ahnung, doch ich nickte ergeben.

„Dann schlagt ihm den Kopf ab“.

Ich zuckte zusammen und sah mich verstört um. Das konnte doch nur ein Scherz sein...? Aber ich wurde wirklich auf die Knie gedrückt. Zwei Soldaten pressten mein Gesicht auf einen Baumstumpf. Ich drückte mir die Nase ein und roch den süßen Duft von nassem Holz.

Ich schielte zur Seite und sah, wie jemand ein Schwert zog. Anscheinend würden das hier wirklich meine letzten Gedanken sein... Egal, wie makaber es war, in diesem Moment konnte ich mich nur darüber ärgern, wie sinnlos alles gewesen war. Zena hatte den Stamm geopfert, so viele Leben, nur, damit ich gerade Mal ein paar Tage später starb, als die Anderen.

Die Alten hatten mal gesagt, der Tod ist nur der Eingang zu einem neuen Leben, aber eigentlich hatte ich bisher nicht vor gehabt, mein bisheriges zu verlassen. Also versuchte ich, mich frei zuschlagen. Dabei fing ich mir einen Tritt in die Seite ein. Er wahr härter als die, die die Grauen mir verpasst hatten und mir wurde unwillkürlich klar, dass dieser Mann Eisenplatten in seine Schuhe eingelassen hatte.

Ich hörte, wie jemand über mir ausholte und dann das Pfeifen eines länglichen Gegenstands, der mit Wucht durch die Luft zischte.

Meine Gedanken rasten. Was jetzt? Gleich wäre es vorbei. Wenige Momente, kaum noch etwas. Es konnte nicht hier enden. Zena konnte sich nicht irren. Ich wusste gar nicht wirklich, was ich tat, als ich meine Stimme zum letzten Mal erhob.

„Ich weiß, wonach ihr sucht!“

Kurze Zeit herrschte Stille und alles ging wie in Zeitlupe von statten. Der Soldat schlug zu, die Klinge sauste auf mich hinab. Der Kommandant brüllte: „Stopp!“, doch das Schwert stoppte nicht. Anscheinend konnte der Soldat nicht so schnell reagieren. Der Blonde starrte erst mich, dann den Soldaten an und schmiss sich zu Boden. Nein, tat er nicht, er griff nach etwas- einem dicken Ast! Der Stock schoss auf mich zu und dann spürte ich einen Schlag im Nacken und alles wurde schwarz.

Wissen

5. Kapitel Wissen

 

„Ich glaube, er kommt zu sich“.

Brennen auf meiner rechten Wange.

„Schlag nicht zu fest, wer weiß, was der aushält“

Brennen auf meiner linken Wange.

Ich stöhnte.

„Hallo! Bastard! Geht es dir gut?!“

Ich blinzelte.

„Er schlägt die Augen auf!“

Umrisse formten sich und ich erkannte einen Höheren, der sich über mich beugte und regelmäßig Ohrfeigen gab. Das erste, was ich testete, war, ob mein Kopf noch da war, wo er sollte, nämlich auf meinen Schultern. Erleichtert atmete ich auf und setzte mich auf.

„Wo bin ich?“

„Keine Zeit für Plaudern!“, brüllte jemand und ich wurde am Kragen gepackt und hoch gezogen. „Was weißt du über den Kristall?!“

Es war der Hauptmann. Ich sah mich suchend nach dem Blonden um, er stand etwas abseits, die Hände hinter dem Rücken. „Sprich!“

Ich wurde durch geschüttelt und stotterte: „Nicht viel... Aber wir haben Pergamente in unserem Lager auf denen...“

„Ihr habt ein Lager?“

„Hatten. Unser Stamm wurde ausgelöscht, vor drei Tagen“, verbesserte ich und augenblicklich verfinsterte sich meine Miene.

„Bring uns dorthin“, befahl der Kommandant und plötzlich wurde mir bewusst, was ich hier tat. Ich überreichte den Höheren tatsächlich unsere Stammesgeheimnisse auf dem Silbertablett!

Ich schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht“.

„Wieso?!“, rief der Kommandant und seine Augen blitzten ärgerlich.

Ich atmete tief ein. Vielleicht könnte ich einfach das Beste draus machen... Zuerst schielte ich zu seiner Hand, die immer noch an meinem Kragen ruhte und prompt ließ er mich los.

„Was bekomme ich dafür?“

„Bisher gar nichts. Beweist mir, dass die Papiere echt sind“, zischte der Kommandant und ich hatte zu viel Angst vor zertrümmerten Fingern, als dass ich protestiert hätte.

„Unser Lager war südöstlich von hier“, murmelte ich und stapfte los, querfeldein. Aber wie ich schon gesagt habe, bei Tageslicht ist mein Wald ein Anderer und ich konnte nur mit Mühe verbergen, dass ich mich dreimal verlief und zweimal im Kreis gegangen war, bevor ich unsere Felsen erreichte.

Den ganzen Weg lang wurde ich von zwei Soldaten flankiert, die mit grimmiger Miene ihre Lanzen hielten. Ich hatte erwartet, dass sich hinter mir der ganze Trupp Höhere herzog, aber im Gegenteil: Es war nur der Kommandant und die Frau, die mich wieder eingefangen hatte, nachdem ich hatte fliehen wollen. Wie hieß sie doch gleich... Lynnea? Ja, das musste ihr Name sein. Sie sah auch nach einer Lynnea aus, wie sie im Buche steht.

Ihre Brustlangen, gewellten Haare waren hellblond, ihre Augen grün. Sie war für eine Frau recht groß, doch nicht so groß wie ich. Sie schien gut durch trainiert und trug wohlgeformte Kurven mit sich.

Ihre Augen blitzten kampfeslustig unter ihrem Helm hervor und ich hätte all meine Sachen darauf verwettet, dass sie kein leichter Gegner war, sollte man das Pech haben, gegen sie antreten zu müssen. Als ich sie ansah, streckte sie ihr schmales, bleiches Kinn vor und sah mich herausfordernd an. Ich drehte mich schnell wieder nach vorne und entdeckte endlich den ersten Anhaltspunkt, der mich nach Hause führte.

Während des ganzen Weges überlegte ich krampfhaft, wie ich es verhindern könnte, ihnen die Papiere aushändigen zu müssen. Dann kamen wir endlich bei den Felsen an und mir war klar, dass ich kein Wahl hatte, als mich zu weigern, ihnen das Papier auszuhändigen.

„Wartet hier“, brummte ich und ließ mich nicht von dem blanken Misstrauen des Kommandanten beirren.

In der Höhle roch es nach Zena. Hier hatte sie geschlafen, gegessen, gelebt. Eine seltsame Stimmung legte sich auf mein Gemüt, als ich bemerkte, wie viel von ihr noch in diesen Wänden weiterlebte. Ich strich Gedanken verloren über die Zeichen, die in der Wand eingeritzt waren.

Zena. Anführerin der Roten. Enraschk'.

Sie hatten tatsächlich das verfluchte Wort in ihr Zimmer geschrieben! Vor Wut lief ich rot an und ballte meine Fäuste. Niemals, niemals hatte ich noch nie eine solche Endwürdigung eines Toten gesehen! Ich bereute es, Mitleid mit Anlar gehabt zu haben, denn er hatte die Folter eindeutig verdient!

Mit knirschenden Zähnen machte ich mich an das Geheimversteck. Ich schob den kleinen Fels zur Seite, hinter dem sich die Nische verbarg und griff hinein. Da waren sie, die Pergamente, in denen sämtliches Wissen aufgeschrieben war, das selbst die Vertrauten des Stammes sich nicht alles merken konnten...

Aber stattdessen fand ich nur ein einzelnes Stück Pergament! Mit einem Schlag wurde mir heiß und mein Herz klopfte schneller. Das konnte nicht sein... Ich tastete in der Nische herum, aber da war nichts anderes!

Mit zitternden Händen zog ich an dem Papier und las mir durch, was da stand.

Leider zu spät, Amigo. Vielen Dank für das neue Wissen!

Der Auserwählte

Mit einem schabenden Geräusch kam das Pergament auf dem Boden auf, als ich es zitternd losließ. Ich fiel auf die Knie und vergrub das Gesicht in den Händen. Das war eine Katastrophe! Mir wurde schlecht, bei dem Gedanken, dass irgendjemand nun sämtliche Stammesgeheimnisse von uns besaß!

Ich hörte Schritte hinter mir und wie jemand das Pergament aufhob.

„Leider zu spät... Auserwählter.... Vielen Dank für das neue Wissen. Aber was....?“

Es war Lynnea.

„Jemand hat all unser Wissen gestohlen“, knurrte ich. Natürlich stimmte das nicht ganz, nicht alles, aber es wäre zu kompliziert gewesen, ihr das alles zu erklären.

„Wer ist der Auserwählte?“, fragte Lynnea mit gerunzelter Stirn.

„Ich weiß es nicht. Dieser Herr kam nie in unseren Schriften vor“, murmelte ich.

„Heißt das also... Das Pergament über die Kristalle ist auch fort?“.

Ich nickte. „Ja“.

Lynnea seufzte. „Wäre auch zu schön gewesen“.

„Wozu benötigt ihr den Kristall?“, fragte ich leise, nicht zuletzt, um mich abzulenken.

„Dies ist eine Angelegenheit des Königshauses und ich kann dir nicht mehr erzählen, als dass wir ihn dringend brauchen“, meinte Lynnea.

Plötzlich durchzuckte mich ein neuer Gedanke. Wenn er so dringend gebraucht wurde, konnte man dann nicht handeln...?

Ich räusperte mich: „Wenn ich euch den Kristall besorge, was würde euer König dafür geben?“

Lynnea verstand nicht, worauf ich hinaus wollte und fragte: „Wie meint Ihr das? Seid Ihr dazu in der Lage?“

„Das kommt ganz auf den Preis an. Meint, Ihr der König wäre bereit dazu, einem Volk die Freiheit wieder zu geben, wenn er dadurch an den Kristall gelänge?“. Mir wurde ganz heiß vor Erwartung... Vielleicht konnte ich uns Jäger wirklich freikämpfen, vielleicht war es das, was Zena gesehen hatte.

Lynnea wiegte den Kopf Hin und Her. „Ich bin nicht befugt, darüber zu urteilen“, meinte sie schließlich.

„Lynnea, der Kommandant lässt fragen, ob alles in Ordnung ist“, ertönte da die Stimme eines jungen Soldaten, der in die Höhle lugte.

„Wir kommen hinaus, warte nur einen Augenblick, Rilkin“.

Lynnea wandte sich wieder zu mir um. „Du wünscht dir Freiheit für dein Volk? Bei uns heißt es, ihr wärt zufrieden mit eurem Dasein“.

Verärgert spuckte ich aus. „In diesem Wald?! Bei diesem Mistwetter?! Fräulein, glaubt ihr ernsthaft, hier könnte man sich wohl fühlen?!“

Lynnea musterte mich lange und ausgiebig, dann drehte sie sich wortlos um und ging zu ihrem Kommandanten. Ich stand alleine in der Höhle und schwieg. Es war so viel passiert, in den letzten Stunden, dass ich gar nicht wirklich verstand, was alles vor sich gegangen war.

Ich strich über den rauen, kühlen Fels neben mir und sah traurig nach draußen, wo der Wind mir die Tropfen wie Nadeln ins Gesicht peitschen würden. Die Höheren wussten so wenig von uns... Wie konnte es sein, dass eine ganze Rasse verachtet wurde? Wie konnte es sein, dass ein Volk mit Kindern und Frauen mit einem Mal verraten und verbannt worden war? Ich konnte es nicht verstehen, ich konnte nicht begreifen wie man Sitten verachten konnte, wenn man sie nicht einmal kannte. Mein Leben war wie ein Haufen Dreck in ihren Augen. Mein Leben bedeutete nichts, Meine Existenz war nur eine von vielen. Sie machten keine Unterschiede zwischen mir und der Masse an Jägern, die noch lebten. Wie sagten die Alten immer? Für den Schäfer unterscheiden sich die Schafe nicht, für die Schafe ist jedes jedoch einzigartig.

Aber wer entschied darüber, wer das Schaf und wer der Schäfer war? Ich schüttelte den Kopf und sah zu Boden. Es war einfach nicht zu fassen, nicht zu verstehen.

Langsam ging ich nach draußen, wo der Regen und der Wind mich in den Arm nahmen wie alte Bekannte. Ich gehörte hierher, in den dreckigen Wald und es war fast schon unverschämt, zu denken, dass ich unsere Freiheit erkaufen könnte.

Lynnea und der Kommandant berieten sich erneut. Sie standen wie Fremde in diesem Misch-Masch aus Grün und Braun da. Wie Kristalle in einem Haufen Kohle.

Ich blieb stehen und überlegte, ob ich nicht einfach in den Wald abtauchen sollte, einfach verschwinden und nie wieder ein Wort über die seltsamen Tage verlieren sollte. Vielleicht wäre es besser gewesen, vielleicht auch nicht. Vielleicht... wie oft war es mir durch den Kopf gegangen?!

Der Kommandant nickte langsam und sah dann zu mir.

„Stimmt es? Kannst du den Kristall besorgen?“

Ich hielt ein paar Sekunden inne, bevor ich antwortete: „Ich denke schon. Vielleicht. Aber nicht alleine. Und es kommt darauf an, was ich bekommen werde“.

„Dein Leben. Das genügt“, knurrte der Kommandant und wieder blitzten seine Augen blau und hart auf.

„Nein. Ich will mehr. Ich will, dass ich beim König persönlich tief in der Schuld stehe. Ich verlange einen Wunsch von ihm, nur einen Einzigen“.

Lynnea hätte etwas sagen können, zum Beispiel dass es mir dabei nicht um Gold oder Silber ging, sondern um mein Volk, aber sie tat es nicht. Das rechnete ich ihr hoch an.

So nickte der Kommandant. „Meinetwegen auch das. Was wisst ihr also über den Kristall?“

Mein Herz begann zu klopfen. Ich war soeben wirklich einen Pakt mit dem König eingegangen! Ich atmete tief durch, dann begann ich zu reden. Es war nicht viel, was mir in Erinnerung geblieben war, doch es genügte, um Anhaltspunkte zu finden.

„In den Schriften war eine Route eingezeichnet, soweit ich mich erinnere“, begann ich und leckte mir den Regen von den aufgesprungenen Lippen. „Sie verlief weit durch das Land...“.

Der Kommandant warf Lynnea einen bedeutenden Blick zu, dann sagte er: „Sprich weiter“

Ich nickte und kramte in meinem Gedächtnis nach einer weiteren Information. „An einigen Orten standen Sätze. Ich kann mich nur noch an wenige erinnern, aber viele verhießen nichts Gutes. Man sagte etwas von 'Tod' und 'Verderben' und 'ewigen Schreien'. Vor allem aber standen dort Sätze geschrieben, die Hinweise gaben. So habe ich sie zumindest gedeutet. Und unten drunter, ganz am Rand war rings herum ein Rätsel geschrieben. Davon kann ich nur noch eine Strophe:

 

Die furiosen Reiter, die wilden,

treffen auf die kalten Mädchen, die stillen.

An diesem Ort, unter wachsamem Blick der hellen Mutter,

werden die Geister für den sichtbar,

der sich den Herrscher allen Lebens zu eigen gemacht hat.“

 

Ich sprach die Worte ehrfürchtig und langsam aus, trotzdem hatte ich das Gefühl, dass sie zu viel für meine Zunge bedeuteten. Klanglos verschwanden sie im Regen und doch hatte ich das Gefühl, sie würden noch lange in meinem Kopf nach hallen. Vielleicht empfanden auch Lynnea und der Hauptmann es so, vielleicht dachten sie aber auch nur nach, bevor der Kommandant antwortete:

„Hohe Worte, für einen Stamm der Bastarde“.

Ich schwieg und versuchte, mich nicht über die Beleidigung aufzuregen. Regen tropfte aus dem Bart des alten Mannes, als er sich erhob und sein Schwert zog. Er reckte es gen Himmel und flüsterte leise Worte. Ich wollte gerade fragen, was er da tat, als Lynnea die Finger auf die Lippen legte und mir bedeutete, zu lauschen.

„Oh, große Götter. Erbarmt euch meiner bescheidenen Seele und weist mir den richtigen Weg“.

Ich legte meine Stirn in Falten und rümpfte die Nase. Ich hatte zwar bereits von den Vorstellungen der Höheren gehört, doch noch nie war ich in so engen Kontakt zu ihren Gebräuchen gekommen. Man sagte, sie würden an Wesen glauben, die hoch über uns herrschten und Bestimmer allen Lebens und des Todes seien. Sie würden jedem helfen, der sich ihre Hilfe erbat und jeden bestrafen, der in ihren Augen sündigte. Angeblich waren sie die Hüter des Lichts und die Herrscher des Dunkels, wären die Gerechtigkeit in Person und urteilten stets fair. Merkte man ja, wo sie blieben, wenn sie anderer Völker unterdrückten und ihnen jegliche Würde stahlen. Ich gab mir wirklich Mühe, doch ich wusste nicht, wo da die Gerechtigkeit blieb, die die Höheren anscheinend ja in Massen ab bekamen. Ich meinerseits glaubte an niemanden, außer an den ewigen Fluch des Lebens, der uns Jäger in dieser Welt halten sollte, und selbst daran zweifelte ich gelegentlich.

Der Kommandant war inzwischen auf die Knie gegangen und deutete mit zitterndem Finger auf mich. Als mir das klar wurde, machte ich erschrocken einen Schritt zurück.

„Was seht ihr in der Seele dieses Mannes? Ist er licht oder dunkel, erhellt meinen Geist um mir die Richtung anzuweisen“, murmelte der Kommandant und ich raunte Lynnea entsetzt ins Ohr: „Heißt das etwa, wenn er meint, sein Herrscher da denkt, ich bin böse, wird er mich töten? Und wenn er meint zu deuten, ich wäre gut, dann wird er mir vertrauen?“.

Lynnea nickte. „So ist es. Er vertraut wie kein Anderer auf die Kirche“.

Ich hoffte, seine Herrscher würden ihm irgendetwas geben, ein Zeichen oder so, denn ich hatte keine Lust, aufgespießt ab Boden zu liegen, nur weil mein Mörder an etwas glaubte, dass grundlegend unlogisch war. Schweigend sah ich auf seinen ausgestreckten Zeigefinger, als etwas hinter mich sauste und sich in meine Schulter krallte. Ich schrie leise auf, in Erwartung eines Schmerzes oder einem Pfeil in meiner Schulter, doch der blieb aus. Zitternd richtete ich mich auf. Ich spürte Krallen in meiner Schulter, Krallen eines Vogels. Aber was für ein Vogel?!

Langsam drehte ich meinen Kopf zur Seite und wurde fast geblendet. Leuchtend weiße Federn hockten neben meinem Gesicht. Der Vogel sah aus, wie ein Sonnenstrahl an einem Tag voller Gewitter und Wolken. Mir klappte der Mund auf. In unserem Wald gab es nur graufiedrige Vögel und ich hatte noch nie etwas reineres als dieses Tier unter dem Blätterdach unseres Waldes gesehen. Er gurrte leise und zwickte mich ins Ohrläppchen, als erwartete er etwas.

Aber was war es für ein Vogel? Eine Taube? Ein Adler? Irgendwie sah er, abgesehen von seiner Farbe, nicht besonders Schön oder eindrucksvoll aus. Ich griff nach dem warmen Körper und spürte ein dichtes Federkleid und einer vernehmliche Fettschicht unter meinen Händen.

„Ein Huhn? Die Götter schicken mir ein Huhn?!“, rief der Kommandant aus und starrte fassungslos auf den abstrakten Vogel. Auf dem Kopf thronte ihm ein roter Kamm und die Beine waren eine Spur gelblich, unter all dem Dreck.

„Unterschätzt nicht die Hühner“, meinte Lynnea mit der Spur eines Lächelns um die Lippen. „Sie gelten als Zeichen des Lebens und des Wohlstandes und dieses Exemplar dürfte wohl als Zustimmung der Götter gelten“.

Ich grinste erleichtert und musterte das Vieh in meinen Händen erneut. Wer hätte gedacht, dass es mir eines Tages das Leben retten würde?! Ich setzte es auf den Boden, damit es wieder fortfliegen konnte, aber das tat es nicht. Im Gegenteil: Wild kreischend schlug es mit den Flügeln und sprang immer wieder neben meinen Beinen auf und ab.

„Tja, diese Huhn hat wohl einen Narren an dir gefressen, Bastard“, meinte einer der Soldaten und ich stöhnte.

„Dann soll es wenigstens einen Namen haben“, rief sein Kamerad.

„Es liegt wohl an euch“, meinte Lynnea milde lächelnd. „Gebt ihm einen Namen. Als Lebensretter hat es das wohl verdient. Vielleicht kommt es eurer Meinung nach nicht von den Göttern, aber euren Dank hat es auf jeden Fall verdient. Es ist übrigens ein Mädchen“

Ich überging die Tatsache, dass Lynnea mich ansprach wie ihren Kommandanten und meinte kurz angebunden: „Nora“.

„Nora?!“, rief der Soldat entgeistert. „Was soll das denn für ein Name sein?“

„Ein Name der Bastarde. Was hast du erwartet?“, mischte sich der Andere erneut ein.

Ich wusste auch nicht, wieso ausgerechnet Nora, aber... Der Name lag gut auf der Zunge. „Was habt ihr gegen Nora?“, fragte ich und sah zu dem Federball zu meinen Füßen hinunter.

„Schluss jetzt. Wir gehen zurück zum Lager“, meinte der Kommandant.

Dann wurde ich wieder in die Mitte genommen und die Atmosphäre, die fast kameradschaftlich geworden war, verschwand wieder im Matsch und Regen wie ein Fußabdruck, der langsam vom Regen fort gespült wurde.

 

 

 

 

Liebe

6. Kapitel Liebe

 

Er hasste es. Er verabscheute es. Er wollte hier nicht sein.

Ich sah diese Gedanken sofort in dem Blick des blonden Soldaten, der am Rand des ehemaligen Stammeslager stand und den Kommandanten stumm musterte. Er hasste den Regen und den Wald und nur die Liebe ließ ihn hier bleiben. Die Liebe... Erst dachte ich, die loyale und aufrichtige Liebe zu seinem Kommandanten, zu seinem Königreich und Vaterland, doch dann bemerkte ich mein Irrtum. Es war eine stärkere Liebe. Die Liebe zu einer Frau.

Wie er sie ansah, wie er sie anlächelte und wie er zaghaft nach ihrer Hand griff, wie er mit ihr sprach und wie er versuchte, das Alles hinter seinem Gesicht zu verbergen, als Lynnea ins Lager trat. Er küsste sie sacht aufs Haar und Lynnea schloss die Augen, als sie ihm grinsend in die Seite zwickte. Diese Sekunden trauter Zweisamkeit lösten in mir eine Art Regung aus, die ich nicht deuten konnte. Es war keine Eifersucht, nein. Auch keine Verachtung. Es war einfach nur die Freude darüber, dass sie noch lieben konnten, in solchen Zeiten. Dass es irgendwo noch etwas Anderes gab, als diese elende Verzweiflung und die Angst.

Zwei Sekunden empfand ich fast so etwas wie Zuneigung, zu dem Pärchen, dann kam die Kälte wieder. In Form eine Lanze, die mir mit der stumpfen Seite in den Rücken gestoßen wurde.

„Glotz nicht so“.

Schnell ging ich weiter, mit gesenktem Blick. Der Kommandant warf Blicke zu Lynnea und ihrem Liebhaber, die ich nicht verstand. Sie waren voller Kummer und zugleich angefüllt mit Misstrauen und Hass. Aber wer verstand schon die Höheren?

Ich sah wieder zu Boden, als mir plötzlich auffiel, dass Lynneas Partner der blonde Soldat war, der den Ast zwischen mich und das Schwert geworfen hatte, bevor es meinen Hals durchtrennen konnte. Die beiden passten wahrlich zueinander. Sowohl vom Äußeren als auch vom Inneren. Obwohl ich über letzteres natürlich nicht wirklich viel sagen konnte.

Im Gegensatz zu den Grauen fesselten mich die Höheren nicht, im Gegenteil: Ich durfte mich frei in ihrem Lager bewegen. Vermutlich rechnete keiner damit, dass ich überhaupt fliehen wollte, wie sie es schon vor ein paar Stunden in der Höhle getan hatten.

So wanderte ich zwischen den einzelnen Grüppchen Höheren Hin und Her, belauschte ihre Gespräche und musste feststellen, dass es meist um Geld ging. Geld oder Frauen. Lynnea schien die einzige Soldatin zu sein, denn ich sah sonst nirgends eine Frau.

Irgendwann hatte ich es satt und ließ mich auf dem Baumstamm nieder, auf dem ich fast geköpft worden wäre, wobei ich meinen Kopf auf meine Fäuste sinken ließ und seufzte. Ich musste mir noch einmal über die Gesamtsituation klar werden. Unsere Stammesgeheimnisse waren fort und ich war der Einzige Vertraute, der überlebt hatte. Das hieß im Klartext, dass ich die einzige Chance der Höheren war und ich fast alles von ihnen bekommen würde, wenn ich wollte. Dem König schien die Angelegenheit wirklich sehr wichtig zu sein.

Der Kristall galt als Legende, aber wir, die Roten besaßen eine Karte, auf der der Weg eingezeichnet war, um zu ihm zu gelangen.

Wenn man der Sage glaubte, hatte einst Myron, ein großer und mächtiger Schattenengel einen Stern vom Himmel geklaubt. Er war für seine Gattin bestimmt, die wunderschöne Synthja. Sie war ein lichter Engel und ihre Liebe war verboten, trotzdem gebaren die beiden ein Kind. Doch in ihm wuchsen die Gene eines Schatten und eines Lichtgeschöpfes, so konnte es nicht überleben. Myrons Geist verweilte im kopflosen Schmerz, als er kurzerhand eine Zacke des Sterns abbrach und die Seele seines eigenen Kindes darin verbarg. So konnte es nicht leben, starb aber auch nicht. Synthja war todunglücklich, da sie sehen musste, wie ihr Kind, in einer Sternenzacke gefangen, dahinsichte und ließ sie in einen Kristall einfügen, den sie mit einem Fluch belegte. Die Kräfte dieses mächtigen und zugleich doch so verletzlichen Kindes sollten erst dann entfesselt werden, wenn sie dringend gebraucht wurden. So verbarg sie den Kristall an einen geheimen Ort und malte nur eine Karte als Schlüssel. Derjenige, der ihr Kind befreien würde, so sagte man, würde Synthjas ewigen Segen bekommen. Denn sie war machtlos gegen Myrons Kraft und nur ein Geschöpf, dass nicht von ihrer Rasse war, könnte ihren und Myrons Fluch brechen.

Ich glaubte nicht an diese Geschichte, aber in jeder Sage soll ja bekanntlich ein Körnchen Wahrheit stecken. Vielleicht hatte es sich wirklich einst so zu getragen, aber ich konnte beim besten Willen nicht annehmen, dass die Seele eines Kindes, eingesperrt in eine Sternenzacke, in diesem Kristall ruhte, wenn man mal von der Glaubhaftigkeit an der Existenz der Engel absah.

Kaum einer hat je einen Engel gesehen, egal ob dunkel oder licht. Früher, so erzählen die Alten, mussten sie zu tausenden in unserer Welt gesiedelt haben, heute haben sie sich zurück gezogen und leben nur noch als Einzelgänger in Einöden, in die nie jemand auch nur einen Schritt wagt. Es gibt verschiedene Versionen von ihrem Aussehen, manche behaupten felsenfest, sie hätten riesige, mächtige Schwingen, die ihnen aus den Schulterblättern stachen, andere wiederum waren sich darin sicher, dass sie nur durch ihre bestechliche Schönheit zu erkennen waren.

Ich hätte gerne mal einen Engel gesehen, sollte ich je aus diesem Wald heraus kommen.

„Kommandongtt! Wir haben hier jemanden!“.

Ich fuhr herum und sah zwei Soldaten, die langsam ankamen. Sie hatten viele Schrammen im Gesicht und ihre Rüstung sah etwas... verbeult aus.

Ich sah erst sie, dann das Bündel in ihren Armen an. Es war eine menschliche Gestalt, jedoch mit grünlicher Haut, sie schien fast mit Moos bewachsen... Oh nein. Ich schlug mir die Hand vor den Mund. Sie hatten doch nicht etwa...?

Aber jeder Zweifel wurde mir ausgetrieben, als sie den Körper fallen ließen und ich dem Wesen ins Gesicht blicken konnte. Dort lag er, der Dryad.

Baumgeister, Waldseelen, Wächter der Natur. Sie hatten viele Namen in vielen verschiedenen Sprachen. In manchen Ländern waren Dryaden vielleicht freundlich und höflich, aber in diesen Wäldern hausten nur die zurück gezogenen, wilden. Sie bewohnten die Bäume, gaben ihnen eine Seele und Gefühle. Nur einmal in seinem ganzen Leben konnte sich ein Dryad mit einem Baum verbinden und sollte einer der beiden sterben würde auch sein Verbindungspartner langsam den Tod zu spüren bekommen. Genau das Selbe war der Fall, wenn sie sich zu weit von einander entfernten.

Ich konnte es immer noch nicht fassen, als das Exemplar vor mir, begann sich zu regen. Es fauchte und ich bemerkte die beachtlichen Fänge an den Schneidezähnen. Dieser Dryad war männlich. Seine Haut wirkte wie bemalt, dunkelgrün und an einigen Stellen wuchs sogar Moos darauf. Seine Haare waren schwarz und strubellig, jedoch kurz. In seinen Augen spiegelte sich das dunkle, rissige Braun eines Tannenstamms. Um die Hüften und den Oberkörper trug er einen Fetzen, den man mit etwas Fantasie vielleicht auch als Kleidungsstück bezeichnen konnte.

Er sprang auf die nackten Füße und die beiden Soldaten machten ängstlich einen Schritt zurück, als er sich umsah.

Man sollte niemals, wirklich niemals, den Fehler machen, einen Dryaden zu stören. Das konnte böse ausgehen und die beiden Männer konnten sich glücklich schätzen, noch zu leben!

Ich schluckte, als die unheimlichen, braunen Augen mich erfassten und ein Schauer lief mir über den Rücken, als sein bedrohlich zischende Stimme an mein Ohr tönte.

„Du! Du! Jäger! Was hast du mit den Menschenviechern zutun?! Ich kenne dich.“

Er kam auf mich zu, geschmeidig wie eine Katze und stand schließlich so nah vor mir, dass ich seinen Atem riechen konnte, der ein Aroma von Tannennadeln besaß.

„Du bist ein Jäger. Ein Teil des Waldes. Du respektierst uns. Was machst du hier... bei ihnen?!“.

Die letzten Worte flüsterte er mir ins Ohr und ich konnte das Zittern meiner Stimme kaum noch unterdrücken, als er endlich von vier Soldaten fort gerissen wurde. Ich sah auf meine Brust. Dort, wo seine Hand gelegen hatte war ein grüner, moosartiger Abdruck auf meiner Jacke.

„Lasst mich los! Lasst mich los, ihr Dummköpfe!“, zeterte der Dryad, der von vier Soldaten festgehalten wurde. „Ihr Miststücke, ihr kleinen vermoderten Tannenzapfen! Bringt mich zurück zu ihr, jetzt!“. Er schlug um sich und jeder Soldat musste eines seiner Körperteile halten, damit er Ruhe gab.

„Sie haben uns, Ell, sie haben uns“, wimmerte er leise und bemerkte den Kommandanten gar nicht, der inzwischen vor ihm stand.

„Wo habt ihr ihn her?“, fragte der Kommandant Stirn runzelnd.

„Wir wollten nur eine Tanne fällen. Zum Brennholz machen“, gab einer der Soldaten leise zu. „Und dann kam das hier plötzlich aus dem Stamm“.

Brennholz... Also wirklich... Meinten sie wirklich, bei diesem Wetter normales Holz anzünden zu können?!

„Und warum habt ihr Idioten ihn mit gebracht?!“, rief der Kommandant wütend.

„Sie haben uns, Ell...“, jammerte der Dryad und rollte sich am Boden zusammen.

„Wir wussten auch nicht... wir dachten, er könnte wichtig sein“.

Nun wurde es mir wirklich zu viel. Das soviel Dummheit überhaupt erlaubt war.

„Meine Herren...“, mischte ich mich ein. „Das ist ein Dryad. Ein Dryad aus dem verfluchtem Wald. Vielleicht ist es Ihnen nicht bekannt, doch diese Exemplare sind nicht besonders gut auf ungebetene Gäste zu sprechen und ich rate Ihnen, ihn schnellstens wieder frei zu lassen, wenn ihr nicht ganz zerfetzt werden wollt“.

Der Kommandant fuhr zu mir herum und ich dachte kurz, er wolle mich anranzen, doch dann seufzte er nur.

„Lasst ihn frei“.

Ich nickte zufrieden. Das würde eine Menge Scherereien ersparen.

„Kommandongt! Wartet“, rief da eine bekannte Stimme und ich sah, wie Lynnea sich durch die Menge an Schaulustigen kämpfte, die sich inzwischen um das wimmernde Bündel am Boden versammelt hatte. „Er könnte uns tatsächlich von Nutzen sein“.

Ich unterdrückte ein Aufstöhnen und nahm alles zurück, was ich vorhin über Lynneas Inneres gesagt hatte. Da war auch nicht mehr drin als verschimmeltes Stroh, so schien es zumindest.

„Wieso glaubt Ihr das, Lynnea?“, fragte der Kommandant mit gerunzelter Stirn. Die vielen eingefurchten Stellen in seinem Gesicht zuckten, als er zu dem Dryaden schielte, der immer noch heulend da lag.

„Er kennt die Umgebung wie kein Anderer. Dryaden besitzen ein natürliches Orientierungsvermögen und er könnte uns auf der Reise zum Kristall eine große Hilfe sein, falls der Jäger nicht weiter kommt“.

„Moment mal!“, rief ich aufgebracht. „Was für eine Reise?! Wer hat gesagt, dass ich mit komme?“

Der Kommandant hob die Hand. „Schweig. Denkst du das wirklich, Lynnea?“

„Nein, ich schweige nicht!“, rief ich empört. „Ich werde auf keinen Fall eine Reise zu irgendeinem Kristall machen, nur weil ihr das wollt!“.

Der Kommandant seufzte und drehte sich langsam zu mir um. „Ich dachte, wir hätten uns geeinigt...?“. Dabei sah er bedeutend zu dem Baumstumpf und zog die Augenbrauen hoch.

Ich stöhnte und vergrub mein Gesicht in meinen Händen. Das lief ja wirklich wunderbar... Doch die Höheren hatten mich in der Hand und ich konnte nichts dagegen tun.

Als ich wieder aufsah, lag ein neuer Blick auf mir. Der Blick war eisblau, kräftiger als die des Kommandanten und es lag mehr Tiefe in ihnen. Es war der Blick des Gefährten von Lynnea. Er musterte mich von oben bis unten, dann sah er zu seinem Anführer.

Lynnea bemerkte ihn, denn sie warf ihm beruhigende Blicke zu, sie schienen zu sagen: Mach dir keine Sorgen. Ich weiß, was ich tue.

Aber genau das war eben nicht der Fall! Ich sah auf den Drayden, der am Boden lag und inzwischen wohl wieder zu sich kam. Er setzte sich auf und und sah sich um. Anscheinend suchte er nach einer Möglichkeit, zu entkommen, doch die Höheren standen in so dichten Kreisen um ihn herum, dass er fliegen müsste, um auszubrechen. Doch das konnte er nur in einem bestimmten Umkreis seines Baumes, wenn seine menschliche Gestalt langsam verblasste und er für ungeübte Augen nur zu einem seltsamen Flimmern der Luft wurde.

„Ich rate euch... nehmt ihn mit!“, rief Lynnea erneut.

Ich konnte nicht anders, ich musste mich einmischen. „Mylady! Ihr könnt keinen Dryaden zähmen! Diese Wesen haben Temperament und in ihnen brennt ein Feuer. Niemals könnt ihr einen Dryaden zu eurem Gefolge hinzufügen. Mit uns Jägern mag das gehen, doch der einfachste Weg ist es, ihn wieder frei zu lassen!“

Lynnea funkelte mich an und zischte: „Halt den Mund, Bastard“

Der Kommandant nickte zustimmend. „Oder müssen wir dir das Reden etwa austreiben? Halt dich aus Angelegenheiten heraus, die dich nichts angehen!“

Ich schnaubte beleidigt. „Das geht mich sehr wohl was... Uh“. Dann wurden mir die Worte tatsächlich ausgetrieben, durch einen kräftigen Schlag in die Magengrube.

Ich schnappte nach Luft und hielt dann meine Zunge im Zaum.

Der Kommandant lächelte zufrieden und drehte sich dann wieder zu Lynnea und dem Dryaden. Am liebsten hätte ich ihm den Hals umgedreht. Wie konnte man nur so arrogant sein? Trotzdem schwieg ich und bewegte mich kein Stück von der Stelle.

„Dryad!“, rief der Kommandant. „Wirst du uns folgen und den Weg geleiten?“.

Der Dryad fauchte zornig und spuckte dem Kommandanten vor die Füße. „Niemals wird ein Dryad sich den widerlichen Weichhirnen von Menschen unterstellen“.

Die Gesichtszüge des Kommandanten verfinsterten sich und er knurrte: „Bringt ihn zum Reden“.

An ihm würden sie sich die Zähne ausbeißen. Anscheinend versuchten sie, ihn einfach so, durch Schläge zum Reden zu bringen, was von ihrer Unwissenheit und Dummheit zeugte. Gleich drei Soldaten machten sich mit Eifer ans Werk, doch keiner ihrer Schläge hinterließ auch nur einen Ausdruck des Schmerzes oder einen blauen Fleck auf seinem Körper oder Gesicht. Dummköpfe...

Doch anscheinend war der Kommandant doch nicht ganz so dumm wie ich dachte. Denn auch er schlug sich die Hand vor die Stirn und stöhnte.

„Nicht so! Ihr beiden da... Ja, ihr! Na, lauft schon, worauf wartet ihr denn noch? Ihr wisst doch, wo sein Baum steht!“.

Na immerhin wusste er mehr über Dryaden, als ich dachte. Sie mussten auch welche haben, in ihrem Heimatland.

Die beiden Soldaten verschwanden eilenden Schrittes im Wald und der Dryad starrte ihnen fassungslos hinterher.

„Nein!“, zeterte er. „Nein, lasst sie in Ruhe!“.

Er wollte ihnen hinterher laufen, doch ein paar Höhere fingen ihn ab und ließen nicht zu, dass er sich los riss.

Ich schluckte. Nicht nur Ich litt unter ihren ungerechten Methoden...

Trotzdem sagte ich nichts, da ich nicht wild auf weitere Schläge war. Der Dryad verlor inzwischen jegliche Selbstbeherrschung, falls diese je existiert hatte.

Ich sah ihm dabei zu und fühlte mich auf seltsame Weise mit ihm verbunden. Wir beide waren Opfer der Höheren und in seinen Augen las ich die selbe Hilflosigkeit wie sie wohl auch in meinen Augen zu sehen war. Lynnea und ihr Gefährte sahen gleichzeitig zu mir, in einem Blick las ich Unsicherheit und Interesse, in dem Anderen Misstrauen und eine Art Zorn. Wer jetzt denkt, es wäre klar, von wem welcher Blick stammte, den muss ich wohl enttäuschen. Den der Letzte stammte von Lynnea, der erste von ihrem Gefährten. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass sie die Oberhand in der Beziehung hatte.

Ich persönlich hatte mich immer von einer engeren Beziehung als Jagdpartner in Sachen Frauen zurück gezogen. Wenn man mal davon absah, dass kaum noch einer wusste, was Liebe war. Ich denke, in einer Art habe ich es schon gewusst, in der Art, wie ich meinen Stamm liebte. Doch selbst diese Liebe macht mich schwach, bot meinen Feinden einen guten Zielort dar.

Aber ich glaube, zu jener Zeit wusste ich noch nicht, dass Liebe so einfach sein konnte, so bedingungslos und einfach.

Nach einer Weile beruhigte sich der Dryad. Er schien unter Stimmungsschwankungen zu leiden, denn er brach wieder am Boden zusammen und weinte bitterlich. Er schniefte in seine Hände und jammerte durchgehend:

„Oh, sie haben uns Elly“, bis es dem Kommandanten zu viel wurde. Schnaufend ging er auf den Dryaden zu und versetzte ihm einen Tritt in den Rücken, was den Jungen dann auch zum Schweigen brachte, obwohl er wohl kaum etwas davon gespürt hatte.

 

Mit der Zeit verflog wohl die Bewunderung vor dem Dryaden, denn die Menschenmenge löste sich langsam auf und verteilte sich wieder im Lager. Auch ich wandte mich ab, denn erstens konnte ich nicht mehr sehen, wie das unschuldige Geschöpf litt und zweitens zweifelte ich sowieso daran, dass die Soldaten eben jene Tanne wiederfinden würden, aus der sie den Dryaden aufgestöbert hatten.

Erst, als ein durchdringender Schrei das ganze Lager erzittern ließ, fuhr ich wieder herum. Der Dryad lag am Boden und presste sich die Finger schreiend auf seinen rechten Oberarm. Ich erwartete Blut oder mindestens Prellungen, doch nichts veränderte sich auf der grünen Haut außer ein leichtes Zittern, dass durch seinen ganzen Körper zu laufen schien.

Er schluchzte auf und warf sich unter Krämpfen zu Boden, zusammen gekrümmt krallte er seine Fingernägel in sein Fleisch. Die Mundwinkel des Kommandanten umspielte so ein gehässiges Lächeln, dass mir schlecht wurde, und ich mich wegdrehen wollte. Jedoch griffen gleich vier Hände nach mir und schoben mich zurück zu dem Dryaden.

„Sieht gut hin! Das wird auch mit dir passieren, wenn du nicht artig bist“.

Ich schüttelte verwirrt den Kopf. Ich war doch nicht einmal ein Dryade! Niemals könnten sie mir solche Qualen bereiten, so lange ich mich nicht mit jemandem verband! Trotzdem schwieg ich verbittert und richtete meinen Blick auf die Arme Kreatur, die sich da am Boden wälzte, immer durch neue Schläge gepeinigt, die nur für ihn zu sehen waren.

Doch irgendwann hörte auch das auf und der Tag nahm seinen Lauf.

 

Macht

7. Kapitel Macht

 

Ich hatte mir die Behausungen der Höheren anders vor gestellt. Heller und größer, wie sie selbst. Doch das Gebäude, zu dem sie mich und den Dryaden führten, war keineswegs so eine Art von Bauwerk.

Schwarze Türme ragten hoch in den Himmel hinein und schienen sich bis in die Wolken zu bohren, während finstere Flaggen im Wind wehten, als würden die Schattenengel persönlich durch sie hindurch fegen. Die großen, verwucherten Backsteinmauern sahen alt und morsch aus, trotzdem hielten sie allem Anschein nach schon jahrhunderte lang die Last einer riesigen Festung.

Vier Tage waren wir durch den Wald gelaufen, vier verdammte Tage. Der Dryad hatte keine Probleme mehr gemacht und stolperte mich unzufriedener Miene neben mir durch den Morast. Ich wusste, dass er nicht besonders lange durchhalten würde, wenn wir uns noch weiter von seiner Tanne entfernten, doch den Kommandanten schien das einen Dreck zu interessieren. Ich war nicht gefesselt, trotzdem stand ich unter ständiger Bewachung der Höheren und konnte nicht einen Finger rühren, ohne dass jemand zusammen zuckte und mich finster musterte.

Ich war gleichermaßen erleichtert und erschrocken, als ich die Festung sah. Noch befand ich mich im verfluchten Wald, doch die Burg stand etwas abseits der Grenze, die in Form eines schmalen verbrannten Grünstreifens markiert war. Naja, es war ein Grünstreifen gewesen. Heute waren nur noch Asche und kahle Baumskelette zurück geblieben.

Ich machte mir große Sorgen, denn noch nie hatte ein Jäger dieses Gebiet verlassen, man sagte, keiner könnte den Fluch unbeschadet durchschreiten. Der Dryad, der vor mir ging passierte ohne Probleme die etwa vier Fuß breite Grenze, doch ich blieb zögernd stehen.

Sofort wurde ich angeraunzt. „Was ist?! Na los, mach schon!“

Ich wehrte mich gegen den festen Griff an meinem Handgelenk. „Ich weiß nicht, ob ich hier raus kann“, rief ich aufgebracht.

Lynnea, der Kommandant und etwa zwei Drittel der Soldaten standen ungeduldig auf der anderen Seite, doch ich ging nicht weiter. Lynneas Gefährte holte auf und stellte sich neben mich. „Du redest von dem Bann, der euch in diesem Wald hält?“, fragte er und ich erkannte keine Regung in seiner Stimme, die auf eine Falle oder Fangfrage hinwies.

Ich nickte langsam. „Ich bin mir nicht sicher, ob es ihn gibt, aber...“

Der Mann nickte ebenfalls und strich sich durch das kurze, blonde Haar. „Du musst es versuchen. Sonst werden sie dich gleich abstechen“.

Ich schluckte und machte einen Schritt auf die Grenze zu. Augenblicklich ertönte ein schrillen Fiepen in meinem Ohr. Erschrocken presste ich mir die Hände darauf, doch das half keineswegs. Lynnea sah mich Stirn runzelnd an und mir wurde klar, dass nur ich das grausame Geräusch hörte. Also machte ich einen Schritt weiter, nur noch wenige Zentimeter trennten mich von dem verbrannten Gras. Aus dem Fiepen schälten sich langsame Stimmen, Ätzend für meine Ohren, Giftig für meinen Kopf.

Ich sah angestrengt zu Boden, achtete nicht auf die Stimmen und versuchte, mich abzulenken, doch nichts half. Einzelne Wörter lösten sich aus dem Chaos.

„Fluch. Tod. Erniedrigung“.

Ich sah zu Lynneas Gefährten, doch der musterte mich nur stumm mit einem sorgenvollen Blick. Also machte ich noch einen schritt und dann schlug eine Welle von Schreien, Ausrufen und Stimmen über mir zusammen. Benommen bemerkte ich, wie ich in die Knie ging, doch ich konnte mein Gewicht so verlagern, dass ich immerhin in der Mitte des Grasstreifens aufschlug.

Die Stimmen erzählten nichts als Tod, Angst und Schmerz. Ich griff mir an die Brust, in der Panik, das eigene Blut zu spüren, doch da war nichts, nur der moosgrüne Schlamm des Dryaden. Auf Knien krabbelte ich weiter... ein Schritt noch, nur noch ein Einziger...

Aber es hagelte erbarmungslos Schreie und Stimmen auf mich ein und ich fühlte, wie ich langsam zur Seite kippte. Sämtliche Kraft wich aus meinem Körper und meine Beine kribbelten angenehm, als sie mich nicht mehr tragen musste. Ich sank in die schwarze Asche und dachte, ich würde taub werden. Alles drehte sich und das durchgängige Grau des Himmels wurde durchsetzt von gleißenden Punkten, die mein Sichtfeld verdeckten und dann schließlich immer größer wurden, bis ich nichts mehr sehen konnte.

 

„Da laufen sie“, lachte er hämisch. „Sieh, wie sie sich fürchten. Sieh, wie sie versuchen, ihr eigenes, dreckiges Leben zu retten. Sie alle werden sterben, heute Nacht noch, oder den Rest ihres Lebens verflucht sein“.

Dann spuckte er aus und nahm einen tiefen Zug aus der Pfeife, die seine Haut hatte grau werden lassen und seine Zähne gelb verfärbt hatte. Er stand wie ein Standbild eines Königs auf der kleinen Anhöhe, das graue Haar flatterte im Wind, seine Augen blitzten abenteuerlustig. Und doch war er nicht mehr der selbe junge Recke wie vor ein paar Jahren. Die Jahre hatten an ihm genagt und dort, wo einst das kräftige junge Herz eines kühnen Ritters geschlagen hatte, pochte heute nur noch ein kläglicher Überrest dessen, was die Macht im Überschwang brachte.

Janys sah auf die vielen schreienden Menschen hinunter, die dort verzweifelt versuchten, den Pfeilen zu entgehen und dem Tod von der Schippe zu springen. Er hatte nie verstanden, wieso dies getan werden musste, doch er war nicht befugt, an irgendeiner Tat seines Hauptmanns zu zweifeln. Vielleicht war es tatsächlich richtig. Vielleicht hatte er sich all die schlaflosen Nächte umsonst beschert, vielleicht war er einfach zu sentimental.

Also schwieg er nur kühl und betrachtete voll Sorge der zerfurchte Haut seines Vorgesetzten, während dieser philosophierte: „Es bleibt immer nur einer übrig, der, der die meiste Kraft besitzt“.

Janys nickte langsam, doch ihm wollte nicht einleuchten, was der Hauptmann damit sagen wollte. Das es nie mehr Platz auf der Welt gäbe, als für ein Volk? Er gab sich große Mühe, doch er fand keinen Fehler daran, die Welt mit anderen zu teilen.

Kein Wunder, dass die Jungen dich früher aufgezogen haben. Du denkst wie ein Weib.

Janys spuckte aus. Nicht das er etwas gegen Frauen hätte, oh nein. Aber es gehörte sich nunmal so für seine Familie, die Frauen zu unterdrücken. Doch er konnte kein Gefallen beim Anderen Geschlecht finden, obwohl er bereits verheiratet war. Ob die Jäger auch so etwas wie Liebe kannten? Er sah hinunter und entdeckte einen kleinen, stolpernden Schatten zwischen all den großen, breitschultrigen Gestalten.

„Hauptmann! Sie haben Kinder dabei!“, rief er verwirrt aus.

„Natürlich haben sie das!“, erwiderte der Hauptmann ruhig und blitzte Janys an. „Meinst du, wir veranstalten nun jedes Jahr so eine Hetzjagd, wenn die Kinder wieder erwachsen sind? Nein, du denkst einfach zu weich, Janys. Wir vernichten sie alle, auf einen Schlag“.

Janys betrachtete mit schlechtem Gewissen, wie der Schatten taumelte und in den Dreck fiel. Er sah nicht hin, als er überritten wurde. Welche Mutter würde nun ihres Lebens nicht mehr froh? Welchem Leben hatte der Reiter gerade den Sinn genommen? Er hasste den Krieg, vor allem, wenn er ungerecht war.

Die Fanfaren der Soldaten durchschnitten die Mittagsluft wie das störende Brummen einer Hummel. Sie brachten den einen den Sieg, den Anderen den Tod.

Immer mehr Körper fielen ins Gras und standen nicht wieder auf, Janys wurde schlecht, als er all das Blut sah. Nein, für den Krieg war er wahrlich nicht geschnitzt. Doch er hatte keine Wahl und hatte sie auch nie besessen.

Während sich wenige Jäger in den Wald flüchten konnten, starben die Anderen einen elenden Tod, voller Schmerz und Angst. Janys meinte, sie aus allen Augen zu sehen, stechend und gleißend, wie das blendende Licht der Sonne.

Schritte näherten sich und er drehte sich erst um, als er eine bekannte Stimme hörte.

„Gebieter... Ich bin so weit. Ich denke, wir können es nun wagen“.

Janys fuhr herum und blickte sofort in die stechenden, roten Augen, die verheißungsvoll und zugleich kalt unter der schwarzen Kapuze hervor lugten. Wenn es Eines gab, dass Janys mehr hasste als den Krieg, dann war es Antropos. Der alte Magier hatte etwas, dass ihm ein kaltes Gefühl in der Magengrube bereitete und immer, wenn die roten, pupillenlosen Augen sich an sein Gesicht hefteten, lief ihm eine Gänsehaut über den Rücken.

Er trat zwei Schritte zurück, blieb jedoch in der Nähe des Hauptmanns um eingreifen zu können, sollte etwas passieren. Er hatte Antropos noch nie vertraut und würde es auch nie tun, bevor er sich beweisen würde.

„Denkst du, du bist wirklich stark genug dafür?“, fragte der Hauptmann mit zusammen gezogenen Augenbrauen und Antropos neigte den Kopf, wobei seine Kapuze ein Stück zurück rutschte und den Anblick auf seinen nackten, rot schwarz tätowierten Schädel frei gab. Janys war davon überzeugt, dass er tätowiert war, doch ein paar geschwätzige Waschfrauen vom Schloss waren fest der Überzeugung, er würde dem Rat der 6 entstammen. Natürlich war das Unsinn, denn niemals würde sich einer der 6 Dämonen, die in alten Sagen vor kamen, in die Realität versetzen und sich eben aus Lust und Laune den Höheren unterstellen.

Janys verschränkte die Arme vor der Brust und schnaubte, jedoch so leise, dass sein Hauptmann es nicht hören konnte. Er misstraute dem Magier schon seit er aufgetaucht war, er verfluchte jenen Morgen, als der Nebel noch über die Felder gewabert war und der Mann wie ein Geist aus dem Feldern entstiegen war. Er selbst war es, der den Magier als Erstes gesehen hatte, er selbst hatte ihn angehalten und er selbst war Zeuge seines ersten Zaubers gewesen. Am eigenen Leibe hatte er die Macht des Magiers erfahren. Ein Wink und er war zur Seite geflogen wie ein Kieselstein, war an den Felsen geschmettert worden und drei Monate im Krankenlager verbracht.

Er erinnerte sich noch gut an den ersten Tag außerhalb des kleinen Zimmers. Es war so viel anders gewesen als früher, beinahe hätte er nichts und niemanden wieder erkannt. Doch mit viel Mühe war er damals wieder in den Alltag hinein gekommen. Er war nicht so dumm zu glauben, dass der Magier sich wirklich seinem Hauptmann unterstellte, nein. Sie waren lediglich eines seiner Hilfsmittel, für einen Spielzug, den nur er selbst wusste.

Trotzdem hatte er immer geschwiegen, sogar, wenn es ihn selbst in den Wahnsinn getrieben hatte, zu sehen wie Antropos sich immer mehr Macht über die Entscheidungen verschafft hatte, selbst bis zum Königshaus. Und nun begann er langsam, alle Anderen aus dem Weg zu schaffen. Mit den Jägern hatte es begonnen und weitere Völker würden folgen, wenn nicht endlich jemand etwas unternahm.

Erneut ruhte sein Blick auf den Leichen im Feld. Immer mehr Jäger rannten kopflos und Hilfe suchend in den Wald, unwissend der Gefahr, die dort lauerte. Ein Geräusch riss ihn aus seinen Gedanken und automatisch legte sich seine Hand auf den Schwertgriff, das einzige, was ihm all die Jahre treu geblieben war. Doch ein stechender Blick seines Vorgesetzten ließ ihn die Bewegung wieder zurückführen, obwohl es ihm widerstrebte. Antropos neigte den Kopf und lächelte. Seine rotschwarzen Lippen entblößten schwarze Fänge und ein so widerliches Lächeln umspielte seine Mundwinkel, dass Janys schlecht wurde. Er würde bei seinem Hauptmann stehen bleiben, egal was da käme, trotzdem musste er sich zusammen reißen.

„Dann beginnt nun, Antropos“, befahl der Hauptmann herrisch und streckte seine Hand aus. Darin ruhte ein kleiner Gegenstand. Ein Ring, stellte Janys beim näheren Hinsehen fest.

„Gebieter, nein...“, rief er erschrocken, doch der Hauptmann hob die Hand.

„Sag nichts, Janys. Zweifle nicht an meinen Entscheidungen!“.

„Ja, Gebieter“, murmelte Janys leise, doch in ihm kochte die heiße Wut hoch. Wozu im Namen des Teufels brauchte Antropos den königlichen Siegelring? Damit hatte er mehr Macht als irgendjemand Anderes! Am liebsten wäre er Antropos an den Hals gesprungen, doch stattdessen beschränkte er sich auf zornige Blicke.

Der Magier griff mit spitzen Fingern nach dem kleinen goldenem Ring, auf dem ein roter Rubin mit eingraviertem Symbol befestigt war.

„Nun gut. Ihr haltet euch an die Abmachung?“, fragte Antropos und der Hauptmann nickte. „Ja. Der König lässt ausrichten, dass er einverstanden ist“.

Was für eine Abmachung? Der König?! Das war doch nicht der... Siegelring des Königs?! Janys schluckte und biss die Zähne zusammen. Das durfte doch nicht wahr sein!

Antropos beugte sich über das kleine Schmuckstück und die Bäume rauschten, als würden sie seinen Chor darstellen, als er die Faust ballte und die roten Augen schloss. Seine rote Zunge brachte Laute hervor, die einen Würgereiz in Janys auslösten und kurz überlegte er doch, ob die Waschfrauen nicht doch richtig lagen. So eine Sprache konnten wirklich nur die Dämonen beherrschen!

Janys kniff die Lippen zusammen und stellte sich an die Seite des Hauptmanns, der mit fasziniertem Blick Antropos´ Faust beobachtete. Erst jetzt fiel es Janys ebenfalls auf. Eine Art schwarzer Schatten hatte sich um die Hand des Magiers gebildet. Er breitete sich immer mehr aus und schien zu vibrieren. So fest, dass Janys fast danach greifen konnte. Mit misstrauischem Blick verfolgte er die schwarze Masse, die nun bis zum Ellenbogen des Magiers reichte. Er trat an die Spitze des kleinen Vorsprungs, auf dem sie standen und blickte auf die Jäger hinab, wie Janys es ein paar Minuten zuvor getan hatte.

Nur noch vereinzelte Gestalten stolperten zwischen den Rittern Hin und Her, alle Anderen waren entweder tot oder im Wald. Und genau dieser schien nun Ziel des Magiers zu sein. Mit großer Geste holte er aus, der schwarze Ärmel rutschte von seinem Arm und ließ Janys keinen Zweifel mehr, es war wahrhaftig ein Dämon. Vor Schreck machte er einen Schritt zurück und starrte auf die rote Haut, auf der sich Muster schlangen, als würden sie direkt aus seinem Fleisch entstammen. Den Hauptmann schien das nicht sonderlich zu entgeistern, er betrachtete nur mit ruhiger Miene Antropos´ Hand, die er nun öffnete und etwas in Richtung Wald schleuderte. Niemand hätte einen solchen Wurf geschafft, doch es schien als würde der Wind selbst Antropos den Ring entreißen und bis weit zu den Bäumen zu tragen. Schon nach wenigen Sekunden konnte man ihn nicht mehr erkennen, er war zwischen den Baumwipfeln verschwunden.

Janys brüllte auf und stürzte nach vorne, doch der Hauptmann hielt ihn fest.

„Halte ein!“, schrie er, dann ging ein unglaubliches Beben durch die Erde. Es schien, als würde irgendwo in der Ferne eine furchtbare Explosion herrschen. Die Ausläufer rissen Janys und den Hauptmann zu Boden, nur Antropos blieb sicher stehen als wäre er Herrscher allen Übels. Weit hinter Janys' Position entstand etwas, dass er noch nie gesehen hatte. Eine neue Macht schien sich auszubreiten und er rechnete damit, dass sie ihn jeden Moment erreichen würde, doch sie schien sich auf den Wald beschränken.

Plötzlich blitzte wieder etwas in Antropos Hand auf und er stieß sie gen Himmel, als sich der Ring an seinen Finger schmiegte als hätte er nur darauf gewartet, die Hand zu wechseln. Janys sah verzweifelt zu seinem Hauptmann, doch das Beben wollte nicht aufhören und sein Vorgesetzter regte sich nicht mehr.

„Was tut ihr da?!“, brüllte Janys gegen das Geräusch von polternden Steinen und Kieseln an, doch Antropos beachtete ihn nicht. Er hatte nur Augen für den Ring. Janys nahm all seine Kraft zusammen und zog sich bis zum Vorsprung, um einen Blick auf den Wald zu erhaschen. Er war nicht mehr der Selbe.

Die einst so wunderbar saftig grünen Blätter waren nun schwarz und faulig, die Schatten zwischen den Stämmen waren nun nicht mehr verlocken sondern abstoßend und unheimlich. Vögel stoben zwischen den Ästen auf und suchten das Weite, zurück blieben einzig und allein die Raben. Es war als hörte man die Bäume selbst ächzen und klagen, ihre Stämme verwandelten sich innerhalb kürzester Zeit in schwarze Holzüberreste, die von Moos überwuchert mehr tot als lebendig wirkten.

Außerdem tat sich etwas an den Ausläufern des Waldes. Ein riesiger Kreis aus Asche zog sich langsam um das Gras und alles verdorrte innerhalb weniger Sekunden, während die Wolken am Himmel sich zusammen ballten und sich schwarz verfärbten. Sie schickten Regen hinab, doch er spülte die Asche nicht fort, im Gegenteil. Sie haftete untrennbar am Erdboden und Janys wusste sofort, dass sie auch nie weichen würde.

Zitternd schielte er zu Antropos. Dieser lachte schallend und seine Stimme hallte in Janys Kopf wieder, als er schrie: „Ewig gebannt seid ihr in diesem Wald und ewig werdet ihr es bleiben! Wenn ihr geht wird der Tod sich euch nehmen und wenn ihr drin bleibt werdet ihr diesem Elend nie entfliehen“

Dabei blitzte etwas in seinen Augen auf, das Janys noch nie zuvor gesehen hatte. Habgier, Wahnsinn und Hass zugleich in eine solch abscheulichen Mischung, dass er nicht anders konnte, als dem ein Ende zu setzen. Brüllend sprang er auf und sprang gegen Antropos. Der Magier war auf keinen Angriff gefasst, als taumelte er und der Ring fiel ihm aus der Hand. Blitzschnell zog Janys sein Messer und versenkte es tief in der Brust des Dämons. Wie lange hatte er auf diesen Moment gewartet? Genüsslich stieß er die Klinge immer tiefer in das Fleisch. Doch Antropos starb nicht. Er grinste Janys nur an und keuchte: „Gib es auf. Du kannst mich nicht töten. Das kann keiner, nicht einmal du, tapferer Krieger!“

Erschrocken zog Janys sein Messer aus dem Körper des Dämons und versenkte es erneut in seinem Brustkorb, doch vergeblich. Da war nicht einmal Blut... Nur ein schmatzen und glucksen... Immer und immer wieder versuchte er, den Dämon umzubringen, obwohl er längst verstanden hatte, dass er verloren war. Denn im Gegensatz zu Antropos war er nun Mal nur ein Mensch und nicht unsterblich.

Beim fünftem Stich gab er es auf und sprang wieder auf. Mit zitternden Fingern griff er nach dem Ring, steckte ihn in die Tasche und rannte davon. Neben ihm explodierten Felsen, Erde flog auf und Steinsplitter zerkratzten ihm das Gesicht, doch immer konnte er im letzten Moment ausweichen. Janys hatte keine Ahnung, wo er hinlief, doch er wollte nur fort von Antropos. Dieser blieb ihm jedoch beharrlich auf den Fersen und während Janys´ Lunge immer heißer wurde stand auf Antropos Stirn nicht eine Schweißperle. Es schien als würde er über den Boden fliegen und nicht laufen. Keuchend sprintete Janys durch die Landschaft, die wie ausgestorben wirkte. Wieso war hier denn niemand? Natürlich. Der Zauber. Der Hauptmann war ebenfalls gestorben und alle Anderen Soldaten hatten viel näher gestanden als dieser.

Irgendwann verklang das Zischen hinter ihm und Janys wagte einen Blick über die Schulter. Antropos war verschwunden. Trotzdem lief er weiter, immer schneller, immer weiter. Erst, als seine Beine ihn nicht mehr trugen, brach Janys zusammen. Die Jäger waren außer Gefecht. Wenn es einen Krieg gäbe, könnte ihnen nun keiner mehr zur Hilfe eilen. Sie waren hoffnungslos verloren und anscheinend war er der Einzige, der das realisierte.

 

 

 

 

 

 

Stolz

8. Kapitel Stolz

 

„Wieviel Zeit gebt ihr ihm?“

„Ein halbes Jahr. Nicht mehr. Vielleicht sogar weniger“.

Die Stimmen hinterließen einen widerlichen Nachhall in meinem Kopf. Ich schmeckte Blut auf meine Zunge. Wo war ich? Wer war ich? Was tat ich?

Langsam, ganz langsam hob ich meine Augenlider. Dann fiel mir alles wieder ein. Der Dämon... Janys... Der Hauptmann!

Erschrocken fuhr ich hoch und hielt gleich darauf mit Schmerz verzerrter Miene inne. Mein Kopf dröhnte als würde ihn jemand aufsägen. Und zwar mit einer stumpfen Säge.

Sofort fuhren drei Gestalten am Fenster zusammen und drehten sich zu mir. Ich erkannte Lynnea, den Hauptmann und eine fremde Frau. Sie war sehr alt und trug seltsame Kleider. Sie waren aus Samt und viele bunte Schellen hingen an den Säumen. Wenn sie sich bewegte klimperten sie leise und wohlklingend, ganz als würden sie zu ihr gehören. Um den Kopf trug sie ein violettes Kopftuch, an dem ebenfalls Glöckchen hingen. Ihr Gesicht glich dem eines runzeligen Apfels doch um den Mund zierten auch viele Lachfältchen ihr zerfurchtes Gesicht. Sie sah mich mit aufmerksamen Blick an, als würde sie nach etwas suchen, was sie aber anscheinend nicht fand.

„Bastard!“, rief der Hauptmann und ich dachte fast, so etwas wie Erleichterung in seinen Augen zu lesen. „Wie geht es dir?“

„Mir ist ein bisschen schlecht...“, meinte ich vorsichtig und bewegte meine Beine. „Was ist mit Janys? Und den anderen Jägern? Wurde der Wald noch einmal verflucht?! Ich verstehe gar nichts mehr!“. Ich kniff meine Augenbrauen zusammen und massierte mir die brummenden Schläfen.

Lynnea sah mich verwirrt an und fragte: „Wovon redet Ihr denn bitte?!“

„Er wird noch etwas verwirrt sein“, meinte die alte Frau. Ihre Stimme war genau so knartschig wie ihr Gesicht.

„Nein, ich bin nicht verwirrt!“, protestierte ich empört. „Ich habe es doch ganz genau gesehen... Janys und...“. Dann stockte ich. Mir würde sowieso niemand glauben. „Ach, vermutlich habe ich nur geträumt. Wo bin ich? Und was ist an der Grenze passiert?“.

Ich nahm mir vor, später etwas über diesen gruseligen Antropos und Janys heraus zu suchen.

„Du bist zusammen gebrochen und hattest Krämpfe“, berichtete Lynnea, nachdem sie sich stumm eine Erlaubnis des Hauptmanns eingeholt hatte. „Und dann haben wir dich zur Burg getragen. Diese alte Frau hier“, sie wies auf die Glockenfrau „meinte, etwas von Heilkünste zu verstehen. Wir haben dich in ihrer Obhut gelassen. Du warst einen halben Tag ohnmächtig“.

Ich lauschte ihr angespannt. Sie sagte nichts von einer Schlacht oder einem Traum.

„Und... was war das nun?“, fragte ich und eine Gänsehaut lief mir über den Rücken, als ich an die tausenden Stimmen dachte, die mir das Bewusstsein gestohlen hatten.

Nun meldete sich die Glockenfrau zu Wort. „Vor langer Zeit wurde mit dem Fluch über den Wald auch ein Fluch über die Jäger gelegt. Sollte je einer dieser Rasse die schwarze Grenze übertreten würde ihn der Tod holen. Doch nicht mit einem Schlag und schnell, sondern langsam und quälend. Keiner wusste bisher, ob es nur eine Legende war oder nicht, aber nun hat es ein Jäger getan und...“

Sie hielt inne.

Ich zupfte nervös an der Bettdecke, auf der ich saß. „Ja?!“

Die Glockenfrau sah langsam zu Lynnea, die wiederum zu ihrem Hauptmann hinüber schielte. Dieser nickte gleichgültig, trotzdem meinte ich in seinem Blick so etwas wie Bedauern zu sehen.

„Die Legenden... stimmen“.

Mir wurde heiß und kalt. Hieß das etwa, sie hatten über mich geredet, als ich aufgewacht bin?

„ein halbes Jahr...? Mir bleibt nur noch ein halbes Jahr, dann werde ich verrecken?!“, rief ich erschrocken und zugleich aufgebracht. Das durfte doch nicht wahr sein...

Lynnea nickte, während der Kommandant das Wort erhob: „Natürlich wirst du selbstverständlich trotzdem mit uns kommen“.

„Ach... ist das so?“, fragte ich und blitze ihn böse an. „Und wer sagt das? Mit dem Baumstamm und dem Schwert könnt ihr mir nicht mehr drohen, Kommandant! Die werden mich nämlich von ganz alleine holen, wenn es stimmt, was diese Frau behauptet!“

Die Glockenfrau sah betroffen zu Boden, doch der Hauptmann legte seine sehnigen Hände auf den Schwertgriff. „Du wirst mit uns kommen, ob du willst oder nicht!“

Ich kniff die Lippen zusammen und sprang auf. Ich war etwas kopflos und wollte einfach nicht wahrhaben, dass ich nur noch ein halbes Jahr zu leben hatte. Wer rechnete denn auch mit so etwas?

Der Kommandant kniff die Augen zusammen und starrte mich an, während ich tief Luft holte, um erneut zu protestieren. Doch dazu kam es nicht mehr, da ein stechender Schmerz durch meine Brust fuhr. Stöhnend ging ich in die Knie und schloss die Augen, unter der unerwarteten Qual. Jedes Mal, wenn ich einatmete stach etwas glühendes durch mein Herz und es fühlte sich an, als würde meine Lunge verbrennen, als ich leise röchelte.

Dann wurde mir schwarz vor Augen und ich wurde erneut ohnmächtig.

 

Meine Schläfe pochte und mein Mund war trocken, als ich wieder zu mir kam. Ich lag wieder in diesem Bett und genoss immer noch die selbe Gesellschaft wie vorhin. Ich wollte mich aufsetzen, doch durch meinen Körper schoss so ein abscheulicher Schmerz, dass ich nur zusammen zuckte und aufstöhnte. Neben mir stand die Glockenfrau. Auf ihrer Stirn zog sich eine tiefe Rille, anscheinend runzelte sie sie. Der Hauptmann hielt etwas in der Hand, was ich erst beim näheren Hinsehen erkannte.

„Was ist das?“, fragte ich heiser und krallte unwillkürlich meine Hand in die Decke, weil es sich anfühlte als würde ich Kohlen schlucken.

„DAS, mein lieber Bastard“, lächelte der Hauptmann. „...ist ein Heiltrank. Er kann dich von deinen Schmerzen befreien“.

Ich atmete erleichtert auf und wollte nach ihr Greifen, doch der Hauptmann zog seine Hand zurück und grinste. „Und DAS bekommst du nur, wenn du schwörst, dich uns anzuschließen“

Mir wären fast die Augen aus dem Kopf gefallen, doch als ich mich empört aufregen wollte verkrampfte sich erneut alles in mir vor Schmerz. Trotzdem konnte ich mich beim besten Willen nicht so leicht bestechen lassen.

„Nein“, röchelte ich. „Das könnt ihr vergessen“

Ich fing Lynneas Blick auf und dachte fast so etwas wie Bewunderung in ihm zu lesen, dann verhärtete er sich wieder und ließ keine weiteren Regungen zu. Ich schloss die Augen und schluckte den heißen Schmerz hinunter. Die Glockenfrau fragte: „Soll ich ihm nicht doch etwas gegen den Schmerz...?“

„Nein“, unterbrach der Hauptmann sie gereizt. „Wenn es dir zu viel wird, Bastard, melde dich. Bis dahin kannst du dich frei auf der Burg bewegen, falls du dazu im Stande bist“

Ich tat so, als hätte ich die Worte nicht gehört und versank im hoffnungslosen Schwarz meine Augenlider, bis ich eine Tür klappen hörte und kurz darauf noch Schritte auf dem Boden. Schritte, die sich entfernten. Verwunderte schlug ich die Augen wieder auf. Ich war allein. Ganz allein. Und der Schmerz, der stetig in meiner Brust flackerte, war mein einziger Zimmergenosse.

Um mich abzulenken betrachtete ich den kleinen Raum, in dem ich lag, genauer. Die Holzwände waren grob gezimmert und an der Wand hing ein Gemälde mit einer Frau, die sich nur eine Decke vor ihren Schambereich hielt. Nicht besonders anziehend, meiner Meinung nach. Ihre lehren Augen, die sehnsüchtig auf etwas zu warten schienen, wirkten so, als würden sie mich fixieren, egal ob ich mich nach rechts oder links lehnte, jedes Mal unter einem leisen Fluch, da mein Körper sich anfühlte als wäre er zwischen zwei Felsplatten geraten, ihr Blick folgte mir unweigerlich.

Irgendwann gab ich es auf, mich den aufgemalten Augen zu entziehen und verharrte in meiner Pose. Rechts neben mir stand ein kleiner... Ja, wie nannte man so etwas... Eine Art Abstellplatte. Darauf stand ein Krug Wasser und ein Kanten Brot. Aber bei dem bloßen Gedanken an Essen drehte sich mein Magen um, so dass ich es unbeachtet ließ und mich Wichtigerem widmete. Dem Bett zum Beispiel. Es war sehr viel weicher und wärmer als die einfachen Lager aus Moos, in denen ich bisher geschlafen hatte. Ein paar Sekunden ließen mich die weichen Daunen sogar meine Schmerzen vergessen, doch die meldeten sich bald wieder zu Wort.

Stöhnend wollte ich aufstehen, aber meine Beine gaben direkt unter mir nach, so dass ich auf dem Boden zusammenbrach und benommen liegen blieb. Beim zweiten Mal kam ich schwankend zum Stehen. Am anderen Ende der kleinen Kammer hingen zwei lange Stoffbahnen von der Wand. Ich zog sie erwartungsvoll zur Seite, in Erwartung auf eine Tür oder einen Tunnel, jedoch war dahinter nur eine kleine Öffnung. Stirn runzelnd fuhr ich über das seltsame Material, mit dem es ausgefüllt war. Sie war hart und stabil, jedoch durchsichtig... Verwirrt wandte ich mich ab und suchte nach einer Tür. Ich fand sie auch, allerdings verschlossen. Über dem Schloss war ein seltsamer Metallstab, an dem ich vergeblich rüttelte, um den Durchgang freizulegen. Die Schmerzen in meiner Brust, die fast abgeklungen waren, schossen wie brennende Blitze durch meine Fleisch und meine Knie knickten wieder ein... Dabei zog ich den Stab nach unten und die Tür sprang auf. Ächzend zog ich mich wieder auf die Beine und stolperte in den Gang dahinter.

Ich fühlte mich sehr unbehaglich, so eingeschlossen von den hohen Wänden, die meinen Weg säumten, doch ich brauchte nicht lange, um den Weg nach draußen zu finden. Mein Instinkt sagte mir, wo ich lang musste, doch als ich hinaus wollte, tobten heftigere Wellen denn je in mir. Zitternd krümmte ich mich zusammen. Vielleicht sollte ich es doch in Erwägung ziehen, mich den Höheren anzuschließen?

Nein, niemals, sie würden meinen Willen nicht brechen.

 

 

 

 

„Du hast es getan“.

Erschrocken fuhr ich herum. Da hing er, neben dem Spiegel, wie ein böser Traum.

„Du hast dich ihnen verkauft“.

„Was hätte ich sonst tun sollen?“, fragte ich verzweifelt. Meine Finger krallten sich in das Leder des Trinkbeutels, in dem die rettende Medizin fröhlich herum schwabbte und ich fühlte mich wie ein Verbrecher.

„Wie wäre es mit Warten?“. Der Dryad verschränkte zornig die Arme vor der Brust.

„Warten auf was? Auf den Tod?“, fragte ich patzig.

„Zum Beispiel. Besser, als sich selbst den Höheren zu unterstellen“.

„Du weißt ja gar nicht, wie es ist, den Tod im Nacken sitzen zu haben!“, ging ich aufgebracht zum Gegenangriff über.

Der Dryad richtete sich zornig auf. Seine Gestalt verschwamm ein wenig und schwebte halb über dem Boden. Ich stand zu weit entfernt, damit ich ihn klar erkennen konnte. „ICH WEIß NICHT, WIE ES IST, MIT DEM TOD ZU LEBEN?!“, brüllte er und seine Stimme hallte von allen Wänden wieder. Anscheinend hatte ich seine empfindliche Ader getroffen und ein wütender Dryad war gefährlicher als so manches Raubtier bei hellichtem Tag.

Ich machte ein paar Schritte zurück und hob besänftigend die Hände. „Entschuldigung, ich habe nicht nach gedacht“.

„JA, DAS GLAUBE ICH ALLERDINGS AUCH!“. Der Dryad ballte die Fäuste und kam auf mich zu. Er bewegte sich erneut so geschmeidig wie eine Raubkatze und seine scharfen Fänge blitzten im Kerzenlicht, als er schnell näher kam. Ich schluckte und biss mir auf die Lippe, als er so nah war, dass ich seinen Atem riechen konnte. Er roch nach Tannenzapfen und ich konnte mir nicht helfen, dieser Geruch bedeutete ein Stück Heimat für mich.

„Sie töten meine Tanne“, zischte er in mein Ohr. „Sie töten sie. Und dadurch töten sie auch mich. Ich bin zu weit entfernt von ihr. Weißt du, wie lange mir bleibt? Nein, keiner weiß das. Selbst ich nicht. Ich weiß nur, dass ich zurück zu ihr muss. Und zwar möglichst schnell. Also sei nicht so ein verdammter Feigling! Wir alle machen hier etwas durch und ich finde es erniedrigend, dass einer aus dem Schattenwald sich einfach so erkaufen lässt“

Die Worte waren eiskalt und mir lief ein Schauer über den Nacken. Der Dryad drehte sich um und verschwand weit hinten im Gang, so dass alles, was von ihm blieb, sein Geruch und die Scham war, die er in mein Herz gepflanzt hatte. Ich starrte zu Boden und atmete tief ein und aus.

Ja, ich hatte versagt. Ich war schwach geworden, und dass nach lächerlichen drei Tagen. Jede Nacht war ich Schweiß gebadet aufgewacht. In meinen Träumen streckte das Grauen bereits seine Finger nach mir aus und ich hatte es einfach nicht mehr ausgehalten. Ich wischte mir mit meiner Hand durchs Gesicht und seufzte. Nun hatte ich mich den Höheren verpflichtet und wusste selbst nicht einmal, wo ich hin musste. In ein paar Stunden, bei Morgengrauen sollte ich mich mit ein paar Leuten und dem Hauptmann treffen, um die Reiseroute zu planen. Davor sollte ich mich noch schlau machen, um meinen Kopf zu retten, doch der Dryad hatte mich dermaßen verwirrt, dass ich eine halbe Stunde später nur auf die Buchstaben starren konnte, ohne dass sie sich in meinem Kopf zu Wörtern fügten.

Die Luft war drückend und überall hing der Geruch von Pergament und Tinte. Die Seiten der Bücher verbargen verheißungsvolle Geschichten, doch ich konnte mich weder auf die Titel, noch auf meine Suche konzentrieren. Immer wieder hallten die Worte in mir wieder: Ich finde es erniedrigend, dass einer aus dem Schattenwald sich einfach so erkaufen lässt...

Und ja, es war auch erniedrigend. Anstatt mir irgendwo als Wolf oder so eine schöne Zeit zu machen, hockte ich noch in meiner lebendigen Gestalt in einer gammeligen Bibliothek und versuchte, durch geschriebene Wörter meinen Kopf zu retten.

Ich war so in meine Gedanken vertieft, dass ich erschrocken zusammen fuhr, als ich von hinten angetippt wurde.

„Jungchen, also so wird das nichts, wenn du das Buch verkehrt herum hältst!“

Ich fuhr herum und stand vor einem alten Greis. Seine Wangenknochen stachen unenangenehm weit aus seinem Gesicht hervor, so dass sich die knittrige Haut spannte. Seine riesige Knollennase war von unnatürlicher Größe für sein kleines Gesicht. Nichts schien an Proportionen an diesem Körper zu passen, der Mann war sehr viel kleiner als ich, hatte aber mindestens so lange Arme wie die meinen. Seine Augen stachen schwarz unter dem brüchigen, weißen Haar hervor und ich war froh, endlich einmal bekannte Augenfarben zu entdecken.

„Äh... Ich bin wohl nicht richtig bei der Sache...“, murmelte ich und schlug das Buch zu, wobei soviel Staub aus den Jahrhunderte alten Seiten aufgewirbelt wurde, dass ich niesen musste.

„Wonach suchst du denn?“, fragte der Greis. „Ich bin übrigens Santhje“

„Rain“, stellte ich mich rasch vor und vor dann fort: „Ich suche eine Lektüre über... Nun ja... Jägergeschichte“.

Der Greis sah nun wesentlich interessierter aus. Er musterte mich von oben bis unten und erst jetzt schien ihm aufzufallen, dass er es mit einem Jäger zu tun hatte.

„Na dann komm mal mit“, murmelte er, dann humpelte er auf einen knorrigen Stock gestützt, durch die Regalreihen. „Du hast dir ein ziemlich spezielles Thema ausgesucht... Nur wenige Bücher berichten über die Tage, an denen die Geheimnisse noch mit eurem Stamm geteilt wurden. Aber ich denke, ich kann dir trotzdem weiterhelfen“.

Kurze Zeit später drückte er mir ein reichlich altes Exemplar von Buch in die Hand und schniefte zufrieden. „Wünsche schönes Lesen. Und immer richtig rum halten!“

Dann verschwand er schlurfend hinter einem der Regale.

Der Einband des Buches war pechschwarz und das Einzige, dass noch nicht vermodert aussah. Versonnen strich ich darüber, als ich plötzlich eine Erhebung auf dem Einband spürte. Ich trat näher an die nächste Fackel heran, die in einer Halterung von der Wand ragte und im flackernden Licht konnte ich aufgedruckte Zeichen erkennen. Ich konnte sie sofort lesen und wusste auch gleich, was sie bedeuteten.

Das Buch der 9 Mysterien.

Ich kannte die alte Sage, auf die sich der Titel berief. Sie stammte aus der tiefsten Tiefe unserer Volksgeschichte. Erwartungsvoll klappte ich den Deckel auf. Auf der ersten Seite stand, nun wieder in der geschwungenen Schrift der Höheren:

Eine Anekdote an das Volk, das verloren ging.

Ich lächelte unwillkürlich. Ja, dieser Autor verstand wahrlich etwas von den Jägern. Ich drehte es um, in Erwartung des Namen jenes klugen Kopfes, doch nirgends war ein Hinweis auf den Autor zu finden. Schulterzuckend schlug ich es wieder auf und gleangte ins Inhaltsverzeichnis. Schnell überflog ich die dort angegeben Titel.

Handel und Wirtschaft

Länder und Geographie

Gesellschaft und Verhalten

Sagen und Geschichte

Ich entschied mich spontan für Sagen und Geschichte. Vielleicht würde ich dort etwas zu dem ominösen Kristall finden, nach dem sich der König der Höheren die Finger leckte. Ich schlug besagtes Kapitel auf und tatsächlich fiel mein Augen sofort auf ein einziges Wort. Jedoch nicht Kristall, sondern

Antropos.

 

 

 

Wissen II

9. Kapitel Wissen

 

Ich meinte immer noch das Papier in meiner Tasche rascheln zu hören, als ich durch die langen Flure hinter dem Soldaten herhastete. Leise, aber so verheißungsvoll, dass ich mich zusammenreißen musste, nicht gespannt in mein Zimmer zu gehen und in dem Buch herum zu schmökern. Der Soldat sagte kein Wort, er winkte mir nur ungeduldig und spurtete durch die Gänge, als wäre ihm ein ganzes Rudel Schattenfüchse auf den Fersen.

Möglichst darum bemüht, mit ihm mitzuhalten, hastete ich durch schier endlose Gänge, bis wir endlich vor einer riesigen, schwarzen Eisentür ankommen. Riesige Türklopfer, die nicht einmal ein Riese benutzen könnte, waren an beiden Flügeln angebracht und das schwarz war kühl und herrisch, anstatt warm und willkommen.

Ich blieb kurz stehen, um Atem zu schöpfen, dann klopfte ich an die Tür. Das dumpfe Schlagen hallte laut wieder und unzählige Echos schwirrten mir entgegen, bis das dunkle, brummende Knarren der Tür ertönte und ein kleiner Lichtstrahl durch den Spalt fiel.

Zögernd trat ich ein, doch ich brauchte kurz, damit sich meine Augen an die plötzliche Helligkeit gewöhnten. Ich stand in einem großen Saal, in dessen Mitte eine lange Tafel stand. Sie war bestückt mit zwei Dutzend Stühlen, von denen gut zwei Drittel besetzt waren. Alle Gesichter wandten sich zu mir um, als der Soldat mit schallender Stimme verlauten ließ: „Rain, Bastard des Waldes, eingetreten“

Ich schnaubte verächtlich. Toller Titel, Bastard des Waldes...

Ein Mann erhob sich und als er näher kam, konnte ich erkennen, dass es der Burgherr sein musste. Er trug feine Sachen aus gutem Stoff und an seiner sehnigen Hand steckten vier Goldringe. Er streckte sie nach mir aus. Ich wusste nicht recht, was er von mir wollte, also starrte ich nur irritiert auf seine Finger, die sich nach mir ausstreckten. Erst, als mich mir einen warnenden Blick vom Hauptmann einfing, der am Ende der Tafel saß, fiel mir dieser seltsame Brauch des Händeschüttelns wieder ein, den die Höheren pflegten.

Resignierend griff ich nach der Hand des Mannes, der nun nicht mehr ganz so erfreut aussah. Dann setzte ich mich auf den mir zu gewiesenen Platz und verschränkte die Arme vor der Brust. Eine Stille entstand und ich hatte genügend Zeit, mir ein Bild der versammelten zu machen. Neben dem Hauptmann saßen Lynnea und ihr Gefährte. Der blonde Mann schaute kritisch drein und ich sah, dass er von dieser Aktion eben so wenig hielt, wie ich. Gegenüber von den Dreien saß ein junger Mann von etwa 20 Jahren. Sein bartloses Kinn war von einer Narbe gezeichnet, die verdächtig nach Krallen aussah. Seine Haare waren braun, seine Augen unnatürlich grün. Seine Pupillen zuckten unruhig Hin und Her, als würde er jeden Moment einen Angriff erwarten.

Zu der rechten des jungen Mannes saß ein alter Mann. Er rauchte seelenruhig eine Pfeife und der Rauch verdeckte größtenteils sein Gesicht und seine rechte Nachbarin. Ich erkannte ihr Geschlecht nur an dem Kleid, mehr konnte ich durch die Wolke stinkenden, ätzenden Rauch nicht erkennen. Also ließ ich meinen Blick weiter schweifen. Da waren viele Männer, alle mittleren Alters, aber niemand fiel mir großartig auf. Nur ein Einziger. Er erinnerte mich ein wenig an ein großes Tier. Sein Gesichtsausdruck war hart und grimmig, seine braunen Augen blitzten ruhig und zugleich wütend unter seinen buschigen Augenbrauen hervor und ich wich unwillkürlich ein paar Zentimeter zurück, als ich seinen Blick auffing.

„Nun ja. Vielleicht sollten wir uns vorstellen“, meinte der Burgherr und erhob sich. Die langen Ärmel seines Gewands flatterten leicht, als er auf den Hauptmann wies.

„Ihr habt ja bereits Bekanntschaft gemacht, dies ist Hauptmann Soymen, mit seinen Gefolgsleuten Lynnea und Lyen“

Lyen also. Ich musste über die Ähnlichkeit seines und des Namens seiner Geliebten lächeln, doch dann war der Burgherr schon weiter gegangen und deutete auf den gehetzten jungen Mann.

„Dies ist Joee, ein junger Heiler aus Endrien“.

Ich lächelte kurz, doch meine Geste traf auf panische, zuckende Pupillen. Dass dieser Herr Joee ein Heiler war, erklärte viel. Man munkelte, das viele Heiler nicht ganz dicht wären und so wie es aussah stimmte dieses Klischee auf Joee zu.

Während ich noch in den Augen des Heilers gefangen war, hörte ich nur undeutlich eine Stimme. „Das hier ist Nora, meine Tochter“.

Ich blickte nicht auf, da ich durch den Rauch sowieso noch nichts erkennen konnte. Fragend sah ich auf den alten Mann, der immer noch aus der Pfeife paffte, doch der Burgherr ging nicht auf meine stumme Frage ein, weshalb ich davon ausging, dass dieser Mann nicht weiter von Bedeutung war.

In den nächsten Sekunden hagelte es nur so Namen und Länder auf mich ein, so dass ich nur im Stande war, mir den Namen von dem breiten Typen zu merken. Brengor, genannt Bär.

„Und natürlich der Dryad. Wir hatten leider noch nicht die Ehre, seinen Namen kennen zu lernen“

Erst jetzt fiel mir auf, dass der Dryad wirklich dort saß. Im Halbschatten, am Ende der Tafel schien er sich am wohlsten zu fühlen und nur seine schwarzen Augen funkelten mich hasserfüllt durch die Schatten an. Unangenehm berührt rutschte ich ein Stück zur Seite und fragte dann zur Ablenkung: „Und euer Name, Herr?“

„Ich bin Endrian, Burgherr dieser Festung“

Ich nickte zufrieden. „Nun gut. Und was besprechen wir jetzt?“

Durch die Reihen ging ein Raunen und Joee blickte sich gehetzt um. Ich sah zu Lynnea, doch die sah mich ausdruckslos an. Ich hasste diesen Blick von ihr... Dann drang nämlich keines ihrer Gefühle durch. Also sah ich auf den Tisch. Er war übersäht mit Kratzern und Zeichen. Wie in unserem Wald schienen auch das Reviermarkierungen zu sein.

Ich hob meinen Blick wieder, als Endrian seine Hand und seine Stimme erhob. „Ruhe! Zunächst werden wir feststellen, welche Teilnehmer mitreisen werden. In diesem Raum befinden sich Alle, die der Rat für würdig befunden hat und nun liegt es bei jedem Einzelnen. Ihr werdet näheres über diese Reise erfahren, wenn ihr euch dafür entscheidet. Allerdings lasst euch gesagt sein, dass sie sehr risikoreich sein wird und nicht wenige von euch werden mit ihrem eigenen Leben bezahlen“

Sofort brach ein Raunen los und nur ich und der namenlose Dryad, sowie die Rauchwolkenfrau schwiegen. Das Gewirr von Stimmen machte mich nervös. Ich war es immer noch nicht gewöhnt, so laut sprechen zu können wie ich wollte, ohne, dass gleich ein Raubtier aus dem Gebüsch springen würde.

Irgendwann legte sich der Tumult wieder und Brengor, der Bär, erhob sich als Erster.

„Ich werde mitreisen“.

Erleichtert atmete ich aus. Mit einem solch starken Mann an der Seite würde uns niemand etwas antun können! Ich ließ meinen Blick weiter schweifen und überlegte, wen ich am liebsten dabei hätte. Über Lynnea wäre ich sehr erfreut und auch wenn Lyen und begleiten würde, hätte ich kein Problem damit. Er schien ähnlich zu denken wie ich und so ein Verbündeter konnte nie schaden. Auch Joee würde seinen Zweck erfüllen, denn egal, wie verrückt er war, einen Heiler brauchte jede Gruppe, um in der Wildnis eine Chance auf Leben zu haben.

Mein Blick blieb an einem jungen Soldaten hängen. Muskeln spielten unter seinem Hemd, doch sein Blick sprach mehr als tausend Worte. Dieser Mann führte nichts gutes im Schilde. Ich meinte, mich an seinen Namen zu erinnern, wie war doch gleich? Eule? Adler? Nein, Falke. Der Name passte exakt auf seinen Blick. Blitzende, dunkle Augen, die nach ihrer Beute suchten wie Wölfe auf Jagd.

Schaudernd wandte ich mich ab und sah zum Hauptmann. Sicher wäre er eine große Unterstützung, doch ich fand keinen wirklich Gefallen daran, wochenlang mit ihm durch die Wildnis zu stapfen. Ich wischte mir über die Nase, aus Gewohnheit, doch da war ja gar kein Wasser mehr, dass mir in die Nasenlöcher rinnen könnte.

„Auch auf meine Unterstützung könnt ihr zählen!“

Ich drehte mich herum und sah Lynnea, die aufrecht und gerade da stand. In Lyens Augen spiegelte sich Erstaunen; Erstaunen und Furcht. Auch er erhob sich, jedoch nicht, um der Gruppe beizutreten, sondern um Lynnea wieder auf den Stuhl zurück zu ziehen. Sie wollte sich losreißen, doch Lyen schwächte ihre Entschlossenheit durch ein paar Worte ab, die er ihr eindringlich ins Ohr flüsterte. Kurz dachte ich, er hätte seine Gefährtin überredet, doch ein paar Sekunden später stand sie wieder und blitzte Lyen fast trotzig an. Dieser zögerte kurz und erhob sich dann ebenfalls, allerdings wortlos und voller Zweifel im Blick.

Ich sah den Tisch hinunter und bemerkte, dass sich Falkenauge erhoben hatte. Ein spöttisches Grinsen umspielte seine Lippen, als er mich musterte und auch auf Lyens Stirn erschien eine Sorgenfalte, die ihn alt und müde aussehen ließ. Ich verstand ihn nur zu gut. Auch Joee war inzwischen zitternd aufgesprungen. Der Wahnsinn stand ihm ins Gesicht geschrieben, doch ich freute mich innerlich.

„Setz dich lieber wieder hin, du Psychopat!“, knurrte jemand und ich fuhr herum. Falkenauge stand dort, die Fäuste in den Hüften.

„Heyheyhey...“. Lyen hob beruhigend die Hände. „Falke, jeder kann mit gehen, der will. Also sei bitte...“

„Halts Maul, Connor!“, brüllte Falkenauge und ich zuckte zusammen, als er fortfuhr: „Das ist eine Sache zwischen mir und dem Psycho!“

„Falke!“, erschallte der Ruf von Endrian. „Sei still, wir hatten eine Vereinbarung!“

Anscheinend erinnerte sie Falkenauge an diese Vereinbarung, auf jeden Fall schwieg er finster. Joee starrte ihn nur an, ein Zitternd ging durch seinen Körper, doch dann drehte er sich wieder zu mir um. „Ich... gehe.... mit“

Ich nickte lächelnd, obwohl ich nicht verstand, warum er mit mir redete und nicht mit Endrian oder dem Hauptmann.

„Noch jemand?“, fragte Endrian nun. „Irgendjemand?“

„Ich“

Erst konnte ich nicht ausmachen, von wem die helle, sanfte Stimme stammte, doch dann fiel mein Blick auf die Rauchwolkenfrau. Sie war aufgestanden, stand jedoch immer noch in Rauchschwaden, so dass ich ihr Gesicht nicht erkennen konnte. Ihr rotes Samtkleid sah weder prunkvoll, noch arm aus und es faszinierte mich sosehr, dass ich einen Moment zu lange auf den Stoff starrte.

„Nora, bitte mach keinen Unsinn“, meinte Endrian und ich meinte fast so etwas wie Spott aus seiner Stimme zu hören.

„Nein Vater, es ist mein Ernst. Ich möchte mit auf diese Reise gehen“

„Nein“. Nun klang Endrians Stimme kalt und unwiderruflich.

„Vater...“.

„Nein“

Ich schluckte. Anscheinend hielten die Höheren nicht viel vom weiblichen Geschlecht, sonst würde Nora nicht so verzweifelt und Endrian nicht so hart klingen. Aber wo es Liebe gab, musste es auch Hass geben. Manchmal hatte die Gefühlslosigkeit des Waldes auch Vorteile.

Ich begann, mit meinem Finger auf dem Tisch herum zu trommeln, ein Erzeugnis von Ungeduld. Ich hielt es nicht mehr aus, in diesem engen Raum und vor allem mit den vielen Menschen um mich herum. Endrian nickte.

„Also gut. So soll es sein. Joee, Lynnea, Lyen, Rain, Dryad, Falke und Brengor, kommt mit mir“, rief Endrian, dann erhob er sich und führte uns hinaus.

„Ich werde mitkommen“, meinte der Hauptmann und schloss sich unsere Prozession an. Vermutlich würde ich mich nie daran gewöhnen, dass auch er einen Namen hatte.

Soymen... Das klang nach Adel und Etikette.

Wie sich später herausstellte, würde der Hauptmann allerdings nur mit zur Besprechung kommen und nicht mit auf die Reise. Ich knirschte verärgert mit den Zähnen, als ich erneut daran erinnert wurde, wie selbstverständlich ich das ganze Unternehmen schon nahm, während mein Mitstreiter, der Dryad, immer noch tapfer dagegen ankämpfte. Er kam zwar mit uns, allerdings mit einem solchen Gesichtsausdruck, dass ich mir vornahm, mich nicht in seine Nähe zu begeben, bis er seine Wut an irgendetwas ausgelassen hatte.

Endrian führte uns durch ewig lange Säle. Mein Blick blieb immer wieder an Ölgemälden hängen, deren starren Augen mich zu beobachten schienen. Ich hatte eines Abends drei Soldaten belauscht, die sich gegenseitig erzählten, dass ein babrarischer König aus dem Süden die Augen seiner feindlichen Oberhäupter in die Gesichter der Porträtierten einbauen ließ.

Mir stellten sich bei der Vorstellung, unter den Blicken von einst sehenden Augen umherzugehen, alle Nackenhaare auf und mir wurde leicht schlecht.

Ein Bild blieb mir besonders im Gedächtnis hängen. Es war das einer Frau. Sie trug bereits die Marken des Alters im Gesicht und obwohl sie sich dezent ein Tuch vor den Mund hielt, sah man, dass sie eigentlich längst hätte tot sein müssen. Vielleicht hatte der Zeichner übertrieben, doch ich glaubte nicht, dass das mit rechten Dingen zuging. Man munkelte viel über das Verlangen der Höheren nach dem ewigen Leben und wer wusste schon, ob sie es in der Zeit unserer Abgeschirmtheit nicht doch gelöst hatten, dass Rätsel, gegen den Tod.

Unwillkürlich griff ich nach meinem Lederbeutel, in dem die für mich lebenswichtige Medizin gluckste. Vielleicht hatte ich sogar schon ohne es zu wissen davon Gebrauch gemacht....

Ich lenkte mich ab, indem ich Sachen bestaunte, die durch das gerade erwachende Sonnenlicht angestrahlt wurden. Ein goldener Kelch, eine marmorne Statur eines Fuchses, ein schillerndes Diadem.... Es waren auch viele Gegenstände dabei, die ich nicht kannte, doch ich fand schnell heraus, wozu sie gut sein mussten.

Ein seltsamer, ausgebreiteter Papierfetzen musste unweigerlich dazu da sein, um sich Luft zu zu fächern.

Ein seltsamer Stab, dessen Schatten mit der Sonne wanderte, war vermutlich zur Zeitangabe.

Ich blinzelte jedes Mal, wenn wir an einem der hohen Fenster vorbei kamen. Obwohl ich mich vorzugsweise nachts umher trieb, war meine Haut bereits spröde geworden und vor meinen Augen tanzten kleine Lichtpunkte. Ich war es nicht gewöhnt, dass die Sonnenstrahlen ungehindert von Regenwolken an meine Haut drangen und obwohl ich eine dickere, lederartige Haut als die der Höheren besaß, trotzte diese der plötzlichen Umstellung nicht.

Deshalb begrüßte ich es, dass unser Zielraum abgedunkelt und etwas klein war. Mit etwas Fantasie könnte es vielleicht sogar eine Höhle sein. Irgendwie hatte diese Vorstellung etwas Tröstliches, obwohl ich mich nicht zurück in den Wald wünschte. Im Gegenteil. Eigentlich wusste ich gar nicht mehr, was ich wollte.

Resignierend ließ ich mich auf einen der Stühle sinken, die um einen großen Tisch aufgereiht waren und beobachtete, wie sich die Anderen nieder ließen. Falke und der Dryad mussten stehen, da kein Platz mehr frei waren.

Im Halbdunkel sahen sie aus wir Brüder, der selbe Gesichtsausdruck, die selben, blitzenden Augen aus der Schwärze. Falkes schwarze, fettige Haare lagen ihm in kurzen Strähnen auf der Stirn und seine grauschwarzen Augen wirkten wie kleine, gespannte Bögen; jederzeit bereit zum tödlichen Abschuss.

Der Dryad stand in der gegenüberliegenden Ecke des Raumes, seine spitzen Fangzähne lugten unter seiner Lippe hervor und auch er sah aus, als würde er jeden Moment seine Beute packen und zerreißen.

Ich schluckte und wandte mich von den Beiden ab, als Endrian Karten auf dem Tisch ausbreitete. Ich kannte eine ähnliche Ausgabe, Erbstücke unserer Vorfahren. Sie beschrieben den Bezirk um meinen Heimatwald und die angrenzenden Ländereien.

„Es geht um Folgendes“, meinte Endrian mit gedämpfter Stimme. „Der König benötigt ein Artefakt und es ist von höchster Dringlichkeit, wenn ihr mich versteht“

Schweigen breitete sich aus, bis Bär sich einmischte: „Und... welches Artefakt?“

„Der Kristall der tausend Seelen“, antwortete Endrian und ein Raunen ging durch die Reihen meiner Begleiter. Ich hingegen schwieg, da ich ja schon vorzeitig informiert worden war.

„Entschuldigt, ich will nicht an der Entscheidungskraft des Königs zweifeln, aber... das ist doch nur eine Sage!“, rief Lyen und lehnte sich auf die Tischplatte, um Endrian besser zu verstehen.

„Ja, das sagen die Meisten aber angeblich soll ein geheimnisvoller Bote die Nachricht überbracht haben, dass er bei den Jägern zu finden sei“

Nun richteten sich alle Augen auf mich, habgierig, verwirrt, neugierig. Doch ich konnte nur hilflos die Hände heben.

„Ich habe ihn nicht...“

Nun verwandelte sich das Interesse in Enttäuschung, vielleicht sogar Wut.

„Und was soll das heißen?“, fragte Bär, die Hände ineinander verschränkt. „Was ist das Ziel dieses Unternehmens?“

Endrian seufzte. „Wir haben zwar den Kristall nicht gefunden, doch jemanden, der von Papieren weiß, auf denen er verzeichnet ist“

Erneut lagen unzählige, schwere Blicke auf mir und wieder konnte ich nur den Kopf schütteln. „Ich habe sie nicht“

„Aber du kannst dich an sie erinnern?“, fragte Endrian. Ich sah erst zu Boden, dann auf die gegenüberliegende Wand und schließlich zum Hauptmann. Ich meinte Wut in seinem Blick zu lesen, doch vermutlich täuschte ich mich.

„Verschwommen. Ja“

„Das heißt also, wir setzen alles auf eine Karte“, stellte der Dryad fest. Seine Stimme klang rau und unheimlich, aus der dunklen Ecke im Zimmer. „Und diese Karte ist die unklare Erinnerung eines Jägers“

„Ja“. Endrian nickte. „Und alle Beteiligten werden ihn begleiten“

Plötzlich drang ein böses Zischen aus der anderen Ecke. Falke sprang hervor und seine Augen blitzten zornig, als er direkt in dem Verzeichnis des verfluchten Waldes ein Messer versenkte, dass zitternd in der Tischplatte stecken blieb.

„Das kann nicht euer Ernst sein“, meinte er. „Wenn der König wollte, könnte er einfach seine Armeen schicken, anstatt diesen räudigen Hundssohn und ein paar krüppelige halbgare Möchtegernhelden!“. Sein Blick fuhr zu Lynnea und Lyen und nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Und auch zwei noch so vortreffliche Soldaten werden uns nicht helfen, wenn wir eine Streitmacht besitzen!“

Endrian wollte aufspringen, doch der Hauptmann hob ruhig eine Hand. „Du hast Recht, Falke. Aus deiner Sicht mag das Alles sehr unlogisch klingen. Aber in diesem Fall setzt der König und Unauffälligkeit und ihr habt kein Recht, an seine Taktik zu zweifeln“

Falke ballte seine Fäuste und schritt zu dem Hauptmann. „Wenn ihr mich fragt, ist das hier ein abgekartetes Spiel, nur ein Ablenkungsmanöver, für irgendeine große Sache, von der möglichst niemand etwas mit bekommen soll“

Ich schluckte. Zugegeben, ich hatte keine Ahnung, wie es mit dem König der Höheren stand, aber mir kam das Ganze schon ein bisschen seltsam vor. Trotzdem verzieh ich Falke den 'räudigen Hundssohn' nicht.

Der Hauptmann schwieg, doch ich sah, wie er mit sich selbst kämpfte. „Schweigt, Falke“

Doch Falke hörte nicht auf ihn, im Gegenteil. Er schlug mit der Faust auf den Tisch. „Seht euch doch einmal um! Wen haben wir schon? Zwei Soldaten der Leibgarde, einen Barbaren aus dem Wald, einen tollwütigen Baumgeist, zwei Krieger und einen verrückten Heiler! Und das sollen die Ausgewählten des Landes sein?! Das ich nicht Lache!“

„Falke... Wir hatten eine Abmachung!“, zischte Endrian und funkelte Falke an. Dieser gehorchte zu meinem Erstaunen tatsächlich, zog den Kopf ein und ging ein paar Schritte zurück. Doch er hatte sein Ziel erreicht: Nämlich denjenigen Zweifel einzupflanzen, die ihn bisher noch nicht hatten.

Bär spielte nervös mit einer Wolfszahnkette, die er um den Hals trug und fragte: „Wozu braucht der König den Kristall? Was ist das Begehren eines Mannes, der in Gold badet und keinen Angriff fürchten muss?“

„Das weiß keiner. Aber ihr könnt keinen Rückzieher machen“, erwiderte Endrian ernst. „Diese Sache steht unter so hoher Vertraulichkeit, dass wir euch töten müssten, wenn ihr euch umentscheiden würdet“

Diese Erkenntnis hing wie ein Schleier in der Luft, bis Lynnea sich erhob. „Ich werde diese Reise machen, denn ich bin meinem König loyal und vertraue seinen Entscheidungen“

Auch Bär schloss sich ihr an, kurz darauf Joee. Nun saßen nur noch ich, der Dryad, Falke und Lyen. Falke leckte sich über die Zähne und stieß sich kurz darauf mit seinem angewinkeltem Bein von der Wand ab.

„Na gut. Ich komme mit. Aber nur, weil ich heraus finden will, was dahinter steckt!“

Ich blieb sitzen und auch der Dryad rührte sich nicht, aber wir waren ja beide schon fest integriert und hatte gar keine andere Wahl. Lyen vermied Blickkontakt mit Lynnea und fuhr mit seinen Fingern über die Tischplatte. Dann sah er zu seinem Hauptmann, zu mir, zu Endrian.

Ich versuchte, zu erraten, was in seinem Kopf vorging, doch ich kam nicht dahinter, was ihn aufhielt. Nach einer halben Ewigkeit, in der alles gespannt die Luft anhielten, stand auch er auf. „Auch ich werde folgen“.

Endrian nickte hastig und wedelte mit seiner Hand. „Schön, dass wir das zum Zweiten Mal fest gestellt haben. Also gut, Jäger, woran erinnerst du dich?“

Ich wusste, dass es soweit gekommen war, also versuchte ich, das Knarren der Stühle und das Flackern der Kerzen auszublenden und konzentrierte mich alleine auf meine Erinnerung an das Stück Pergament, dass mir damals durch die Hände gerutscht war.

 

„Hier“, meinte Zena. „Nimm das hier“

Ihre dunklen, schmalen Hände drückten mir Pergament in der Hand. Ungelenk griff ich danach, erstaunt, was mir da anvertraut wurde. Mit fahrigen Bewegungen rollte ich die Pergamentrollen auseinander.

„Was ist das, Zena?“. Meine Stimme klang jung und leicht, so dass ich sie kaum erkannt hätte.

„Halt sie nur fest“, befahl Zena und ihre schöne, weiche Stimme nahm einen scharfen Unterton an. „Und komm mit“

Ich folgte meiner Anführerin gehorsam in ihre Höhle, wo sie mir bedeutete, die Pergamente auf einen kleinen Stein zu legen, den sie für gewöhnlich als Tisch benutzte. Ich tat wie mir geheißen.

„Also, Rain. Du bist noch jung und ich weiß, es ist ungewöhnlich, aber ich denke, dass ich dich zu einem Vertrauten machen kann“

Mein jüngeres Ich riss erstaunt die Augen auf. „Zena... Ist das dein Ernst?!“

Sie nickte, wobei ihr krausiges Haar leicht wippte. „Ja, ist es. Nimm dir einen Stapel der Pergamente, sie sollen allein dir gehören. Präge sie dir gut ein, dann bringe sie zurück“

Ich wollte bereits nach einem der kleinen Beutel greifen, aus dem etwas lugte, was für mich so begehrenswert war; Beschäftugung. Doch Zena schlug meine Hand barsch zurück. „Warte noch. Ist dir klar, was ich meine, wenn ich sage, GUT einprägen? Jemand müsste dich im Schlaf fragen können und du müsstest dich an alles erinnern“

Ich nickte langsam. „In Ordnung“

„Du kannst lesen. Sogar besser, als es für einen Jungen deines Alters normal ist. Also wähle gut, denn jeder Stapel kann ein anderes Schicksal für dich bedeuten“

Ich betrachtete die drei Schriftsammlungen genauer. Der erste Beutel, angefertigt aus groben Leder, war gefüllt mit vielen, dünnen Blättern. Der Zweite, genäht aus Leinen und alten Flicken beinhaltete große, breit beschriebene Blätter und der dritte, nur ein einfacher Behälter aus Blättern und Stängeln, verbarg mittelgroße Pergamente, mit gedrungener Schrift. Ich konnte sie nicht lesen, doch ich wusste sofort, welchen ich nehmen würde. Meine Hand bewegte sich schon zu dem Lederbeutel, als ich ein plötzliches Verlangen nach dem Leinenbeutel verspürte. Meine Hand stockte und schwebte zum besagten Objekt, doch auch dort verharrte sie nicht lange.

Ich wusste nicht, wie lange ich dort saß, unter dem scharfen Blick von Zena und so unentschlossen wie nur selten.

Irgendwann schloss ich die Augen und gab mich alleine meinen Gedanken hin, die verzweifelt versuchten, den Besten auszusuchen. Wenn ich den Lederbeutel nähme, hätte ich viel Wissen, dadurch auch viel Verantwortung. Wenn ich den Zweiten behalten würde, hätte ich mir nur wenig zu merken, und sollte ich den Dritten wählen, dann würde ich sicher eine Mischung aus beidem erhalten. Natürlich war es sehr verlocken, einfach den Dritten zu nehmen, doch irgendetwas hielt mich zurück. Vielleicht mein Sinn für Schwierigkeiten, denn ich nahm schlussendlich den Zweiten. Und wäre es damals nicht so gekommen, dann säße ich nun nicht bei den Höheren.

 

Tagelang studierte ich die Papiere, gefüllt mit Fakten. Zumeist waren es Sagen, Geschichten, die einst von unseren Urvätern aufgeschrieben wurden, doch nicht nur solche Schätze fand ich.

Zenas Blick verfolgte mich auf Schritt und Tritt, egal wohin ich ging. Ihr Blick beinhaltete sowohl Sorge als auch Verständnis. Damals dachte ich, sie hätte es bereut, mit das Papier zu geben, heute wusste ich mehr. Vermutlich hatte sie schon damals eine Vision von meiner Zukunft gehabt.

Ich las mit die Schriften unzählige Male durch, von der ersten bis zur Letzten Zeile und es dauerte nicht lange, bis ich Erinnerungen mit den Geschichten verband. Immer, wenn der Name Sonyer fiel, dachte ich unwillkürlich an das Brennen in meinen Augen, wenn ich bis tief in die Nacht gelesen hatte. Ich hatte damals fünf Anläufe gebraucht, um den Namen zu lesen und auch heute noch musste ich mir die Augenlider reiben, nur um den Schlaf zu vertreiben, der mir mit diesem Wort in den Sinn kam.

Es fiel mir nicht schwer, mir die Geschichten zu merken, denn sie beinhalteten sowohl spannende als auch informative Sätze. Schwerer war es mit den Karten. Innerhalb zweier Wochen schaffte ich es, mir ein Bild unserer Waldumgebung einzuprägen, innerhalb vierer das ganze Land. Nach zwei Monaten konnte ich sämtliche Städte in Umkreis von 100 Meilen auswendig vortragen. Zena war mir dabei wie eine Lehrerin, indem sie mich immer und immer wieder abfragte, sowohl über Sagen als auch über die Landeskunde.

Ich konnte mich noch genau an den Tag erinnern, an dem ich bei meinem letzten Pergament ankam. Ich war aufgedreht und nervös, wollte möglichst schnell die Blätter zurück zu Zena bringen, um ihr zu beweisen, wie gut ich war. Die letzte Seite war ebenfalls eine Karte, auf der ein Kristall verzeichnet war. Ich hatte mehrmals darüber gestrichen, um die verwischte Schrift zu erkennen, trotzdem kostete es mich viel Mühe.

Südwestlich unseres Waldes... Aber wie weit? Meine Gedanken drehten sich, doch ich drang nur Sekundenweise zu jenem Tag durch. Immer wieder schossen mir andere Eindrücke durch den Kopf... Mein Finger fuhr über Papier... Olon lachte. Immer weiter hinunter... Zena zischte etwas. Nun wieder hinauf... Ein Regentropfen platschte mir in den Nacken... Ein Stadtname... L... Erneut ein Lachen. Das von Anlar.

Diese scheußliche Erinnerung ließ mich hochfahren und plötzlich fand ich mich in einer anderen Welt wieder. Alle Blicke lagen auf mir, mein Kopf lag zwischen meinen Händen, die ununterbrochen meine Schläfen massierten und ich war älter. Ich blinzelte und brauchte kurz, um mich zu orientieren. Natürlich, ich war in Endrians Festung und man erwartete Auskunft von mir.

„Ich weiß nicht viel...“, meinte ich zögernd. „Irgendwo südwestlich von dem verfluchten Wald. In der Nähe einer Stadt, deren Name mit L beginnt...

Und unten drunter stand ein Gedicht. Es hatte viele Strophen, doch ich weiß nur noch eine:

Die furiosen Reiter, die wilden,

treffen auf die kalten Mädchen, die stillen.

An diesem Ort, unter wachsamem Blick der hellen Mutter,

werden die Geister für den sichtbar,

der sich den Herrscher allen Lebens zu eigen gemacht hat.

Endrian starrte mich an. „Und...?“ Ich schwieg.

„Nichts und. Vielleicht kann ich mich besser erinnern, wenn nicht so viele daneben stehen, aber ich glaube kaum“

Ich sah in die Runde. Aus Falkes Gesicht sprach verzerrte Wut, aus dem von Lyen nur Ausdruckslosigkeit. Ich kniff die Lippen zusammen und sah auf den Tisch. Sie würden alle sterben. Sie würden sich alle auf meine Erinnerung verlassen, egal wie wage und unklar sie auch wirkte...

Aber entgegen meiner Erwartung sprang Endrian begeistert auf und klatschte in die Hände. „Wunderbar! Du weißt ja gar nicht, wie viel Auskunft du uns da überbringst!“

Ich grinste erleichtert, dann fiel mir die Ironie in seiner Stimme auf und ich setzt schnell eine schuldbewusste Maske auf.

„Es tut mir Leid... Aber...“

Mein Satz ging im allgemeinen Stimmenwirrwarr unter, dass nun ausbrach. Ich hörte viele Worte, von unerhört bis hin zu unschuldig. Jedoch bezweifelte ich, dass sich das unschuldig auf mich bezog.

Irgendwann erhob sich der Erste und ging aus dem Zimmer. Es war Falke. Lyen und Joee folgten ihm. Lyen musste den Heiler am Arm führen, da dieser zitternd und leicht apathisch um sich blickte. Ich starrte auf die Tür, die hinter ihnen ins Schloss fiel. Leicht benebelt beobachtete ich die tiefen Kerben, die zuerst näher kamen und sich dann wieder entfernten, als die Tür erneut benutzt wurde. Ich wusste nicht genau, wie lange es dauerte, aber schließlich saß ich alleine mit dem Hauptmann in einem Raum. Ich wusste nicht wieso, aber irgendwie bedrückte es mich, dass ich den Höheren nicht helfen konnte. Ich hasste sie, ich verabscheute sie... Aber ich konnte ihnen nicht helfen.

„Glaub mir, dass hier ist besser für alle als du denkst“.

Ich fuhr herum und sah, wie der Hauptmann mich mit seinen Augen durchbohrte und sich dann langsam erhob. Ich sah nicht hin, als auch er den Raum verließ.

Gedanken verloren starrte ich auf den Kerzenhalter vor mir und spielte mit einem Streichholz herum, dass vor mir auf dem Tisch lag. Es war bereits abgebrannt und verbraucht.

Eine Weile sah ich darauf, dann schnippte ich es von der Tischplatte. Mit einem leisen, hellen Aufschlag landete es auf dem Boden. Ich sah zu, wie es sich ein paar Mal um sich selbst drehte und schließlich stehen blieb.

Dort lag es nun... Ich fragte mich unwillkürlich, ob ich mir die Erinnerung an den Kristall nur eingeredet hatte, nur eingebildet, um nicht zu sterben... Mit gerunzelter Stirn massierte ich mir die Schläfen und forschte noch einmal ganz genau in meinen Gedanken. Aber da war sie, frisch der Morgentau, die Erinnerung an die Pergamente und die Zeichnung des kleinen, verwischten Kristalls.

Ich stützte meinen Kopf auf meine Hand und erinnerte mich plötzlich an das Buch in meiner Tasche. Mit zittrigen Fingern zog ich es hervor. Ich musste mich unbedingt ablenken... Als ich nach der Seite suchte, auf der die Geschichte von Antropos und Janys aufgeschrieben war, stieß ich auf ein anderes Wort.

Auserwählter.

Plötzlich musste ich an den Zettel denken, der anstatt der benötigten Papiere im Geheimversteck gelegen hatte.

Leider zu spät, Amigo. Vielen Dank für das neue Wissen.

Der Auserwählte.

Resignierend blätterte ich zum Anfang des Kapitels. Vielleicht konnte ich doch mehr herausfinden...

 

Der Name des Kapitels war: Die Prophezeiung der Rettung

 

In einer Geschichte, die nur wenigen Stämmen bekannt ist, ist von einem Retter die Rede, der angeblich auf einem schwarzen Pferd erscheinen wird und den Fluch des Waldes brechen wird.

Zu der Zeit, als die Jäger Aufstände probten, gab es viele Männer und zeitweise auch Frauen, die sich als Retter ausgaben, um ihrem Volk Mut zuzusprechen. In einer großen Jagd im Jahre der Schwäne wurden sie alle ausgelöscht und vereinzelte Aufsässige verbrannt. Es blieb der einzige Aufstand in der bisherigen Geschichte der Jäger, doch er bewirkte mehr, als das Königshaus sich anmerken ließ.

Über weitere Verzeichnisse der Sage ist nichts bekannt, man geht aber allgemein davon aus, dass sie erfunden wurde, um dem verstoßenen Volk Kraft zuzusprechen.

Der Auserwählte wurde schnell zum Symbol von Freiheit und Unabhängigkeit, doch obwohl es nicht mehr zu großen Aufständen kam, wurde nicht selten von Gestalten auf schwarzen Pferden berichtet, die mit verhüllten Gesichtern für Freiheit und Unabhängigkeit protestierten.

Auch, wenn es ihnen nicht gelang, so glauben die Jäger doch noch an eine Erlösung durch den Auserwählten.

 

Na, da war aber Einiges an mir vorbei gegangen... Ich hatte nämlich noch nie von diesem ominösen Retter gehört. Musste wohl eher im nördlichen Teil des Waldes bekannt sein.

Ich klappte das Buch zu und rieb mir die Augen, selbst erstaunt über die plötzliche Müdigkeit.

„Von Janys und Antropos werde ich eben morgen lesen...“, beruhigte ich mich selbst, dann sank mein Kinn auf die Tischplatte und ich gab mich der Erschöpfung hin.

 

 

 

 

Jagd

10. Kapitel

 

Er rannte. Der schwarze Umhang auf seinen Schultern flatterte in der dunklen Nachtluft wie eine mächtige Schwinge, verlieh ihm beinahe ein geisterhaftes Aussehen, wäre da nicht die scharfe Kontur seines Kopfes gewesen. Die Stirn verdeckt durch eine Kapuze, der Mund durch ein Tuch, blitzten nur seine Augen scharf und aufmerksam unter der Verkleidung hervor.

Er hastete durch die Nacht wie ein Alptraum, kein Blick nach hinten. Er war nicht der Gejagte, nein. Er war der Jäger.

Er gelangte auf eine Lichtung, auf der bereits jemand stand. Ein Mann, hinter ihm viele Gestalten. Soldaten. Ihre blanken Rüstungen blitzten im Mondlicht, als sie sich auf ihn zu bewegten.

Damit hatte er nicht gerechnet. Erschrocken hielt er inne, schien den Mond um Rat zu fragen. Die Soldaten waren schneller. Noch bevor er reagieren konnte, flog bereits der erste Pfeil aus den Reihen von gut einem Dutzend Kämpfer. Er verfehlte ihn nur knapp und auch die Tatsache, dass es nur bei einem Pfeil blieb, würde ihm niemals zu einem Sieg verhelfen.

Seine Zeit war abgelaufen, trotzdem würde er sich nicht kampflos ergeben. Mit einem Satz wirbelte er in die Gruppen Soldaten und schickte zwei von ihnen ins Dunkel. Sein blankes Langschwert schien ein Lied zu singen, während es die Luft und Fleisch durchteilte. Er und seine Waffe waren Eines, schienen unbesiegbar.

Aber er hatte die Unsterblichkeit noch nicht erlangt, was ihm zum Verhängnis wurde. Als er sieben der Soldaten umgebracht hatte, das Blut seine Opfer im Boden eingesickert war und die Verbliebenen ihn eingekreist hatten, musste er die Waffen fallen lassen.

Er stand da wie ein Hirsch, die Krone stolz erhoben, die Flanken bebend.

„Ihr werdet es nicht schaffen. Niemand wird uns alle auslöschen können“, stieß er hervor, doch der Mann, welcher ein langes Gewand trug, lächelte nur milde.

„Du bist der Vorletzte“.

Unmerklich mischte sich Entsetzen und Verzweiflung in den Blick von ihm, doch er verbarg es gut. „Das glaube ich euch nicht“

„Sag mir deinen Namen“

„Ich bin der Auserwählte“

„Deinen richtigen Namen!“

„Finde es doch heraus“, meinte er heraus fordernd.

Sofort gab der Mann ein Zeichen und ein weiterer Pfeil sauste auf ihn zu. Diesmal traf er sein Ziel. Ein Beben ging durch seinen Körper, als er zu Boden ging und sich die Seite hielt, aus dem der Schaft des Pfeils lugte.

Der Mann riss ihm die Kapuze und das Tuch herunter. Darunter kam das Gesicht eines jungen Mannes zum Vorschein, kaum älter als 20 Jahre.

„Ernesto von Lesien. Was würde bloß dein Vater sagen, wenn er wüsste, dass du unter die Widersacher gegangen bist?“

Er schwieg eisig, Schweißperlen des Schmerzes standen ihm auf der Stirn. „Tötet ihn. Aber habt vorher ruhig ein bisschen Spaß mit ihm“, grinste der Mann, schnipste mit den Fingern und verschwand in der Schwärze des Waldes, während die Soldaten sich auf ihn stürzten wie ein Rudel hungriger Hyänen.

 

„Hast du etwa die ganze Nacht hier verbracht?!“, weckte mich eine Stimme.

Ich stöhnte, während mein Herz zersprang. Natürlich tat es das nicht, aber es fühlte sich so an. Langsam und blinzelnd öffnete ich die Augen, doch dabei schoss so ein heftiger Schmerz durch meine Schläfen, dass ich sie einfach wieder schloss und blind nach dem Lederbeutel mit der Medizin fingerte, der an meinem Gürtel hing.

Erst, als ich einen großen Schluck der sauren Flüssigkeit herunter gestürzt hatte, ließ das Stechen langsam nach und ich konnte mich neu orientieren.

Vor mir stand Lynnea und die Sonne schien unbarmherzig durch die Vorhänge.

„Wo bin ich?“, nuschelte ich verschlafen.

„Im Nebenraum der Burg von Endrian“, antwortete Lynnea.

Ich nickte und erinnerte mich. „Stimmt“.

Plötzlich fiel mir mein Traum wieder ein. „Sag mal, kennst du einen Ernesto von Lesien?“

Lynnea sah mich lange an. Dann zog sie sich einen Stuhl heran und setzte sich seitlich auf ihn. „Wie kommst du auf diesen Namen?“

„Ich habe einen seltsamen Traum gehabt in dem er vor kam“, antwortete ich Wahrheitsgemäß. Ich wollte endlich Antworten! Warum träumte ich die ganze Zeit Geschichten, die allem Anschein nach wirklich geschehen sind?!

„Ernesto von Lesien...“, begann Lynnea langsam, „war der Sohn eines geschätzten Grafen. Andro von Lesien. Vor etwa drei Monaten verschwand er spurlos, es gibt viele Vermutungen über seinen Verbleib, die meisten denken, er hätte sich den Rebellen angeschlossen“

„Wer sind die Rebellen?“, fragte ich interessiert. Plötzlich war meine Müdigkeit wie weg geblasen.

„Sie kämpfen gegen die Herrschaft unseres Königs. Sie meinen, er würde das gesamte Reich ins Verderben stürzen und nehmen die Verbannung deines Volkes als Beispiel. Die Meisten sind der Meinung, dass die Gestaltwandler als nächstes dran sind. Sie denken, wenn man sich nicht aufstellen würde, wäre das Reich nicht länger reich an so vielen Völkern, die friedlich vor sich hin leben.

Der Adel verachtet sie, aber ich glaube, dass nur wenige diese Meinung wirklich freiwillig haben. Der König verteilt gerne Almosen an Leute, die keine Probleme machen. Aber Andro von Lesien ist einer dieser Fälle, bei denen der König keine Bestechung brauchte, um ihn gegen diese Vereinigung aufzuhetzen. Er lebt im Süden in einer großen Residenz und besitzt sehr viel Einfluss auf die Geschäftswege des Reiches“

Ich dachte lange nach, doch mir wollte nicht einfallen, was Lynnea mit Almosen meinte.

„Was sind Almosen? Wofür lassen die Höheren ihre Meinungsfreiheit fallen?“, fragte ich Stirn runzelnd.

„Geld. Ich weiß nicht, ob du es noch kennst, aber ich glaube eher nicht. Kurz nachdem ihr Jäger verbannt worden seid wurde der Tauschhandel abgeschafft und stattdessen eine neue Währung eingeführt. Sie nennen sich Gold, Silber oder Kupfermünzen. Warte, ich habe ein paar...“, murmelte Lynnea und kramte in ihrer Tasche herum. Dann warf sie ein paar kleine, runde Scheiben auf den Tisch. Sie waren etwas schmutzig und bronzefarben.

Sofort griff ich nach einer und drehte sie in meinen Fingern Hin und Her. Eigentlich nicht weiter auffällig. Das Portrait eines Mannes, unterlegt von Rosenranken.

„Das ist der König...?“, fragte ich.

Lynnea nickte. „Ja“

„Was haben die Rosen zu bedeuteten?“, fragte ich verwirrt.

„Seine Frau, Königin Yenesila liebt Rosen. Im Reich ist sie auch unter dem Namen 'Rosenkönigin' bekannt. König Feodor liebt sie über alles und so veranlasste er, dass auch seine Frau auf den Münzen verewigt werden sollte“

Ich nickte langsam. „Verstehe...“

„Behalt sie ruhig. Ist ja nur eine alte Kupfermünze... Also, wieder zurück zu Ernesto von Lesien“, meinte Lynnea und richtete ihren Blick wieder auf mich.

Ich steckte die Münze weg und setzte mich erwartungsvoll auf. Wer war nun dieser mysteriöse Mann?

„Ernesto, als zweiter von drei Söhnen geboren, erlangte Gerüchten zufolge nie die Aufmerksamkeit seines Vaters, die er sich wünschte. Böse Münder flüstern, es wäre ein Protest gewesen, dass er sich immer mehr für die Rebellen ausgesprochen hat. Sein Vater hat mit allen Mitteln versucht, das zu Unterbinden. Denn während sein ältester Sohn bereits Ritter am Hofe und der Jüngste ein Priester geworden war, saß Ernesto, der zweite Sohn von Andro, noch zu Hause und versuchte sich in Historik.

Auch in der Öffentlichkeit fiel er unangenehm auf, indem er vermummt mit anderen Leuten auf öffentlichen Veranstaltungen auftrat und gegen die Monarchie protestierte.

Es wurde nicht zum Skandal, da Andro und der König in enger Verbindung stehen und Feodor deshalb über die Fehler hinweg sah. Doch vor drei Monaten, einen Tag vor Ernestos mysteriösem Verschwinden, hat der, im wahrsten Sinne des Wortes, den Vogel abgeschossen.

Auf einer Feier, bei der sämtlicher Adel und der ganze Königshaus versammelt war, wurde, wie jedes Jahr, am Jahrestag der neuen Herrschaft, die Taube des Friedens frei gelassen. Auch bei dieser Veranstaltung trat Ernesto auf, mit der traditionellen Kutte der Rebellen. Es war das erste Mal, dass er sich öffentlich zu ihnen bekannte, auch wenn die meisten es bereits geahnt hatten.

Mit Pfeil und Bogen schoss er den Vogel ab und besudelte den heiligen Reichsapfel mit dessen Blut und schrie durchgehend Parolen gegen das Königshaus.

Das konnte selbst König Feodor nicht billigen und so wurde Ernesto für immer aus der Stadt verbannt und bekam lebenslängliches Zutrittsverbot.

Das letzte Mal gesehen wurde er, als sein Vater ihn gewaltsam nach Hause schleifte. Dann wurde er nie wieder gesehen.

Manche behaupten, sein Vater hätte ihn persönlich ermordet, um seinen Ruf zu retten, aber andere...“

Ich beendete ihren Satz: „...glauben, dass er endgültig zu den Rebellen gegangen ist“

Lynnea, deren Blick sich ein wenig verklärt hatte, sah erstaunt auf.

„Woher weißt du das?“

„Ich habe gesehen, wie er gestorben ist. Letzte Nacht. Er wurde von einem Hauptmann getötet, der etwas davon redete, dass er der Vorletzte sei. Dann haben die Soldaten ihn getötet“

Gänsehaut lief mir über den Rücken, als ich an den Traum dachte.

Lynnea musterte mich eingehend. „Das könnte ein Zufall sein“

„Aber ich habe von seinem Namen geträumt! Und ich habe ihn zuvor noch nie gehört...“

Lynnea schüttelte den Kopf. „Entschuldige, Rain, aber das wäre mir einfach zu abstrakt. Bestimmt hast du ihn schon vorher gehört oder so. Ernesto ist nicht tot, bestimmt nicht. Er läuft irgendwo durch den Wald und versteckt sich vor seinem Vater, sicher!“

Ich zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es ja selber nicht. Aber bitte, denk darüber nach. Wenn ich wirklich immer das träume, was wahr ist...“

Lynnea nickte schnell. „Ich weiß. Das wäre sehr vorteilhaft für unser Vorhaben. Aber jetzt muss ich...“

Genau in diesem Moment platzte ein Soldat herein. „Lynnea, ich habe eine Nachricht vom Hauptmann“

„Komm rein. Ist es wichtig?“, fragte Lynnea und winkte den Soldaten näher heran.

Dieser nickte und hastete mit unruhigen, kleinen Schritten zu ihr. Dann flüsterte er ihr etwas ins Ohr.

Lynnea wurde augenblicklich kreidebleich. „Du kannst dem Hauptmann sagen, dass ich komme“, murmelte sie und erhob sich.

„Moment mal!“, rief ich. „Warte doch! Was ist denn jetzt los?!“

„Später, Rain“, winkte Lynnea ab und eilte aus dem Raum. Und ich stand da, meine Hände ausgebreitet und starrte ihr indigniert hinterher.

Der Soldat sah mich halb interessiert halb angeekelt an, dann drehte er sich ebenfalls ab und ging hinaus. Ich spuckte verächtlich aus. Ernsthaft, was sollte das denn jetzt?!

Aber immerhin hatte ich nun Zeit für meine Lesestunde.

Es dauert eine gewisse Zeit, bis ich die Seite mit Antropos wieder gefunden hatte. Es war leider nur eine Fußnote, trotzdem schlug mein Herz vor Aufregung schneller, als ich die Seite glatt strich.

Es dauerte seine Zeit, bis ich die Lupenschrift entzifferte, doch schlussendlich gelang es mir.

 

*Antropos; Berater des Königs, Amtszeit: 1072 bis zum heutigen Tage

 

Was?! 88 Jahre Dienstzeit? Vielleicht lag Janys, selbst wenn er nur ein Produkt meines Unterbewusstseins war, doch falsch mit seiner Vermutung, die besagte, dass Antropos sich nur bemalt hatte. Denn in meinem Traum war er mindestens 40 Jahre alt gewesen und weitere 88 Jahre...? Nein, diese Zeitspanne konnte kein normaler Mensch überleben, es sei denn, die Höheren sollten tatsächlich Unsterblichkeit errungen haben. Und das glaubte ich eher nicht.

Mir spukten so viele Dinge im Kopf herum und ich konnte sie einfach nicht ordnen...

All diese Gedanken verwirrten mich so sehr, dass ich eine Übersprungshandlung ausführte.

Kawumms.

Kopf trifft Tischplatte.

Ich stöhnte und rieb mir die Stirn. Immerhin konnte ich jetzt die ganzen Fragen ausblenden.

„Du bist auch nicht ganz der Hellste, oder?“.

Erschrocken fuhr ich hoch und drehte mich um. Vor mir stand Bär, mit einem schiefem Grinsen auf dem Gesicht.

„Was machst du denn hier?“, fragte ich und ließ das Buch schnell in meiner Tasche verschwinden.

„Hauptmann Soymen schickt mich. Ich soll mit dir reiten üben. Wir wollen bald los und dann solltest du immerhin ein bisschen was können“

Ich erwartete, dass er begann, zu lachen, doch es war anscheinend kein Scherz.

„Äh... was?! Du meinst... auf Pferden?“

Ich kannte diese Viecher nur aus Erzählungen, doch die reichten mir.

„Ja, auf Pferden“, bestätigte Bär grinsend und gab mir mit seinen riesigen Händen zu verstehen, dass ich ihm folgen sollte.

 

„Was. Ist. Das?“, fragte ich extrem langsam und extrem verängstigt.

„Ein Pferd“, antwortete Bär und tätschelte dem riesigem Ungetüm zärtlich den Hals.

Ich schluckte. „So groß?“

Bär nickte. „Ja. Komm, ich helf dir rauf!“

Ich wollte protestieren, doch da hatte mich der kräftige Mann schon auf das große, schlanke Pferd gehieft. Es hatte schwarzes Fell und eine lange Nase. Ich war mir noch nicht sicher, ob ich das schön oder schrecklich finden sollte.

„Na dann mal los! Bleib einfach locker!“

„Waah...“, machte ich leise, als sich das Ding in Bewegung setzte. Seine Muskeln spielten unter meinen Beinen und der Boden war für meinen Geschmack echt ein bisschen zu weit entfernt...

„Locker bleiben!“, rief Bär. „Halt dich fest!“

„Woran denn?!“, brüllte ich zurück.

„An der....“

Eine Windböe verwehte seine Worte und als das Pferd langsam schneller wurde, blieb mir keine Wahl, als meine Beine so fest wie möglich zusammen zu pressen, um mich auf dem Rücken zu halten.

Das ging gründlich schief. Das Pferd machte einen riesigen Satz und preschte wie wahnsinnig nach vorne. Verzweifelt krallte ich mich in die Mähne des Tieres, während ich auf und ab geschleudert wurde.

„...Hilfe...“, stieß ich hervor. Bär rief etwas, doch ich konnte ihn nicht verstehen. Das Pferd rannte und rannte. Ich gab mir alle Mühe, nicht im hohen Bogen aus dem Sattel zu fliegen, während die Burg hinter uns immer kleiner wurde.

„B..b...bleib stehen!“, stotterte ich, und versuchte, irgendwie, das Pferd zum Stehen zu bringen.

Panik stieg in mir hoch. Wer wusste schon, wann dieses Vieh stehen blieb?!

„Hilfe...“, flüsterte ich, während dieses Vieh den Kopf in den Nacken warf und brüllte. Es war wirklich ein beängstigendes Geräusch...

Irgendwann kam ich auf die Idee, mich einfach an seinem langen Nacken fest zu halten. Das tat ich dann auch.

Es war eine schlechte Idee.

„Puh... bitte, bitte halt doch a..aaaaaaaah!“

Es war das zweite Mal an diesem Tag, dass ich Kawumms machte. Diesmal traf Rücken Erde.

Ich stöhnte und blieb kurz still liegen, während ich nachdachte. Ich könnte nun fortlaufen, mich aus der Affäre ziehen und nie wieder kommen. Es wäre so einfach...

Und doch musste ich immer wieder an Zenas Wort denken. Ich durchlebte den Moment erneut.

'Lasst ihn am Leben'

'Lyen'

Plötzlich fuhr ich hoch. Lyen?! Wieso war es mir vorher nicht eingefallen?!

Natürlich! Sie hatte mich Lyen genannt, kurz, bevor sie gestorben war. Wieso nur fiel es mir erst jetzt ein? Ich sah mich um. Das Pferd stand etwas abseits und graste so friedlich, als hätte es nie auch nur einer Fliege etwas zu Leider getan.

Ich musste zurück. Nun war ich mir ganz sicher. Das hier war mein Schicksal, meine Zukunft. Langsam erhob ich mich, möglichst, ohne meinen Rücken großartig zu bewegen.

Es ging erstaunlich gut und so packte ich das Pferd an der Mähne und zerrte es hinter mir her. Es folgte lammfromm. Nie mehr würde ich mich auf so ein Vieh setzen! Das schwörte ich mir bei allem, was mir heilig war.

 

„Da bist du ja!“, rief Bär erleichtert, als ich wieder in den Hof stapfte. „Ist alles in Ordnung mit dir?“

„Nein“, antwortete ich knapp. „Mein Rücken fühlt sich an wie eingegipst und meine Füße sind heiß gelaufen. Außerdem ist mir dieses Mistvieh einmal in die Hacken getreten. Hier. Das kannst du vergessen“

Ich drückte ihm die Mähne des Tieres in die Hand und wollte mich aus dem Staub machen. Ich musste nun dringend nachdenken.

„Halt! Hier geblieben!“, rief Bär streng. „Du musst reiten. Aber du kannst dir jetzt noch ein Pferd aussuchen, dass deinem Kaliber entspricht. Du kannst aber auch gerne in ein paar Tagen einfach aus dem Stand los reiten. Aber ich sag dir: Wir werden keine Rücksicht auf dich nehmen“

Warum auch? Ich war ja nur die letzte Hoffnung für ihren König... Trotzdem ließ ich mich breit schlagen.

„Okay... Aber nicht auf dem da!“, erwiderte ich und deutete auf das Höllenvieh, dass mich eben durchgeschüttelt hatte.

„Nein. Der hier hat einfach Feuer unterm Hintern. Ich dachte eigentlich, dass gefällt dir. Aber wenn nicht...“

Ich schüttelte bekräftigend mit dem Kopf.

„...dann versuch's mal mit Tonne“

„Wer oder was ist Tonne?“, fragte ich misstrauisch.

„Die hier“

Bär deutete in die Ecke des Hofes. Dort stand ein riesiges, sehr rundliches Pferd. Es hatte die Augen halb geschlossen. Es war zwar nicht so schön, aber auch nicht so schrecklich wie das Andere.

Sein Pferd war mausgrau, die Mähne strähnig, aber was mich eindeutig von seiner Sicherheit überzeugte war, dass es im Stehen schlief. Und wer so entspannt ist kann ja wohl nicht drauf los preschen wie sonst was.

Ich nickte motiviert. „In Ordnung. Ich versuch's“

Dann schwang ich mich mit einem Satz auf den Rücken des Pferdes. Und plötzlich lag ich auf dem Boden.

Bär begann schallend zu lachen. „Du bist jetzt nicht auf der anderen Seite wieder runter gefallen, oder?“

Dann hielt er sich den Bauch und ging zu Boden vor Lachen, was man von mir nicht gerade sagen konnte. Mit finsterer Miene stand ich auf und rauschte davon.

„So! Jetzt reicht es mir endgültig!“

„Ach, warte doch, Rain... Du... ahahaha.... du...“

Auf einmal musste ich auch grinsen. Aber nur, weil Bär so dumm lachte. Es erinnerte mich ein bisschen an einen hustenden Schwarzelch. Also drehte ich mich langsam um und fragte: „Also gut. Nochmal von vorne. Wie steige ich auf?“

 

Die Tage wurden anstrengend. Tag für Tag musste ich auf Tonne reiten, nur um Abends dann wieder keine Zeit zum Nachdenken zu finden, weil die Glockenfrau, die sich als alte Heilerin namens Sherin herausstellte, mich jeden Abend besuchte und „mentales Training“ mit mir machte, damit ich mich an die Aufzeichnungen erinnerte. Mir brachte das allerdings nicht viel mehr als Kopfschmerzen.

Der Tag des Aufbruchs rückte immer näher und immer noch wusste Keiner, wohin es denn eigentlich gehen würde.

Lynnea hatte ich seit jenem Morgen nicht mehr gesehen, doch ich suchte sich verbissen. Ich wollte endlich wissen, was für eine Nachricht der Soldat überbracht hatte.

Aber die Frau war wie vom Erdboden verschluckt und nicht einmal Lyen, mit dem ich nun mein erstes Gespräch führte, hatte eine Ahnung, wo sie stecken könnte. Immer noch prickelte meine Haut unangenehm, wenn ich ihn ansah, sei es wegen der Sonne oder seinem Namen.

 

Eines Nachts war ich das erste Mal wieder alleine in den Fluren unterwegs, denn ich hatte am Morgen Reiten geübt und am Nachmittag geruht. Meine Nachtaktivität konnte ich einfach nicht abstellen, selbst wenn ich mir große Mühe gab.

Die Fackeln an den Wänden, mit denen die Höheren selbst nachts versuchten, die Dunkelheit zu vertreiben, warfen gespenstische Schatten an die Wände, während ich von Rüstung zu Rüstung huschte und mir Gemälde ansah.

Auf vielen waren Schlachten abgebildet, meist dunkel gemalt, im krassen Kontrast zum Blutrot der Toten und Verletzten.

Der rote Teppichboden dämpfte meine Schritte, und verschluckte auch sonst jedes Geräusch. Bär hatte mir erklärt, was Teppich war. Ich fand es albern, ein Haus mit Stoff auszulegen. Da könnte man ja gleich Steine in den Wald tragen und darauf herum hüpfen.

Irgendwie trugen mich meine Beine immer weiter nach oben durch die schlafende Festung. Ich traf höchstens einmal ein paar Soldaten, die mir entgegen kamen und mir gerade mal einen kurzen Blick gönnten. Ich war schon allgemein bekannt auf der Burg.

Als ich schließlich bei einer Wendeltreppe ankam, die sich in einem schmalen Turm bis ganz nach oben zog, wusste ich sofort, dass ich oben an die frische Luft stoßen würde. Erwartungsvoll setzte ich meinen Fuß auf die erste Treppenstufe, als ich eine Stimme hörte. Es war die einer jungen Frau und sie sang.

So leise wie möglich tappte ich nach oben, bis ich so nah war, dass ich die Worte verstehen konnte. Sie begleitete ihre Stimme mit einem Instrument und die Töne umspielten mich in einer seltsamen Art und Weise und ließen mich nachdenklich werden.

Im Nachhinein behielt ich nur wenig vom Text, denn er war in einer fremdländischen Sprache gesungen und doch so wohlklingend und rein, dass sie in mir eine Art Heimatgefühl weckte.

Nur an drei Zeilen erinnerte ich mich glasklar.

 

In Terranon o' ill eysey

In Terranon o' ai lavyr

In Terranon o' Jenna mi

 

Als das Lied verklungen war und nur noch der Nachhall der Töne in mir spielte, ging ich weiter, in freudiger Erwartung auf den Anblick der Sängerin.

Ich gelangte zu einer morschen Leiter, die unter meinem Gewicht bedrohlich knackte. Sie führte zu einer Luke, die sich leise knarrend öffnete. Mit etwas Schwung zog ich mich hinauf und sah mich um.

Der Turm war größer als gedacht, zumindest die Aussichtsplattform zählte mehrere Quadratmeter. An der Brüstung lehnte eine Frau mit dunklem, wehenden Haar. In ihrer Hand ruhte eine Harfe, die ich von einem Engelsgemälde kannte.

Sie musste die bezaubernde Musikerin sein, die eben gerade gesungen hatte.

Ich ging nicht näher, denn ich wollte sie nicht stören, und so blieben wir einfach nur stehen, im stillen Einklang mit der nächtlichen Aussicht auf meinen Heimatwald, dessen Baumwipfel bedrohlich aus der Erde ragten.

Der Wind zerrte an ihrem Haar und unseren Kleidern, doch keiner bewegte sich auch nur ein Stück, obwohl wir Beide wussten, dass der jeweils Andere da war. Dann schließlich brach ihre Stimme erstaunlich real durch das Heulen des Nachtwindes.

„Es war Schicksal“

Ich musterte eingehend ihren Rücken, doch antwortete nicht.

„Das du gekommen bist. Es kann kein Zufall gewesen sein“

„Naja, eigentlich haben sie mich eher geholt“, erwiderte ich verlegen. Trotzdem wusste ich, was sie meinte. Das, was hier geschah, war nicht normal.

„Ja. Und du hättest gehen können. Ich habe dich beobachtet. Der Hengst hat dich fort getragen, weit außer Schussweite der Bogenschützen. Aber du bist wieder gekommen“

Ich war mir sicher, dass ich rot wurde, also antwortete ich verlegen: „Ich brauche doch meine Medizin, gegen den Fluch“

„Du hattest den Beutel am Gürtel hängen, wie immer“, erwiderte die Frau.

Ich meinte, etwas wie Triumph in ihrer Stimme zu hören. „Du hättest gehen können. Dich hält nichts hier und trotzdem gehst du nicht“

Ich schwieg, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte.

„Ihr werdet morgen aufbrechen“, meinte die Frau leise. „Und noch immer seid ihr ratlos“

Langsam wurde mir unheimlich zu Mute. Wieso wusste sie soviel über mich und meine Gedanken? „Was ist mit euch?“, fragte ich, um vom Thema abzulenken. „Werdet ihr auch mitkommen?“

Die Frau atmete tief durch, es war wie eine Welle in ihren Schultern zu sehen, dann drehte sie sich um. „Ja“

Vor mir stand Nora, die Tochter von Endrian.

 

 

 

Freundschaft

11. Kapitel Freundschaft

 

„Rain! Hey, Rain!“.

Ich ächzte etwas unverständliches und rieb mir die brennenden Augen. „Wasis?“

„Aufwachen! Ich muss mit dir reden!“

Langsam bildete sich vor meinen Augen ein Gesicht.

„Lynnea!“, rief ich sofort hellwach. „Wo warst du nur?!“

„Das ist egal, komm mit!“

Ein Blick nach draußen zeigte mir, dass es noch nicht einmal tagte. Ich war erst vor wenigen Stunden schlafen gegangen, nachdem Nora an mir vorbei gerauscht und verschwunden war.

Nun aber lag ich in meinem Bett und vor mir stand Lynnea, die mich mit herrischem Ton dazu aufforderte, mitzukommen.

„Wohin? Jetzt?“, fragte ich verwirrt, während ich in meine Stiefel schlüpfte.

„Hast du was mit den Ohren?! Wann denn sonst?“, antwortete Lynnea ungeduldig.

Als ich dann schließlich fertig war, folgte ich ihr schlaftrunken durch unzählige Flure und Gänge, bis zu einem kleinen Raum.

Er war mit nicht viel mehr als einem Erker, einem Kamin und zwei Stühlen bestückt, wenn man von dem kleinen Beistelltisch und einem grotesken Gemälde, dessen Inhalt ich nicht näher beschreiben möchte, absah.

„Setz dich“, befahl Lynnea mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete und ich folgte ihrem Befehl.

„Seit wann?“, fragte sie kalt und sah auf mich hinab.

„Was?“, hakte ich verwirrt nach. Wieso war sie auf einmal so zornig?

„Seit wann kooperierst du mit den Rächern?“

„Ich habe mit den Rächern rein gar nichts zutun“, erwiderte ich ruhig. „Warum auch? Natürlich bin ich für Freiheit für unser Volk, aber...“

„Lüg mich nicht an!“, zischte Lynnea und ohrfeigte mich.

„Hey, was zum...?“. Ich rieb mir die Wange und sah zu Lynnea hinauf, die mich kalt musterte.

„Du brauchst nicht mehr zu lügen, wir wissen es. Es war alles ein abgekartetes Spiel, du lässt dich gefangen nehmen, behauptest, du wüsstest etwas und währenddessen schnappen sich deine Freunde die Aufzeichnungen und verschwinden über alle Berge. Und damit wir dir mehr vertrauen, erfindest du Träume, in denen Sachen passieren, die auch in Echt geschehen, wie zum Beispiel den Tod eines bekannten jungen Mannes“

„Das ist doch Schwachsinn!“, rief ich aufgebracht. „Nein, tue ich nicht! Ich habe keinen blassen Schimmer, wo die Karten stecken könnten“

Daraufhin folgte eine erneute Ohrfeige, diesmal auf die linke Wange. „Lynnea, hör auf mich zu schlagen, das bringt nichts! Ich habe kein Ahnung, wovon du sprichst!“

Noch eine Ohrfeige, diesmal rechts. Meine Wangen brannte inzwischen wie Feuer.

„Kannst du das jetzt mal lassen?! Heißt das also, dieser Typ, Ernesto, ist wirklich gestorben?“

Lynnea hielt kurz inne. „Ja. Ist er. Und er wurde genau so ermordet, wie du gesagt hast. Und das war uns dann noch ein bisschen viel Hokuspokus. Du bist aufgeflogen, Bastard!“

Ich duckte mich unter einem weiteren Schlag weg und fragte: „Aber wie könnt ihr da so sicher sein? Ich weiß ehrlich von nichts, dieser Traum kam nun mal und ich weiß erst, wer die Rächer sind, seitdem du es mir erklärt hast! Wie sollte ich denn mit ihnen Kontakt aufnehmen? Ich wäre doch nie aus meinem Wald heraus gekommen!“

„Aber sie können rein. Jederzeit“, antwortete Lynnea hart. Allerdings sah sie jetzt nicht mehr ganz so sicher aus wieder vorher.

„Aber wäre das Risiko nicht viel zu groß gewesen? Ihr hättet mich umbringen können, noch bevor ich auf den Kristall aufmerksam gemacht hätte. Dieser Plan würde auf viel zu wackeligen Beinen stehen, als das er funktionieren könnte“

„Anscheinend hat er das aber!“, rief Lynnea und ich konnte mich gerade noch zur Seite lehnen, damit sie mich nicht noch einmal ohrfeigte.

„Und wir werden die Wahrheit bald erfahren“

Als ich diese Worte hörte, bekam ich ein ungutes Gefühl. „Was habt ihr vor?!“

„Die Wahrheit erfahren“

Vor Schreck fuhr ich hoch, wurde jedoch im nächsten Moment wieder in den Stuhl gedrückt. Plötzlich waren viel mehr Leute im Raum.

Hauptmann Soymen, Lyen und Endrian standen um mich versammelt, während ich auf meinem Stuhl hockte und versuchte, ihnen klar zu machen, dass ich nichts getan hatte und unschuldig war.

„Wenn du dir da so sicher bist, hast du bestimmt auch keine Probleme, das hier zu schlucken“

Endrian zog ein kleines Fläschchen, gefüllt mit einer giftgrünen Tinktur.

„Was ist das?“, fragte ich beunruhigt, obwohl ich es mir fast denken konnte. Sie wollten die Wahrheit wissen. Die Wahrheit.

„Nun... sagen wir es so. Der Inhalt dieser Flasche verbietet es dir gewisser Weise, zu lügen. Du kannst dich glücklich schätzen, denn so ein Gemisch gibt es nur Sieben Mal im ganzen Königreich“

Eigentlich hatte ich ja nichts zu verlieren, doch ich wollte nicht, dass man mir irgendwelche Fragen stellte und ich sie willenlos beantwortete. Dann könnte ich ja gleich alle auswendig gelernten Stammesgeheimnisse ausplaudern.

„Niemals“, zischte ich störrisch.

„Du machst es uns wirklich schwer“, meinte Endrian bedauernd und schüttelte das grüne Zeug. „Aber du lässt uns keine Wahl, Bastard“

„Ihr werdet mich NIE dazu bringen, DAS zu trinken!“, rief ich und sprang auf. Dann spürte ich einen Schlag auf den Hinterkopf und wurde ohnmächtig.

 

Als ich wieder zu mir kam, war ich an die Lehne des Stuhls gefesselt und vor mir stand der Hauptmann.

„Jetzt besser?“, fragte er grinsend.

„Pfah“, machte ich abfällig. „Das ändert nichts daran, dass ihr mich dazu zwingen...“

„Halt den Mund, Bastard!“, rief Endrian verärgert. „Du wirst das jetzt trinken und zwar auf der Stelle“

Hinter ihm stand Lyen und musterte die Flasche, als wäre sie ein Feind, der ihn jederzeit anspringen könnte. Lynnea stand neben ihm, eng an seinen Körper geschmiegt und mit einem wilden Blick in den Augen. Sie sahen aus, wie zwei Figuren aus den Gemälden, die unten in den Fluren hingen, Gestalten aus Sagen.

Ich sah wohl einen Moment zu lange zu ihnen, denn im nächsten Moment hatte ich einen Flaschenhals zwischen den Zähnen.

„Grrrrblbl...“

Die Flüssigkeit schmeckte sauer und brannte in meiner Kehle, als ich sie gezwungener Maßen schluckte.

„Es geht doch“, lächelte Endrian zufrieden und schraubte das Fläschchen wieder zu. Es war nun nur noch bis zur Hälfte gefüllt.

„Ihr verdammten Mistkerle“, knurrte ich und auch noch andere Sachen, während mein Geist langsam davon schwebte und ich jegliche Hemmung verlor. Ich kämpfte mit aller Kraft dagegen an, doch ich konnte mich einfach nicht beisammen halten. Während meine Gedanken abschweiften, zu Geschichten aus meiner Kindheit, hörte ich wie aus weiter Ferne meine eigene Stimme Sachen sagen, die ich nicht verstand.

Dann irgendwann verhallten selbst meine Gedanken an meine Kindheit und alles wurde in schwarz getaucht.

 

„Meint ihr denn wirklich, er hat die Wahrheit gesagt?!“

„Das Elixier ist unfehlbar“

Ich stöhnte.

„Halt den Mund, Bastard!“

Nun war es endgültig um meine Beherrschung geschehen.

Wutschnaubend sprang ich auf. „Was?!“

Die Fesseln um meine Brust waren bereits gelöst, so dass ich ungehindert auf Endrian zugehen konnte.

„Beruhige dich. Es war eine notwendige Maß....“

Doch weiter kam er nicht. Denn im nächsten Moment lag er mit einer blutenden Nase auf dem Boden.

„Bastard! Bist du verrückt?!“

Der Hauptmann brüllte zornig und machte einen Schritt auf mich zu. „Wir dachten eigentlich, wir könnten das hier friedlich lösen, aber...“

„FRIEDLICH?!“, wiederholte ich entgeistert. „So bezeichnet ihr das also...? Andere Leute dazu zu zwingen, alles aus zu plaudern, weil man ihnen nicht vertraut?!“

Lyen half Endrian wieder auf die Füße, der sich rot vor Wut die Nase hielt.

„Wir mussten es tun. Wir brauchten Klarheit“

„Und was sagt euch die Klarheit nun?!“, fragte ich mit funkelnden Augen.

Endrian stockte und sah mich etwas pikiert an. „Das du die Wahrheit gesagt hast“

„EBEN!“, brüllte ich und Lyen konnte gerade noch so meinen Arm abfangen, bevor ich Endrian erneut eine verpasste.

„Ich bin froh, dass ihr in ein paar Stunden aus meinem Haus verschwindet“, zischte Endrian und verließ den Raum.

„Toll gemacht. Wunderbar!“, rief der Hautpmann. Lyen schwieg ergeben und versteckte seine Hände hinter seinem Rücken, Lynnea stellte sich direkt neben mich. „Du bist doch verrückt, ehrlich“

„Aber ihr nicht, schon klar“, schnaubte ich.

„Geh wieder schlafen, Bastard“, knurrte der Hauptmann. „In ein paar Stunden geht’s los“

Ausnahmsweise gehorchte ich ihm, jedoch nicht ohne ihm vor die Füße zu spucken. Die waren doch alle total krank! Hoffentlich hatte ich nichts ausgeplaudert, dass mit meinen Stammesgeheimnissen zusammen hing...

 

„Hey, Rain! Na, freust du dich schon drauf, allen deine Reitkünste zu präsentieren?!“, rief Bär erfreut und klopfte mir auf die Schulter, als ich mit meiner Tasche über der Schulter durch den Flur ging und fast in ihn hinein rannte.

„Ähm... ja, genau“, antwortete ich schief grinsend, obwohl ich jetzt echt keinen Nerv für solch eine Unterhaltung hatte. Noch immer quälte mich der Gedanke, den Höheren mehr erzählt zu haben, als sie wissen wollten.

„Na nun mach mal nicht so ein langes Gesicht... wird schon alles gut gehen!“. Bär grinste mich an und irgendwie war ich ihm dankbar.

„Ja... vielen Dank nochmal für deinen Unterricht. Der war echt große Klasse“, antwortete ich, weil ich mich schuldig fühlte.

„Echt?“. Ein Grinsen wanderte über das Gesicht des bärtigen Mannes.

Immerhin hatte ich ihn glücklich gemacht.

„Ja, ehrlich“, beteuerte ich. „Ich wette, ich hänge sie jetzt alle ab“

„Du bist echt schwer in Ordnung, Rain“, lächelte Bär.

Gemeinsam schritten wir nach draußen, in den Hof. Die Sonne strahlte erbarmungslos vom Himmel und schickte mir gleißende Flecken vor die Augen, so dass ich kurz stehen blieb, um sie weg zu blinzeln.

Tonne stand bereits auf dem Hof, im Stehen schlafend, wie immer. Ich klopfte ihr zur Begrüßung den Hals und sah mich dann um. Falke lehnte mit einem Grashalm im Mundwinkel am Futtertrog der Pferde und sah sich finster um. Sein Gepäck stand neben ihm.

Der Dryad musterte misstrauisch das Pferd, das ihm zu geteilt worden war und schnaubte verächtlich, als es den Kopf drehte um seine Haare zu fressen.

Ich grinste unwillkürlich. Diese grünen Blätterhaare mussten aber auch zu köstlich aussehen...

Joee kramte in einem kleinen Beutel, der allem Anschein nach mit Kräutern gefüllt war und verstaute ihn dann in seinem Rucksack, den er auf ein Pony warf. Ich fragte mich unwillkürlich, warum er als einziger auf den weniger kleinen Tieren reiten durfte. Vermutlich, weil er der Heiler war.

Bär brachte sein Gepäck zu dem schwarzen Höllenvieh, dass bereits ungeduldig mit den Hufen scharrte. Das hätte ich nicht gedacht, dass Bär solch ein Tier reiten würde...

Nachdem ich meine Decke und Tasche auf Tonnes Rücken befestigt hatte, kamen in mir schon wieder die Fragen auf. Würde sich Nora tatsächlich ihrem Vater widersetzen? Gab es inzwischen ein festes Ziel? Und was hatte mein Traum denn nun zu bedeuten?!

Die ganze Sache wuchs mir allmählich über den Kopf. Umso mehr erleichterte es mich, als der Hauptmann, Lynnea und Lyen ohne Endrian auf den Hof schritten.

Falke sprang sofort auf, als er Soymen sah und ging eilenden Schrittes aus ihn zu. Dann vertiefte er sich mit ihm in ein leises Gespräch. Lyen legte Lynnea seinen Arm um die Hüfte und zog sie mit zu ihren Pferden. Er trug das Gepäck von sich und Lynnea locker auf einer Schulter, was ich seinem schmalen Körperbau nie zu getraut hätte. Aber jetzt, wo ich ihn so ansah, fielen mir doch seine enormen Armmuskeln auf.

Nachdem alles verpackt war und Falke das Gespräch mit Soymen beendet hatte, rief der Hauptmann uns zusammen.

Nachdem wir uns alle mehr oder weniger motiviert eingefunden hatten, begann er zu sprechen: „Unser Ziel steht fest. Oder auch nicht. Es kommt ganz drauf an, von welcher Seite man es betrachtet.

Unser Bastard konnte uns ja leider nicht viel Auskunft bescheren, aber dafür haben wir andere Dinge heraus gefunden. Eine Gruppe Aufsässiger, von denen ihr sicherlich einmal gehört habt, geht wieder um. Die 'Rächer' haben sich formiert und kämpfen nun endgültig gegen die Herrschaft unserem geliebten König Fheodor.

Bis vor wenigen Tagen war noch von Zwei von ihnen bekannt, der Rest wurde schon... nunja, zur Vernunft gebracht. Doch vor drei Tagen erreichte uns die Nachricht, dass Ernesto von Lesien erfasst und umgebracht wurde“

Der Hauptmann wurde vom Raunen unterbrochen, dass nun durch die Reihen ging. Nur der Dryad und ich schwiegen.

„Die Papiere, auf denen der Kristall verzeichnet worden ist, wurden allerdings bei keinem der Rächer gefunden, so müssen sie sich bei dem Letzten ihrer Gruppe befinden. Zufällig kennen wir sowohl ihren Namen, als auch ihren Aufenthaltsort, zumindest eine grobe Schätzung dessen“

„Und wer ist dieser ominöse 'letzte Rächer'?“, fragte Falke mit einem verächtlichen Unterton. Ich bemerkte, wie er sich beherrschte.

„Ihr Name ist Fenja von Indiga“

Das Raunen, das dieses Mal durch die Gruppe ging, war noch entsetzter, als es bei Ernesto gewesen war. Anscheinend sagte der Namen allen etwas, außer mir.

„Wer ist das?“, raunte ich Bär verwirrt zu.

„Das, mein lieber Rain, ist... die durchaus liebenswerte Tochter unseres Königs, Fheodor von Indiga“

 

Ich sog scharf die Luft ein. „Was...? Die Prinzessin stellt sich gegen ihren eigenen Vater?!“

Bär nickte langsam. „So wie es aussieht... ja“

„Beruhigt euch!“, rief das der Hauptmann. „Es ist unwichtig, wer sie nun genau ist. Hauptsache, ihr findet sie und bekommt das Dokument“

„Was ist mit Fenja selbst?“, fragte Lyen mit gerunzelter Stirn. „Was ist, wenn es zum Kampf kommt?“

Der Hauptmann atmete tief durch. „Der König... hat sie zum Tode frei gegeben“

Bär fuhr zusammen. „Hast du das gerade auch gehört?!“, fragte er entsetzt. „Oder habe ich Halluzinationen?!“

„Was ist daran denn so schlimm?“, fragte ich einigermaßen verwirrt. „Die Anderen Leute hat er doch auch töten lassen! Wieso sollte er dann bei seiner Tochter eine Ausnahme machen. Und vor allem... was versteht ihr unter Tochter?!“

Bei uns nannten sich die Angehörigen eines Stammes Töchter und Söhne der Anführer. Ich war so zum Beispiel Sohn von Zena.

„Sagt bloß, ihr...“

„Was?“, fragte ich herausfordernd.

„Schießt einfach aus dem Boden wie Pilze, so wie die Sagen es berichten?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Woher soll ich das wissen?! Ich kann mich ja nicht an meine Geburt erinnern!“

Bär schüttelte den Kopf und ließ meine Frage nach den Töchtern und Söhnen unbeantwortet. Seltsam...

„Auf jeden Fall, kämpft für das Pergament. Es rettet unser aller Zukunft“

An diesem Kristall musste ja wirklich ordentlich was dran sein... Ich erinnerte mich an meinen Pakt mit dem König und plötzlich überlegte ich, ob es überhaupt soweit kommen sollte. Vielleicht würde ich bei dem Unterfangen draufgehen.

„Nun gut. Nach neuesten Meldungen von Boten hält sich Prinzessin Fenja in den Bergen von Tourûn auf. Ihr solltet schnellstmöglich dort hinreisen, denn unser Aufbruch bleibt mit Sicherheit nicht unbemerkt.

Seid auf der Hut und rechnet mit dem Schlimmsten“

„Was ist das Schlimmste in unserem Fall?“, fragte der Dryad.

„Im schlechtesten Fall haben bereits Neider und Feinde des Königs von seinem Begehren erfahren und jagen ebenfalls den Kristall. Ihr müsst also unbedingt als Erste bei der Prinzessin ankommen und ihr die Papiere abnehmen“, meinte der Hauptmann. „So. Ich übergebe Lyen und Bär die Verantwortung für Karten und Reiseroute, allerdings zähle ich auch auf den Orientierungssinn des Dryaden“

Er fixierte den Baumgeist einige Zeit lang, dann murmelte er: „Noch sind meine Männer in ihrer Nähe. Sei bloß vorsichtig“

Der Gesichtsausdruck des Dryaden blieb unverändert.

So schwangen wir uns alle auf unsere Pferde, bis Lynnea mir plötzlich zurief: „Hey, Rain! Du hast dein Huhn vergessen!“

Mein Huhn?! „Seit wann habe ich ein Huhn?“, fragte ich verwirrt.

„Na seit es als Zeichen der Götter zu dir gesandt wurde“, grinste Lynnea und zeigte auf das gackernde, blendend weiße Vieh, dass aufgeregt um die Ecke stürzte und auf mich zu flatterte.

„Ach das...“, brummte ich. Um ehrlich zu sein hatte ich es längst wieder vergessen.

Mit einem zufriedenen Glucksen nistete das Huhn sich in meiner Decke ein, die hinter mir fein säuberlich zusammen gerollt war.

„Nun sind wir wirklich komplett!“, rief Bär. „Dann mal los“

Er hielt eine große Karte in der Hand und wies in eine Richtung, die entgegen gesetzt von meinem Heimatwald lag.

„Immer schön nach Süden“

Ich wusste, dass Süden Sonne bedeutete und war froh, eine Salbe gegen die aufgesprungene Haut dabei zu haben, die Sherin mir gemischt hatte. Ich hatte die alte Frau wirklich ins Herz geschlossen und war ihr vom ganzen Herzen dankbar, dass sie mir noch mehr von meiner lebensnotwendigen Medizin mitgegeben hatte.

Langsam setzte sich der Zug in Bewegung, an der Spitze Lyen und Lynnea, Hand in Hand. Dahinter folgten Falke und der Dryad, mit deren Blicken man Leute hätte töten können. Hinter ihnen trottete Joees Pony, doch der Heiler war hektisch und aufgeregt. Immer wieder warf er Blicke über die Schulter und griff nach seiner Tasche, als hätte er Angst, jemand würde ihn verfolgen.

Das Schlusslicht bildeten Bär und Ich, im geistigen Einklang.

„Wollte Nora nicht mitkommen?“, fragte ich verwirrt und erinnerte mich an die Tochter des Burgherren, als ich sie in jener Nacht auf dem Turm getroffen hatte.

„Nein. Endrian hat es ihr doch verboten“, antwortete Bär überrascht. „Wieso dachtest du das?“

Ich strich Gedanken verloren durch die Federn meines Huhns und zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. War wohl ein Traum“

„Oh... ein Traum?“, grinste Bär und stieß mich an. „Ein Wunschtraum?“

Ich schnaubte. „Ach was! Wenn du von dem Wörtchen namens 'Liebe' sprichst... Also da weiß ich zufällig ganz genau, dass es so etwas bei uns Jägern noch nie gab, zumindest nicht seit wir verbannt wurden, und vermutlich auch nie wieder geben wird“

Bär setzte ein langes Gesicht auf. „Ein Leben ohne Liebe? Das geht doch gar nicht“

„Wie steht's denn bei dir?“, fragte ich lächelnd. „Bist du vergeben?“

Bär schüttelte den Kopf. „Nein. In meiner Lage ist das etwas... unpassend“

„Du meinst... als wandernder Krieger? Wo kommst du überhaupt her?!“. Nun war ich doch neugierig geworden.

„Ich stamme aus dem Norden, noch weiter hinten als euer Wald. Dort gibt es ein kleines Land namens 'Efador' und eine noch kleinere Siedlung mit dem hübschen Namen 'Lar'. Dort bin ich geboren und aufgewachsen“, erzählte Bär und seine Augen blitzten verträumt, bei der Erinnerung an seine Heimat.

„Interessant. Und wie bist du aus einer solch friedlichen Vergangenheit auf die Laufbahn des Kriegers gestoßen?“, fragte ich weiter.

„Naja... irgendwann zog es mich hinaus. Dort fand mich ein alter Kriegsherr und meinte, in mir stecke großes Potenzial. Meine Familie war nicht sehr reich und ich bin ein paar Jahre zu Armee gegangen. Der Lohn war gut, doch die Arbeit hart.

Irgendwann, als meine Eltern dann tot waren, bin ich wieder ausgestiegen und ein bisschen herum gereist.

Mein täglich Brot habe ich mir durch die Jagd verdient und es lief eigentlich ganz gut, bis...“

„Bis was?“, hakte ich nach.

„Bis... sie mich wieder geholt haben“

„Wieso das?“

„Sie meinten, für den Krieg bräuchten sie starke, besondere Krieger und ich sei wohl so einer gewesen. Keine Ahnung, wie sie mich wieder gefunden haben, aber ich habe mit ihnen gegen die Schauergestalten aus dem Westen gekämpft, die plötzlich aus ihren Löchern krochen und die Städte unsicher machten. Danach bin ich irgendwie nicht wieder raus gekommen und habe weiter als reisender Kämpfer gelebt.

Habe mal hier, mal da ausgeholfen, wenn Not am Mann war. Und nun war ich eben zufällig in der Nähe, als mich die Nachricht ereilte, ich werde hier gebraucht“

Die Burg hinter uns wurde immer kleiner, bis sie kaum noch ein Strich in der Landschaft war und ich sah mir nun unsere nähere Umgebung an. Wir ritten eine gepflasterte Straße entlang, unser Weg wurde von Gras gesäumt, das im Wind raschelte und nur vereinzelt standen knorrige Bäume hier oder da. In der Ferne hörte ich Wasser rauschen und alles wirkte so hell und warm und freundlich, dass ich mir nicht vorstellen konnte, mich nur wenige Kilometer von meinem verregnetem Heimatwald zu befinden, den ich von hier aus sogar noch sehen konnte.

„Wie ist es da?“, fragte Bär, der meinem Blick gefolgt war.

„Wo?“. Stellte ich mich dumm. Ich hatte nun wirklich keine Lust, über den Wald zu reden.

„Na... da. In deinem Wald“

Ich zuckte mit den Schultern. „Ist auszuhalten“

„Wirklich?“. Bär zog eine Augenbraue hoch.

„Nein. Es ist furchtbar“, antwortete ich nun doch ehrlich.

„Man hört allerlei Geschichten über ihn“, brummte Bär. „Ich wüsste zu gerne, welche davon wahr sind“

Ich zuckte mit den Schultern. „Dafür müsste ich die Geschichten kennen“

„Nein. Genug davon“, wechselte Bär das Thema. „Erzähl mir lieber, wie du den Wald empfindest“

Zunächst wollte ich nicht, doch dann begann ich doch zögernd. „Naja... es ist nass... und kalt. Wir werden im Regen geboren und sterben auch in ihm. Der Regen.. ist praktisch unser Leben“

Bär musterte mich interessiert und das spornte mich an, weiter zu erzählen.

„Alles ist schwarz. Also wirklich alles. Die Tiere, die Pflanzen... die Bewohner“. Ich sah zum Dryad hinüber, der sich gerade an die Brust griff und keuchte. Die Entfernung zur Tanne machte ihm zu schaffen.

„Und ihr?“, fragte Bär.

„Viele haben noch blonde Haare. Aber unsere Augen, die sind auch schwarz geworden. Und unsere Haut...“, ich rieb mir die Arme. „Ist überhaupt keine Sonne mehr gewöhnt“

Bär nickte. „Und wie lebt ihr? Habt ihr einen König?“

„Nein. Wir leben ins vier Stämmen, den Roten, den Grauen, den Blauen und den Schwarzen. Ich gehörte zu den Roten. Die Roten und die Schwarzen sind die Stämme der Nacht und die Blauen und die Grauen die des Tages. Wir teilen uns den Wald, aber es herrscht Krieg.

Es gibt nur wenig Nahrung, und so würde jeder Mann seinen eigenen Anführer für ein Stück Fleisch verraten. Deshalb herrscht immer eine gewisse Barbarei, von der ihr Höheren sprecht“.

„Höheren?!“, hakte Bär nach.

„So hat es sich bei uns eingebürgert“, meinte ich. „Die Könige haben sich damals über uns gestellt, mein Volk als niedrig bezeichnet und seitdem heißt ihr einfach nur 'die Höheren'“

„Interessant“, brummte Bär. „Davon wusste ich gar nichts. Red weiter!“

„Wir haben allerdings auch ein paar feste Regeln. Beispielsweise kämpfen wir nur bei Morgengrauen oder in der Abenddämmerung, damit Tag und Nachtvolk gleiche Chancen haben“

Finster erinnerte ich mich an Anlar, den Verräter.

„Und es gilt Respekt vor dem Tod. Die Toten oder Sterbenden werden weder geschändet, noch bei ihrem Abschied gestört, außer es liegt ein Sonderfall vor“

Bär sah mich an und ganz kurz trat ein abwesender, glasiger Ausdruck in seine Pupillen. Doch gleich darauf hatte er sich wieder gefangen und nickte langsam.

„Das heißt... eigentlich seid ihr gar nicht solch gewissenlose Barbaren wie die Geschichten sagen?“

„Kommt drauf an, von welchem Standpunkt aus du das siehst“, lächelte ich ehrlich. „Also ich würde sagen: Nein. Aber frag mal den Hauptmann“

Eigentlich machte mich das Alles furchtbar wütend. Wie konnte ein Volk nur so... unwissend sein und gleichzeitig so sehr auf Geschichten vertrauen, nur weil sie einem vom Oberhaupt erzählt wurden?

Ich hatte nichts gegen Bär, wirklich nicht, aber er war eben doch nur einer von ihnen, selbst, wenn ich das in den letzten Tagen gern vergessen hätte. Es war ein Fehler gewesen, die ganze Sache. Einzig und Allein die Erinnerung an die Erwähnung Lyens und Zenas Wunsch nach meinem Überleben ließen mich hier durchhalten.

Bär schien meinen Stimmungswechsel zu bemerken, denn er schwieg nun und sah nach vorne, zu dem Dryad, der nun halb ohnmächtig auf dem Hals seines Pferdes hing.

„Was ist mit ihm?“

„Er wird sterben, wenn wir uns noch weiter von seine Tanne entfernen. Er ist ein Baumgeist“

„Das erklärt Einiges“, nickte Bär. „Aber wie lange hält er noch aus?“

„Lange. Das Band, das ihn und seinen Baum verbindet ist enorm dehnbar. Aber das bedeutet für die Beiden auch unerträgliche Schmerzen, was vor allem ihn betrifft“

„Grausam“, brummte Bär und ich gab ihm Recht.

In diesem Moment hob Lyen vorne die Hand und zog damit die Aufmerksamkeit auf sich, die er benötigte, um an zu galoppieren, ohne, dass die ersten im Hohen Bogen auf dem Hosenboden landeten.

Tonne rollte eher als das sie lief und jeder einzelner ihrer Schritte verursachte ein solches Beben, dass meine Oberschenkel nach einiger Zeit vollkommen durchgeknetet waren. Es war trotzdem ein angenehmes Gefühl, denn ihr Rücken war wie eine riesige, schaukelnde Festung. Es schien mir unmöglich von hier herunter zu fallen und so entspannte ich mich nach wenigen Minuten und sah auch mal nach Rechts oder Links.

Mein Wald und die Festung waren bereits außer Sichtweite und die Grasebene erstreckte sich bis zum Horizont. Nur ganz in der Ferne zeichneten sich Silhouetten von riesigen Hügeln ab, die sich später als Berge heraus stellten. Überall roch es, nach etwas, das ich nicht kannte. Als wir am Nachmittag rasteten, bemerkte ich, dass es die kleinen, bunten Pflanzen waren. Wir hatten so etwas zwar auch, aber kein roch so wohltuend wie diese hier. Ich saß einfach nur im Gras und sah mir die vielen Tiere und Pflanzen an, denn hinter jedem Stein verbarg sich soviel Neues, dass ich einfach nicht aufhören konnte, all das in mich auf zu saugen und zu entdecken.

Mir war egal, was die Anderen machten, erst am Abend, als die Welt um mich herum sich erneut veränderte und eine noch schönere Seite von sich preisgab, kam ich langsam zur Ruhe und setzte mich an das Feuer, um das sich alle versammelt hatten.

Joee starrte in die tanzenden Flammen, entsetzt, verstört, als wären es Monster, die nach ihm greifen würden.

Lynnea saß an Lyen gelehnt da, Gedanken verloren, während Lyen mit wachen Augen um sich spähte.

Falke stocherte mit einem Stock im Feuer herum und immer wenn Funken aufstoben leuchtete sein Gesicht so unheimlich, dass mir ein Schauer über den Rücken lief.

Bär lag halb auf einem umgekippten Baumstamm und rauchte eine Pfeife. Das Kraut roch süßlich und ebenfalls nach etwas Neuem.

Der Dryad lag zusammen gerollt unter einem Brombeerbusch und keiner wusste, ob er nur schlief, oder tot war. Allerdings machte sich auch keiner die Mühe, nachzusehen.

Doch eigentlich war ich mit ganz anderen Dingen beschäftigt. Gedanken verloren strich ich durch das Gefieder meines Huhns und starrte in den Himmel. Denn das, was sich mir da oben offenbarte, war einfach unglaublich.

Kleine Lichter, unverklärt von jeglichen Wolken, die sie mir zu Hause nur milchig erschienen ließen, glänzten dort oben und gaben einem das Gefühl, sich in einer Endlosigkeit zu befinden, einer Endlosigkeit, die nichts anderes bedeutete, als die nicht existierende Wirklichkeit und die Bedeutungslosigkeit eines jeden Lebens. Denn diese Lichter standen schon seit Anbeginn der Zeit dort oben und sie würden erst verlöschen, wenn die Zeit ging. Und die ging nie.

Auch der Mond sah von hier so unglaublich anders aus. In der letzten Nacht war der Himmel Wolken verhangen gewesen, doch nun hatte ich klare Sicht auf seine fast noch pralle Gestalt und nicht eine Nebelschwade oder Wolke versteckte ihn vor meinen Augen.

„Woran denkst du?“, fragte Bär grummelig und ich schreckte hoch.

„An den Mond“, antwortete ich nach einigem Zögern.

„Mond, Mond, Begehren meines Herzens. So sagte es schon der Schöpfer der Zeit“, murmelte Bär schläfrig.

„Mond, Mond, Begehren meines Herzens...“, wiederholte ich und hätte keinen besseren Ausdruck für meine Gefühle finden können. Es war das Sehen nach etwas Unerreichbarem. Etwas, das man nicht wirklich bestimmen konnte.

„Ihr solltet schlafen und nicht den Werwolf spielen“, knurrte Falke, der nun das Stochern aufgegeben hatte und mit geschlossenen Augen am Boden lag.

„Ruhig Blut, Falke. Wir reden ja nur ein wenig“, beschwichtigte Bär den Krieger.

„Schlimm genug, dass du mit dem überhaupt ein Wort wechselst“, brummte Falke jedoch.

„Was bitte?!“, rief ich aufgebracht.

„Pssst“, zischte Lyen von der anderen Seite des knackenden Feuers. „Lynnea schläft!“

„Was bitte?“, wiederholte ich leiser.

Aber Falke und Bär antworteten nicht mehr. Sie waren beide eingeschlafen.

Ich seufzte und zog meinen Umhang enger um meinen Körper. Mir war nicht kalt, aber ich fühlte mich wesentlich wohler, so.

Mein Blick blieb an dem tanzenden Spiel der Flammen hängen, die in die kalte Nachtluft züngelten und schließlich fixierte ich Joees Gesicht.

Der Heiler bemerkte mich nicht, doch seine Pupillen zuckten unruhig Hin und Her, während er mit zitternden Händen seine Decke glatt strich.

Nach wenigen Minuten zog auch er seine Kapuze über und legte sich Hin, allerdings nicht, ohne seine Messer in Reichweite zu positionieren.

Nun waren nur noch Lyen und Ich wach, doch der Soldat sprach kein Wort, sondern sah nur in die Ferne, während seine Atemwölkchen in die Luft aufstiegen und sich mit dem Rauch des Feuers vermengten.

Ich rupfte ein bisschen Gras aus und betrachtete die grünen Halme in meinen Fingern, bis die Henne sie mir aus der Hand pickte. Sie gluckste zufrieden, kuschelte sich gemütlich auf meinem Bauch ein und steckte den Kopf unter den Flügel.

Ich bewunderte noch kurz ihre wunderschönen, weißen Federn, dann schlief auch ich langsam ein, mit dem dringenden Wunsch, nicht schon wieder von Morden und Flüchen zu träumen, die mysteriös mit der Wirklichkeit zusammen hingen.

 

Ich erwachte instinktiv vor dem Morgengrauen. In meinem Leben war das die kritische Phase und schon als kleiner Junge wurde mir eingebläut, bei dieser Zeit nie zu schlafen, egal, ob ich nun in der Nacht oder am Tag schlafen wollte.

Meine Gefährten schliefen noch, nur vom Dryad war nirgends etwas zu sehen.

Lyen und Lynnea lagen eng umschlungen nebeneinander auf der Erde und auch die Anderen sahen mehr oder weniger friedlich aus, wie sie da lagen und in ihren eigenen Traumwelten hingen.

Das Feuer glühte kaum noch, also beschloss ich, dass es nichts mehr bringen würde, Feuerholz zu sammeln.

In der Ferne, hinter den Bergen, erspähte ich bereits die ersten Roten Streifen, die den Sonnenaufgang ankündigten, doch noch war es dunkel und ich war mir nicht sicher, ob ich der Einzige war, dem das sehr gut gefiel.

Lautlos erhob ich mich und vertrat mir ein wenig die Beine. Dabei hätte ich beinahe das Huhn aufgeschreckt, doch dieses gluckste nur kurz im Schlaf und ruhte dann auf dem Boden weiter.

Tonne schlief mal wieder im Stehen, genau wie zwei andere Pferde. Die Restlichen knabberten an den saftigen Grasbüscheln oder leckten den Tau von den Blättern der Büsche. Langsam entwickelte ich eine Art Sympathie für diese Tierchen. Außer für das von Bär. Um das machte ich weiterhin einen großen Bogen.

Ich gähnte und streckte mich, dann begann ich, ein Frühstück herzustellen, bestehend aus Beeren, Früchten und ein wenig Brot aus unseren Vorräten.

Der Erste, der erwachte, war Falke. Er stand so plötzlich hinter mir, dass ich vor Schreck das Messer für das Brot hatte fallen lassen, was er nur missbilligend aufnahm und dann hinter einem Busch verschwand.

Nach zwei Minuten kam er wieder und setzte sich schweigend an die Überreste des Feuers.

nach und nach kamen alle auf die Beine und besonders der rundliche Bär war sehr dankbar für das Frühstück.

„Rain...“, er klopfte mir kauen auf die Schulter, während aus seinem Mundwinkel roter Beerensaft floss, „du bist echt einer von den Guten“

Ich lächelte verlegen und begann, meine Sachen zu packen, da Lyen gleich weiter reiten wollte. Er war der unumstrittene Anführer der Gruppe, doch ich fragte mich, wie lange noch. Falke würde sicher nicht lange nach seine Pfeife tanzen, wenn sogar Endrian seine Probleme mit ihm gehabt hatte.

Andererseits hatte ich den Burgherren ja ebenfalls vor einem Tag mit einem Kinnhaken nieder geschlagen, was aber lange nicht hieß, dass ich das mit Lyen ebenfalls vor hatte. Man würde schon sehen, wie sich die Sache entwickelte...

Auch der Dryad war inzwischen wieder aufgetaucht. Er rührte die Beeren nicht an, er trank lediglich etwas Wasser aus dem Bach, der in seinem Wiesenbett durch das Gras floss und setzte sich dann auf sein Pferd.

Seine Schmerzen waren entweder leichter geworden oder er hatte gelernt, sie sich nicht anmerken zu lassen. Ich lächelte ihm leicht zu, doch er ignorierte mich hartnäckig. Anscheinend hatte er mir immer noch nicht verziehen, dass ich hier mitmachte. Obwohl er es ja auch tat.

Ich machte mir keine weiteren Gedanken und widmete mich lieber Tonne, die schläfrig schnaubte, als ich ihr den Hals klopfte und ein Stückchen Brot zusteckte. Die gewaltige Stute war zwar schon sehr füllig, aber das scherte mich herzlich wenig, wenn ich sie damit bestechen konnte.

Schließlich waren wir alle wieder aufgesessen und Lyen lenkte sein Pferd an die Spitze. Bär und ich ritten wieder nebeneinander, doch diesmal in der Mitte der Gruppe.

Doch heute war Bär schweigsam und immer wieder sah er besorgt zum Himmel auf, bis es mich ganz verrückt machte.

„Was ist denn da?!“, fragte ich heftig und spähte ebenfalls in den bewölkten Himmel, hinter denen die Sonne nur dumpf zu erkennen war.

Bär sah verwirrt auf und blinzelte. „Was...?“

„Na... du schaust die ganze Zeit nach oben!“, rief ich genervt.

„Achso... Nein, nichts. Ich glaube nur, es gibt ein Unwetter“

„Das wäre auch kein Beinbruch“, brummte ich. „Oder was verstehst du unter Unwetter?“

„Sturm, Regen, Gewitter...“, zählte Bär erstaunt auf.

„Als ob das jetzt so schlimm wäre. In meinem Wald gibt’s das schließlich täglich!“, argumentierte ich.

„Naja, trotzdem. Erleichtern tut das den Weg nicht“, meinte Bär abwesend.

„Ich seh schon, Reden macht heute keinen Sinn. Du bist ja ganz woanders“, brummte ich, dann wandte ich mich ab und beobachtete meine Umgebung.

 

 

„Lyen!“, brüllte Falke, doch seine Stimme ging beinahe vollkommen im tosenden Geheul des Windes unter, der an meinen Kleider zerrte und Tonnes Mähne flattern ließ.

Bär hatte Recht behalten, es gab ein Unwetter und zwar ein ganz schön gewaltiges. Vereinzelte Regentropfen wurden mir vom Wind ins Gesicht gepeitscht, doch es würde noch schlimmer werden, wenn der Regen vollends Überhand gewinnen würde.

Wir befanden uns immer noch auf der riesigen Grasebene, wodurch sich die Windböen gegenseitig aufpeitschten und noch erbarmungsloser an uns rüttelten.

Tonne war das einzige Pferd, dass kein einziges Mal taumelte und ich war der fülligen Stute dankbar, dass sie die Situation souveräner meisterte als ich.

Denn egal, welches Pferd nun gegen sie stolperte oder welche Zweige vor ihre Hufe geweht wurden, Tonne stand wie eine Festung, so dass es mir unmöglich schien, die Kontrolle über sie zu verlieren.

Bär hatte es da schon schwerer, doch auch er hielt den schwarzen Hengst fest im Griff und bald beruhigte sich das Pferd und hielt sich ganz an Tonne, die Schritt für Schritt gegen den Sturm ankämpfte.

Auch die Anderen bekamen es mehr oder weniger gut hin, alle bis auf Joee, dessen schmale, junge Stute immer wieder panisch wieherte oder den Kopf in den Nacken warf. Der Heiler gab sich größte Mühe, doch auch er war so verstört, dass er das Pferd eher beunruhigte, als es herunter zu fahren.

„LYEN!“, brüllte Falke erneut, aber unser Führer war mit anderen Dingen beschäftigt. Verzweifelt versuchte er, die Karten vor dem Wind zu schützen, der das Papier fort tragen wollte und doch heraus zu finden, wo man Schutz erhielt.

Lynnea stieß ihn an und Lyen rutschte die Kapuze vom Kopf als er aufsah, so dass ihm die kurzen, blonden Haare immer wieder ins Gesicht wehten.

Er öffnete den Mund, doch seine Worte kamen nicht einmal bei uns in der Mitte an, so dass ich bezweifelte, dass Falke sie gehört hatte.

Nach weiteren Minuten des ewigen Kampfes gegen den unerbittlichen Wind, hielt Lyen schließlich an und ritt zu uns nach hinten.

„Dryad“, keuchte er und der Dryad schaute auf. Ihm schien das Wetter keine Sorgen zu bereiten, keineswegs, er lächelte sogar selbstzufrieden. Ich beneidete ihn darum. Alleine, um den Anderen eins aus zuwischen hätte ich gerne ein wenig von seiner Gelassenheit gehabt. Doch die hatte der Wind fort getragen, genau wie meine Verachtung Bär gegenüber.

„Kannst du... uns zu einem sicheren Ort bringen? Wo wir Wind geschützt und trocken sind?“. Auf Lyens Blick spiegelte sich Verzweiflung und Hilflosigkeit wieder, obwohl man es ihm kaum ansah, wie er dort aufrecht auf seinem Pferd saß, den Umhang um die Schultern wehend.

Der Dryad öffnete seinen Mund, doch er kam zu keiner Antwort, denn im selben Moment stieg Joees Pferd und wieherte schrill.

Bärs Hengst machte einen erschrockenen Satz zur Seite und mehr bekam ich eigentlich gar nicht mit, außer, dass plötzlich auch Lyens Pferd rannte und Tonne ihm stur folgte.

Ich wusste weder, ob uns noch Andere folgten, noch, ob jemand vom Pferd gefallen oder gar zertrampelt worden war, ich konzentrierte mich einzig und allein darauf, meine Stute durch zu parieren.

Tonne jedoch ignorierte mich standhaft und egal, was ich auf ihrem Rücken veranstaltete, sie sauste wie der Wind hinter Lyen her, der immer noch die Karte in einer Hand hielt und mit der Anderen teils sicher, teils unruhig sein Pferd wieder unter Kontrolle brachte.

Irgendwann gab ich es auf, mit Tonne zu kämpfen und ließ sie einfach laufen, in der Hoffnung, sie würde schon irgendwann stehen bleiben.

Inzwischen setzte der Regen wieder ein und immer wieder kniff ich ein Auge zu, weil mir Regentropfen gegen die Lider prasselten. Der Wind biss kalt in meine unbedeckten Finger und mit der Zeit wurde es schwer, Tonnes Mähne fest zu halten.

Ich spürte, dass wir allmählich langsamer wurden und irgendwann schließlich ganz hielten.

Lyen drehte sein Pferd im Schritt und sah sich mit zusammengekniffenen Augen um, ganz wie ich. Anscheinend war außer Tonne nur Falkes Pferd darauf gekommen, ihm zu folgen, was ich ein wenig bedauerte. Der düstere Kämpfer war nun wirklich nicht mein Wunschgefährte.

„Was ist passiert?“, fragte ich atemlos, als wir drei unsere Pferde nebeneinander lenkten, um besser reden zu können.

„Es gab eine Massenpanik“, brummte Lyen finster. So hatte ich ihn noch nie erlebt. „Wisst ihr, was mit den Anderen passiert ist?“

„Joees Stute ist weg gerast wie eine Irre und ich glaube Bär ist vom Pferd geflogen“, meinte Falke und zog sich seine dunkle Kapuze über, die ihm einen unheimlichen Eindruck verliehen.

„Wir sollten zurück“, meinte ich und spähte über die Schulter. „Vielleicht haben Lynnea und der Dryad ja ihre Pferde unter Kontrolle halten können“

„Nein, das macht keinen Sinn“, wandte Falke ein. „Die sind bestimmt schon längst weg. Sonst wären sie uns gefolgt“

„Oder sie sind Joee gefolgt“, überlegte Lyen.

Genau in diesem Moment krachte ein Ast aus einer morschen, einsamen Birke auf den Weg und wir alle hatten Mühe, die Pferde beisammen zu halten.

„Wir müssen in einen Unterschlupf!“, schrie Falke zu uns herüber. „Sonst scheuen uns unsere Pferde auch noch!“

Lyen schüttelte den Kopf. „Erst müssen wir Lynnea und die Anderen suchen!“

„Die kommen alleine klar“, erwiderte Falke gereizt. „Es bringt ihnen auch nichts, wenn wir jeder alleine herum streunen!“

Lyen neigte widerwillig den Kopf. „Also gut. Hier in der Nähe gibt es ein kleines Gasthaus. Es hat einen üblen Ruf. Aber es ist besser als nichts“

Falke nickte. „Ich kenne es auch. Folgt mir einfach“

Ich gehorchte ohne Widerspruch, denn ich hatte ja sowieso kaum Ahnung von dieser Gegend. So reihten ich und Lyen uns hinter Falke ein, der sofort los preschte, als gäbe es kein Morgen mehr. Vielleicht war ihm aber auch einfach nur das Pferd durch gegangen.

Während wir durch die Landschaft fegten und der Regen zunahm, überlegte ich, wie es wohl den Anderen ergangen war. Ob Bär wirklich vom Pferd gefallen war, wie Falke es sagte? Hoffentlich hatte er sich nichts getan...

Ich umklammerte Tonnes Mähne fester und fuhr erschrocken zusammen, als ein Blitz den Himmel durchzuckte und fast direkt darauf der Donner folgte. Wir waren mitten drin, im Gewitter und auf dieser Grasebene liefen wir zwar nicht Gefahr, von einem Baum erschlagen zu werden, jedoch waren wir auch ungeschützt vor Wind und Regen.

Endlich kam eine kleine Holzhütte in Sicht. Sie sah herunter gekommen und schäbig aus, viele Holzbretter waren lose und Löcher nur notdürftig geflickt, aber immerhin gab es einen Stall.

Falke musste mehrere Male auf die Stalltür einschlagen, bis ein kleiner, missgelaunter Kerl im Türrahmen erschien und unsere Reittiere entgegen nahm. Ich vertraute ihm nur ungern Tonne an, doch ich wusste, dass die Stute sich nichts zu Schaden lassen würde, in sofern es sie nicht total abschreckte. Dazu war sie einfach... zu gemütlich.

Am Eingang der Spelunke hing ein Schild, auf das groß und schräg die Worte „zum jaulenden Hunde“ aufgemalt waren. Darunter hing ein Hundeschädel, oder zumindest das, was davon übrig geblieben war. Wirklich einladend war das nicht.

Lyen stieß die Tür auf und sofort schlug mir ein Schwall Gestank nach Schweiß und Alkohol entgegen. Alle Gespräche verstummten, sobald wir bemerkt wurden und ungefähr ein halbes Dutzend Augenpaare lagen auf meiner bescheidenen Persönlichkeit, als wir nass und tropfend herein kamen.

Der Raum war nur kahl ausgestattet, ein paar Tische und Stühle, teils mit Messern gespickt und auch die Wände waren, abgesehen von ein paar Blut oder Alkoholflecken, mit nichts verziert oder ausgestattet.

Die Plätze waren nicht einmal zur Hälfte besetzt, doch selbst diese Gestalten reichten mir. Schmierige Leute mit unrasiertem Kinn spielten Karten, tranken Bier oder feilschten um Ware, die mit Sicherheit nicht ganz legal war, zumindest schloss ich dass aus der Hand, die das kleine Säckchen schnell vom Tisch wischte, als mein Blick daran hängen blieb.

Falke brach die Stille, die entstanden war, indem er nach dem Wirt verlangte. „Oder gibt es in diesem Nest etwa keinen Bierschenker?!“, hakte er mit funkelnden Augen nach und strich schier beiläufig über sein Messer.

Sofort ging Bewegung durch die erstarrten Gäste. Eine kleine, pummelige Frau mit Schürze und Häubchen watschelte eilig auf uns zu und verbeugte sich kurz.

„Entschuldigt. Ihr möchtet ein Zimmer?“

„Drei“, murrte Falke finster.

„Verzeihung, aber wir haben nur Eines...“. Die Frau faltete ihre Hände vor dem Bauch und lächelte unsicher.

Falke wollte etwas erwidern, doch Lyen unterbrach ihn schnell. „Wir nehmen es“

„Gut. Wartet noch ein wenig, ich werde es bereiten“, meinte die Frau und verschwand hinter einer alten klapprigen Tür.

Ich schob meine nasse Kapuze zurück und sah mich um. Die Gäste hatten sich wieder ihrem Treiben zu gewandt, doch Hin und Wieder warfen sie noch misstrauische Seitenblicke auf uns Drei.

Lyen deutete auf einen abgelegenen Tisch in der Ecke und wir setzten uns.

Nach einer Weile erhob Falke sich wieder und ging zur Theke, oder zumindest vermutete ich, dass es eine war, um was zu trinken zu holen.

Lyen sah mich an und meinte leise: „Ich frage mich, was mit Lynnea ist“

„Ihr geht es bestimmt gut“, beruhigte ich Lyen zuversichtlich. „Wenn dann mache ich mir eher Sorgen um unseren Heiler. Immerhin war es sein Pferd, das aus gerastet ist“

„Nein, es war nicht das Pferd“, erwiderte Lyen finster.

„Wie meinst du das?“

„Nur ein paar Sekunden zuvor stand es vollkommen ruhig da und hat kein bisschen gescheut. Und es gab auch kein Geräusch oder etwas ähnliches, dass ihm hätte Angst einjagen können“, erzählte Lyen.

„Du meinst doch nicht...?“

„Doch. Irgenjemand muss es aufgeschreckt haben. Was auch immer dieser Jemand damit bezwecken wollte“

„Wer stand neben Joee?“, fragte ich Stirn runzelnd.

Lyen seufzte kurz. „Ich und Falke“

Ich sog scharf die Luft ein und wollte etwas antworten, doch dann konnten wir nicht weiter sprechen, da Falke mit drei Krügen Bier wieder kam. Lyen lehnte sich zurück und griff nach seinem Becher, doch sein Gesicht verriet das Misstrauen gegen den Krieger aus dem Süden.

Ich umschloss meinen Becher und sah in das schäumende Getränk. Wenn wirklich Falke Joees Pferd angestachelt hatte, dann hieße das, dass er eine Trennung der Gruppe bezwecken wollte. Vielleicht, um jemanden von uns alleine abzupassen. Lyen, oder.... mich.

'Vielleicht ist deine Sorge aber auch unbegründet und das Pferd hat nur einen dicken Regentropfen abbekommen oder so!', rief meine innere Stimme. Doch dieses Mal konnte ich ihr irgendwie nicht so Recht trauen.

„Meine Herren...“, riss mich die Frau aus den Gedanken. „Das Zimmer wäre nun so weit“

„Wunderbar“, lächelte Lyen und stand auf.

Ich folgte ihm und auch Falke stand nach einem großen Schluck Bier auf. Ich ließ meinen Becher unberührt stehen. Auch in der Burg hatte ich mal etwas probiert und am nächsten Tag unausstehliche Kopfschmerzen bekommen. Das wollte ich nicht erneut riskieren.

Unser Zimmer war ziemlich klein, aber immerhin hatte jeder ein eigenes Bett. Immerhin... ich drückte mich schon aus, als wäre ein Bett etwas Selbstverständliches. Ich sah an mir herunter und stellte fest, dass ich sowieso etwas Speck angesetzt hatte. Nicht so, dass es meiner Figur schaden würde, aber ich konnte nicht mehr über eine dürre Wampe klagen.

Lyen legte seinen nassen Umhang ab und zog sich frischen Sachen an, während Falke das Feuer, das bereits behaglich im Kamin prasselte, anschürte und es ihm dann gleich tat.

Ich ließ meine Kleider vorerst an, ich war diese Feuchtigkeit schließlich gewöhnt. Stattdessen ging ich zum Fenster und öffnete die schimmligen Läden, um hinaus zu sehen. Der Sturm tobte noch immer, allerdings nicht mehr so heftig wie noch vor einer halben Stunde. Trotzdem schloss ich es wieder, weil ich nicht riskieren wollte, dass das Feuer ausging.

Dann sah ich mich um. Abgesehen von den drei Betten war nicht wirklich viel in dem kleinem Raum. Es war ein Dachzimmer und ich konnte nur in der Mitte, unter dem Gibel, aufrecht stehen und selbst das tat ich nicht gerne, weil Spinnweben und Schimmel dort längst Oberhand gewonnen hatten.

Falke zupfte an dem dünnen Laken auf dem Bett und brummte etwas, doch weder Lyen noch ich schenkten ihm besondere Beachtung.

„Wir sollten schlafen“, meinte dieser nach einiger Zeit. „Wenn sich das Wetter beruhigt hat, werden wir morgen nach den Anderen suchen“

Dann legte er sich in sein Bett und schloss die Augen. Ich tat es ihm gleich, doch ich wusste sofort, dass ich nicht schlafen konnte. Ich wartete ab, bis auch Falke die Augen zufielen und der Raum von gleichmäßigen Atemzügen erfüllt war, dann schwang ich mich wieder aus meinem Lager.

Von dem Feuer war nur noch eine glimmmende Glut übrig, also legte ich Feuer nach und starrte einige Zeit in die knisternden Flammen, bis ich beschloss, nach unten zu gehen.

Es herrschte eine ausgelassene Stimmung und sobald ich die Tür zur Schankstube geöffnet hatte, wurde ich von Musik und Gebrüll begrüßt. Ein einzelner Minnesänger stand mit seiner Mandoline am Rande des Geschehens und gab dem finsteren Ort einen fast grotesk wirkenden Humor.

An einem Tisch in der Ecke spielten ein paar Leute Armdrücken, an der Bar saßen hübsche Mädchen und selbst der Sturm draußen wurde von dem Gelalle der Betrunkenen übertönt.

Ich fühlte mich höchst unwohl, doch nach oben gehen wollte ich auch nicht wieder, wo die Stille mir einsame Gedanken brachte, Erinnerungen, an die ich jetzt nicht denken wollte.

Ich gesellte mich zu einem dunklem Spießgesellen an der Theke, doch nachdem wir einige Minuten schweigend über unseren Krügen gebrütet hatten, wandte ich mich wieder ab.

Nun trank ich doch ein paar Schluck Bier und das Gebräu versetzte mich in einer verwirrende, ausgelassene Stimmung. Wahrscheinlich kam ich dadurch auf die ziemlich dumme Idee, mit Armdrücken zu spielen.

„Hey!“, rief ich und ging auf den Tisch zu. „Lasst mich mal ran“

Alle Köpfe drehten sich zu mir und ich erkannte zu meinem Erstaunen auch eine Frau zwischen all den dreckigen Männergesichtern.

„Na kommt Tjor! Zeig dem Kleinen mal, wo's lang geht!“, krakelte ein alter Mann mit Krückstock.

Ich nahm einen weiteren, großen Schluck Bier, wischte mir den Mund ab und warf den Krug über die Schulter. Dann stolperte ich zum Tisch und ergriff die Faust des Typen, der mir gegenüber saß. Er war nicht viel älter als ich, doch auf seinem Gesicht lag Müdigkeit und etwas, das ich nicht deuten konnte.

Ein kleiner Mann feuert ihn wild an. „Tjor! Tjor!“

Die Anderen schwiegen, als dieser Tjor aufsah und mir in die Augen blickte.

„Bereit?“

Ich nickte benebelt und im selben Moment drückte Tjor zu. Mein Arm wurde brutal nach rechts gehebelt, doch ich hielt dagegen. Ein Zitternd ging durch meine Muskeln, doch ich schaffte es, mich in die aufrechte Position zurück zu kämpfen.

„Tjor!!“, jubelte der Kleine und der Alte schlug Tjor mit seinem Stock auf den Rücken. „Hau rein!“

„Ich setze auf den Kleinen“, hörte ich jemanden rufen, doch ich konzentrierte mich einzig und allein darauf, Tjors Arm aufzuhalten.

Und ich schaffte es. Nach zwei Schweiß auftreibenden Minuten drückte ich seine Faust auf die Tischplatte.

Geld flog über den Tisch und ich erkannte den Mann, der auf mich gesetzt hatte.

„Bringt dem Kleinen noch ein Bier!“, rief irgendjemand.

Tjor klopfte mir auf die Schulter. „Ich glaube, das könnte ein lustiger Abend werden“

 

„He, Bastard! Jetzt komm schon! Raus aus den Federn“

Eine Stimme riss mich unsanft aus meinen tiefen von Kopfschmerzen gesäumten Träumen. Im Halbschlaf griff ich nach dem platten, unbequemen Kissen und warf es Falke ins Gesicht.

„Fresse da drüben“, knurrte ich und vergrub mein Gesicht in der Decke, weil mir das helle Licht schmerzende Augen bereitete. Mir war übel und meine Schläfen pochten schmerzhaft, fast als hätte mir jemand eine verpasst.

„Ich kann nichts dafür, wenn du dir da unten noch die Birne wegsäufst!“, meckerte Falke nun und seine Stimme brach erbarmungslos in meine Ohren ein, von wo aus sie sich ihren Weg in mein Hirn bahnte.

Eine Tür klappte und ich hörte Lyen. „Können wir los? Ich würde jetzt wirklich gerne nachsehen, wo die Anderen abgeblieben sind“

„Wenn unser feiner Herr mal aus dem Bett kommen würde, vielleicht“, knurrte Falke und deutete auf mich. Zumindest vermutete ich das, denn ich hatte meinen Kopf ja immer noch im Laken vergraben.

„Komm, Rain. Wir müssen weiter. Nimm doch was von deiner Medizin, vielleicht geht es dir dann besser“

Ich hätte Lyen umarmen können. Tatsächlich verminderte der Trank meine Kopfschmerzen so weit, dass ich mich aus dem Bett und in meine Kleider wälzen konnte, dann ging ich gähnend die Treppe hinunter.

In der Schankstube wurde ich mit lauten Gebrüll begrüßt. „Röin! Alter Kumpel!“

Ich hielt mir gequält die Ohren zu und wartete, bis sie wieder leise waren. Lyen sah mich erstaunt an. „Na, du hast dir über Nacht ja echte Freunde gemacht“

„Und einen Kater gezähmt“, ergänze Falke schadenfroh, während er von seinem Brotkannten abbiss, der unser Frühstück dar stellte. Ich aß nichts, sondern trank wortlos ein Wasser, dann verließen wir unter weiterem Applaus das Wirtshaus, nachdem Lyen unser Zimmer bezahlt hatte.

Die kleine Watschel-Frau bat uns, doch bald wieder zu kommen, was ich allerdings nicht vor hatte. Niemals.

 

Nun ritten wir durch die große Grasebene, während die Sonne sich durch die dichte, graue Wolkendecke kämpfte und hielten nach unseren restlichen Gefährten Ausschau.

Lyens Gesicht wurde immer düsterer und seine Sorge um Lynnea spiegelte sich in seinem Gesicht wie sonst nichts Anderes.

Falke sah aus wie immer- wie eine Gewitterwolke. Mit blitzenden Augen spähte er im Grunde mehr zu mir herüber als in die Ferne und mir kamen die Vermutungen von gestern Abend wieder in den Sinn. Sollte Falke wirklich ein Verräter sein?

Ich ließ meinen Blick schweifen, während ich nachdachte und so fiel mir zunächst gar nicht auf, das etwas fehlte.

„Wo ist eigentlich mein Huhn?!“, fragte ich in die Stille hinein.

„Dein was?“, hakte Falke mit hoch gezogenen Augenbrauen nach.

„Na... mein Huhn!“

Lyen musterte mich. „Ich glaube, es ist weg geflogen, als unsere Pferde gescheut haben“

„Hm... Schade eigentlich“, murmelte ich und vermisst das Gefühl, durch weiche Federn zu streicheln.

Das Wetter hielt sich bis zum Nachmittag, als wir rasteten. Manchmal brachen sogar vereinzelte Sonnenstrahlen durch die Wolken, denen ich aber vorzugsweise auswich. Ich mochte dieses warme Gefühl auf der Haut immer noch nicht. Es war einfach so... ungewohnt.

Noch immer war nirgendwo ein Zeichen der Anderen zu sehen und langsam wurde auch ich unruhig. Was war, wenn sie von einem Ast erschlagen worden waren oder nun jeder Einzelne von ihnen alleine durch die Gegend irrte?

Am Abend, als die Kälte uns zunehmend zusetzte, kapitulierte Lyen schließlich.

„Es macht keinen Sinn. Bei der Dunkelheit ist es wahrscheinlicher, dass wir an ihnen vorbei laufen, ohne sie zu bemerken, als sie noch zu finden und das gilt nicht nur für unsere Freunde...“

„Was meinst du?“, fragte Falke mit stechendem Blick.

„Wir befinden uns noch immer auf der Eresiner Ebene und desto näher wir den Bergen kommen, desto mehr Viecher der Nacht trauen sich nachts raus“

„Meinst du etwa, wir laufen Gefahr, angegriffen zu werden?!“, fragte ich entsetzt.

„Mach dir nicht gleich in die Hose, Bastard“, knurrte Falke.

„Mir liegt eben noch etwas an meinem Leben“, erwiderte ich.

„Hört auf!“, mischte Lyen sich ärgerlich ein. „Das bringt uns auch nicht weiter. Fakt ist, dass wir einen Unterschlupf für die Nacht suchen müssen, wenn wir nicht draufgehen wollen. Also strengt euch an!“

Lyen murrte etwas, doch er richtete seinen Blick widerstandslos in die Ferne und hielt nach einem Unterstand Ausschau.

Auch ich dirigierte Tonne langsam im Kreis. Die pummelige Stute schnaubte unwillig, bei dieser umständlichen Bewegung, doch sie gehorchte und ich konnte in alle Richtungen sehen.

„Da hinten... Ich glaube, da ist etwas...“, murmelte ich und kniff die Augen zusammen.

„Wo?“, fragte Lyen und folgte meinem Blick.

„Also ich seh da nichts!“, rief Falke. „Wohl zu viel gesoffen, was?“. Er grinste gemein.

„Nein“, wehrte ich ab und ging nicht auf seine Bemerkung ein. „Da... seht ihr das nicht?“

„Ich würde dir gern glauben, Bastard, aber... ich fürchte, Falke hat Recht. Du fantasierst!“, meinte Lyen freundlich.

„Nein!“, rief ich. „Ich bin mir ganz sicher! Da hinten ist etwas!“. Bei jedem meiner Wörter stoben Rauchwolken in den Himmel und meine Finger wurden langsam steif. Ohne auf die Anderen zu achten trieb ich Tonne in die Richtung, wo ich noch immer den großen Schatten sah.

Und wirklich: Mit der Zeit wurden die Umrisse immer deutlicher.

„Du hast Recht!“. Lyen war mir gefolgt und verbarg seine Überraschung nicht. Dann fügte er etwas leiser hinzu: „Ich habe mich schon lange gefragt, wo denn nun der Unterschied zwischen unseren Rassen liegt“

Ich runzelte die Stirn. „Hä?!“

Falke schwieg missmutig und musterte stattdessen den Schatten, den ich entdeckt hatte.

„Naja... Irgendworin müsst ihr Jäger euch ja von den Menschen unterscheiden!“, erklärte Lyen mir.

„Du meinst... Ich kann besser sehen als ihr zwei?“

„Nicht nur das. Vermutlich auch besser riechen, hören und tasten“

„Klingt logisch“, gab ich zu. „Das würde auch erklären, warum mein Volk früher in der Wildnis gelebt hat und trotzdem nicht von wilden Tieren ausgerottet wurden“

„Außerdem glaube ich, dass eure Nerven feiner sind. Das würde ebenfalls deinen Absturz gestern Abend erklären, wenn du wirklich nur drei Bier getrunken hast“

„Pah.. der lügt doch“, kommentierte Falke, doch Lyen brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. „Ist auch egal. Auf jeden Fall sollten wir nun nachsehen, was sich hinter diesem Ding dort hinten verbirgt“

Ich nickte und lenkte Tonne an die Seite von Lyens Pferd. Falke zockelte hinter uns her und ich spürte seine hasserfüllten Blicke praktisch in meinem Rücken. Ich tat ihm jedoch nicht die Genugtuung mich um zudrehen, sondern blieb stocksteif sitzen, scheinbar konzentriert darauf, den Schatten zu bestimmen.

Allerdings fiel mir der Rauch erst auf, als Falke uns darauf hinwies. „Was ist das?“

Nun stieg mir auch der beißende Geruch in die Nase und ich erwiderte: „Rauch... von einem gelöschten Feuer“

„Das weiß ich auch“, brummte Falke. „Aber... wer zündet schon ein Feuer an?! Ich dachte, Schattenwesen meiden das Licht“

„Lynnea!“, stieß Lyen hervor und bevor ihn jemand zurück halten konnte, ritt er schon auf die kleine Rauchsäule zu.

„Verliebter Narr“, knurrte Falke.

„Was willst du tun?!“, fragte ich unentschlossen und verfolgte den Hintern von Lyens Pferd mit meinen Augen.

„Was denkst du denn?!“, fragte Falke aufgebracht. „Natürlich müssen wir ihn da raus holen!“

Ich sah Falke ein paar Sekunden erstaunt hinterher, dann setzte Tonne sich schon von alleine in Bewegung.

Als ich endlich zu den Zweien aufholte war es beinahe ganz dunkel und ich konnte nur Falkes Silhouette auf dem Pferd erkennen.

„Wo ist Lyen?“, fragte ich keuchend und hielt Tonne neben ihm an.

„Pst“, zischte Falke und deutete stumm auf den Boden.

Zunächst dachte ich, Lyen säße da und würde still weinen, zusammen gekauert und zitternd. Dann jedoch bemerkte ich meinen Irrtum und stellte fest, dass er über der Rauchsäule hockte und langsam über den Boden strich. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, in der der kalte Nachtwind an mir rüttelte wie ein Feind, bis er leise murmelte: „Sie sind hier gewesen“.

Ich zuckte zusammen und sah ihn ungläubig an. „Die Anderen?!“

„Ja. Das hier ist Lynneas Schuhsohle. Hier drüben liegt ein Stück Stoff, in das unser Proviant eingewickelt war. Es sind Fußabdrücke von... vier Pferden. Das heißt, sie sind vielleicht noch komplett“

„Oder einer von ihnen ist verreckt und sie schleppen nur noch das Pferd mit sich rum“, bemerkte Falke trocken.

„Das wollen wir doch nicht hoffen, oder?“. Ich musterte Falke scharf. Dieser nickte langsam, jedoch mit verzogenem Mund. Ich glaubte ihm nicht.

„Wir können ihnen nicht folgen...“, murmelte Lyen. „Es ist schon zu dunkel....“

„Und das heißt...?“

„Hier ist Blut“

„Was?!“

„Hier ist... Blut“

Ich sprang von Tonne und eilte an seine Seite. Tatsächlich: Neben dem gelöschten Feuer klebte eine dunkle, rote Spur.

„Weißt du, von wem es stammt?“, fragte ich leise.

„Woher denn?!“

Falke reckte seinen Hals. „Kein Wunder! Habt ihr ernsthaft gedacht, alle hätten das überstanden?!“

„Halt doch einfach mal den Mund!“, fuhr ich ihn an.

„Wir haben keine andere Möglichkeit, als hier zu rasten und morgen so schnell wie möglich weiter zu reiten. Das Feuer ist noch nicht lange gelöscht, das heißt, sie reisen auch nachts. Was nur lässt sie eine solche Dummheit begehen?“

„Dryaden scheuen die Nacht nicht“, meinte ich. „Und wenn sie einen Verletzten dabei haben wollen sie bestimmt möglichst schnell zu einem Heiler gelangen“

Lyens Blick wurde mit Sorgen getränkt. „Ich hoffe nur, es geht Lynnea gut“

Ich nickte. „Bestimmt. Mach dir keine Sorgen...“

Doch Lyens Miene blieb verzweifelt und sollte es auch noch länger bleiben.

 

„Drei Tage! Drei verdammte Tage jagen wir ihnen nun schon hinterher und noch immer gibt es keine Spur von unseren „Freunden“ außer ein paar abgenagte Knochen und Fußabdrücke!“, fluchte Falke und schlug vor Frust auf seinen Oberschenkel. „Das gibt es doch nicht!“

Lyen, der nun schon seit mehreren Tagen tiefe Augenringe unter den Augen hatte, murmelte nur traurig: „Ich verstehe es doch auch nicht...“, wobei er in die Ferne starrte, wie fast immer. „Sie können doch nicht Tag und Nacht laufen... Und trotzdem werden die Spuren immer älter. Ich weiß auch nicht, was sie in diese Richtung treibt. Es ist weder unser Ziel, noch scheinen sie uns wirklich zu suchen. Und jedes Mal gibt es Anzeichen auf mindestens einen Verletzten...“

Ich rieb mir die Stirn und sah zu der hellen Mittagssonne, die schon seit dem Morgen auf uns hinab strahlte. Obwohl es noch ziemlich kühl war, trug ich meine Kapuze tief ins Gesicht gezogen, weil das Licht mich noch immer blendete.

Auch ich hatte es langsam satt, Tag für Tag hinter unseren Gefährten hinterher zu jagen, ohne auch nur einmal einen Blick auf sie zu erhaschen.

„Wir müssen Pause machen“, rief ich Lyen zu, als ich mal wieder zurück gefallen war. „Mein Pferd klappt mir gleich zusammen“

Tatsächlich stolperte Tonne gelegentlich über ihre eigenen Hufe und mit der Zeit hatte ich wirklich Angst, gleich unter ihr begraben zu werden.

„Wenn wir jetzt rasten werden wir sie nie einholen!“, hielt Lyen dagegen, doch Falke war auf meiner Seite.

„Es bringt uns nichts, wenn wir gleich alle tot unter unseren Pferden liegen, anstatt sie jemals wieder zu finden“, meinte er finster und da konnte nicht einmal Lyen mehr etwas gegen sagen.

Also luden wir unsere Pferde ab und streckten uns einfach so ins Gras aus. Meine Beine kribbelten, als ich sie endlich einmal hochlegen konnte, nach all den Tagen des Gewaltmarsches. Der Himmel war unendlich blau und noch immer verfing ich mich in dieser satten Farbe. Wie von selbst klappten meine Augenlider nach unten. Irgendwo wusste ich, dass ich jetzt nicht schlafen durfte, doch ich ignorierte diese Eingebung und gab mich dem Gefühl der Entspannung vollkommen hin.

 

Ein heftiger Schmerz in der Seite weckte mich unsanft. Ich stöhnte und schlug die Augen auf. „Was...?“

„Steh auf!“, brüllte Falke. „Wir haben den ganzen Tag verpennt! Lyen kippt gleich aus den Socken!“

Ich fuhr hoch. „Den ganzen Tag?“

„Schau doch hin!“, rief Falke und deutete gen Himmel. Die Sonne stand schon tief am Horizont und Lyen sah wirklich aus, als würde er jeden Moment krepieren. Kreidebleich und total aufgewühlt stapfte er um sein Pferd herum.

„Wir haben sie verloren! Verdammt, jetzt holen wir sie nie mehr ein!“

Er packte mich bei den Schultern. „Rain! Weißt du, was das heißt?!“

Ich schüttelte den Kopf.

„Wir müssen umkehren. Oder alleine weiter ziehen. Und das können wir nicht verantworten“

Ich hielt die Luft an. „Wie meinst du das?!“

Kurz traten Tränen in Lyens Augen. „Ich erkläre die Anderen hiermit offiziell für tot“

„Nein“, hauchte ich. „Du weißt, dass sie noch leben!“

„Ich kann sie nicht länger verfolgen. Wir dringen zu weit in das feindliche Gebiet vor“, murmelte Lyen und seine großen, blauen Augen schimmerten vor Verzweiflung.

„Und... Lynnea?“, startete ich einen letzten Versuch.

„Ich muss an die Gemeinschaft denken, nicht an mich selbst“. Lyen sah zu Boden.

„Was wird mit uns geschehen? Falke, Du und... Ich?“

Lyen schluckte. „Die Regel gilt noch immer. Wer aussteigt, muss...“

Ich ging ein paar Schritte zurück. „Was?!“

Falke stand abseits und seine Miene war noch finsterer als sonst. Gedanken verloren starrte er in die Ferne und ballte die Fäuste.

„Lyen! Noch gibt es Hoffnung! Wir wissen, dass sie noch nicht alle tot sind und wir können es schaffen!“

Mein Herz schlug immer schneller, während ich auf den Soldaten einredete. Er durfte jetzt nicht kapitulieren, nicht jetzt, wo es so viel Aussicht auf ein neues Leben gab. Ich musste zugeben, dass ich dabei vor allem an meine Heimat und meinen Stamm dachte. Die Vorstellung, nicht mehr zu einem verdammten Volk zu gehören, war einfach zu verlockend, als dass ich sie mit einem Schlag aufgeben würde.

„Es macht keinen Sinn mehr“, meinte Lyen nieder geschlagen. „Lass uns die Pferde bereiten und umkehren“

„Nora!“

Lyen sah mich leicht verstört an. „Bist du durchgedreht?!“

„Nein, du verstehst mich nicht... Da ist Nora“, hauchte ich und deutete über Lyens Schulter. Dieser fuhr herum und erblickte nun das selbe Bild wie ich.

Die Tochter von Endrian stand wie ein Geist zwischen den Bäumen. Sie trug ein langes, weißes Kleid, dass um ihre Schultern wehte und ihre schwarzen Haare ließen sie erscheinen wie einen Traum, bei dem man sich noch nicht sicher ist, ob er böse oder gut ist.

Auch Falke sog scharf die Luft ein und starrte die Frau an, als könnte er seinen Augen nicht trauen, was im Übrigen aber uns allen so ging.

„...Nora?“, fragte Lyen atemlos.

„Stellt keine unnötigen Fragen. Wir haben nicht viel Zeit“, murmelte sie und ihre zarte, junge Stimme hallte durch die Abenddämmerung wie Morgentau, unpassend und zu frisch für eine solche Zeit. „Eure Freunde sind in großer Gefahr. Haltet euch nach Südosten, dann werdet ihr in einem halben Tag auf sie treffen. Haltet euch für einen Kampf bereit“

Ich wollte etwas sagen, doch da war sie schon wieder im Unterholz verschwunden.

„Nora... Warte!“, rief Lyen und eilte zu dem Fleck, wo sie eben noch gestanden hatte. Ich folgte ihm, doch Nora war wie vom Erdboden verschwunden.

„Was war das?!“, fragte Lyen mit gerunzelter Stirn.

„Ich bin beruhigt, dass nicht nur ich das gesehen habe“, brummte ich.

Als wir zurück zu Falke kehrten, saß dieser bereits auf seinem beladenen Pferd.

„Wo willst du hin?“, fragte Lyen verwirrt.

„Ich weiß zwar nicht, wie es mit euch steht, aber ich werde nicht einfach so zurück kehren. Diese Frau hat uns eine Chance gegeben und ich werde sie jetzt ergreifen!“

Ich weiß nicht, ob es beabsichtigt, oder ein Unfall war, auf jeden Fall stieg Falkes Pferd zur selben Zeit und warf die Vorderhufe in die Luft. Das Ganze, vermengt mit dem Wind, der seinen Umhang flattern ließ, verlieh Falke einen entschlossenen, bedrohlichen Eindruck.

Ich nickte und schwang mich ebenfalls auf Tonne. „Ich werde dir folgen“, meinte ich, egal wie sehr es mir widerstrebte.

Lyen seufzte ergeben, doch in seinen Augen sah ich Hoffnung lodern. „Na gut. Dann werde ich euch führen. Wenn die Angaben stimmen, müssten wir sie in der Eisen-Enge abpassen. Ich frage mich nur, was es mit dem Kampf auf sich hat...“

Doch keiner von uns konnte ihm antworten. Nebeneinander trieben wir unsere Pferde vorwärts, mit der Zeit vom Schritt in den Trab und schließlich auch in Galopp.

„Wann werden wir in der Eisen-enge ankommen?“, fragte ich gegen den Wind, der mir um die Ohren pfiff und sah zu Lyens Schatten hinüber.

Alle Fragen, die sich in mir aufdrängten, unterdrückte ich hartnäckig.

„Um Mitternacht“

„Ich denke nicht, dass das eine gute Zeit für einen Ausflug in die Enge ist!“, rief Falke besorgt.

„Ich weiß, aber wir haben keine Wahl“, antwortete Lyen und spähte in die Nacht. „Wir können nur hoffen, dass sich Nora in der Sache mit dem Kampf irrt"

Gefangenschaft

12. Kapitel Gefangenschaft

 

Ich hörte ein Stöhnen. Einen Schrei. Ein Weinen.

Wo war Ich?

Benommen bewegte ich meine Hände, um meinen Untergrund zu erstasten. Erde... Wieso lag ich am Boden? Meine Lippen waren aufgesprungen und ich versuchte angestrengt, mich an die vergangenen Stunden zu erinnern. Wir hatten sie eingeholt... und dann?

Monster. Überall Monster. Ihre Fratzen stiegen nur undeutlich aus dem Nebel in meinen Erinnerungen, doch dafür war ich in gewisser Weise dankbar. Ich spürte ihre Krallen überall an meinem Körper und doch lag ich alleine.

Die Anderen... da war Blut und...

Ich rollte mich auf die Seite. Neben mir lag jemand. Ich war mir nicht sicher, ob er tot oder ohnmächtig war. Es war stockdunkel und eiskalt. Und das Weinen und Stöhnen wollte nicht aufhören.

Was war hier passiert?! Es machte mir Angst, dass ich mich nicht mehr erinnern konnte. Das hier war anders als in der Gastschenke, dass hier schrecklicher. Schmerzhafter.

Taumelnd kam ich auf die Beine. Mein Hemd war am Oberarm zerrissen und blutig, doch ich spürte den Schmerz kaum, so betäubt war ich von dem Bild, dass sich mir nun bot. Überall lagen Fetzen von Körpern und Blut tränkte das Gras. Ein paar Raben schrien, obwohl ihre Zeit noch gar nicht angebrochen war. Von irgendwo stieg Rauch auf und das Stöhnen von Verletzten war kaum zu überhören.

Ein beißender Geruch stieg mir in die Nase. Er erinnerte mich ein wenig an Leichen, die ihren besten Tage längst verlassen hatten und noch dazu einmal quer durch einen Sumpf gezogen wurden.

Bleiernde Müdigkeit legte sich auf mein Gemüt, als ich los humpelte, um nach jemandem zu suchen. Von den Pferden war nichts zu sehen und eines lag mit starren Augen auf dem Boden. Es war das von Lynnea. Ich hielt die Luft an. Was auch immer hier passiert war, es hatte etwas mit den Anderen zutun.

Kraftlos stolperte ich zu einem Felsen, an dem ich mich abstützte und zitternd durchatmete. Dann folgte ich dem Weinen. Irgendwann kam ich bei einem kleinem Haufen an, der zitternd unter ein paar Lumpen begraben war.

Vorsichtig hockte ich mich daneben und fragte leise: „Hey... Was ist los?“

Augenblicklich verstummte das verzweifelte Schluchzen und es wurde still unter dem Häufchen. Wenig später streckte sich ein Gesicht aus den Kleidern. Das war ja ein Kind! Ein kleines Mädchen, um genau zu sein.

„Wer bist du?“, fragte ich verwirrt. „Wie bist du hierher gekommen?“

„Ich weiß nicht, wie ich heiße“, meinte die Kleine mit weinerlicher Stimme. „Ich weiß nicht, was ich hier mache...“

„Wie meinst du das? Du musst doch irgendwo herkommen“, bohrte ich weiter. In mir taten sich unzählige Fragen auf. Was war hier bloß vor sich gegangen?!

„Nein... auf einmal war ich hier.... wer bist du? Bist du ein lieber Onkel?“

„Ich bin Rain“, meinte ich freundlich. „Ich werde dir nichts tun, keine Sorge. Aber ich muss wissen, wer du bist...!“

Daraufhin begann die Kleine wieder zu weinen und vergrub sich in den Kleidern.

„Rain!“

Ich erschrak mich sosehr, dass ich aufsprang und zitternd herum fuhr.

„Ganz ruhig, ich bin es...“

Ich spähte in die Dunkelheit vor mir und Lynnea kam auf mich zu. Ihr Gesicht war Blut verschmiert und im ersten Moment wurde mir schlecht, bis ich bemerkte, dass es nur aus einem großen Kratzer an der Stirn stammte und ihr Gesicht nicht zerfleischt war.

„Was ist passiert?!“, fragte ich verzweifelt.

„Weißt du es nicht mehr?“, meinte Lynnea und in ihrem müden Gesicht spiegelte sich Überraschung.

„Nein...“, murmelte ich und rieb mir die Stirn, wobei mein Arm unangenehm brannte.

„Ihr wolltet uns befreien...“, erzählte Lynnea. „Weißt du es wirklich nicht mehr?!“

„Vor wem denn? Ward ihr nicht alleine?“, fragte ich nun vollends verwirrt.

„Na vor... diesen Viechern“. Lynnea deutete auf eine Leiche, die noch einigermaßen erhalten war.

Ich starrte das Ding vor meinen Füßen entgeistert an. Das sah ja fast aus wie... „Ein Wildschwein?“

„Nein. Eher eine Art Mutant. Ein Mann-Wildschwein“

„Was wollten sie von euch?“, fragte ich und musterte den Menschen mit den gewaltigen Hauern und den roten, erloschenen Augen.

„Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich haben sie etwas von unserer Mission mit bekommen... aber darüber können wir später reden. Erst einmal müssen wir den Anderen helfen. Sie liegen hier irgendwo verstreut... und ich kann Lyen einfach nicht finden“

In diesem Moment zupfte jemand an meiner Jacke. „Du... Rain? Spielst du was mit mir?“

Das kleine Mädchen trug nur ein weites Unterkleid und ihre schwarzen Haare erinnerten mich an irgendjemanden. Sie war so klein und rein, dass es fast schon eine groteske Wirkung erzeugte, sie zwischen all den Toten zu sehen.

„Warte noch, Kleine“, meinte ich und wandte mich zu Lynnea. „Wer ist das?“

Die Soldatin hatte sich einen Verband aus stoff um den Kopf gebunden. „Nora“

„Was bitte?“, rief ich ungläubig. „Nora, die Tochter von Endrian? Die war doch mindestens 20 Jahre alt und dieses Kind ist höchstens... 7 oder so!“

„Sie ist die Tochter der Vögel, Rain. Wusstest du das nicht?“

Damit schien für Lynnea alles geklärt, auf jeden Fall drehte sie sich um und folgte nun einem besonders Lautem Schmerzensschrei, der in mir alles gefrieren ließ.

„Spielst du nun was mit mir oder nicht?“, wiederholte die Kleine ihre Frage. Tatsächlich ähnelten ihre Gesichtszüge denen von Nora, doch ich konnte Lynnea nicht glauben. Tochter der Vögel, jaja...

„Weißt du, ich kenne ein lustiges Spiel. Du musst dich da drüben auf den Felsen stellen und ganz laut rufen, sobald du jemanden siehst, der noch lebt“

„Oh ja“, lachte Nora und hüpfte glücklich zu dem Felsen, wo sie sich eifrig daran machte, ihn zu ersteigen.

„Du kannst gut mit Kindern...“, stellte jemand zu meinen Füßen fest und ich fuhr zum zweiten Mal herum.

„Bär!“

Dort lag der kräftige Krieger, mit einer großen Wunde an der Seite.

„Hey, Rain. Ich dachte schon, ihr würdet mich gar nicht mehr bemerken...“

Ich fiel neben ihm auf die Knie. „Wie geht es dir?“

„Beschissen“

Ich begutachtete die Wunde an seiner Seite, indem ich sein Wams mit meinem Messer aufschnitt, um sie besser sehen zu können. „Das sieht übel aus... was ist dir passiert?“

„Die Schweine haben mich eingekreist und der Letzte hat seine Axt in meine Seite geschlagen, als wär ich irgendein Baum“

„Nur leider haben Bäume Schutzgeister, und du nicht“, stellte ich fest. „Ich kenne mich damit nicht aus. Meinst du, du kannst aufstehen? Dann können wir uns irgendwo sammeln. Der Heiler muss ja auch hier sein“

Bär nickte und ich stützte ihn, damit er auf die Füße kam. Gemeinsam humpelten wir zu einem nur noch kläglich glimmenden Feuer zurück. Ich fütterte es mit ein paar brennbaren Sachen der Leichen, dann versorgte ich Bärs Wunde provisorisch mit ein paar Tüchern und überließ ihm die Verantwortung.

Der breite Krieger lehnte an einem Baumstumpf und war ein bisschen blass um die Nase, doch es stand nicht so schlimm um ihn wie anfangs befürchtet.

„Rain!“, krakelte Nora. „Rain! Da bewegt sich was!“

Ich eilte zu der Kleinen. „Wo?“

„Na da.. drüben bei dem Bächlein“

„Danke. Das war echt super von dir, Nora“, lobte ich sie und das Mädchen platzte fast vor Stolz, als ich über die Wiese zu dem Bach eilte. Es war Falke.

Der finstere Mann knurrte, als ich ihm helfen wollte und kam selbst auf die Beine. Er schien, abgesehen von ein paar Kratzern, unverletzt.

„Wo sind diese Mistkerle?“

Er fuchtelte mit seinem Schwert in der Luft herum und hätte mich beinahe abgestochen. „Sie sind weg oder tot. Ganz ruhig!“

Doch plötzlich tat sich hinter Falke ein großer Schatten aus, der ausholte, um ihm den Kopf abzuschlagen. „Achtung!“, brüllte ich und Falke ragierte schnell. Er fuhr herum und versenkte seine Klinge tief im Bauch des Viechs.

„Jaja- tot oder weg. Ich merk's!“, murmelte er und deutete auf vier weitere Wildschweinmänner, die sich gerade wieder aufgerappelt hatten. „Kannst du kämpfen?“

„Hast du einen Bogen?“, erwiderte ich mit einer Frage.

„Ich nicht, aber der da“. Falke deutete auf einen toten Wildschweinmann, neben dem ein Köcher mit kurzen, starken Pfeilen lag und in dessen Händen ein Jagdbogen ruhte.

„Perfekt“, murmelte ich und zierte mich nicht, ihm beides zu entreißen.

„Die versuchen Bär zu umzingeln“, stellte ich fest.

„Ich schleiche mich außen rum und komme von links, du von rechts“, befahl Falke und wir beide vergaßen jetzt mal die Streitereien.

Ich gehorchte ihm und postierte mit rechts von dem Grüppchen, Falke warf sich in ein Gebüsch auf der linken Flanke der Mutanten. Er signalierte mir unauffällig, ihm Rückendeckung zu geben und auf mein Zeichen zu warten.

Mein Blick schweifte kurz zu Bär, doch dieser war ohnmächtig und bemerkte die lauernde Gefahr gar nicht, die sich grunzend und johlend auf ihn zu bewegte.

Dann konzentrierte ich mich wieder auf Falke. Dieser hob die Hand und zählte lautlos bis drei. Mein Zahlenschatz reichte bis 1000, also hatte ich kein Problem damit, zu verstehen, was er meinte.

1....

2...

3!

Falke sprang aus dem Gebüsch und warf sich zwischen Bär und die vier Krieger, während ich meinen ersten Pfeil in den Nacken einer der hinteren schickte. Der Mutant ging kreischend zu Boden und hielt sich den Hals, doch im nächsten Moment war er schon von meinem nächsten Pfeil getroffen und sank tot in den Dreck.

Falke hatte einen geköpft, doch die anderen Beiden stürzten sich nun auf mich. Ich wollte nach meinem Messer greifen, doch das lag noch dort, wo ich Bär gefunden hatte: zu weit weg.

Falke sah meine Situation und spurtete hinter den beiden her, doch da waren sie schon bei mir angekommen. Dem Ersten schoss ich mit Müh und Not in die Hand, was man zwar als Geniestreich ansehen konnte, allerdings nur wenn man außer Acht ließ, dass ich aufs Herz gezielt hatte.

Immerhin ließ das Vieh so seine erste Waffe fallen.

Der Zweite jedoch holte aus und verfehlte meinen Kopf nur um wenige Zentimeter, weil ich mich im letzten Moment wegducken konnte. Meine Güte...

Doch nun saß ich am Boden und der Erste hielt bereits wieder seine Axt in der Hand und holte aus. Die Klinge sauste auf mich herab, ich sah kaltes Metall glänzen und...

Mein Schrei hallte durch die halbe Ebene.

 

Ich brauchte ein paar Sekunden um zitternd Luft zu holen, doch dann verstand ich, dass es nicht mein Schrei gewesen war. Der Wildschweinmann starrte mich mit vor Schmerz zu Schlitzen verengten Augen an, dann gab es ein schmatzendes Geräusch und er fiel tot zu Boden. Hinter ihm stand Falke und grinste triumphierend.

Mit einer schnellen Bewegung schoss ich dem letzten Gegner einen Pfeil durch den Hals und versuchte, mein klopfendes Herz wieder zu beruhigen.

Meine Knie waren weich, als ich mich aufrichtete und leise meinte: „Das war knapp...“

„Rain, Falke!“, rief nun Lynnea. Sie kam von hinten und zerrte jemanden hinter sich her, den sie jedoch über den Boden schleifen musste, weil er allem Anschein nach nicht Laufen konnte.

Falke drehte sich um und rannte zu ihr, nicht ein Wort zu mir, sei es ein Verspottendes oder ein Freundliches. „Wer ist das?“, fragte ich besorgt.

„Der Dryad“, antworte Lynnea keuchend und ließ den Baumgeist etwas abseits des Feuers liegen.

Ich schielte vorsichtig zu seinem leblosen Körper hinüber. Er war wirklich übel zu gerichtet. Über sein Gesicht zog sich eine tiefe Fleischwunde und auf seiner Brust bildete sich ein große Blutfleck. Auch sein Fuß sah nicht wesentlich besser aus, er lag seltsam verdreht da und war unnatürlich angeschwollen.

Was noch dazu kam war, dass er wieder sichtlich mit der Entfernung zu seiner Tanne kämpfte. Schweiß rann ihm über die Stirn und er zitterte. Immerhin war er bewusstlos.

„Wo hast du ihn gefunden?“, fragte ich besorgt.

„In einer Kuhle, weiter weg von der Enge“

Erst jetzt fiel mir auf, wo wir überhaupt waren. Wir waren praktisch eingekesselt zwischen zwei hohen Felswänden, doch es war nicht Eng. Den Namen hatte dieser Ort eher wegen des Minenschachts, der in eine, allem Anschein nach Verlassene, Eisenmine führte.

„Hat jemand die Anderen gesehen? Joee und Lyen?“, fragte Bär besorgt. Er war wieder bei Bewusstsein, doch er kämpfte sichtlich mit seinen Schmerzen.

„Nein“, meinte Lynnea traurig. „Sie sind wie vom Erdboden verschluckt“

„Wir sollten uns um die Verletzten kümmern“, meinte Falke ohne jene Gefühlsregung.

Lynnea nickte langsam und beugte sich über den Dryaden. „Wenn Joee bloß hier wäre... er ist einer der Besten von seinem Fach“

„Tse. Er ist nichts als ein verwirrter Dumpfschädel“, murrte Falke und ging zu Bär, der wieder halb ohnmächtig war.

Weder Lynnea noch ich gingen auf seine Bemerkung ein. Ich fühlte mich ein wenig nutzlos, da ich wirklich keinen blassen Schimmer vom Heilen hatte, also deutete ich in die Dunkelheit. „Ich gehe Lyen und Joee suchen“

„Danke, Rain“. Lynnea sah mich erleichtert an.

Ich nickte und ging einfach in die Schwärze drauf los. Wo sollte ich die beiden bloß finden? Plötzlich fiel mir ein, dass jemand neben mir gelegen hatte, als ich aufgewacht war. Mit etwas Glück war es entweder Joee oder Lyen gewesen und mit noch mehr oder ein bisschen weniger Glück läge er noch immer da.

Ich sah mich um und suchte den Ort, an dem ich zu mir gekommen war. Während ich so durch die Dunkelheit schritt und über immer mehr Wildschweinmenschen stolperte, kamen mir wieder die Fragen in den Sinn.

Was war denn nun passiert? Und wer war Nora? Was bedeutete 'Tochter der Vögel'? Wie sollte es weiter gehen? Was war mit Lyen und Joee passiert?

 

Mit fahrigen Bewegungen schob ich eine Leiche zur Seite und erkannte den Platz wieder, an dem ich aufgewacht war. Und noch immer lag da die Gestalt. Sie lag auf dem Rücken und mit dem Gesicht im Dreck. Ich konnte nur hoffen, dass er nicht erstickt war.

Vorsichtig ließ ich mich neben ihr zu Boden und drehte die Gestalt auf den Rücken.

Es war Joee. Der Heiler war ohnmächtig, doch außer einer gewaltigen Beule an der Stirn schien ihm nichts zu fehlen.

„Joee?“, fragte ich leise und schüttelte ihn leicht an den Schultern. „Joee, wach auf!“

Als der Heiler zu sich kam, stieß er einen erschrockenen Schrei aus und stieß mich von sich fort. „Geh weg! Nein! Nein, lass mich in Ruhe!“

Ich hob die Hände, um ihm zu zeigen, dass ich keine Waffe trug. „Ich bins doch, Rain“

Joee entspannte sich kaum, stattdessen zog er sich an einem mittelgroßen Felsen hoch und rief: „Geh weg! D....du... Monster!“

„Du brauchst keine Angst zu haben. Ich fasse dich nicht nochmal an. Aber wir brauchen dich! Viele von uns sind verletzt!“, versuchte ich ihn zu beruhigen.

„Verletzt?“. Joees Pupillen zuckten unruhig Hin und Her.

„Ja. Vielleicht sterben sie, ohne dich“

„Sterben! Tod, Tod, Tod!“, schrie Joee panisch und sprang auf. „Nein, er darf sie nicht holen, nein!“

Ich hatte keine Ahnung, was er da faselte, aber anscheinend war er bereit mir zu folgen.

„Ich muss sie schützen, nein, er darf sie nicht holen!“, winselte Joee, während ich ihn zurück zum Feuer führte.

„Ich bin mir sicher, du kannst sie noch retten“, meinte ich freundlich, doch bei seinem momentanen Zustand war ich mir da nicht wirklich sicher.

Als wir dann beim Feuer ankamen, war der Dryad immer noch bewusstlos, doch Bär saß etwas aufrechter da, weil Falke seine Wunde bereits gesäubert hatte.

Als Joee sich zu ihm stürzen wollte, winkte Bär traurig ab und deutete auf den Dryaden. „Zuerst ihn. Sonst stirbt er“

„Er darf ihn nicht holen!“, rief Joee aufgeregt und stürmte zum Dryaden.

Ich sah Bär an, der ihm hinterher sah. Noch bevor ich irgendeine meiner Fragen stellen konnte, deutete er zu Lynnea, die am Feuer schlief.

„Sie kann Joee nicht helfen. Falke ist auch los, um Lyen zu suchen. Ich denke, du solltest unserem Heiler helfen“

Ich nickte ergeben und folgte Joee etwas langsamer. Der Dryad zitterte immer noch und seine moosige Haut war nass vor Schweiß. Seine schwarzen Haare klebten ihm im Gesicht und seine Wunden blutete noch immer, trotz der Verbände, die darum gewickelt waren.

Joee hickte vor ihm und murmelte: „Er hat ihn fast. Es ist gleich zu spät...“

Plötzlich wirkten seine Bewegungen ruhig und routiniert, seine Augen zuckten fast gar nicht mehr zur Seite. Auch in seiner Stimme lag angestrengte Konzentration, als er meinte: „Nimm ihm die Verbände ab“

„Aber dann blute...“

„Tu es einfach“

Ich gehorchte Joee und wickelte den Verband um die Brust des Waldgeistes ab. Die Wunde war tief und ich konnte nicht sagen, ob sie bereits Organe geschädigt hatte. Mir wurde schlecht, doch ich riss mich zusammen und sah weiter hin, als Joee mit ruhigen Bewegungen die Wunde abtastete.

„Sie wurde von einem vergifteten Pfeil geschlagen. Die Spitze steckt noch“, murmelte er. „Jeder normaler Mensch wäre bereits tot... Doch er ist die Seele eines Baumes... Mit jeder Sekunde zieht er mehr Kraft aus den Wurzeln seines zweiten Körpers. Nicht mehr lange und sie beide sind tot“

„Kannst du ihn noch retten?“, fragte ich besorgt. Immerhin war der Dryad der Einzige, der aus meinem Wald stammte.

„Ich weiß es nicht. Vielleicht“, meinte Joee und strich erneut um die rote Haut, um die Wunde herum. Dann richtete er sich auf und suchte nach etwas. Es dauerte nicht lange und er griff nach einer Satteltasche, die am Boden lag. Er leerte sie erstaunlich gemächlich auf den Boden aus.

„Es ist nicht viel übrig geblieben, aber vielleicht reicht es, um ihn zu vertreiben“

„Wer ist er?“

Joee antwortete mir nicht und tat, als hätte er mich nicht gehört.

„Wir werden es mit einer Übertragung versuchen“, murmelte er. „Vielleicht kann ihn das retten“

Mit wem sprach er da bloß? Und wen meinte er mit 'wir'? Auf mich konnte er nun wirklich nicht zählen.

„Wir müssen ihn dazu aufwecken. Dann brauchen wir jemanden, der ihn festhält...“, flüsterte Joee und sah dann zu mir auf. „Kannst du das übernehmen?“, fragte er lauter.

Ich nickte und setzte mich so, dass ich den Dryaden im Ernstfall festhalten könnte.

„Können wir beginnen?“, fragte Joee und dann nickte er sich selbst zur Antwort.

Aus seinem entleerten Bündel nahm er schwarze Handschuhe, die sich perfekt an seine Finger schmiegten und dann pflückte er nach einer Blume, die im Gras wuchs.

Seine eine Hand legte er auf die Wunde, die andere schloss er um die Blume.

„Beginnen wir bei drei“, schlug Joee vor und ich musste mich zusammen reißen, ihm nicht zu antworten. Inzwischen wusste ich ja, dass er nicht mit mir redete. „Gute Idee“

Zum zweiten Mal in dieser Nacht wartete ich den Countdown ab.

1...

2...

3!

Mit einem Schlag war der Dryad wach und rang verzweifelt nach Luft, über dem plötzlichen Wandel. Als er sich dann aufsetzen wollte, drückte ich ihn wieder zu Boden. „Warte! Bleib liegen, bitte“

Der Dryad wollte antworten, doch aus seinem Mund drang nur ein klägliches Krächzen. Dann verdrehte er die augen und seine Lider flatterten.

„Er darf nicht ohnmächtig werden!“, rief Joee. „Dann versagen wir!“

„Hey!“. Ich schüttelte den Dryaden und gab ihm eine Ohrfeige. „Hey, sieh mich an. Gut so, ja. Bleib wach! Ich weiß nicht, was da gleich passiert und vielleicht wird es schmerzhaft, aber wenn du jetzt aufgibst, wirst du sterben und deine Tanne mit dir!

Ja, gut so. Sieh mich an, schön“

Ich drückte den Dryaden bei den Schultern zu Boden und Joee nickte mir dankbar zu. „Dann werden wir jetzt beginnen. Halt ihn gut fest, Fremder“

Ich runzelte die Stirn, verlagerte jedoch ein bisschen mehr Gewicht auf die Oberamre des Baumgeistes.

Fast zeitgleich drückte Joee seine linke Hand um den Blumenstängel und presste die anderen Hand direkt in die Wunde. Der Dryad schrie auf vor Schmerz und begann, gegen meinen Griff anzukämpfen, doch ich hielt ihn unerbittlich fest.

Joee ließ wieder los und betrachtete die Wunde. „Wir müssen die Spitze raus holen... Aber sie sitzt bereits zu tief“

Der Dryad röchelte kraftlos und keuchte heftig.

„Was hast du vor?“, fragte ich, doch Joee ignorierte mich weiterhin.

„Versucht es mit einem Zusammenschluss. Vielleicht wird es funktionieren, wenn ihr es mehrmals hintereinander macht“

Joee nickte. „Guter Einfall“

Dann sah er zu mir. „Kannst du ihn festhalten? Mehrmals? Es wird schmerzhaft und er wird sich wehren...“

Ich nickte. „Ja, bestimmt“

Joee lächelte mir kurz zu, doch dann konzentrierte er sich einzig und allein auf sein Werk. Vom Boden hob er einen länglichen Gegenstand auf und ließ die Blume, die nun vertrocknet war, fallen. Es war ein kleiner, kurzer Stab aus Holz, kaum länger als mein Daumen.

Der Dryad schloss die Augen und wurde ohnmächtig, doch ich holte ihn schnell wieder ins Bewusstsein zurück.

„Lass mich einfach...“, murmelte dieser kraftlos, doch ich musste ihm leider antworten: „Nein“

Dann war es soweit. Joee hatte irgendetwas mit dem Stab gemacht, auf jeden Fall sah er jetzt anders aus und ruhte in seiner linken Hand, während er mit seiner rechten wieder über der Wunde schwebte.

1...

2...

3!

Das Brüllen des Dryaden war Ohren betäubend und ich an Joees Stelle hätte sofort wieder aufgehört, dieser jedoch drückte seine Hand unerbittlich auf die blutige Wunde und presste die Lippe zusammen, während sein Patient mit aller Kraft versuchte, sie dagegen zu wehren.

„Halt still!“, rief ich gegen seine Schmerzensschreie an. „Es ist gleich vorbei!“

Doch entweder hörte mich der Dryad nicht, oder er konnte nicht anders, er wand sich unter meinem Griff und bäumte sich immer wieder auf.

Nach einer halben Ewigkeit ließ Joee wieder von ihm ab.

„Wir brauchen noch einen Versuch“, murmelte er.

„Noch einen?!“, fragte ich ungläubig. „Aber wenn das so weitergeht stir...“

„Sei still!“, fuhr Joee mich an und in seinen Augen blitzte etwas auf, dass ich noch nie gesehen hatte. Doch im nächsten Moment war es wieder erloschen und ich wandte mich stumm dem Dryaden zu.

Dieser keuchte und ächzte, während leise Tränen über seine Wangen rannen. „Hört auf... Bitte...“

„Noch einmal“, murmelte ich leise. „Dann hast du's geschafft“

So gebrochen hatte ich ihn noch nie erlebt. Aber wahrscheinlich sähe keiner von uns anders aus, an seiner Stelle.

Und dann presste Joee seine behandschuhten Finder erneut auf sein Fleisch und es ging von vorne los.

Es ging ewig so weiter und irgendwann gab ich dem Dryaden ein zusammen geknülltes Stück Stoff zwischen die Zähne, damit er nicht immer schreien musste. Aber auch das machte es nicht besser, denn nun hörte man nur noch seine unterdrückten, leisen Schreie und eigentlich war das nun noch schrecklicher.

Irgendwann begannen auch meine Hände zu zittern, bis Joee erneut absetzte. Es war das sechste Mal.

„Ein letztes Mal. Die Spitze ist fast draußen“

Ich ließ kurz von dem Dryaden ab und dieser wurde sofort ohnmächtig.

„Muss er denn wach sein?“

„So breitet sich das Gift schneller aus“, murmelte Joee. „Wenn es nur um die spitze ginge wären wir längst fertig. Aber ich muss das Gift aus seinem Blut bekommen“

Ich verzog das Gesicht. „Also gut“

Es war das erste Mal seit Langem, dass Joee wieder direkt mit mir sprach, also tat ich ihm den Gefallen und flößte dem Dryaden Wasser ein. Kurt darauf kam er stöhnend wieder zu sich und murmelte mit geschlossenen Augen: „Wenn ich das überlebe, bringe ich euch alle um“

„Deine Rachepläne kannst du schmieden, wenn du hier durch bist“, erwiderte ich schroff und lehnte mich wieder auf seine Schultern.

Auf Joees Stirn standen Schweißperlen doch er legte stumm seine Hand über die Wunde und begann erneut.

Ich wusste sofort, dass etwas anders war als die letzten Male. Nicht an Joee, sondern an dem Dryaden. Anstatt wild um sich zu schlagen und seine Schmerzen laut zu durchleben, lag er ganz still da und atmete immer flacher.

„Joee!“, brüllte ich. „Er stirbt!“

Doch der Heiler setzte nicht von ihm ab, sondern ließ seine Hand dort, wo sie war.

„Was tust du denn da?!“

Mit entsetztem Gesicht sah ich, wie der Dryad immer blasser und blasser wurde und schließlich ganz aufhörte zu Atmen.

„Stop!“

Das Festhalten war jetzt sowieso überflüssig, als ließ ich den Dryaden los und warf mich gegen den Heiler. Mit ihm flog auch ein kleines Metallstück von dem Baumgeist fort und wir drei landeten unsanft auf dem Boden.

Joee stöhnte. „Danke. Ich hatte die Kontrolle über die Ausführung verloren...“

Ich sah ihn an. „Was willst du mir sagen?!“

„Ich konnte nicht mehr aufhören“, meinte Joee trocken und wandte sich dem Dryaden zu, der ganz still und weiß dalag, ohne sich zu rühren. Er begann mit einer Herzmassage und soweit ich das mit bekam, begann er bald wieder zu atmen.

Ich saß wie benommen da und starrte in die Dunkelheit, immer noch das verarbeitend, was gerade passiert war. Joee hätte den Dryaden beinahe zu Tode geheilt... Das so etwas möglich war!

Ich schluckte und musterte das Metallstück neben mir. Daran klebte eine seltsame, schwarze Flüssigkeit, anscheinend das Gift. Ich hielt es in der Hand und warf es dann schließlich auf eine Wildschweinmannleiche.

Dann sah ich zu den Anderen. Bär saß ziemlich ohnmächtig an einem Baum und Lynnea stocherte im Feuer herum, ohne ein Wort zu sagen. Falke war noch immer nicht zurück. Was war, wenn er Lyen gefunden und gleich abgestochen hatte?

Ich hörte ein Krachen und fuhr herum. Joee hockte neben dem Dryaden und hielt seinen Fuß in der Hand, den er so eben gerichtet hatte. Um die Brust des Baumgeistes war ein frischer, weißer Verband und sein Gesicht war ebenfalls gut versorgt.

Ich trug ihn neben das Feuer und bettete ihn ins Gras, wo ich mich dann ebenfalls hinsetzte.

„Noch immer keine Spur von Lyen?“, fragte ich Lynnea. Diese schüttelte stumm den Kopf.

Ich sah in die Dunkelheit. „Was ist mit Bär?“

„Der ist ohnmächtig geworden, als der Dryad angefangen hat, zu schreien“

Anscheinend hatte keiner mit bekommen, wie der Vorgang eben außer Kontrolle geraten war, also sprach ich sie darauf auch nicht an und sah zu Bär hinüber. Der Krieger sah wirklich ein bisschen grün um die Nase aus und ich konnte ihn verstehen. Schon verständlich... Ich wäre an seiner Stelle genau so weg geklappt.

Joee gesellte sich nun zu ihm und schmierte eine Salbe auf Bärs Wunde. Ich beobachtete ihn etwas besorgt. Nicht, dass er da auch nicht mehr aufhören konnte...

Nachdem er fertig war, setzte sich Joee neben uns ans Feuer und wischte sich über die Stirn. Fast augenblicklich verwandelten sich seine Augen wieder in die gehetzten Fenster einer Seele, die völlig am Ende war und er rupfte mit zitternden Fingern Gras aus. Von dem ruhigen, gelassenen Heiler von eben war nichts mehr zu erahnen.

 

„Lyen!“

Schon wieder war ich nicht dazu gekommen, meine Fragen zu stellen... Trotzdem sprang ich begeistert auf und folgte Lynnea etwa gemächlicher, als der Soldat auftauchte. Lynnea begann vor Freude zu weinen und warf sich um seinen Hals.

Lyen lachte müde und wirbelte Lynnea durch die Luft, dann küssten die Beiden sich innig. Ich grinste verstohlen zu Falke, doch der stand nur mit ausdrucksloser Mine da und beobachtete die Beiden.

Als sie fertig mit ihrer liebevollen Begrüßung waren, kam Lyen zu uns.

„Tag, Leute“

Er hatte einen Kratzer über dem Auge und humpelte leicht, weshalb Lynnea ängstlich fragte: „Geht es dir gut? Wo warst du denn bloß?“

„Alles in Ordnung“, beruhigte Lyen seine völlig aufgelöste Gefährtin. „Ein paar haben angefangen, mich von euch zu trennen und ich musste ziemlich weit ausweichen, um ihnen zu entkommen. Dann war ich eine ganze Weile ohnmächtig und musste mich erst orientieren, bevor ich euch wieder gefunden habe. Aber sag, wie ist es denn überhaupt euch ergangen?“

„Es geht allen gut, nur Bär und der Dryad haben etwas abbekommen. Und Rain hat sein Gedächtnis verloren“

Lyen sah mich überrascht an und ich zuckte mit den Schultern. „Ich weiß zumindest nicht mehr, was passiert ist“

„Kein Wunder“, murmelte Falke. „Die haben dir ganz schön Eins auf den Kopf gegeben. Ich habe auch erst gehofft, du wärst tot“

„Nett“, kommentierte ich trocken, doch dann folgte ich Lyen und Lynnea zurück zum Feuer. Die Beiden konnten gar nicht mehr von einander ablassen, so groß war die Wiedersehensfreude.

Am Feuer angekommen begutachtete Lyen sorgenvoll den verletzten Dryaden und hob dann die Hand, um Bär zu grüßen, der schief grinste, als er den Soldaten sah.

Es war, als wäre sofort sämtliche Anspannung von allen abgefallen, jetzt wo wir Lyen in Sicherheit wussten. Ohne seine souveräne Führung wären wir niemals bis hier gekommen.

Auf einmal fiel mir die kleine Nora ein und ich eilte zu dem Felsen, wo sie vorhin noch gesessen hatte. Die Kleine hockte noch immer an ihrem Platz und lächelte aufgeregt, als ich sie erreichte.

„Habe ich gewonnen?“

„Was?“, fragte ich verwirrt.

„Na das Spiel“

„Achso, ja. Du hast uns alle um Längen geschlagen“, grinste ich und nahm die Kleine auf den Arm.

Sie lachte erfreut. „Juhu!“

Ich trug das Mädchen zum Feuer. Sobald Lyen sie sah, runzelte er die Stirn.

„Ist das Nora?“

Lynnea nickte. „Ja“

„Kann mich jetzt mal jemand aufklären?“, fragte ich und ließ mich nieder, nachdem ich das kleine Mädchen zu Boden gelassen hatte. „Was hat das zu bedeuten 'Tochter der Vögel'?“

Lynnea seufzte. „Muss das jetzt sein?“

„Ja“

„Na gut. Lyen?“

Sie sah bittend zu ihrem Geliebten, doch dieser winkte ab. „Mach du mal. Du kannst das eh viel besser als ich“

Dann legte er seinen Arm um ihre Schulter und küsste sie auf die Haare.

Lynnea seufzte und setzte sich etwas aufrechter. „In Ordnung.

Du hast doch bestimmt schon einmal von den Kindern der Wälder gehört?“

Ich schüttelte den Kopf. „Wann denn?“

Lynnea stöhnte. „Dann muss ich ja total weit ausholen... Aber gut.

Viele Gebiete haben Schutzgötter. Sie bewahren und beschützen Orte und ihre Bewohner wie ihre Kinder und alles, was in ihrem Interesse liegt, ist, ihre Welten zu wahren. Sie sind nicht zu sehen und doch weilt ihr Geist ganz deutlich über manchen Orten. Sie haben die Macht über Pflanzen und Wetter an diesem Ort und manchmal gibt es auch Schutzgeister, die ihre Bewohner steuern können und sie Befehle ausführen lassen.

Dadurch vergessen viele, dass sie auch eine menschliche Gestalt haben, in der sie sich nicht von anderen Leuten unterscheiden. Die Meisten benutzen diese Erscheinungsform nie oder nur um Kontakt mit den menschlichen Bewohnern aufzunehmen, aber ganz selten kommt es vor, dass sich Schutzgeister in Menschen verlieben“

Kitsch, war mein einziger Gedanke. Reiner Kitsch.

„Dann schließen sie sich mit ihren Geliebten zusammen und manchmal kommt dabei ein Kind zu Stande. So auch bei Nora. Ihre Mutter war Isane, Schutzgöttin des Elya-Waldes weiter südlich von hier. Sie wird auch gerne Mutter der Vögel genannt, weil sie Eines mit den Himmelskindern ist.

Nora ist so gesagt eine Mischung aus Mensch und Schutzgöttin und verfügt deshalb über einen Teil der Kräfte ihrer Mutter“

„Und was sind diese Kräfte?“, fragte ich neugierig.

„Sie hat die Gabe, sich in einen Vogel ihrer Wahl zu verwandeln und in ihr reift die Macht einer Göttin heran, bis sie irgendwann zum Einsatz kommt. Dann ist es ähnlich wie bei einem Phönix. Sie wird wieder geboren und der Kreislauf beginnt von vorne“

Ich hatte zwar keine Ahnung, was ein Phönix war, doch ich konnte es mir aus dem Zusammenhang selbst erklären. Plötzlich kam mir ein Gedanke.

„Moment mal! Heißt das etwa.... das Huhn...?“

Lynnea nickte müde. „Ja. Sie war die ganze Zeit bei uns. Und der Name Nora ist dir so spontan eingefallen, weil sie versucht hat, dir per Gedanken zu übermitteln wer sie ist“

„Seit wann weißt du es?“, fragte ich und dachte etwas beschämt daran, dass ich also die ganze Zeit eine Frau und kein Huhn gestreichelt hatte...

„Bereits seit sie zu uns gestoßen ist. Ich habe nichts gesagt, weil ich Endrian nicht verärgern wollte. Mir war schon klar, dass sie verbotener Weise mitkommen wollte“

„Und wieso ist sie jetzt 8 Jahre alt und kein Säugling?“

„Sie wird schnell altern und mit ungefähr 13 Jahren wird sie sich auch wieder an ihre früheren Leben erinnern. Das wird noch ein paar Wochen dauern, also schlage ich vor, sie zurück zu Endrian zu bringen“

„Das geht nicht“, mischte sich Bär ein. „Bis dahin haben wir die Prinzessin verpasst. Sie wird sicher nicht ewig in den Bergen bleiben“

Ach ja, die Geschichte....

Lyen nickte zustimmend. „Ich denke auch, es wäre gut sie vorerst mitzunehmen“

„Kann mir denn nun mal einer erzählen, was passiert ist?“, fragte ich bittend.

Lynnea schloss kurz die Augen und lehnte sich an Lyens Brust. „Gerne, aber das mache ich nicht. Ich muss einfach nur schlafen“

Und im nächsten Moment wurden ihre Atemzüge tief und regelmäßig und sie war eingeschlafen. Lyen musterte Lynnea zärtlich und legte seine Arme um ihre Schultern, dann sah er hinüber zu Falke.

„Würdest du das übernehmen?“, fragte er leise, um seine Freundin nicht zu wecken.

Falke nickte, doch wirklich motiviert sah er nicht aus.

„Diese Mann-wildschweine hatten euch entführt und wir haben sie abgemetzelt. Als wir fast fertig waren haben die Mistkerle Verstärkung bekommen und dann kam plötzlich Nora und hat so eine Art Explosion gemacht, dass alle verreckt sind“

Das nannte man also kurzen Lagebericht. Die Betonung lag auf Kurz. Falke ratterte das alles runter als wäre er selbst gar nicht beteiligt gewesen, sondern würde nur eine Niederschrift für die Nachwelt anfertigen. Eine ziemlich miese Niederschrift.

Ich zuckte mit den Schultern. „Das hört sich ja eigentlich ganz... einfach an. Und was war nun in jener Nacht passiert, als unsere Pferde gescheut haben?“

Ich warf einen bedeutenden Blick zu Falke hinüber, doch dieser schien das gar nicht zu bemerken.

Nun war Bär an der Reihe mit Erzählen.

„Nachdem ihr weg ward haben wir uns irgendwie wieder gesammelt und sind Joee hinterher. Den haben wir dann ein paar Kilometer weiter auch gefunden, allerdings ohne Pferd.

Ich nahm ihn mit auf Meines, doch der Sturm war immer noch so heftig, dass wir jederzeit mit einer weiteren Panik rechnen mussten. Wir wollten euch noch suchen, doch nach ein paar Stunden wurde der Sturm immer heftiger und Lynnea hat beschlossen, dass es keinen Sinn mehr hat.

Weil wir auf der Ebene fest saßen und nirgends Zivilisation zu erwarten war, haben wir Unterschlupf unter einem Felsvorsprung gesucht, wo wir wenigstens Regen und Wind geschützt waren. Aber als wir dann endlich alle geschlafen haben, kamen diese komischen Mutanten und haben die Wache nieder geschlagen“

„Die Wache?“, hakte ich nach.

„Ich“, bemerkte Bär trocken und erzählte dann weiter.

„Sie haben uns gefesselt und beraten, was sie mit uns machen sollen. Irgendjemand hat was von „Belohnung“ gefaselt, deshalb gehe ich davon aus, dass auf unsere Köpfe schon Geld ausgesetzt ist“

„Aber wieso haben sie euch dann nicht einfach getötet?“, fragte ich verwirrt.

„Keine Ahnung. Auf jeden Fall haben sie beschlossen, uns vorerst mitzunehmen und gefangen zu halten. Zum Glück waren die Dinger so dumm und haben uns unsere Waffen gelassen, so dass wir nur auf den richtigen Moment warten mussten“

„Und? Kam der?“, fragte ich erwartungsvoll.

„Nein. Sie ließen uns nie aus den Augen und auch nicht gerade mit Samthandschuhen angefasst. Vor allem bei Lynnea wurden sie manchmal etwas... übergriffig“

„Was?!“, rief Lyen entsetzt. Lynnea bewegte sich im Schlaf und er wiederholte leiser: „Was?“

„Ja, Lyen. Wir haben unser Bestes gegeben und sie sind nicht an sie ran gekommen, das verspreche ich dir“, beteuerte Bär.

„Du bist ein guter Mann und ich glaube dir, Bär. Lynnea kann sich glücklich schätzen, solche Gefährten wie dich dabei gehabt zu haben“

Ich spürte ein leichtes Gewicht an meiner Seite und stellte fest, dass Nora eingeschlafen und gegen mich gerollt war. Es war schon seltsam zu wissen, dass sie die Selbe Nora war, die auch in jener Nacht auf dem Turm Harfe gespielt hatte... Wie viele Leben hatte sie wohl schon durchlebt?

„Was sollen wir jetzt machen?“, fragte ich. „Und wer sollte Kopfgeld auf uns aufsetzen?“

Lyen sah mich lange an, als würde er mit sich selber kämpfen. „Der Kristall ist nicht nur beim Königshaus beliebt. Andere Reiche oder Zünfte würden es nicht gerne sehen, wenn er in die Hand unseres Herrschers käme. Ich frage mich nur, wie es raus gekommen ist. Alles blieb unter größter Geheimhaltung und das kann eigentlich nur heißen... dass wir einen Verräter dabei haben“

Mir wurde heiß und kalt gleichzeitig und ich konnte nicht verhindern, dass mein Blick seinen Weg zu Falke fand, der mit der Kapuze tief ins Gesicht gezogen an einem Holzstück herum schnitzte. Ich bemerkte, dass auch Bär und Lyen meinem Blick gefolgt waren und nun starrten wir alle verstohlen zu Falke.

„Nein“, murmelte Bär. „Das war nicht Falke. Er ist ein guter Krieger und seine Loyalität gilt“

„Fragt sich nur, wem“, erwiderte ich.

„Bär, als Joees Pferd durchgegangen ist standen nur ich und Falke neben ihm und ein paar Sekunden zuvor war es noch seelenruhig. Wir müssen der Wahrheit ins Auge blicken, dass er vermutlich ein Spion ist“

Bär lachte leise. „Ich kenne diesen Typen. Er ist wirklich etwas eigen aber nur weil er in sich gekehrt ist heißt das nicht, dass er gleich böse ist, Lyen“

Lyen sah Bär lange an. „Wir können sowieso nichts unternehmen, bevor wir uns nicht sicher sind. Aber ich werde ihn im Auge behalten, darauf kannst du dich verlassen!“

Ich nickte zustimmend. „Aber meine Frage habt ihr immer noch nicht beantwortet: Was sollen wir jetzt machen?“

„Genau das Selbe, wie bisher. Die Prinzessin einholen und ihr die Papiere für den Kristall abnehmen“, meinte Bär.

Ich nickte erneut. „In Ordnung. Vielleicht sollten wir eine Wache aufstellen, aber sonst wäre es jetzt sicherlich das Beste, zu schlafen“

„Ich übernehme das“.

Ich fuhr herum und sah in Falkes blitzende Augen. Hatte er uns die ganze Zeit zu gehört?! Dann wusste er jetzt auch, dass wir ihm nicht trauten.

„Nein“, erwiderte Lyen kühl. „Du hast genau so viel durch gemacht wie Alle. Ich werde das machen“

„Du doch au...“

„Geh einfach schlafen, Falke“, befahl Lyen und Falke zog den Kopf ein.

Auch ich bettete Nora nun sanft in ins Gras, weg von mir, dann streckte ich mich auf dem Boden aus und versuchte, einzuschlafen. Doch es sprangen mir einfach zu viele Bilder und Fragen im Kopf herum. Auch wenn mein größter Wissensdurst vorerst gestillt war, bäumten sich in mir doch immer wieder neue Fragen auf.

Irgendwann unterdrückte ich aber auch die und sank in einen unruhigen Schlaf, durchsetzt von Blut und Dryadenschreien und Heilern, die Hühner zu Tode heilten.

 

 

Als ich aufwachte, bekam ich keine Luft. Verzweifelt kämpfte ich mir meine Augen offen und spürte ein paar würgende Finger um meinen Hals. Hustend und röchelnd wandte ich mich unter dem Griff, doch die Finger krallten sich wie Schraubstöcke in meinen Hals.

Falke! Ich blinzelte, doch mir stiegen zu viele Tränen in die Augen, als dass ich meinen Angreifer hätte sehen können. Mit letzter Kraft rammte ich dem Unbekannten meinen Stiefel in den Bauch und schubste ihn von mir fort.

Keuchend blieb ich auf dem Bauch liegen und sog Luft in mich auf. Meine Kehle brannte wie Feuer, als ich aufsah, um Falke anzugreifen.

Doch wer da saß war nicht etwa Falke, sondern der Dryad. Er knurrte böse.

„Ich sagte doch, wenn ich da durch bin, bringe ich euch um!“

Ich sprang auf die Füße um im Zweifelsfall fliehen zu können.

„Ohne uns wärst du gestorben!“

Der Dryad saß am Boden wie ein fauchendes Raubtier, was er im Grunde ja auch war. Seine blitzenden großen Fänge ragten aus seinem Mund wie bei einem Säbelzahntiger, als er erwiderte: „Das interessiert mich nicht. Ich sagte, ihr solltet aufhören und das habt ihr nicht“

„Hätten wir dich verrecken lassen sollen? Denk an deine Tanne!“

„So sterben wir auch. Nur langsamer. Noch qualvoller“

Der Dryad richtete sich nun ebenfalls auf und ging so nah an mich heran, dass ich wieder seinen Tannenzapfenatem riechen konnte. Mit dem rechten Fuß humpelte er wieder, doch seine Wunden waren bereits vollkommen verheilt.

„Und ich werde dafür sorgen, dass du mich begleitest“

Ich zuckte zurück. „Du... bist der Verräter“

„Nein“, fauchte der Dryad und seine Hand wanderte wieder zu meinem Hals.

Ich schlug sie weg. „Du hast noch eine Chance! Wenn du gehorchst und uns führst, werden die Höheren dich wieder laufen lassen!“

„Weißt du, es gibt da einen Spruch“, zischte der Dryad. „Es ist besser, auf deinen Füßen zu sterben als auf deinen Knien zu leben. Denk mal drüber nach“

Dann drehte er sich verächtlich ab und stapfte zurück zum Feuer. Die Morgensonne strahlte mir gleißend hell ins Gesicht und ich dachte tatsächlich über seine Worte nach. Vielleicht war es ja so. Aber ich hatte das Gefühl, desto länger wir zusammen reisten, desto mehr akzeptierten wir uns gegenseitig. Es wurde unwichtig, wer nun welcher Rasse angehörte oder wer woher kam. Darüber hatte ich schnell vergessen, dass sie es waren, die uns all das angetan hatten, diese Verbannung und das grausame Leben. Trotzdem sprang mir im Hinterkopf auch noch der Gedanke herum, dass sie schließlich nichts für ihre Vorfahren konnten. Und niemand bis auf Falke ließ sich anmerken, dass er die Ansichten seiner Urväter vertrat.

Ich seufzte und musterte meine Umgebung, die bei Tag doch anders aussah als bei Nacht. Die Leichen begannen langsam, einen abartigen Geruch abzusondern und ich hielt mir den Ärmel vor die Nase, bevor ich los stapfte um die Pferde zu suchen. Lynneas Tier lag noch immer tot auf dem Boden, was mich nicht sonderlich wunderte.

Doch von den anderen Reittieren fand ich nicht wirklich mehr als ein paar Hufabdrücke. Ich verfolgte die Spuren gerade so weit, dass ich in Rufweite des Feuers blieb, doch sie zogen sich weiter nach Westen und das war eben in genau entgegen gesetzter Richtung der Berge.

Überall um mich herum lagen Leichen und ich fand es schauerlich, wie viele Leute wir abgemurkst hatten, bevor ich mein Gedächtnis verloren hatte. Vorsichtig betastete ich meinen Kopf und fühlte tatsächlich eine stattliche Beule an meinem Hinterkopf. Das konnte einem ja Angst machen!

Hoffentlich würde es bei dieser einen Lücke bleiben. Nicht, dass ich völlig Orientierungslos irgendwo umher irrte und dann...

Ich gab mir selbst eine Ohrfeige. Ich durfte mich jetzt nicht verrückt machen! Langsam sah ich auf und stand direkt vor Lyen.

„Was machst du denn hier?!“, rief ich zu Tode erschrocken.

„Das Selbe könnte ich dich fragen“, erwiderte Lyen und dann wanderte sein Blick zu meiner brennenden Wange.

„Ich... mach das nicht immer. Das war eine Ausnahme“, stotterte ich peinlich berührt.

„Jaja, schon klar“, murmelte Lyen, doch es war nicht ironisch gemeint. Er schien mir etwas abwesend zu sein.

„Ist was?“, fragte ich unsicher.

„Nein... ich suche nur nach den Pferden“

„Da sind wir schon mal zwei“, brummte ich. „Aber ich fürchte, die sind weg“

„Das wäre ziemlich schlecht“, stellte Lyen fest und blinzelte, als die Morgensonne ihn blendete. „Denn fast unser ganzes Gepäck war bei denen“

„Das ist in der Tat schlecht“, stimmte ich zu. „Ich hatte kaum Gepäck, aber.... jetzt wo du's sagst, meine Sachen waren auch bei Tonne“

Lyen nickte langsam, dann hellte sich sein Blick auf. „Da hinten steht doch Eines!“

Ich sah in die Richtung, in die er zeigte und wirklich; der Schatten eines einzelnen Pferdes hob sich ganz deutlich vom Hintergrund der Sonne ab.

„Na los, worauf wartest du noch?!“, fragte ich aufgeregt.

„Warte“, Lyen hielt mich zurück. „Das könnte eine Falle sein“

„So langsam übertreibst du es aber mit der Vorsicht. Wer soll uns denn jetzt noch eine Falle stellen? Wenn das wirklich die Absicht von jemandem wäre, hätte er doch längst zu geschlagen, während wir geschlafen haben“, argumentierte ich.

Lyen sah nicht überzeugt aus. „Na gut. Aber sei vorsichtig“

Ich nickte und macht mich zum Pferd auf. Lyen folgte mir zwar, jedoch in einiger Entfernung.

Schon nach wenigen Metern erkannte ich meine treue Begleiterin.

„Tonne“, flüsterte ich. „Na komm schon, Süße...“

Ich schnalzte leise mit der Zunge und das Pferd wandte seinen grau gesprenkelten Kopf zu mir. Vor Schreck zuckte ich zusammen. Ihm fehlte ein Auge...

„Lyen...“, rief ich heiser. „Lyen...“

Der Soldat holte zu mir auf und sog scharf die Luft ein, als er Tonne sah. „Das sieht nicht gut aus“

 

„Wir haben die Berge fast erreicht!“

Ich sah zu Bär auf. „Na endlich...“

In meinen Füßen war fast überhaupt kein Gefühl mehr und trotzdem hielt ich besser als die meisten Anderen aus unserer Gruppe. Nur Falke ging noch aufrechter als ich und ein so schmieriges, aufgesetztes Lächeln klebte an seinem Gesicht, dass es mich fürchterlich ärgerte.

„Sie hält sich gut“, stellte Lyen nun fest und sah zu Tonne, die etwas orientierungslos aber brav hinter mir her trottete. Selbst Bär und Nora ließ sie gutmütig auf ihrem Rücken sitzen, was ich ihr hoch anrechnete. Das rechte Auge war nicht mehr Blut verklebt, noch fehlte es ganz, aber es sah grausam verklebt und verwundet aus. Joee hatte sich große Mühe gegeben, doch ich wusste, dass es nicht mehr zu retten war.

Traurig strich ich Tonne über ihren Hals, doch sie schien das gar nicht zu registrieren.

Dann sah ich wieder nach vorne. Die Berge waren wirklich immer näher gerückt und schienen jetzt beinahe in Reichweite. Vielleicht würden wir sie heute Abend noch erreichen.

„Wissen wir, wo genau sich die Prinzessin aufhält?“, fragte ich, um die Stille zu brechen.

„Ja. Angeblich versteckt sie sich in einer Hütte bei einer Hexe“, antwortete Lynnea, die völlig fertig durch die Gegend stolperte.

„Hexe?“, wiederholte ich mit gerunzelter Stirn.

„Ja. Sag bloß du weißt nicht einmal von ihnen etwas“

„Woher denn?“, erwiderte ich meine Standartantwort wenn es um solche Sachen ging.

„Auch wieder wahr. Hexen werden im Volksmund als alte Frauen mit Warzen auf der Nase dar gestellt, aber in Wirklichkeit sind sie ganz normale Menschen, die bloß durch Geschichten zu verübelt wurden. Auch das Vorurteil, dass sie nur Frauen sind, ist völliger Schwachsinn. Manchmal kommen Leute echt auf seltsame Einfälle“. Lynnea schüttelte den Kopf. „Aber egal. Sie besitzen irgendetwas, dass ihnen erlaubt, gewisse... Zauber auszuführen. Das ist schwer zu erklären. Sie sind nicht wirklich gefährlich, aber jede Einzelne von Ihnen kann irgendetwas Übernatürliches, verstehst du?“

„Äh... nein“, meinte ich ehrlich.

„Das ist schwer zu erklären“, brummte Bär. „Lass dich einfach überraschen“

Ich zuckte mit den Schultern. „In Ordnung. Und wo wohnt diese... Hexe?“

„Am Rande des Gebirges“

„Heißt das, wir müssen gar nicht auf die Berge?“, fragte ich Lyen, der mir vorhin auch geantwortet hatte.

„Nein. Wir werden gleich rasten, damit wir morgen frisch und gestärkt die Hütte aufsuchen können“, meinte Lyen. „Unseren Verletzten scheint es ja auch besser zu gehen“

Er sah zum Dryaden, der schweigend und mit finsterer Miene vor uns her stapfte und dann zu Bär, der zwar noch einen Verband trug, allerdings viel fröhlicher als vor zwei Tagen wirkte.

Ich nickte. „Das hört sich schlüssig an“

 

 

 

 

 

 

Lügen

13. Kapitel Lügen

 

Sie stand vor der Tür und sah in die Ferne. Der Wind zerrte an ihrem Kleid und eisige Kälte um gab sie wie ein frostiger, schützender Mantel. Im Himmel taten sich die Wolken zusammen und verhüllten die letzten Strahlen der Sonne, so dass es mit einem Mal Dunkel war, als sie sprach.

„Sie werden kommen“

Er lehnte im Türrahmen und sah sie an, ein wenig zärtlich und doch so sehr besorgt, wie er sie immer ansah. Er wusste es schon lange, doch er hatte nichts gesagt, in der Hoffnung, sie würde nichts merken.

Mit zitternden Finger strich sie ihr Kleid glatt und drehte sich zu ihm um. Ihre roten Haare wehten ihr ins Gesicht, als sie leise und kläglich meinte: „Sie werden mich töten“

„Vielleicht“. Seine Stimme klang rau und unbenutzt. Wie lange hatte er sie nicht mehr gehört?

„Ich muss weg“. Sie klang aufgeregt, gehetzt und durcheinander.

Er sah sie an und sie erwiderte seinen Blick. In der Stille trafen sich ihre Augen und obwohl keiner ein Wort sagte, wussten sie Beide, dass es zu spät war.

 

 

Ich saß im Gebüsch und rieb mir die kalten Finger, während ich meinen Blick auf die Hütte vor mir fixierte. Ich sah sie nur von hinten, nicht weiter auffällig. Kleine Fenster mit weißen Vorhängen, die sie noch winziger erscheinen ließen als sie ohnehin schon waren.

Neben mir hockte die kleine Nora. Nicht etwa, weil sie mit kämpfen sollte, sondern weil sie sich geweigert hatte, sich ohne mich zu verstecken. Das hatte mich schon ein wenig gerührt, was ich mir allerdings nicht hatte anmerken lassen.

Jetzt saßen wir Beide in den Büschen hinter dem Häuschen, schon auf einer ansteigenden Fläche, weil hier das Gebirge begann. Ich hatte die Aufgabe, die Hexe zu erledigen, wenn sie aus der Hintertür wollte.

Ich gab mir größte Mühe, doch ich sah einfach keine Hintertür. Wenn dann müsste die gute Frau (oder der gute Mann) aus dem Fenster springen und ich glaubte kaum, dass ein halbwegs intelligentes Wesen das tun würde.

Also war mein Posten in gewisser Weise unnötig und überflüssig. Das war mir aber auch Recht, weil ich nicht wild darauf war, schon wieder einen Kampf zu bestreiten, selbst wenn ich mich an den letzten nicht mehr erinnern konnte.

Nora kauerte sich zu Boden und starrte ganz eifrig und wortlos auf die selbe Hauswand wie ich. Ich hatte es ihr wieder mit einem Spiel erklärt, nämlich wer am längsten nichts sagen konnte und dabei die Wand anstarrte.

Ich konnte es nicht bestreiten, ich mochte das Mädchen wirklich gerne. Sie war nett und höflich und dabei trotzdem noch so... süß das man sie am liebsten geknuddelt hätte. Ehrlich gesagt hätte ich über jeden Typen gelacht, der mir vor ein paar Monaten gesagt hätte, dass die Worte 'süß' und 'knuddeln' jemals zu meinem Wortschatz gehören würden. Aber das Schicksal plant ja oft seltsame Wege ein...

Mein Blick schweifte zur rechten Flanke des Hauses und ich erspähte nur mit Anstrengung Falke, der an einen Baum gedrückt da stand und seinen Blick auf die Haustür richtete. Links war Bär postiert, heute ausnahmsweise mit einer Armbrust ausgestattet und nicht mit dem Schwert. Zum Kämpfen war er noch nicht kräftig genug, zum Schießen reichte es aber allemal.

Ich unterdrückte ein Gähnen und wartete darauf, dass etwas passierte. Es war nun schon mehr als eine halbe Stunde her, dass Lyen und Lynnea den Dryad mit dem Gepäck zurück gelassen hatten und an die kleine, feste Holztür geklopft hatten.

Lyen hatte gemeint, dass er das Ganze möglichst ohne Gewalt klären wollte, doch ich bezweifelte, dass er diesen Vorsatz einhalten könnte.

Plötzlich lenkte eine Bewegung hinter dem Fenster meine Aufmerksamkeit wieder auf das Haus. Ich griff nach dem Bogen, in dem bereits ein Pfeil eingespannt war, und richtete mich halb auf, dass ich jederzeit schießen konnte.

Nora bewegte sich kein Stück von der Stelle, sie hielt ihren Blick immer noch stur auf die Wand gerichtet. Ich jedoch verfolgte nun aufmerksam jedes weitere Anzeichen von Leben hinter dem Fenster.

Erneut schwang der Vorhang Hin und Her und plötzlich tauchte ein kleiner, schwarzer Schatten hinter der Scheibe auf. Vor Schreck zuckten meine Hände, doch ich hielt die Sehne fest zwischen meinen Fingern. Da war ein kleines Tier... eine Katze.

Ich kniff die Augen zusammen, doch an der Katze schien alles in Ordnung zu sein. Also senkte ich meinen Bogen wieder und stützte mich auf die Ellenbogen. Der Boden war noch weich, vom Regen, doch nicht matschig. Ideale Verhältnisse zum Jagen. Man könnte jede Tierspur problemlos verfolgen...

'Hör auf!', befahl ich mir selbst in Gedanken. 'Du bist nicht mehr im Wald!'

Ich seufzte leise und sah wieder zu Falke. Doch der Krieger war verschwunden. Ich warf einen schnellen Blick zu Bär, doch auch der war nicht mehr auf seinem Posten.

Verwirrt runzelte ich die Stirn und spähte zur Fensterscheibe, doch dort saß nur die Katze und leckte sich die Pfote.

Lyen hatte uns eingeschärft, nicht von unserem Posten zu weichen, außer er würde es befehlen. Doch jetzt waren ja auch Falke und Lyen weg...

„Bleib hier“, flüsterte ich Nora zu und die rief triumphierend aus: „Ha! Ich hab gewonnen“

Ich nickte lächelnd, doch es war eher verspannt als echt. „Ja. Und jetzt bleibst du hier und rührst dich nicht vom Fleck, verstanden?“

Nora nickte und sah mich mit großen Augen an. „Wohin gehst du?“

„Nachsehen, ob... da unten alles in Ordnung ist“, meinte ich leise.

„Aber stirb nicht!“, bettelte das Mädchen erschrocken.

„Ich geb mein Bestes“, grinste ich und trat geduckt aus dem Gebüsch, den Bogen fest in der Hand.

„Tschüüs“, rief Nora mir hinterher, doch ich konnte ihr nicht antworten, weil ich bereits zu nah am Haus war.

Von nahem erkannte ich nun doch eine hervorragend getarnte Tür, die in genau der selben Farbe gestrichen war wie die Wand und keine Klinke besaß, sondern nur von innen geöffnet werden konnte.

Ich strich über die Stelle, wo ich ein Schlüsselloch vermutet hatte, doch auch das schien es nicht zu geben. Also drückte ich mich einfach an die Wand und lauschte. Durch das Holz waren deutlich Stimmen zu hören. Gerade sprach Lyen.

„...aushändigt. Dann können wir auf jegliche Maßnahmen verzichten“

„Versteht ihr es denn nicht?“, rief eine mir unbekannte Mädchenstimme. Sie war vielleicht 18 Jahre alt. „Ich werde es euch nie geben, so lange es in diesem Königreich so weiter geht!“

„Daran könnt IHR aber weitaus mehr ausrichten als WIR“. Nun sprach Lynnea. „Immerhin seid ihr die Prinzessin und würdet bald die Macht übernehmen“

„Bald. Was heißt bald? Bis dahin wäre das Königreich bereits ein Trümmerhaufen. Das wäre, wie einem Haus beim Verbrennen zuzusehen und zu sagen, man würde später Wasser holen, wenn man erst Herr darüber wäre“

„Und trotzdem. Was erhofft ihr euch von diesen Papieren? Euer Vater wird sie so oder so bekommen, völlig egal, was ihr nun tut“. Lyen hatte wieder das Wort ergriffen.

„Vielleicht werden wir sie auch vernichten!“, rief das Mädchen übermutig. Ich überlegte, wie sie doch gleich hieß und erinnerte mich wieder. Fenja. Das klang wild und unbezähmbar. „Wer sagt denn, dass ich sie noch habe“

„Ich glaube kaum, dass ihr so dumm seid, das einzige Druckmittel gegen den König zu vernichten. Dann ständet ihr nämlich wieder mit leeren Händen da“, meinte Lynnea ruhig und ich musste zugeben, dass das recht logisch klang.

„Und doch werde ich sie euch NIE geben. Wie war es damals mit den Jägern?! Ich sage euch, es wird sich wiederholen. Ich kenne euch, Lyen, und ich weiß genau, wie sehr euch diese Form von Herrschaft missfällt. Wollt ihr wirklich, dass das weiter ausartet?“

Lyen antwortete nicht, dafür aber Lynnea. „Ihr könnt uns nicht vorwerfen, die alten Ansichten zu vertreten. Auf unserer Reise zu euch war sogar ein Jäger anwesend“

Fenja lachte hell auf und ich fragte mich unwillkürlich, wie sie wohl aussah. „Das ich nicht lache. Ein Jäger... schon klar!“

Nun mischte sich eine unbekannte Männerstimme ein. „Ich habe hiermit nichts zu tun“

Daraufhin folgte eine so eisige Stille, dass ich die Luft anhielt. War das etwa die Hexe gewesen? Fenja sagte etwas, jedoch so leise, dass ich es nicht verstehen konnte. Ich spürte praktisch die Anspannung, die im Raum herrschte und schielt zur Tür.

Genau in diesem Moment flog genau diese auf und schlug mir meine Stirn ein. Ich unterdrückte jegliche Schmerzreaktion und spurtete der Prinzessin hinterher, die nun davon lief. Ich durfte sie nicht töten, bevor wir die Papiere hatten.

Wahrscheinlich war es das Allerletzte, was ich hier abzog, aber der Gedanke an ein anderes Leben besaß mich wie kein Anderer. Also wischte ich mir das Blut aus den Augen und rannte der Prinzessin hinterher.

„Rain!“, rief Nora, doch ich lief an ihr vorbei. Ein schneller Blick über die Schulter zeigte mir, dass Lyen mit einem Mann kämpfte, der allem Anschein nach die Hexe war.

Ich verlor Fenja nicht aus dem Blick, doch ich holte sie auch nicht ein. Vielleicht extra. Vielleicht war sie aber auch nur kleiner und wendiger. Sie war klein für ihr Alter, doch keineswegs dick. Kräftig gebaut schon eher. Um ihren Kopf war ein schwarzes Tuch gewickelt, das jegliche Sicht auf ihr Gesicht verwehrte. Nur die Augen, grün wie ein Smaragd, stachen aus einem Sehschlitz hervor.

Ich folgte ihr auf eine kleine, unbewaldete Anhöhe, wo sie plötzlich stehen blieb und mich eingehend musterte. Vor Erstaunen hielt ich ebenfalls an und erwiderte keuchend ihren Blick.

„Du bist ein Jäger?“

Ich sagte nichts, denn ich wusste, dass es keine Frage gewesen war.

„Weißt du... ich dachte immer, ich kämpfe für euch“

Mit einem schnellen Handgriff fuhren ihre Finger zu dem schwarzen Tuch in ihrem Haar und rissen es herunter.

Fenjas Haare waren feuerrot und aus ihrem Dutt traten zwei kleine, geringelte Strähnen hervor. Ihre Lippen waren weich und auf ihrer Nase tollten sich ganze Herden von Sommersprossen. Sie war hübsch, aber auf eine rustikale Weise, die man niemals mit einer Prinzessin verbinden würde.

„Aber... jetzt kämpft ihr gegen mich?“

Ich sah zu Boden und bemerkte erst, dass sie direkt vor mir stand, als sie mein Kinn anhob, so dass ich ihr gerade Wegs ins Gesicht sehen musste.

„Was lockt euch, dass ihr ein unschuldiges Mädchen verfolgt, noch dazu Eines, dass auf eurer Seite steht?“. Sie legte den Kopf schief und ihre Augen leuchteten in einer traurigen Weise auf.

„Es geht um einen Pakt“, meinte ich und erschrak, wie rau meine Stimme klang. „Ich... kämpfe um unsere Freiheit“

„Ich verstehe. Versprechen... Damit handelt mein Vater gerne. Aber glaub mir“

Sie näherte sie meinem Gesicht, ähnlich wie der Dryad es immer tat. „Halten tut er sie selten“

Ein Kribbeln durchfuhr meinen gesamten Körper, als ich ihren Körper so dicht an meinem spürte. Keine Ahnung, wieso.

„Ich habe keine Wahl“, antwortete ich. „Entweder, ich versuche es, oder ich sterbe. Und vielleicht gibt es eine Hoffnung“

„So werdet ihr sterben“, meinte Fenja. „Durch seine, oder durch die Hand eines Monsters“

Ich erwiderte ihren Blick. „Was habt ihr jetzt vor? Ihr habt keine Wahl...“

„Man hat immer eine Wahl“, stellte sie kalt fest.

Ich sah Metall aufblitzen und dann wurde alles schwarz.

 

„Weißt du, Rain... Ich frage mich manchmal, was die Höheren über uns denken, dass sie uns so hassen“. Olon ließ die Beine baumeln und lehnte sich zurück.

„Vielleicht wissen sie es gar nicht besser“, meinte ich und tat es ihm gleich, während ich von dem hohen Felsen auf unsere Baumwipfel starrte und den Regen auf meinen Füßen beobachtete.

„Aber wieso? Sie kennen uns doch gar nicht und trotzdem wollen sie uns eiskalt abmurksen“

„Vielleicht haben sie auch keine Wahl...“, vermutete ich und beobachtete, wie ein Rabe sich auf einem Tannenast niederließ und seinen Ruf durch den Wald schickte.

„Nein. Man hat immer eine Wahl“

 

Erschrocken fuhr ich hoch und rang nach Luft. Ich lag am Boden und mein Hals brannte wie verrückt. Als ich ihn betastete, spürte ich festen Verband unter meinen Fingern. Was hatte ich denn jetzt schon wieder verpasst?

Verwirrt ließ ich meinen Blick schweifen und stellte fest, dass ich noch immer auf der Anhöhe war, auf der ich mit Fenja geredet hatte. Vorsichtig erhob ich mich.

„Hallo?“, fragte ich unsicher und stützte mich an einem Baumstamm ab.

„Rain!“. Ich drehte mich um und sah Lyen den Hügel hinauf kommen.

„Wo ist Fenja?“.

„Was ist passiert?“, fragten wir beinahe gleichzeitig.

„Kein Ahnung“, erwiderten wir uns gegenseitig.

Dann musste ich doch lachen. „Sie hat mich anscheinend abgestochen und ist weg...“, meinte ich dann und rieb mir den Hals. „Hast du mich verbunden?“

„Lynnea“, berichtigte Lyen mich und deutete auf seine Gefährtin, die ich auch erst jetzt sah. Sie suchte den Boden nach Spuren ab und sah auf.

„Du hast geblutet wie Sau, wenn ich das so sagen darf“, brummte sie. „Unser Prinzesschen hat anscheinend mehr drauf als vorerst angenommen...“

„Scheint so“

'Man hat immer eine Wahl', hallte ihr Satz in mir nach.

 

„Mit etwas Anstrengung holen wir sie noch ein!“, rief Bär und deutete in eine unbestimmte Richtung, die am Gebirge entlang führte. „Ihre Spuren führen dahin“

Während sich unsere Gruppe in Bewegung setzte, stellte ich Lynnea zwei Fragen, die mir auf dem Herzen brannten.

„Was habt ihr mit der Hexe gemacht? Und wo ist... Nora?“

Lynnea sah mich an und ihre Miene wurde düster. „Dem feigen Schwein hätte ich gerne gegeben, was es verdient hätte, aber Lyen hat ihn da gelassen“. Sie schüttelte enttäuscht den Kopf.

„Nora ist da hinten, bei Bär. Sie hat dich schon sehnlich vermisst“. Sie grinste frech und knuffte mich, dann holte sie zu Lyen auf, während ich mich zurück zu Tonne fallen ließ, die Bär und Nora auf ihrem Rücken trug. Ich nahm sie Falke ab und dieser gesellte sich wortlos zum Dryaden, der ausdruckslos umher stapfte als würde ihn das alles gar nicht angehen.

„Dieses Weibsbild hat ganz schön Feuer unterm Hintern“, grinste Bär zu mir herunter. „Sag schon- was hat sie mit dir gemacht, bevor sie dich abgestochen hat. Etwa...?“

Ich runzelte die Stirn. „Was willst du?!“. Ich verstand ehrlich nicht, was er meinte, also schüttelte ich den Kopf und beschleunigte meinen Schritt.

Bär lachte leise. „Rain, Rain...“

Ich presste die Lippen zusammen, denn ich war jetzt wirklich nicht zu Scherzen aufgelegt. Diese Prinzessin hatte mich ganz schön ins Nachdenken gebracht. Bisher hatte ich nur ein Ziel vor Augen gehabt: Mein Volk in ein neues Leben zu führen.

Das darunter auch andere Leute leiden müssten, war mir noch gar nicht in den Sinn gekommen. Ich rieb mir mit meiner freien Hand über die Stirn und ächzte leise, weil sowohl mein Arm als auch mein Hals gegen jede Art von Bewegung rebellierten. Vielleicht sollte ich die ganze Sache noch einmal überdenken. Aber was meinte ich mit Überdenken? Ich hatte die Wahl zwischen einer Chance und dem Tod. Würde denn da nicht jeder, der noch einigermaßen bei Verstand war, die Chance ergreifen und um sein Leben kämpfen?

Ich wollte Fenja nicht umbringen, aber ich wollte für sie auch nicht alles aufgeben. Ich wollte auch nicht, dass durch mich ein anderes Volk das erleiden müsste, was wir Jäger da durchmachten, aber ich wollte auch nicht, dass wir länger so leben müssten. Gab es denn keine Zwischenlösung?

Mein Kopf begann förmlich zu rauchen, während ich jede einzelne Möglichkeit im Kopf durchspielte. Keine kam in Frage. Keine. Nicht eine.

„Egal, worüber du auch nachdenkst“, knurrte Falke, der unbemerkt an meiner Seite aufgetaucht war. „Manchmal ist Egoismus leichter“

Ich wollte ihn fragen, was er damit meinte, doch der Krieger war schon wieder verschwunden. Ich dachte über seine Worte nach. Wenn ich nach diesem Rat gehen würde, dann hieße das, dass ich mich einfach um meine Angelegenheiten kümmern sollte und nicht darüber nachdenken sollte, was das für Konsequenzen für andere Leute hatte.

Aber war das der richtige Weg?

Ich wurde von einem Schrei aus den Gedanken gerissen. Es war der Schrei eines Mädchens. Es war der Schrei von Fenja. Ich fuhr zusammen und spähte nach vorne, doch ich konnte nichts sehen.

„Was ist denn da vorne los?“, fragte Bär mit zusammen gekniffenen Augen.

„Ich weiß nicht. Ich kann es auch nicht erkennen“, antwortete ich und stellte mich auf die Stiefelspitzen, um mehr zu sehen. Von Falke, Lyen, Lynnea und dem Dryaden war nichts mehr zu sehen, nur Joee lief etwas weiter entfernt von uns.

„Lyen?“, rief ich unsicher.

Doch niemand antwortete. Ich blieb unschlüssig stehen und Tonne wäre fast in mich hinein gelaufen, weil ich auf ihrer blinden Seite ging. Panisch warf sie den Kopf in den Nacken, doch ich beruhigte sie schnell wieder.

Bär reckte den Hals und versuchte über die nächste Hügelkuppe hinweg zu blicken, doch es gelang ihm nicht.

„Führ sie mal weiter!“, befahl er und ich warf einen Blick zu der schlafenden Nora. „Ihr wird schon nichts passieren!“, beschwichtigte Bär und ich nickte schließlich.

Vorsichtig erklommen ich und mein Pferd Seite an Seite den Hügel, dann konnte ich endlich auf die andere Seite sehen. Lyen, Lynnea und Falke hatten Fenja eingekreist und sie sah sich wutschnaubend um.

Ihr Blick traf sich mit meinem und ich sah schnell zur Seite, bevor ich wieder an all die Zweifel dachte. Was natürlich längst zu spät war.

Ich hörte weder zu, noch sah ich hin, als die Anderen Fenja einkreisten und nieder schlugen. Ich fand es einfach nur brutal.

„Na na- da wird doch wohl nicht einer sentimental?“, fragte Bär mich Stirn runzelnd.

„Ach was. Ich mag es nur nicht, wenn man Frauen verprügelt...“, redete ich mich raus, obwohl ich ja nun wirklich einer der letzten war, der irgendeinen Unterschied zwischen Männern und Frauen machte.

„Dann solltest du nie dabei sein, wenn Lynnea mal richtig in Fahrt kommt... Nur verprügelt sie letzten Endes doch die Anderen...“

 

 

„Du willst das nicht“.

Verwirrt schlug ich die Augen auf. Direkt über mir stand der Mond am Himmel und sofort schoss mir die Frage durch den Kopf, was denn nun schon wieder los war. Ich drehte meinen Kopf in die Richtung, aus der die Stimme kam.

Ich erkannte sie nicht sofort, deshalb rollte ich mich zunächst auf den Bauch und stützte mich auf die Ellenbogen, bevor ich begriff. Fenja hatte zu mir gesprochen. Sie lehnte mit gefesselten Armen und Beinen an einem Baumstumpf, doch ihre Augen waren ruhig und warm.

Ein schneller Blick über die Schulter zeigte mir, dass die Anderen noch schliefen und nur Bär in das glimmende Feuer starrte, weil er trotz Verletzung Wache hatte. Ich war also im Zweifelsfall sicher, denn der Krieger machte seine Arbeit gut.

Also richtete ich meinen Blick wieder auf Fenja. „Was?“

„Du bist hier falsch. Du gehörst nicht zu so einer Gruppe“

Ich zog die Augenbrauen hoch. „Also eigentlich bist du von uns Beiden gefesselt in einem feindlichen Lager gefangen...“

„Und doch habe ich hier mehr zu suchen als du“. Fenja warf einen vorsichtigen Blick zu Bär und lehnte sich dann zu mir vor. „Hör zu, Jäger. Du wirst hiermit einem anderen Volk das antun, was dir widerfahren ist“, sprach sie eindringlich auf mich ein. „Der König wird den Kristall für etwas missbrauchen, was in niemandes Interesse liegt. So hör mir doch zu!“, rief sie, als ich mich wieder abwandte. Trotzdem blieb ich mit dem Rücken zu ihr sitzen.

Ich wollte das alles nicht hören. Ich wusste es doch selber, irgendwo in mir drinnen. Aber ich machte es mir eben gerne einfach. Das hatte ich schon immer getan.

„Hey! Wie heißt du?“, fragte Fenja, nun mit einem weicheren Tonfall.

Ich wusste nicht wieso, aber ich antwortete ihr. „Rain“

„In Ordnung. Also Rain. Wie ist es in eurem Wald?“

Ich schluckte und starrte in die Dunkelheit, die mich so unsäglich an zu Hause erinnerte. Oder eher an den Ort, an dem ich mein ganzes Leben verbracht hatte.

„Dunkel“, meinte ich zögernd. „Schwarz. Nass“

„Ist es schön dort?“, fragte Fenja weiter.

„Nein. Es ist... kalt“

„Kalt. Möchtest du dahin zurück?“

Ich runzelte die Stirn. Was sollte das? „Kommt drauf an, was die Alternative ist“

„Du könntest... ans Meer gehen“

„Meer?“

„Siehst du? Du weißt gar nicht, was die Welt für Chancen für dich bietet. Es gibt so unglaublich viel, das du nie entdecken wirst, so viel, von dem du noch nicht einmal gehört hast!“

„Und wo liegt der Unterschied?!“, brach es aus mir hervor. „Vielleicht werde nicht nur ich das alles entdecken können, wenn ich das hier jetzt schaffe!“

„Rain!“, unterbrach mich Fenja heftig. „Er wird euer Volk nicht freilassen!“

„Woher willst du das wissen?!“, erwiderte ich aufgebracht.

„Ich bin die Tochter von diesem widerlichen Monarchen“, antwortete Fenja, noch immer so ruhig und gelassen, dass ich sie beneidete.

„Was mischst du dich überhaupt in mein Leben ein?“, wich ich nun aus.

„Die Frage ist eher, wieso du mein Leben zerstören willst“

„Ich will dein Leben nicht zerstören“

„Du tust es aber gerade“

„Das bin nicht ich, sondern meine... Weggefährten“

„Ihr seid eine Gruppe. Da steht einer für den Anderen ein“

„Tse... da bist du bei uns aber an der falschen Stelle“

„Eben. Und deshalb bist du hier völlig falsch. Weißt du... noch kannst du einfach gehen. Dann musst du nicht den dummen naiven Bastard spielen, der hier alles mit sich machen lässt, nur weil er auf das Wort eines Typens vertraut, weil der einen mit völlig aus der Luft gegriffenen Verspr...“

Nun hatte sie es zu weit getrieben. Zornig sprang ich auf und fuhr herum.

„Tu doch nicht so, als würdest du auch nur irgendetwas über mich und meine Situation wissen!“, brüllte ich.

Bär sah auf und reckte den Hals, als er mich sah. Ich lächelte gepresst zu ihm hinüber und winkte schnell ab, dann sah ich zu Fenja. Ein selbstzufriedenes Lächeln umspielte ihre Lippen.

„Ich wusste doch, dass da noch irgendetwas ist“, lächelte sie und trieb mich damit fast zur Weißglut. „Na sag schon. Wie haben sie dich rum gekriegt? Hast du jetzt Geld? Oder haben sie etwa jemanden aus deiner Familie?“

Ich biss mir auf die Unterlippe und sah sie vor Wut kochend an.

„Halt. Einfach. Den. Mund“

Dann legte ich mich etwas entfernt von ihr Hin und starrte in den Sternenhimmel. Natürlich konnte ich jetzt wieder nicht schlafen.

„Also doch einer aus deiner Familie“, murmelte Fenja leise.

Sie wusste wirklich rein gar nichts und versuchte trotzdem, mir Sachen vorzuschreiben. Und sowas brachte mich wirklich immer auf Hochtouren. Schon damals, als ich noch im Wald gelebt hatte.

Störrisch wehrte ich jede Art von aufkommenden Zweifeln ab und kniff meine Augen zusammen. Irgendwann funktionierte es tatsächlich und ich schlief wieder ein.

 

Das nächste Mal erwachte ich durch Lyen.

„Jetzt hast du noch alle Chancen offen. Wenn wir dich zum Sitz von Endrian Enesien gebracht haben, wird es unangenehm“.

Ich blinzelte und sah auf. Lyen hockte vor Fenja und sah sehr ernst aus, was man von der jungen Prinzessin nicht gerade behaupten konnte. Sie lachte hell auf und spuckte Lyen auf den Stiefel.

„Ja klar. Ich bin die Prinzessin, Hohlbirne! Meinst du wirklich, mein eigener Vater würde euch erlauben, mich zu foltern?!“

Lyen ignorierte diese unhöfliche Geste und wollte etwas sagen, doch Lynnea war schneller. Blitzschnell holte sie an seine Seite auf und packte die Prinzessin am Kragen. Unsanft zerrte sie das Mädchen auf die Füße und zischte:

„An deiner Stelle wäre ich mal ganz vorsichtig. Du stehst nämlich nicht länger unter dem Schutz des Königshauses. Dein Vater hat zu gelassen, dass wir dich töten, wenn nötig. Töten, verstehst du?! Dein eigener Vater opfert dich für ein paar Pergamente! Und im Folterkeller sind die nicht so nett! Willst du wissen, was die mit dir machen? Sie werden dir jedes Körperteil einzeln...“

„Hör auf Lynnea!“. Lyen zog seine Gefährtin von Fenja fort. „Sie hat es jetzt verstanden“

Lynnea sah aus, als wollte sie sich mit ihm anlegen, doch dann schüttelte sie nur den Kopf und ließ sich neben mich ins Gras sinken.

„Unerzogenes Gör. Wie kann man bloß so... ignorant sein? Ich glaube, dieses Mädchen leidet an gehöriger Selbstüberschätzung“

Ich nuschelte etwas unverständliches, weil die Sonne mich mal wieder blendete und ich alles nur durch einen Schleier der Müdigkeit sehen konnte.

„Ich weiß zwar nicht, was das heißen sollte, aber ich denke mal du stimmst mir zu“, meinte Lynnea und ich spürte förmlich, wie sie vor Wut kochte.

Ich lag noch immer im Gras und Lynnea saß mit den Armen um die Knie gelegt neben mir, während wir gemeinsam beobachteten, wie sich Fenjas Mine erst verfinsterte und ihr dann ganz entglitt, bevor sie sich wieder aufhellte.

„Ha! Als ob ich euch das glauben würde! Ich schmeiße euch alle in den Kerker! In den Kerker!“. Irgendwann begann sie zu kreischen und Lyen rang sie wieder zu Boden, bis er ganz still und ruhig vor ihr sitzen blieb. Er schien darauf zu warten, dass sie aufhörte, doch genau das hatte ich nicht vor.

Fast zeitgleich mit Lynnea erhob ich mich und ging so schnell wie möglich zum Lagerfeuer und damit weg von dem kreischendem Unheil dahinten.

„Manchmal weiß ich nicht, ob ich ihn für diese Ruhe bewundern oder hassen soll...“, murmelte Lynnea und schüttelte erneut den Kopf.

„Belasse es lieber beim Bewundern“, brummte ich.

 

Die Bemühungen von Lyen dauerten tatsächlich noch bis zum Mittag, obwohl keiner darauf gewettet hätte. Nora lag mit ihrem Tipp am nächsten, denn sie prophezeite uns, dass Lyen es noch bis zum Vormittag aushalten würde. Natürlich stieß diese Vermutung nur auf Gelächter.

Als das kleine Mädchen dann aber sämtliche Wetteinsätze einkassierte, waren wir schon nicht mehr ganz so albern, was sie anging.

Bär murrte: „Das gibt’s ja gar nicht...“, als er Nora die von ihm gesetzten Münzen in die Hand drückte, doch die Kleine grinste nur, bis sie alles eingesackt hatte, was ihr zustand.

Dann ließ sie sich zufrieden zu Boden sinken und zählte ihre Einnahmen. Insgesamt waren 7 Bronzlinge, zwei Knöpfe, ein edler Flicken und ein Stein raus gesprungen, den irgendein Spaßvogel gesetzt hatte. Von mir stammten die Knöpfe.

„Wo hast du das denn her?“, fragte Lyen mit gerunzelter Stirn und ich sah ihm die aufkommende Wut deutlich an.

Nora lächelte. „Gewonnen“

Falke, der bisher Lyen zu gesehen hatte, gesellte sich zu uns. „Vielleicht solltet ihr mal was Vernünftiges machen, anstatt zu spielen!“, knurrte er, doch Lyen brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.

„Also ich habe echt alles versucht, aber dieses Mädchen lässt uns keine andere Wahl, als etwas rabiater da heran zu gehen“

„Wieso bringt ihr sie denn nicht wirklich einfach zu Endrian?“, fragte ich verwirrt.

„Da würde von ihr nicht mehr als ein Fleischklumpen überbleiben und das würde Keinem etwas bringen“, meinte Lyen, doch in seinen Augen sah ich, dass da auch noch etwas Anderes war.

„Also. Hat noch jemand einen Vorschlag, was wir tun könnten?“

„Ohrfeigen“, knurrte Falke, doch das brachte ihm nur einen verächtlichen Blick von Lynneas Seite ein.

„Als ob ich das nicht schon versucht hätte“

„Du hast was?!“, rief Lyen erschrocken.

„Entschuldigung, mein Lieber, aber sie hat mit keine Wahl gelassen“, lächelte Lynnea und ich sah, wie sie mit ihren Reizen spielte, um Lyen herum zu bekommen. Diese kapitulierte sofort.

„War schon nicht verkehrt“, murmelte er und grinste verliebt.

Bär rammte mir seinen Ellenbogen in die Seite und lachte leise.

„Was hast du denn?!“, fragte ich genervt.

„Na... ist das nicht süß?“, lächelte Bär verträumt.

„Du bist echt komisch. Da ist doch nichts so schwer dran. Irgendein Mädchen anlächeln, Komplimente machen und ein bisschen Lippenkontakt. Anscheinend war's dann ja schon“, brummte ich.

„Ach Rain, du bist und bleibst ein alter Mehlsack in solchen Themen. Es muss schon die richtige sein und nicht „irgendein Mädchen“. Im Krieg gibt es nur noch so wenige glückliche Pärchen, da freut man sich einfach immer wieder!“, verteidigte Bär seine Ehre.

Ich schüttelte den Kopf. „Ich weiß echt nicht, was ihr habt“

Lyen unterbrach uns. „Sonst noch Vorschläge?“, fragte er erneut.

„Man könnte sie an einen Baum fesseln und dann ganz lange an ihr ziehen“, zischte der Dryad. „Irgendwann hält das keiner mehr aus“

Ich sah ihn nachdenklich an, doch Lyen hatte die Anspielung nicht verstanden und schüttelte den Kopf. Natürlich. Woher sollte er auch wissen,wie es um den Baumgeist stand? Vielleicht gab es die in seinem Zuhause ja gar nicht.

Lyen ließ seinen Blick weiter schweifen.

„Gut. Dann habe ich einen Plan. In letzter Zeit habe ich viel über sie gehört und anscheinend kann sie es nicht haben, dass andere Leute ihretwegen Leiden“

„Oh nein!“, unterbrach ihn Joee zitternd. „Nein... keine Folter, nein!“

Dabei fuhr sein Blick immer wieder über die Schulter, als würde er verfolgt.

„Keine Sorge, Joee. Das läge auch nicht in meinem Sinne“

„In meinem dafür umso mehr“, knurrte Lynnea und wieder war ich über ihre Meinungsverschiedenheiten erstaunt.

„Wir regeln das ohne Blut“, meinte Lyen eindringlich. Dabei sah er Lynnea nicht an, aber jeder wusste, dass das vor allem an sie ging.

„Würde der Kleinen gar nicht schaden...“, murmelte Falke und strich dabei über seine Messerklinge. „nicht immer mit Silberhandschuhen angefasst zu werden...“

„Wie oft noch? Vorerst ohne Blut“, meinte Lyen nun aufgebracht.

„Vorerst...“, lächelte Falke und versenkte sein Messer so ruckartig und schnell in dem Baumstamm hinter ihm, dass ich vor Schreck zusammen zuckte. Wenn dieser Mann tatsächlich ein Verräter war, dann hätten wir ein ganz schönes Problem.

Der Dryad begann zu fauchen, als er den verschandelten Baumstamm sah und machte einen Schritt auf Falke zu. Er war viel Kleiner als der Krieger, aber trotzdem fast genau so bedrohlich. Seine gewaltigen Fänge blitzen auf und er warf sich auf Falke.

Dieser war auf den Angriff gar nicht vorbereitet gewesen und ging unter dem Baumgeist zu Boden.

Lynnea stieß einen Wutschrei aus und warf sich ebenfalls in den Haufen aus den Beiden. Ich war mir nicht sicher, ob sie sie trennen wollte, oder einfach nur Frust ablassen musste.

Bär und ich standen etwas abseits und beobachteten das Spektakel, Joee sah aus als würde er gleich anfangen, zu weinen und Nora hielt sich die Augen zu.

Lyen raufte sich die blonden Haare und sah hilflos zu uns. Schnell wandten Bär und ich den Blick gen Himmel oder zur Seite, um bloß nicht um Hilfe gebeten zu werden.

„SCHLUSS JETZT!“.

Erstaunt sah ich auf und stellte fest, dass ich nicht der Einzige war. Auch die Anderen hatten inne gehalten und sahen sich verwundert nach dieser kräftigen, befehlshaberischen Stimme um.

Als wir den Sprecher schließlich erkannten, stockte mir fast das Herz. Joee hatte sich aufgerichtet und in seinen Augen funkelte etwas unglaublich Weißes. Das war nicht er, der dort sprach, nein. Das war etwas Anderes. Etwas Lichtes, nicht von dieser Welt.

„WOLLT IHR WIRKLICH EINE TRUPPE FÜR EINE SOLCHE AUFGABE SEIN, WENN IHR EUCH BEI DER KLEINSTEN UNKLARHEIT GLEICH PRÜGELT?!“

Joees Gesicht sah wütend um sich, doch in seinen Augen funkelte immer noch dieses unbekannte Weiße.

Fast augenblicklich, nachdem er die Worte gesprochen hatte, lösten sich Falke, der Dryad und Lynnea voneinander und sahen mehr oder weniger ängstlich auf Joees Gesicht, dass nun weicher wurde.

„NA ALSO. ES GEHT DOCH. UND JETZT REIẞT EUCH ZUSAMMEN UND PACKT MIT AN!“

Das Weiß aus Joees Augen verschwand und er ging zitternd zu Boden. Sofort eilte Lyen zu ihm und Bär folgte ihm.

„Joee!“

„Es... es war wieder da...“, hauchte der Heiler und Tränen funkelten in seinen Augenwinkeln. „Es geht schon... macht... macht weiter“

Er atmete zitternd durch und sah zu Lyen. „Na los!“

Lyen ließ nur ungern von dem Heiler ab, aber nun lag endlich alle Aufmerksamkeit auf ihm, die er brauchte.

„Rain, du wirst mit Fenja sprechen. Sie weiß noch nicht, womit du hier rein gezwungen wurdest und wenn du sagst, dass du sterben wirst, wenn sie diese Papiere nicht besorgt, dann wird sie sie uns bringen“

Ich sah ihn unschlüssig an. Natürlich musste ich jetzt einwilligen, sonst wüssten sie sofort alle von meinem inneren Konflikt. Das war eigentlich wirklich unter meiner Ehre, kleine Mädchen mit meiner Leidensgeschichte locken... Was hieß eigentlich kleine Mädchen?

In den letzten Stunden war ich eindeutig zu dem Ergebnis gekommen, dass sie nur ein paar Jahre jünger als ich war. Also los.

Ich nickte. „In Ordnung“

„Gib dir Mühe“. Lyen klopfte mir auf die Schulter, dann wandte er sich wieder zu dem keuchenden Joee. „Danke, Joee“

Der Heile nickte zitternd, mehr brachte er anscheinend noch nicht zu Stande.

Ich wandte mich ab und ging zu Fenja.

 

„Schicken sie jetzt schon dich als Folterknecht?“, fragte Fenja. „Was lässt du denn eigentlich alles mit dir machen?“

Ich überging diese Bemerkung und ließ mich vor ihr nieder.

„Erinnerst du dich noch an gestern Abend?“, fragte ich.

„Haben SIE dich geschickt?“. Fenjas Blick wanderte zu Lyen und den Anderen. Einen ganz kurzen Moment dachte ich Tränen oder etwas ähnliches in ihrem Blick zu sehen, doch dieser Eindruck verschwand schnell.

„Nein. Ich bin hier, damit sie dich nicht foltern müssen“, log ich.

Sie sah mich an. „Du lügst“ Ihre Augen sahen verletzt aus, wie ein kleines Fohlen, das mit gebrochenen Beinen hilflos ums Leben kämpft.

„Nein, tue ich nicht“

„Was willst du dann hier?“

„Dich bitten, ihnen das Pergament zu geben“

„Wieso? Doch jemand aus deiner Familie?“

Ich sah sie an und dann zu Boden. Konnte ich das wirklich machen? Eigentlich ging das wirklich nicht. „Sie haben niemanden aus meiner Familie, nein“

„Was denn dann? Geht es dir wirklich um Gold und Geschmeide?!“. In ihrer Stimme schwang ein gewaltiger Vorwurf mit.

„Die Macht über mein Leben“, sagte ich leise.

Fenjas Miene versteinerte sich augenblicklich. „Du meinst, sie... sagen, sie finden dich, wenn du weg läufst?“

„Nein, schlimmer. Ich konnte den Wald nicht verlassen, wegen der verfluchten Grenze. Ich sterbe, wenn ich die Medizin nicht bekomme, und zwar nicht schnell. Es tut verdammt weh“. Unwillkürlich griff ich mir an die Brust, doch mein Herz pochte noch völlig normal. „Und das an Medizin, was ich dabei habe reicht gerade für diese Reise. Wenn wir versagen werde ich nicht geköpft wie die Alle da hinten, sie geben mir einfach kein Mittel mehr und warten, bis ich an meinem eigenen Blut ersticke“

Das war zwar eine sehr gewagte Aussage, doch sie erzielte ihren Effekt.

Fenja sah mich lange an und kurz dachte ich, sie erkannte mein falsches Spiel. Doch dann holte sie tief Luft. „Also gut. Ich werde es euch geben“

 

„Woher sollen wir wissen, dass sie uns nicht in eine Falle führt?!“, brüllte Falke und sein Kopf fuhr zu Lyen herum, so dass die Regentropfen von seiner Kapuze flogen. „Die nimmt uns doch alle auf den Arm!“

Wut schnaubend stapfte er durch den Matsch zu Fenja und packte sie am Kragen. Dann begann er das Mädchen zu schütteln und schrie: „Willst du, dass ich das ganze ein bisschen beschleunige?! Soweit ich weiß brauchst du nicht beide Hände, um uns zu den Papieren zu führen, oder?“

Ich konnte von hinten nicht wirklich viel erkennen, doch ich war mir ziemlich sicher, dass Fenja Angst hatte. Also schritt ich noch vor Lyen ein und schob ihn von Fenja fort. „Lass sie. Gib ihr wenigstens eine Chance“

Fenja sah mich dankbar an, doch Falkes schlechte Laune übertrug sie jetzt auf mich. Vermutlich entging ich seinem Faustschlag nur, weil ich gelernt hatte, trotz Regen Angriffe einzuschätzen und ihnen auszuweichen.

„Falke!“, brüllte nun Lyen und zog den Krieger zurück. „Jetzt hör sofort auf mit dem Schwachsinn oder ich werde Endrian alles haarklein berichten!“

Seltsamerweise schien diese Drohung Falke zu zusetzen, denn augenblicklich hörte er auf, sich gegen Lyen zu wehren und verzog sich ans Ende der Gruppe. Lyen schüttelte den Kopf und sah zu Fenja. „Wie weit ist es noch?“, fragte er und wischte sich Wasser von der Nase.

„Nicht weit“, murmelte Fenja und ich sah, wie sie mit sich selbst kämpfte, als ihr Blick zu mir wanderte.

Auch in mir sträubte sich alles dagegen, sie weiter so bittend anzusehen. Ich tat es trotzdem.

Falke stapfte nun wieder neben dem Dryaden durch den Regen. Der Baumgeist schien Falke die Baumattacke noch immer nicht verziehen zu haben, jedenfalls würdigte er ihn keines Blickes. Aber dieses Privileg genossen ja auch nur wenige.

Ich ging wieder zurück zu Tonne und griff in den Strick, der ihr nun praktischer Weise locker um den Hals hing, damit ich sie besser führen konnte.

Bär trottete nun wieder alleine neben mir, doch Nora und unser Gepäck hatten ihren Platz noch immer auf dem Rücken der Stute. Inzwischen kam sie besser mit einem Auge zurecht als anfangs und ich konnte nicht verhehlen, dass ich sehr stolz auf sie war.

Im Gänsemarsch marschierten wir Fenja hinterher, obwohl es wahrscheinlich keinen in dieser Truppe gab, der wirklich auf sie vertraute. Selbst ich hegte meine Zweifel, ob nicht doch alles nur eine Falle war. Aber was für eine Falle? Wenn meine Träume stimmten war sie die letzte Rächerin und hatte gar keine Verbündeten mehr, die ihr helfen konnten.

Ich war so in Gedanken versunken, dass ich gar nicht bemerkte, dass die Gruppe Halt machte. Ich führte Tonne direkt in Falke hinein, der gleich zu einem Fluch ansetzte, jedoch von einem strengen Blick von Lyen unterbrochen wurde.

So langsam fragte ich mich wirklich, was Falke so sehr unter Druck setzte, dass ein Blick genügte. Ich würde Lyen bei Gelegenheit fragen.

Aber nun richtete ich meine Aufmerksamkeit zunächst auf Fenja, die im Matsch hockte und mit ihren Fingern an einem Stein herum fummelte. Nach ein paar Minuten schob sie den Felsen zur Seite und eine Holzluke kam zum Vorschein. Mit einem Knarren öffnete sie sie. Was da drunter zum Vorschein kam konnte ich nicht erkennen, weil Bär sich vor mich schob und Tonne mich immer wieder von hinten anstubste, so dass ich mich nicht auf die Zehenspitzen stellen konnte.

Lynnea musterte Fenja misstrauisch, als sie wieder aufstand, doch Lyen hielt den Atem an.

„Sind das die...?“

„Ja“. Fenja nickte und nun konnte ich auch erkennen, was sie in ihren Händen hielt. Es waren jene Papiere, die mich mein ganzes Leben lang verfolgt hatten, jene Papiere, die mein Schicksal bestimmt hatten, jene Papiere, die spurlos aus der Höhle verschwunden waren.

Und es waren nicht nur die Niederschriften über den Kristall. Es waren jegliche Geheimnisse, die ich damals auswendig gelernt hatte. Wie gebannt starrte ich auf das Papier und Fenja schien dies zu merken.

„Es ist mehr als das, das ihr braucht“, meinte sie und hielt ihren Ärmel schützend über die Blätter. „Doch auch das werdet ihr nicht bekommen“

Es ging so schnell, dass ich es kaum mit bekam. Ritsch. Ratsch. Platsch.

Dumpf trommelten die Regentropfen auf den Stoff meiner Kapuze ein, während ich fassungslos auf die Überreste meiner Stammesgeheimnisse am Boden sah. Langsam weichten die Fetzen im Boden ein.

Um mich herum geriet alles in Bewegung, jemand klaubte die Fetzen vom Boden auf, Fenja wurde umzingelt, Tonne weg geführt. Die Zeit verrann, doch ich spürte es kaum, während ich bewegungslos auf den letzten zurück gebliebenen Fetzen starrte.

Da ging sie hin, meine letzte Hoffnung.

 

„Rain?“

Ganz langsam hob ich den Kopf, wobei Tropfen von meiner Nase in meinen Mund flossen. Vor mir stand Lynnea, die Arme eng um den Körper geschlungen.

„Willst du nicht mit rein kommen? Wir haben einen Unterstand gefunden -dort ist es trocken...“

Ich blinzelte ein paar Mal und sah sie an. Nein. Eigentlich wollte ich nicht mitkommen. Der Regen tat gut und war frisch.

„Glaub mir, gib jetzt nicht die Hoffnung auf. Wir haben nun noch jemanden, der sich an die Pergamente erinnert. Wenn wir Fenja nur zum Reden bekommen, dann werdet ihr zusammen genug wissen, um unser Ziel zu erreichen“

Ich musterte Lynnea weiterhin. Sie sah weder gereizt noch müde aus, eher nachdenklich. Sowas kannte man eigentlich eher von Lyen.

„Ich komme später“, murmelte ich und Lynnea nickte.

„Aber wirklich“

Ich nickte stumm, dann wandte sich die Soldatin von mir ab und stapfte zu einem provisorischem Unterstand in Form einer kleinen Höhle. Ich drehte mich ebenfalls um und ging zum nächsten Baum. Dort erklomm ich den Stamm und kletterte so weit ich konnte in die Krone hinauf.

Die Berge ruhten wie schlafende Riesen in meinem Rücken, doch vor mir lag die unendliche Grasebene, die nur vereinzelt von Bäumen oder Buschvegetationen gebrochen wurde.

Noch immer konnte ich nicht wirklich denken, es schoss mir nur immer wieder das Bild von den Papierfetzen im Matsch durch den Kopf. Wenn Fenja nicht reden würde, dann hätte ich sie vorhin nicht angelogen. Vielleicht würden sie mich wirklich einfach verrecken lassen, wie ein Masttier, das nicht mehr gebraucht wurde. In mir kochte die alte Wut auf die Höheren hoch und meine Finger krallten sich so fest in das Holz, dass meine Fingerknöchel weiß hervor traten.

Fenja hatte Recht. Es war von vorne herein naiv gewesen, auf ein Versprechen zu vertrauen, das von jemandem gegeben wurde, der mein Volk und mich verachtete. Noch dazu hatte dieser Jemand es mir nicht einmal persönlich gegeben.

Ich erinnerte mich an das verfluchte Zeichen des Abschaums in Zenas Kammer und in mir kam der Gedanke auf, ob es nicht Anlars Truppe, sondern die Rächer gewesen waren. Vielleicht nutzten sie unser Schicksal nur als Vorwand, um sich gegen den König zu stellen.

Plötzlich registrierte ich eine Bewegung unter mir und zuckte zusammen, in Erwartung eines Feindes. Doch es war nur Nora, die mit bittenden Augen zu mir aufsah.

„Rain, bitte komm rein...“, bettelte sie. „Es ist so langweilig dadrin...wie auf einem Friedhof“

Ich lächelte und sprang mit ein paar Sätzen zu Boden. Leicht kam ich im nassen Gras auf und meinte: „Na wenn da drinnen wirklich so schlechte Stimmung herrscht sollte man das schnellstens ändern“

 

Nora hatte noch untertrieben. Friedhof war gar kein Ausdruck für das, was ich in dem Unterschlupf vorfand. Alle Gesichter waren so finster, dass nicht einmal mehr der Dryad und Falke sonderlich hervor stachen.

Ganz in der Ecke, an einen Fels gedrängt saß Fenja und auf ihrem Gesicht ruhte etwas Gefährliches, wild Entschlossenes. Im Augenblick erschien es mir unmöglich, ihren Willen jemals zu brechen.

Ich sah mich um und ließ mich schließlich aus Gewohnheit neben Bär nieder. Doch selbst dieser sah nicht einmal zu mir auf sondern starrte weiter in die Flammen des kleinen Feuers, dass in der Mitte der winzigen Höhle knisterte.

Ich wischte einen Funken zur Seite, der auf meiner Hose gelandet war und zog die Nase hoch, dann schwieg auch Ich.

Das ging eine Weile so, bis irgendwann auch die Regentropfen verhallten, die neben dem Feuer das einzige Geräusch gewesen waren, dass die unerträgliche Stille brach. Noch immer sagte keiner ein Wort und anscheinend hatte das auch niemand vor, weshalb ich unglaublich erleichtert war, als sich endlich jemand zu Wort meldete. Es war Nora.

„Geht jemand mit mir raus?“

Ich hatte zwar keine große Lust, hier sitzen zu bleiben, doch noch weniger Lust hatte ich, jetzt draußen durch die Kälte zu stapfen. So langsam wurde ich echt zur Diva.

Zu meinem großen Erstaunen erbarmte sich Joee und ging mit trippelnden Schritten zum Höhlenausgang.

Nachdem die Beiden verschwunden waren, rutschten alle ein bisschen auf dem Boden herum, weil es nun wesentlich mehr Platz gab. Dann holte Lyen Luft, als wolle er etwas sagen, doch es blieb still. Ich sah erneut zu Fenja. Sie schlief. Das schien auch Lynnea zu bemerken, zumindest warf sie Lyen einen bedeutenden Blick zu.

Nach weiteren Minuten des Schweigens stand Lyen auf und räusperte sich.

„kommt jemand mit, Feuerholz sammeln?“

Bär wollte sich erheben, doch ich drückte ihn einfach auf den Boden zurück und sprang auf die Beine. „Ja, Ich“

Ich wollte jetzt unbedingt mit Lyen reden. Das schien auch Bär zu bemerken, denn dieser wehrte sich nicht und tat, als hätte er nie vor gehabt, mitzukommen.

 

Draußen war noch alles feucht, der Boden, die Blätter und die Bäume. Lyen setzte sich sofort seine Kapuze wieder auf, doch ich mochte das Gefühl, wenn mir die letzten Regentropfen in den Nacken rieselten. Es war ein wenig wie in meinem Wald und wenn ich mir Mühe gab konnte ich mir vorstellen, all das wäre nie passiert.

Schweigend stapften Lyen und Ich nebeneinander und hoben Hin und Wieder einen einigermaßen trockenen Ast auf, von denen es ziemlich wenige gab.

Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus. „Was ist mit Falke?!“

Lyen sah gar nicht erst zu mir auf, während er antwortete. „Der war schon immer so, keine Sorge“. Dabei begutachtete er einen Busch und zog einen Ast heraus.

Ich schob ein bisschen Gras auseinander und überlegte, ob dieser Stock wohl trocken genug war, doch dann fragte ich weiter. „Nein, was hält ihn hier? Endrian und auch Du habt ihn mit irgendetwas im Griff. Ein Blick und er ist still. Was hat das auf sich?“

„Das bildest du dir ein“, erwiderte Lyen trocken. „Endrian ist lediglich sein Herr und er hat ihm zu gehorchen. Wie jeder Krieger, der einem Haus angehört“

„Aber da ist noch mehr!“. Ich ließ nicht locker. „Endrian meinten, sie hätten eine Abmachung“

„Ja. Er wird hier mitmachen und nicht aufmucken und dafür wird er befördert, zum Kommandanten“

„Als ob das einen Mann wie Falke locken würde- die Verantwortung über eine Truppe Männer übernehmen“, brummte ich.

„Jetzt hör doch auf. Ich habe bereits gesagt, dass du dir das nur einbildest“. Lyens Stimme wurde hart und ich hörte fürs Erste auf, zu fragen. Jetzt würde ich sowieso nicht mehr heraus bekommen. Also wechselte ich schnell das Thema.

„Habt ihr einen Plan in Sachen Fenja? Konntet ihr die Papiere retten?“

„Nein. Wir müssen sie irgendwie auf unsere Seite ziehen“

„Mit Gewalt?“

„Wenn es nach Lynnea und Falke ginge- ja. Aber ich glaube nicht, dass wir sie damit knacken. Sie hat uns bereits einmal über den Tisch gezogen und wird es sicher noch einmal schaffen, uns etwas vorzuspielen. Nein, wir müssen sicher sein“

In mir kam ein Gedanke auf, den ich sofort wieder verwarf. So gemein war ich wirklich nicht. Schon gar nicht, weil ich wusste, wie abscheulich das war. Also schwieg ich betreten. Es wäre natürlich eine Chance, aber... nein.

„Woran denkst du?“, fragte Lyen mit gerunzelter Stirn.

Meine Antwort kam zu hastig und schnell, deshalb sagte ich einfach das, was mir am schnellsten in den Sinn kam. „Ääh... an... Hühner“

Lyen glaubte mir natürlich nicht, doch er nickte langsam. „Aha“

Plötzlich knackte es im Gebüsch und wir beide fuhren herum. Das gesammelte Holz fiel polternd zu Boden, als ich den Bogen spannte und Lyen sein Schwert zog.

Das Rascheln wurde lauter und ein Seitenblick zu Lyen zeigte mir, dass er mit dem Schlimmsten rechnete. Ich legte auf das Gebüsch an, aus dem das Rascheln kam und hätte fast meinen Pfeil abgeschickt, als eine Gestalt heraus sprang. Doch Lyen hielt mich zurück.

„Stop!“

Im letzten Moment änderte ich die Richtung des Geschosses und der Pfeil bohrte sich in den Boden vor mir.

Ich sah in Noras Schreckt geweiteten Augen und atmete auf. Es war nur das kleine Mädchen, kein Monster.

„Alles in Ordnung?“, fragte Lyen besorgt. Nun trat auch Joee aus dem Gebüsch, hastig und mit fahrigen Bewegungen, wie immer.

„W...w...wir müssen zu...rück“, stotterte Joee. „J..jetzt“

„Wieso?!“. Lyen sah Joee verwirrt an.

„D...dort können wir Fenja a...alles entlocken“, meinte Joee.

„Wie denn das?“, hakte Lyen nach und eine Falte bildete sich auf seiner Stirn, die immer kam, wenn er nach dachte.

„D...das Wahrheitsserum“

Warum war ich nur nicht der Einzige mit den guten Ideen?!

 

 

 

 

Protest

14. Kapitel Protest

 

„Hey! Lasst mich los!“, protestierte Fenja.

„Könnte dir so passen“, knurrte Falke und unterdrückte Fenjas Fausthieb locker mit der Hand.

Ich lehnte draußen an einem Baum und beobachtete, wie er und Bär Fenja die Hände fesselten und zu Tonne führten. Also eigentlich schleiften sie sie eher und hievten sie gewaltvoll auf Tonnes Rücken.

Fenja wollte um sich schlagen und rammte dabei Tonne die Hacken in die Seiten. Meine Stute schnaubte panisch und schon aus Reflex stand ich sofort neben ihr, um sie zu beruhigen. Dabei wandte Tonne den Kopf zu mir und Fenja konnte ihr blindes Auge sehen.

„Iih... das ist ja ekelig“, schnaubte sie, doch darauf folgte ein so böser und tödlicher Blick von mir, dass sie den Mund wieder schloss.

Ich war wirklich ratlos. Noch vor ein paar Tagen war sie nett und verständnisvoll gewesen und jetzt...? Anscheinend schlug die Prinzessin doch durch. Es kam mir sowieso unmöglich vor, mit Luxus und Samttaschentüchern aufzuwachsen, ohne eitel und verzogen zu werden.

„Hast du echt keine anderen Freunde außer dieses Pferd?!“. Fenja grinste verächtlich.

„Halt lieber den Mund, außer du willst auch noch Bekanntschaft mit einer äußerst praktischen Erfindung namens Knebel machen“, knurrte Falke und hielt einen Fetzen hoch, der mit etwas Fantasie mal Stoff gewesen sein könnte.

„Das machst du doch eh ni...arh!“

Dieses Mädchen kannte Falke wirklich nicht. Denn der finstere Krieger war eindeutig kein Mann, der seine Drohungen nicht wahr machte.

In den nächsten Stunden setzte Fenja eine Miene auf, die sowohl Falke als auch dem Dryaden Konkurrenz machte. Ich führte Tonne Kopf schüttelnd und Bär hatte Nora auf den Schultern, weil sie sich weigerte, sich hinter die „gruselige Hexe“ zu setzen.

Ich fragte mich, wann sie wohl ihr Gedächtnis wiederfinden würde, und ob sie sich dann wirklich wieder an alles erinnern würde, was vor gefallen war.

Wie viele Gedanken sich wohl über so viele Leben ansammelten? Und wie oft hatte sie wohl ihre Kraft schon frei gesetzt?

Ich versuchte, mir darüber keine Gedanken zu machen und trottete einfach neben Tonne her, obwohl Lynnea sie führte. Ich wollte nicht noch einmal riskieren, dass diese Göre unhöflich zu meinem Pferdchen war. Vielleicht war das albern, aber ich war viel zu stolz auf meine Tonne, als dass ich das zulassen würde. Immerhin war sie auf einem Auge erblindet und ließ sich trotzdem nicht unterkriegen. Außerdem war sie als Einziges von den Pferden zurück gekehrt.

„Was grinst du denn so?“. Bär boxte mich in die Seite und lachte leise.

„Mir geht’s eben gut“, antwortete ich gut gelaunt.

„Das ist schön“, meinte Nora und lächelte. Dann griff sie ins Bärs Mütze und zog daran. „Was ist eigentlich das?!“

„Nennt man Mütze“, brummte Bär.

Erst jetzt fiel mir auf, dass er sie trug. Es war eine Ledermütze mit dicken, Pelz besetzten Ohrenschützern an den Seiten.

„Steht dir“, grinste ich.

„Danke“. Bär deutete eine Verbeugung an, doch als Nora beinahe von seinem Rücken gepurzelt wäre, ließ er es wieder.

Doch Noras Wissensdurst war noch nicht gestillt. „Wozu denn? Du hast doch einen Mantel mit Kapuze!“

„Wo sie Recht hat, hat sie Recht“, stimmte ich zu. „Also, Bär. Weih uns ein, in das ungeklärte Mysterium deiner Mütze“. Dabei stahl sich ein freches Grinsen auf mein Gesicht.

„Ist eben 'ne Mütze“, murmelte Bär unwillig.

„Und was ist da drunter?“, fragte Nora weiter.

„Mein Kopf?“, äffte Bär Nora nach. So langsam wurde das echt seltsam...

Ich runzelte die Stirn. „Seit wann hast du die Mütze denn?“

Vor dem Unwetter hatte er sie noch nicht getragen, das wusste ich sicher, weil ich mich noch ganz genau daran erinnerte, wie der aufkommende Wind seine Glatze nicht beeinträchtigt hatte.

„Hab ich bei den Wildschweinmännern gefunden“, murmelte Bär. „Sie war warm und mir war kalt. Was ist denn dabei?“

„Nichts, nichts“, beschwichtigte ich.

Nora nicht. „Darf ich sie mal aufsetzen?“

„Nein“

„Bitteee“

„Nein“

„Bittebittebitte!“

„Nein“

„Och komm schon...“

„Nein!“

„Du hast ihn gehört“, mischte ich mich ein. „Jetzt lass ihn doch in Frieden“

Nora schwieg beleidigt, doch Bär warf mir einen dankbaren Blick zu.

„Ich frage mich, wieso die nur auf dich hört“, brummte er leise, so dass ich es gerade noch hören konnte. Wenn Lyen mit seiner Vermutung richtig lag, konnte ich das meinen verbesserten Sinnen zuschreiben und das erklärte auch, warum Nora es nicht hörte.

Also stapften wir weiter durch den aufgeweichten Boden, in Richtung Burg. Mir gefiel es gar nicht, schon wieder mit Endrian konfrontiert zu werden und im Moment bezweifelte ich auch, ob ich überhaupt in die Burg hinein kommen würde, nach dem letztem Zusammentreffen mit ihm.

Daran konnte ich jetzt aber auch nichts ändern, also gab ich mich mit meinem Schicksal zufrieden und folgte der Truppe schweigend.

 

Nach etwa einer Woche kam die Burg in Sicht. Fenja, nun wieder von dem Knebel befreit, murmelte ungläubig: „Ihr bringt das jetzt nicht echt, die Prinzessin zu foltern, oder?“

„Wenn wir keine Wahl haben, Schätzchen...“, Falke zwinkerte ihr zu, „...habe ich da keine Hemmungen“

Fenja schüttelte den Kopf und richtete ihren Blick wieder auf die Burg, die inzwischen immer näher rückte. Auch mir behagte der Gedanke nicht, gleich wieder in einen geschlossenen Raum zu gehen. Ich war das immer noch nicht gewöhnt.

Gerade, als ich darüber nachsann, draußen zu schlafen, ging ein Stechen durch meine Brust und mir knickten die Knie ein. Der Schmerz kam so unerwartet, dass ich fast kopfüber in den Matsch gefallen wäre, allerdings konnte ich mich noch mit den Händen abstützen.

„Alles in Ordnung dahinten?“, rief Lyen, doch ich konnte ihm nicht antworten, weil meine Kehle wie ausgedorrt war.

Mit zitternden Fingern tastete ich an meinen Gürtel, wo die Flasche mit Medizin hing und schraubte sie auf. Als ich mir den letzten Inhalt in den Mund kippen wollte, berührte genau ein saurer Tropfen meine Zunge.

„Sag nicht, sie ist leer...“, rief Bär besorgt, der plötzlich an meiner Seite saß.

Ich nickte schwach und zog mich irgendwie auf die Beine. Jedoch musste ich mich beherrschen, nicht ohnmächtig zu werden. Hoffentlich war Sherin, die Glockenfrau noch da, sonst... war ich aufgeschmissen.

„Was ist passiert?“. Lynnea eilte zu uns, als ich auf Bär gestützt wieder zur Truppe humpelte.

„Seine Medizin ist alle“, berichtete Bär kurz die Lage. Lynnea verstand sofort.

„Auf das Pferd mit ihm“

„Nein...“, wehrte ich heiser ab. „Das passt schon. Ich schaffe es noch bis zur Burg“

„Sicher?“, fragte Lynnea besorgt und ich nickte erneut.

„Also gut. Wir müssen uns beeilen. Weiter, Lyen!“

Sie winkte nach vorne und der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Von Falke sah ich nur noch einen verschwommenen Punkt am Horizont, er hielt es anscheinend nicht für nötig, sich um meine Leiden zu kümmern.

Mit jedem Schritt ging es mir schlechter und zum Schluss schaffte ich es nur noch, weiter zu laufen, weil ich es den besorgten Augen von Nora nicht antun konnte, zusammenzubrechen.

Heiße Blitze fuhren durch mein Herz und mit jedem Atemzug drang weniger Luft in meine Lungen, ich hatte das Gefühl, in ein Loch zu atmen. Meine Knie gaben immer wieder nach, doch ich würde mich nicht dazu herunter lassen, Fenja zu bitten, Platz zu machen. Das war unter meiner Würde.

'Du und dein Stolz', hatte Zena einmal zu mir gesagt und gelächelt. 'Irgendwann wird er dir noch den Hals kosten'.

Vielleicht hatte sie damals schon in die Zukunft gesehen und genau gewusst, dass sie Recht hatte. Aber dann hätte ich bestimmt etwas Weiseres wie: 'Denke nicht an deinen Stolz, wenn es darum geht, zu überleben' zu hören bekommen. Das hieß... nein. Ihre Sprüche waren immer viel nachdenklicher und vieldeutiger gewesen.

Ich konnte nicht leugnen, dass ich traurig war, wenn ich an sie dachte. Zena war eindeutig noch nicht fertig mit ihrem Leben gewesen und ich wäre froh gewesen, wenn sie bei diesem Abenteuer an meiner Seite gewesen wäre.

Gewesen, gewesen, gewesen. Ich hing in der Vergangenheit.Aber wo auch sonst? Die Zukunft brachte nur Fragen mit sich, Fragen, die ich nicht beantworten konnte und in der Gegenwart hing ich nun mal halb tot auf Bärs Schulter. Schon klar, warum mir die Vergangenheit da am bequemsten erschien.

Nach einer halben Ewigkeit erreichten wir endlich das Tor zu Endrians Burg. Lyen redete unendlich lange mit dem Wächter und dann irgendwann konnten wir endlich passieren. Falke war auch wieder da, aber das registrierte ich nur mit halbem Auge, weil ich immer noch damit beschäftigt war, auf den Beinen zu bleiben.

Nora sprang von Bärs Schulter und lehnte sich gegen eine Wand, während sie leicht verwirrt das Treiben musterte und immer wieder einen ängstlichen Blick zu mir warf.

Nach einer weiteren halben Ewigkeit verstanden ein paar dämliche Soldaten, wer wir waren und liefen weg.

Nach einer dritten halben Ewigkeit kam endlich irgendjemand und ich konnte getrost umkippen, weil ich nun wusste, dass wir nicht mehr in Gefahr waren und Nora bereits weg war.

'Adieu Gegenwart', dachte ich leicht beschwipst, dann wurde alles schwarz und ich tauchte in einen Zustand, der keine Zeit besaß. Hier gab es weder Vergangenheit, noch Gegenwart, noch Zukunft und das war irgendwie befreiend.

 

Als ich wieder zu mir kam, lag ich in einem wunderbar weichen Bett. Ich fühlte mich so, als hätte ich Jahre geschlafen, meine Glieder waren steif und mein Kopf benebelt, so dass ich ein paar Minuten brauchte, um überhaupt etwas anderes wahr zu nehmen als das Dröhnen in meinen Schläfen.

Langsam bewegte mich meine Hand zu meinem Gesicht und rieb mir die Augen. Dann setzte ich mich noch langsamer auf und sah mich leicht verwirrt um.

Ich war in einem geschlossenem Raum, was mein Herz gleich wieder ein bisschen höher schlagen ließ. Außer mir war niemand zu sehen und auch die Zeit konnte ich nicht ganz klar bestimmen, weil meine Vorhänge geschlossen waren.

Vorsichtig schwang ich meine Beine aus dem Bett und stand auf. Ich trug immer noch meine alten Sachen, doch diese waren auch noch nicht allzu abgenutzt. Ich kämpfte mich auf die Füße und kam schwankend zum Stehen.

Von meinen Schmerzen spürte ich nur noch einen leichten Nachhall, wie ein Echo von einem lauten Brüllen. Ich fühlte mich, als wäre mein Kopf mit Watte oder etwas Ähnlichem gefüllt, also taumelte ich eher zum Fenster, als dass ich ging. Mit einem Ruck zog ich die Vorhänge zur Seite und gleißendes Licht warf mich zurück. Ich kniff die Augen zusammen und hielt meine Hand schützend vor mein Gesicht, doch das verhinderte nicht, dass mir Flecken im Sichtfeld tanzten.

Als ich endlich wieder normal sehen konnte, wandte ich mich erneut zum Fenster. Ungeübt ertastete ich, wo das Glas und wo Luft war, dann lehnte ich mich gegen die durchsichtige Platte und starrte angestrengt nach draußen.

Ich befand mich in Endrians Burg und vor mir erstreckten sich die Ausläufer meines Waldes. Er stand wie ein alter Bekannter da, finster und unbeliebt, doch auf der anderen Seite bedeutete er doch Heimat für mich.

Meine Gefühle waren gemischt, als ich in die dunklen, undurchdringlichen Schatten starrte, die alles verbargen, was hinter ihnen lag. Ich war abhängig von diesem Ort und egal wie sehr es dort nun regnete oder kalt war, meine Erinnerungen lagen alle in ihm. Meine gesamte Vergangenheit...

Ich dachte an Fenja. 'Du weißt gar nicht, was diese Welt für dich bietet...'

Ich schüttelte den Kopf. Nein, vielleicht wusste ich es wirklich nicht. Aber vielleicht wollte ich es auch gar nicht wissen. Immerhin war ich ja kein Weltenwanderer...!

Nachdem ich mir über diese Zusammenhänge klar geworden war, drehte ich mich von meinem Zuhause ab und ging zur Tür.

Nach ein paar Versuchen erinnerte ich mich auch wieder an die Klinkenbenutzung und die Tür schwang auf, ohne dass ich sie einrennen musste. Die Zimmerdecke lag weit über mir und doch fühlte ich mich eingeengt in diesen Gängen.

Den Bildern und Rüstungen würdigte ich keinen Blick, ich wollte nun wissen, wo die Anderen waren und wie lange ich ohnmächtig gewesen war.

Auf halbem Weg überfiel mich plötzlich wieder ein Schwindelgefühl und ich stützte mich kurz auf einer edlen Kommode ab, während ich verzweifelt um Luft kämpfte. Es war nicht der Schmerz, der durch den Fluch ausgelöst wurde, sondern immer noch dieses Echo, das mal lauter und mal leise in mir hallte. Das war besser als der Fluch, aber auch fies.

„Ich hoffe, du übergibst dich nicht, es sei denn du willst den Rest deines Lebens Strafarbeiten verrichten, um für diese Möbelstück aufzukommen“, meinte jemand hinter mir und ich fuhr erschrocken herum.

Vor mir stand Endrian und auf seinem Gesicht lag ein solch abwertender Ausdruck, dass ich mich fast automatisch wie eine niedere Kreatur fühlte.

„Ich hatte das ehrlich gesagt nicht vor...“, antwortete ich ruhig. „Könnt Ihr mir sagen, wo die Anderen sind?“

Endrian zögerte kurz, doch dann meinte er doch: „Wen sucht ihr denn?“

Ich überlegte kurz und antwortete dann schließlich: „Bär“

Eine Augenbraue von Endrian wanderte nach oben. „Wer?“

„Na.. Bär! Der große, breite Krieger... Glatzkopf... Er war mit!“

Endrian schüttelte den Kopf. „Bär... ihr meint wohl Brengor!“

„Wenn ihr so wollt“, meinte ich ungeduldig. „Also...?“

„Ich glaube, er ist bei den Pferden“

Ich nickte kurz und dankbar, dann wandte ich mich von dem Hausherren ab und wanderte durch den Flur zum Pferdestall im Hof, darum bemüht, nicht zu straucheln.

Endrian sagte kein Wort mehr, doch ich spürte seinen Blick wie eine Klinge im Rücken, jederzeit bereit, zu zustechen.

Deshalb war ich umso erleichterter, als ich endlich beim Stall ankam. Bär stand mit dem Rücken zu mir vor der Box von Tonne und beobachtete, wie die rundliche Stute ihr Heu mampfte.

„Bär?“

„Rain! Meine Güte, du bist wieder auf den Beinen!“

Wenige Sekunden später fand ich mich in seinen Armen wieder und rang nach Luft. Husten klopfte ich ihm auf den Rücken. „Ist ja gut! Wie lange war ich denn ohnmächtig?!“

„Zwei Tage, bestimmt“

„Was ist mit den Anderen? Und Fenja? Habt ihr schon was raus bekommen?“

Bär kam nicht dazu, zu antworten, denn genau in diesem Moment ertönten Schritte hinter mir und lenkten meine Aufmerksamkeit auf sich.

Falke kam in den Stall. Ich wollte gerade zu einer Begrüßung ansetzen, da fiel mir sein Gesichtsausdruck auf. Es wäre glatter Selbstmord, ihn jetzt anzusprechen, denn aus seinen Augen sprach blanker Hass und seine Lippen verformten sein Gesicht zu einer grotesken, Wut verzerrten Maske.

Auch Bär schien das zu bemerken, denn er schwieg und sah zu Boden, als Falke an ihm vorbei stapfte. Wir beide sahen ihm hinterher, als er im Gang verschwand und die Tür hinter sich zu schlug.

„Wo führt sie hin?“, fragte ich.

„Wer?“

„Na... die Tür!“

„Achso. Wieder auf den Hof“

„Und wieso ist er dann hier durch gegangen?“

„Vermutlich, damit ihn jemand anspricht und er einen Grund hat, seine Wut auszuleben“, vermutete Bär nachdenklich.

„Was hat er denn?!“

„Das, mein lieber Rain, wirst du wohl nie erfahren, es sei denn, du besitzt den Mut, unseren Herren anzusprechen“

Ich schüttelte den Kopf und wechselte das Thema. „Naja, was ist denn jetzt passiert, während meiner... Abwesenheit?“

„Lyen und Lynnea haben sich seit unserer Ankunft nicht mehr blicken lassen, ich denke, sie feiern noch immer ihr Wiedersehen...“, ein Lächeln stahl sich auf Bärs Gesicht, „...der Dryad hockt den ganzen Tag auf dem Dach und starrt zum Wald, Joee ist völlig fertig und hetzt dauernd durch die Gänge, Falke sieht man kaum noch und Ich... hänge hier so rum“

Tonne gesellte sich zu uns und stupste mich an. Ich strich ihr über die weiche Nase, während ich fragte: „Und Fenja? Ist schon was raus gekommen?“

„Nein. Noch berät man, ob sie wirklich das Elixier benutzen sollen“

„Aber bei mir haben sie doch auch nicht gezögert!“

„Ich weiß es nicht, aber sowohl der Soymen als auch Lyen sollen sich strikt dagegen ausgesprochen haben“

Das war seltsam. Fenja wäre unsere einzige Hoffnung, wenn wir wirklich den Kristall finden wollten.

„Das heißt also, der Hauptmann ist noch immer hier?!“

„Jep. Anscheinend gibt es in letzter Zeit nicht besonders viel zu bekriegen“

„Wieso ist er dann nicht einfach mit gekommen?“

„Auch hier wirst du es wohl nur durch Fragen heraus bekommen“, meinte Bär und klopfte Tonne den Hals, die nun bei ihm nach etwas Essbarem suchte.

Plötzlich wurden die Türen hinter uns krachend aufgerissen und Falke stürzte wieder hinein. Diesmal rückwärts. Er landete auf dem Rücken im Stroh und rappelte sich wieder auf. Mit einer Hand wischte er sich über den, allem Anschein nach blutenden, Mund, dann stürzte er sich wieder nach draußen.

„Was war das?!“, fragte ich verwirrt und starrte auf die zitternde Türangel, das einzige Zeichen von Falke, das zurück geblieben war.

„Ich glaube, jemand hat den Fehler begangen, ihn anzusprechen“, brummte Bär und zuckte mit den Schultern. „Nicht unser Problem, denke ich“

„Und was dann?“

„Wohl eher, dass heute Abend ein Rat einberufen wurde, bei dem angeblich in Sachen Fenja beraten werden soll“

Na wunderbar. Mir war nun schon klar, dass dieser „Rat“ in einer Prügelei enden würde, von welcher Seite auch immer.

„Ach, eine Frage noch“, fiel mir plötzlich ein.

Bär sah auf und wartete auf meine Frage.

„Was ist mit dem Fluch? Ist Sherin noch da?“

„Nein. Die Kleine, Nora, hat einen Mix hin bekommen, der wenigstens in die Nähe von Sherins Saft kommt. Angeblich hat Endrian schon Reiter aus geschickt, die sie holen. Kannst also beruhigt sein“, zwinkerte Bär und klopfte mir auf die Schulter.

„Apropos Nora! Hat sie ihr Gedächtnis wieder gefunden?“

„Nein, ich glaube nicht. Aber sobald das eintritt wird sie sich wohl auf einen ordentlichen Streit mit ihrem Herrn Papa einstellen müssen“

Ich nickte Gedanken verloren und schob Tonnes gieriges Maul von meiner Tasche fort.

 

Den Tag verbrachte ich draußen, obwohl die Wolken dunkel waren und sich weiterer Regen ankündigte. Die meiste Zeit starrte ich schweigend zu meinem Wald herüber und fragte mich, was dort drin wohl los war.

Vielleicht hatten die letzten Überlebenden meines Stammes sich inzwischen den Schwarzen angeschlossen, vielleicht waren sie aber auch einfach getötet worden. Aber von wem? Als Feind blieben schließlich nur zwei Stämme und die Schwarzen wären sicherlich nicht abgeneigt, ein paar neue Mitglieder zu ergattern.

Und die Blauen wohnten am anderen Ende des Waldes, keiner von ihnen würde je auf die Idee kommen, sich in das Territorium zu begeben. Vermutlich hatten sie noch gar nichts davon gehört, dass es nun nur noch zwei Stämme im Wald gab.

Ich seufzte und stützte mein Kinn auf meine Handflächen, während ich mich auf die Balkonbrüstung lehnte. Ich stand oben auf dem Turm, auf dem ich vor ein paar Wochen auch Nora getroffen hatte.

Ich konnte mir nicht helfen, mit dieser wunderschönen Frau verband ich einfach nicht das kleine, anhängliche Mädchen an meinem Ärmel. Das war so abstrakt, dass es einfach nicht in meinen Kopf hinein wollte. Es ging einfach nicht und ich würde es vermutlich erst glauben, wenn ich es selbst gesehen hätte.

 

Am Abend ging ich mit knurrendem Magen, schlechter Laune und dröhnendem Kopf durch die Gänge, um Bär oder jemand Anderen zu suchen. Ich wollte wissen, wo denn dieser ominöse Rat abgehalten wurde, denn das hatte mir noch niemand eröffnet.

Irgendwann, als ich zum dritten Mal an der Rüstung von „Sire Erlenstein“ vorbei kam, stieß ich mit Joee zusammen. Der Heiler wirkte noch verzweifelter als sonst und starrte mich mit riesigen Augen auf.

Ganz langsam wanderte sein Blick zu meiner Brust und ich horchte automatisch auf meinen Herzschlag. Poch-Poch, Poch-Poch... Alles schien in Ordnung.

Joee sah das anscheinend anders, zumindest sah er mich zitternd an und hauchte: „Du trägst IHN in dir“

„Was?!“, fragte ich mit gerunzelter Stirn.

„ER holt dich... Langsam. Aber du trägst ihn in dir“

Ich schüttelte den Kopf und fragte stattdessen: „Weißt du, wo der Rat abgehalten wird?“

Joee nickte, doch dabei wandte er den Blick nicht von meiner Brust ab. „Folg mir“

Genau das tat ich, doch ich fühlte mich wirklich nicht wohl in meiner Haut, unter diesem Blick.

Der Weg schien mir ewig, doch dann kamen wir schließlich doch an. Aus dem Raum stieg mir ein betörender Duft nach gebratenem Fleisch und Wein in die Nase, sodass ich gar nicht schnell genug hinein kommen konnte.

Lyen, Lynnea und Falke saßen bereits am Tisch und sahen gar nicht erst von ihren Tellern auf, als ich hinein kam. Auch Endrian saß am Ende der Tafel und bedeutete mir, mich hinzusetzen und zuzugreifen.

Ein saftiger Schweinebraten, neben Brot und vielen Früchten, die ich nicht kannte, bedeckten den Tisch, außerdem vorzüglicher Wein. Auch davon hatte ich schon einmal gekostet, aber eben nur einmal. Gebratenes Fleisch galt bei mir zu Hause als ein Privileg, dass nur wenige genießen konnten und die Früchte überraschten mich immer wieder mit ihrer Geschmackintensivität.

Als ich eine kleine, grüne Beere von einem Strunk pflückte und die Haut in meinem Mund zerplatzte, breitete sich in meinem gesamtem Hals ein leicht säuerlicher, frischer Geschmack auf, bei einer roten Frucht mit grünen Blättern betöhrte eine schwere Süße meinen Gaumen und eine kleinere, rosane Beere fühlte sich seltsam pelzig und süß und sauer zugleich an.

Überwätigt von diesen Kombinationen bemerkte ich gar nicht, wie der Tisch sich langsam anfüllte und erst, als ich dachte, ich müsste platzen und von meinem Teller aufsah, fiel mir auf, dass wir nun vollzählig waren.

Die Meisten aßen noch, doch Lyen, Endrian und der Hauptmann lehnten mit zufriedenen Gesichtern auf ihren Stühlen und sahen sich um, wie Ich. Falke war auch fertig, doch das fiel mir erst spät auf, weil er das Gesicht auf eine seltsame Weise gesenkt hielt, so dass ich erst dachte, er würde sich seine Speisen ansehen. Während der ganzen Zeit sah er nicht einmal auf.

Von Fenja und Nora war keine Spur zu sehen, doch Lynnea vertrat die weibliche Seite vorzüglich, indem sie sich ordentlich Wein nach schüttete und ausgesprochen ausgelassen wurde. Immer wieder fuhr ihre ein frecher Spruch oder ein Witz über die Lippen, was zur allgemeinen Erheiterung der Runde führte, bis dann schließlich Endrian die Hand hob und alle nach und nach verstummten.

„Ihr wisst, warum wir uns hier treffen?“

„Nö“, kommentierte Lynnea grinsend. „Aber ich bin sicher, gleich schon“

Endrian warf ihr einen vernichtenden Blick zu, doch dann meinte er: „Na gut. Das nehme ich als ja. Und falls doch nicht: Es geht um Prinzessin Fenja und darum, woran sie sich erinnert. Wir haben lange abgestimmt, ob das Wahrheitsserum zum Einsatz kommen soll und haben uns nun geeinigt“

Angespannte Stille machte sich breit und selbst Lynnea schwieg nun.

„Und... wie lautet eure Entscheidung?“, fragte Bär nach einer Weile. Sein Teller war blank gegessen und kein einziger Krümel war mehr übrig.

Endrian sah uns alle der Reihe nach an und jeder erwiderte seinen Blick, außer Falke, der noch immer angestrengt seinen Teller musterte. So langsam wurde das echt seltsam.

„Wir...“, Endrian holte tief Luft, „haben beschlossen, ihr einer letzten Befragung zu unterziehen, aber sollte dann nichts heraus kommen, werden wir es einsetzen“

„Und wann ist diese letzte Befragung?“, fragte Bär weiter.

„Sie war. Heute Morgen“

Ich hielt die Luft an und wieder breitete sich Stille aus.

„Was ist heraus gekommen?“

Falke hatte die Stille gebrochen und nun doch den Kopf gehoben. Als ich sein Gesicht sah, sog ich scharf die Luft ein. Quer über seine rechte Wange zog sich ein langer, angeschwollener Striemen, der eindeutig von einer Peitsche stammen musste.

Der Kratzer sah fies entzündet und blutig aus und ich konnte den Blick einfach nicht davon abwenden, egal, wie sehr ich mich zusammen reißen wollte.

Vorhin, im Pferdestall, da hatte er sich mit jemandem geprügelt. Aber hatte dieser Jemand wirklich eine Peitsche dabei gehabt?! Ich bezweifelte das stark, doch ich fand keine andere Erklärung für seine Verletzung.

Endrian lenkte mich von Falke ab, denn er antwortete dem Krieger: „Sie weigert sich weiterhin, Auskunft zu geben“

„Wann wollt ihr es benutzen?“, fragte nun wieder Bär. Er hatte sich auf den Tisch gelehnt und tat, als hätte er Falkes Gesicht gar nicht bemerkt.

„Noch heute Nacht. Alle, die Interesse an dem Vorgehen haben, sollen sich beim Kerker einfinden“. Endrians Blick traf Meinen, doch ich schüttelte entschieden den Kopf. Das musste ich mir wirklich nicht geben. Ich fand es ohnehin schon unmöglich, dieses Zeug überhaupt zu verwenden, da musste ich nicht auch noch zusehen.

Doch andere schienen mehr als nur interessiert zu sein, Lynnea zum Beispiel nickte sogar fast erfreut. Wahrscheinlich wollte sie der Prinzessin einfach nur eins auswischen und lachend daneben stehen, wenn ihre Sinne vernebelt wurden.

Vielleicht war das ein wenig übertrieben, gut, aber es war nun Mal der erste Gedanke, der mir kam.

Auch Bär schien nicht abgeneigt, er wiegte unentschlossen den Kopf Hin und Her.

„Also gut. Wenn sich alle satt gegessen haben, werden wir nun in den Kerker gehen, und alle Anderen steht es frei, sich im Schloss zu bewegen oder gegebenenfalls schlafen zu gehen“, meinte Endrian und schob seinen Stuhl zurück.

Er erhob sich und wir alle folgten ihm hinaus, jedoch schlossen sich ihm nur Lynnea und Bär an.

„Wo ist Nora?!“, fragte ich Lyen.

„Endrian will nicht, dass du sie siehst. Sie will die ganze Zeit zu dir, weil sie ihren eigenen Vater nicht mehr erkennt. Es wird wohl etwas dauern, bis sie ihre Erinnerung wiederfindet“, antwortete dieser und lächelte schief.

Joee und der Dryad verabschiedeten sich bald und so schritten kurz darauf nur noch Lyen, Falke und Ich durch die Gänge. Keiner sprach den Krieger auf seine Verletzung an und auch sonst hüllten wir uns in Schweigen und hingen unseren eigenen Gedanken nach.

Plötzlich blieb Falke stehen und sah uns an. Seine gesamte Wange war nun feuerrot.

„Ich werde mir was zum Kühlen holen. 'Nacht“, brummte er und drehte sich aprupt um, um in einem der abzweigenden Gänge zu verschwinden.

Ich und Lyen sahen ihm ungläubig hinterher.

„Was der wohl ausheckt...“, meinte ich skeptisch.

„Keine Ahnung“, erwiderte Lyen und wir gingen weiter.

„Weißt du, was passiert ist? Mit seiner Wange, meine Ich?“, fragte ich dann schließlich.

„Nein“. Lyens Antwort kam zu schnell und zu aggressiv, also wusste ich, dass er log.

Trotzdem hakte ich nicht weiter nach, denn irgendwie wusste ich, dass ich auf den selben Granit wie vor ein paar Tagen beißen würde.

Irgendwann gelangten wir zu meiner Zimmertür und ich blieb ebenfalls stehen.

„Gute Nacht“

Lyen nickte mir freundlich zu und wanderte zu seinem Raum, dann klappte eine Tür und es wurde still. Auch ich schloss meine Tür leise hinter mir. Noch immer war mein Kopf schwer und meine Glieder müde, also ließ ich mich aufs Bett sinken und strich Gedanken verloren über die weiche Decke.

Ich würde niemals hier drinnen schlafen können, nicht mit so einer beengenden Decke über den Kopf und Wänden an den Seiten. Mir schien es unmöglich, mit so viel Masse über dem Kopf ruhig zu schlafen, also erhob ich mich nach einigen Minuten wieder und trat hinaus auf den Flur. Alles war still und nichts regte sich, als ich im Kerzenlicht den Gang herunter wanderte und mich zum Turm begab. Oben angelangt stützte ich mich auf die dicke Mauer und stierte hinüber zu meinem Wald. Wie immer sah er von außen genau so schrecklich aus, wie von innen. Die gewaltigen Stämme ragten hoch in den Himmel und die Baumkronen breiteten sich schwarz und unheilvoll über den Boden aus. Ich hörte den Regen prasseln, entfernt und unwirklich, wie in einem schlechtem Traum und rechnete automatisch mit dem kaltem Nass in meinem Nacken. Doch die blieb aus und sah stand ich mit Gänsehaut auf dem Turm und sah in den klaren Sternenhimmel.

Irgendwo tief in mir drin regte sich etwas, ein Verlangen, dass ich nicht ganz zu bestimmen vermochte. Ich hatte so etwas noch nie gespürt, es war wie ein tiefer Schmerz, eine schwere Trauer, die sich auf mein Gemüt legte wie Blei und es in die Tiefe zog, bis ganz hinunter in die bodenlose Tiefe.

Plötzlich nahm ich einen weiteren Schatten wahr. Der Dryad stand neben mir auf der Mauer und auch er sah sehnsüchtig zum Wald hinüber.

„Alles in Ordnung?“, fragte ich ernsthaft besorgt.

„Sie ist so nah“, flüsterte der Dryad. „Und ich kann sie trotzdem nicht erreichen“

Ich nickte langsam und richtete meinen Blick ebenfalls auf das dichte Geäst.

„Was denkst du- werden wir dorthin zurück kehren?“

„Freiwillig oder unfreiwillig... ja“, antwortete der Dryad nach einer Weile und ich wunderte mich, wieso er auf einmal so ruhig war. Vielleicht war es die Entfernung zu seine Tanne, die ihn aggressiv machte.

Ich starrte auf seine zum Teil bemoosten Beine und die dünnen Leinenschuhe aus Borkenrinde, dann sah ich auf meine eigenen Füße. Ich trug das Band der Roten immer noch ums Schienbein und ich würde es nicht ablegen. Noch immer fühlte ich mich meinem Stamm verbunden, auch wenn ich vielleicht der Stamm war, da alle anderen tot waren. Das Tuch war unter meinem Stiefelschacht verborgen, doch heute Nacht band ich es mir kurz unter dem Knie fest. Ich schämte mich nicht für meine Herkunft, im Gegenteil. Ich war stolz, mich nicht unterkriegen zu lassen.

Ich und der Dryad standen noch eine ganze Weile nebeneinander auf dem Turm und starrten zum Wald, dann wurde unsere Einträchtigkeit plötzlich durch polternde Schritte auf der Leiter unter uns unterbrochen.

Bär stürmte nach oben. Auf der Stirn des mächtigen Kriegers stand Schweiß und in seinen Augen herrschte aufgeregte Verzweiflung.

„Was ist passiert?“, fragte ich besorgt.

„Das... Elixier... es ist weg!“

„Was?!“. Der Dryad runzelte die Stirn und sah Bär ungläubig an. „Was soll das heißen, weg?!“

„Jemand muss es gestohlen haben! Jemand, der verhindern will, dass wir an Informationen kommen“, keuchte Bär. „Es ist unauffindbar“

„Was machen die Anderen? Haben sie schon einen neuen Plan gefasst?!“, fragte der Dryad aufgeregt.

„Naja, sie... verdächtigen... jemanden“

„Wen?“, hakte ich nach. In wessen Interessen konnte schon liegen, dass wir nicht voran kamen?

'Im Interesse eines Verräters, der von seinem Auftraggeber einen Haufen Kohle dafür bekommt...', meldete meine innere Stimme und ich konnte nicht verhindern, dass ich sofort an Falke dachte, der sich so seltsam davon gestohlen hatte.

„Dich, Rain“

Erschrocken fuhr ich aus meinen Gedanken. „Wieso sollte ich das tun?!“

Bär schüttelte erschöpft den Kopf. „Das habe ich auch mindestens 10 Mal angemerkt, aber keiner weiß, wer es sonst gewesen sein soll“

„Ich aber...“, knurrte ich. „Und zwar unser allseits geliebter Falke“

 

„Du redest Schwachsinn!“, fuhr Bär mich später auf dem Flur an. „Ihr alle versteht einfach nicht, dass nicht alles, das dunkel ist, gleich etwas Böses im Schilde führt!“

Ich schnaubte. „Das ist ja lächerlich. Warum hat er sich dann bitte vorhin so scheinheilig weg gestohlen?!“

„Vielleicht hat er sich Eis geholt, vielleicht musste er mal, vielleicht hatte er eine Verabredung, womöglich hat er sich auf noch was zu saufen geholt und sich mit Freunden getroffen! Aber das tut gar nichts zur Sache! Du kannst nicht einfach irgendwelche Leute anschuldigen, nur weil sie dir seltsam vorkommen!“

Ich blieb aprupt stehen, so dass Bär beinahe in mich hinein gelaufen wäre. „Bär, jetzt denk doch mal nach! Damals, als Joees Pferd durch gegangen ist, da standen nur Lyen und Falke neben ihm und es nichts passiert, was ein Pony derart verstören könnte! Jemand hat den Wildschweinen von unserer Lage und dem ungefähren Standort von euch erzählt! Er wollte uns auseinander bringen und jetzt will er verhindern, dass wir Informationen bekommen, von der Prinzessin. Was also liegt näher, als das Wahrheitsserum zu klauen?“

Bär stemmte die Fäuste in die Seiten und seine buschigen Augenbrauen formten ein V über seinen sonst so friedlichen Augen. „Aber du vergisst einen Punkt: Warum sollte sich Falke auf so eine Geschichte einlassen, wenn er doch sowieso schon vor belastet ist? Diese Sache ist für ihn viel zu riskant, als dass er Späßchen mit uns treiben könnte!“

Nun war ich dran, mit Stirn runzeln. „Was meinst du mit vorbelastet? Wieso sollte es für ihn riskanter sein als für uns?“

Bär winkte grimmig ab. „Vergiss es. Ich rede zu viel“

Dann drehte er sich auf dem Absatz um und stapfte den Flur hinunter. Die Morgensonne ging auf, doch ich hatte nicht einen Blick für die flammenden Wolken draußen übrig. Ich wollte nun endlich wissen, was hinter der Sache mit Falke steckte.

„Warte, Bär!“, rief ich und hastete ihm hinterher.

Bär blieb stehen und fuhr mich an: „Ich heiße nicht Bär! Ich bin Brengor, in Ordnung?!“

Seine Stimme beinhaltete eine solche Spannung und Impulsivität, dass ich den Kopf einzog und einen Schritt zurück ging. „Bleib ruhig...“

„ICH soll ruhig bleiben?! Rain, du kommst hier gerade ganz eindeutig auf eine schräge Bahn, die mir überhaupt gar nicht gefällt!“

Das war das Letzte, was ich an diesem Morgen von Bär hörte.

 

„Stressiger Tag, was?“

Ich wandte mich von Tonne ab, die zufrieden auf einem Stück Zucker herum kaute, und sah in Lyens Gesicht.

„Das kannst du wohl laut sagen...“

Den ganzen Tag war ich vor Leuten geflohen, die mich zur Rede stellen wollten, außerdem waren meine Kopfschmerzen wieder stärker geworden und ich konnte nicht einschlafen, obwohl ich todmüde war. Lyen schien es ähnlich zu gehen, denn unter seinen Augen lagen tiefe Schatten.

„Rain, ich weiß, du bist inzwischen bestimmt schon total an genervt von dieser Fragerei, aber ich muss es noch ein letztes Mal tun: Hast du etwas mit der Sache zutun?!“

„Nein“, gab ich zurück. Und ja, es nervte mich an. Und wie!

Lyen wiegte den Kopf. „Ich glaube dir“

„Wie ist es in der Burg? Was geht da ab? Hat man schon Spuren gefunden?“, fragte ich und kraulte Tonne unter ihrem Pony.

„Da oben ist der Teufel los“, antwortete Lyen und lehnte sich gegen einen Stützpfeiler. „Jeder verdächtigt jeden und der Rest durchsucht jeden Zentimeter des Schlosses. Ich würde behaupten, es gibt nur zwei Leute in der ganzen Burg, die nicht völlig durchgedreht sind“

„Und die wären?“, fragte ich gähnend und ließ meine Hand zu Tonnes Nase wandern. Ich spürte ihren heißen Atem in meiner Handfläche, als sie schnaubte und streichelte sie sacht.

„Fenja und Falke“, erzählte Lyen weiter. „Unser Prinzesschen freut sich regelmäßig 'nen Ast, wenn jemand an ihrer Zelle vorbei kommt und Falke sitzt mitten im Saal und raucht“

„Soll ich dir was sagen? Ich glaube, er war es“, meinte ich ehrlich. Wenigstens Lyen musste mir doch glauben.

Der Soldat musterte mich lange, dann seufzte er. „Du meinst, weil er gestern so verdächtig verschwunden ist?“

Ich nickte. „Da ist doch irgendetwas faul! Außerdem will mir ja keiner mehr sagen, als dass er vorbelastet ist. Hör mal, du kannst mir sonst was sagen, aber ich weiß, dass dieser Kerl nicht normal ist!“

Lyen nickte langsam. „Es wäre möglich. Aber ich will keiner voreiligen Schlüsse ziehen. Also belass es bitte vorerst dabei, mir von diesem Verdacht zu erzählen. Weiß noch jemand davon?“

„Ja. Bär“, gab ich zu und dachte an die entrüstete Reaktion des Kriegers.

Lyen nickte. „Wir sollten einfach aufhören, wild zu verdächtigen. Wenn jetzt noch ein Verdacht mit reinkommt, bricht das totale Chaos aus. Ich denke, ich werde jetzt schlafen gehen und morgen nochmal darüber nachdenken“

Damit lächelte er mich noch einmal müde an, drehte sich um und verschwand aus dem Stall. Ich sah, wie sehr in das alles anstrengte, der Stress lag auf seinem Gesicht wie ein Schatten.

Ich hätte ebenfalls schlafen sollen, aber ich hatte es bereits mehrmals versucht und war erfolgreich gescheitert. Also lehnte ich mich wieder auf Tonnes Box. Die Stute sah mich träge aus ihrem halb geschlossenem Auge an, als wollte sie sagen, dass es Nacht war und ich gefälligst tun sollte, was ein normaler Mensch zu dieser Zeit tat. Nämlich die Tiere in Ruhe lassen und selbst das Bett hüten.

Ich strich ihr entschuldigend über die Nüstern, dann drehte ich mich um und wanderte die breite Boxengasse in Richtung Tür. Von allen Seiten schlug mir der Geruch nach Pferd und Schweiß entgegen, doch ich wusste nicht, ob ich diesen starken, markanten Geruch mögen sollte oder nicht.

Draußen strahlte mir der Mond ins Gesicht und erneut überfiel mich dieser Schwermut, diese tiefe Traurigkeit. Sie überrumpelte mich gerade zu, so dass ich eine Weile einfach nur dastand und auf den Boden starrte. Ein paar Strohhalme teilten sich ihren Platz mit Pferdehaaren und Brotkrumen auf dem grauen Pflaster. Mein Blick verschob sich etwas und meine Schläfen pochten schmerzhaft, alles was ich wollte, war schlafen. Aber ich blieb stehen und wie von selbst trugen mich meine Beine wieder ins Schloss und in Richtung des Saals. Ich wusste genau, wen ich suchte, ohne mir wirklich Gedanken darüber zu machen.

Um mich herum eilten Bedienstete Hin und Her, doch ich beachtete sie gar nicht, während ich den großen Türen immer näher kam. Sie standen offen, doch der Raum dahinter lag im Schatten, sodass ich noch nicht wusste, ob ich mein Ziel wirklich erreicht hatte.

Ein junger Bursche rempelte mich an und stürmte vor mir in den Saal, aber auch das nahm ich nicht wirklich wahr. Ich wollte nun einfach den Saal erreichen, Falke sehen, die Schuld in seinem Blick lesen, die Schulbewusstheit und die Angst, wenn er bemerkte, dass ich ihn durchschaut hatte.

Auf all das freute ich mich sosehr, dass ich nicht an Lyens Worte dachte. Meine brennenden Augen suchten nach einem Punkt, den ich hinter den Türen ausmachen konnte, doch ich musste erst durch den Türrahmen schreiten, bevor ich die Szene erkannte.

Der Saal war der größte Raum der Burg, seine Decken zogen sich mehrere Mannsgrößen hoch und überdeckten mindestens zwei Stockwerke. Gestützt von grauen Säulen wirkte die Decke gewaltig, ja fast massig und ich wandte meinen Blick schnell wieder von dem Stein ab, bevor ich Platzangst bekam.

Der Boden war mit Teppich ausgelegt, ein schwarzer schlichter Teppich, doch in der Mitte zog sich ein samtroter Läufer durch den Raum, der zu ein paar Treppenstufen führte. Auf der Erhöhung stand ein länglicher Tisch an dem ich sofort Endrian erkannte. Er hatte sein Kinn auf seine Handrücken gestützt und sah einen älteren Herren an, auch er wirkte müde und erschöpft. Mich registrierte er gar nicht, auch Hauptmann Soymen nicht, der an seiner Linken saß. Beide wirkten, als würden sie dem Älteren, den ich nur von hinten sah, eher aus Verzweiflung als aus Willen zuhören, vielleicht erhofften sie sich endlich die Bettruhe nach diesem Gespräch.

Jemand stieß mich von hinten an und erst das riss mich aus meinen Gedanken. Ein Mädchen mit wehendem Rock eilte an mir vorbei und rannte zu einem jungen Soldaten. Die beiden redeten eingehend, dann lief das Mädchen wieder hinaus.

Die Beiden waren nicht die Einzigen, die Gespräche führten, im Gegenteil. Der ganze Saal war erfüllt von einem stetigen Murmeln, dass bis zu den Decken anschwoll und das Gewusel aus Leuten war kaum noch überschaubar. Anscheinend brachen heute Nacht viele das Prinzip des „Nachts ist Schlafenszeit“ Vorsatzes.

In Mitten von diesem Chaos thronte Falke. Im ersten Moment war ich erleichtert, ihn endlich gefunden zu haben, doch dann bereute ich meine Entscheidung. Es war eine dumme Idee gewesen. Was wollte ich denn auch tun? Ich würde ja doch nur dieses Chaos steigern.

Der finstere Krieger lehnte an einer Säule und wirkte wie ein düsterer Fels in all dem Treiben. Sein Blick schweifte über der Menge Hin und Her. Selbst von hier sah ich, dass der Kratzer an seiner Wange noch mehr angeschwollen war. Aber das verlieh ihm eher ein noch geheimnisvolleres Aussehen als dass es seinen Eindruck schmälerte.

Ich wollte gerade umdrehen, da fing ich Falkes Blick auf. Ein paar Sekunden lang maßen wir uns in einem stillen Duell, dann stieß er sich von der Säule ab und schlenderte betont langsam auf mich zu. Aus seinem Gesicht sprach etwas undurchdringliches, etwas, das keine Gefühle zuließ.

Auch ich setzte diese kalte Maske auf und erwiderte seinen Blick ruhig. Kein einziges Mal wurde Falke angerempelt und insgeheim bewunderte ich ihn dafür, so souverän gegen die Strömung anlaufen zu können, ohne ein einziges Mal abzutreiben.

Schließlich hatte er mich erreicht und blieb stehen. Er musterte mich von oben bis unten, abwertend und angewidert. Ich konnte nicht verhindern, dass ich mich mickrig fühlte, schlecht und unwichtig.

„Ich habe gehört, jemand redet schlecht über mich“, meinte Falke. Er sagte es leise, doch seine kühle Stimme stach wie ein Eiszapfen aus dem Gemurmel heraus.

„Tatsächlich?“. Ich blieb ruhig, doch innerlich kochte ich. Hatte Bär tatsächlich gepetzt?!

„Ja. Und ich hab gehört, dass du es gewesen sein sollst“, fuhr Falke fort. Seine Hand wanderte zu seinem Schwertknauf. Es war eine fast unscheinbare Bewegung, doch ich wusste, dass sie eine Todesdrohung für mich bedeutete. Inzwischen schlug die Masse einen breiten Bogen um uns und ich fragte mich, ob sie etwas ahnten.

„So, hast du das“, wiederholte ich und meine Finger tasteten nach meinem Gürtel, in dem mein Messer steckte. Gegen ein Schwert hätte ich keine Chance, doch ich wollte ihm nicht signalisieren, dass ich wehrlos wäre

Falke sah mich an und seine Lippen bewegten sich kaum, als er meinte: „Weißt du, normalerweise mache ich nicht so schöne Sachen mit Leuten, die so etwas tun“

Meine Finger legten sich unmerklich ein wenig fester um den Messergriff, dann blinzelte ich einmal und richtete meinen Blick möglichst ruhig auf sein Gesicht.

„Normalerweise“, wiederholte ich langsam.

Falke machte einen Schritt auf mich zu und ich musste mich beherrschen, nicht aus Reflex zurückzuspringen. Es war wie mit der Beute beim Jagen. Nur leider war noch nicht klar, wer von uns Beiden der Jäger war.

„Weißt du, Rain, ich verstehe nicht, wie du so etwas machen konntest. Das ist hässlich, Gerüchte zu verbreiten, weißt du das nicht?“

Ich hielt seinem blitzendem Blick weiterhin stand, doch mein Kiefer verkrampfte sich vor Anstrengung, während ich mit meiner freien linken Hand eine Faust ballte.

„Aber was soll ich nun tun?“. Mit einer betonten Geste strich Falke sich das Haar aus dem Gesicht und senkte ein wenig den Kopf, damit sein Blick noch finsterer wirkte, als er fort fuhr: „Vielleicht muss man dich umerziehen, Rain. Wie macht man das? Wenn das Kind etwas falsch macht, gibt es eine Strafe. Ich halte das für eine gute Methode. Also fangen wir mit Lektion 1 an!“

Schneller als ich jemals hätte reagieren können holte Falke aus und schlug mir ins Gesicht. Die Wucht war so heftig, dass ich zurück taumelte und gegen eine Säule krachte. Durch meine Nase schoss ein pulsierendes Pochen und meine Schläfen schmerzten wie stumpfe Sägen in meinem Hirn.

Kurz war ich weggetreten, doch ich blieb stehen und als ich mich einigermaßen beisammen hatte, stach Falkes Stimme klar wie Glas aus dem Nebel in meinem Kopf hervor.

„Verbreite niemals Lügen über Leute wie mich! Lektion 2...“

Ich spürte eine Faust in meiner Magengrube und knickte automatisch nach vorne ein, während ich gegen die Übelkeit ankämpfte, die sich in meinem Unterleib breit machte. Hustend rang ich nach Luft und richtete mich wieder auf, aber Falke war schneller.

„Begebe dich danach niemals in die Nähe der Person wie mich! Lektion 3...“

Auf diesen Satz folgte ein so Ohren betäubendes Fiepen in meinem Kopf, dass ich lange brauchte um zu verstehen, dass Falke mir erneut ins Gesicht geschlagen hatte. Taumelnd suchte ich nach Halt in der schwarzen Dunkelheit um mich herum, doch meine Hände griff ins Leere und ich ging keuchend zu Boden.

„...versuche niemals, etwas über Leute heraus zu finden, die gefährlich werden könnten“

Ich hörte Schritte, die sich rasch entfernten, doch nun meldete sich mein Stolz zu Wort und sobald ich wieder etwas sehen konnte, kämpfte ich mich auf die Füße und stolperte Falke hinterher. Eine kleine Menschenmenge hatte sich um uns gebildet, doch der Kreis machte bereitwillig Platz, als ich losrannte. Von hinten stürzte ich mich auf den Krieger und warf ihn damit zu Boden. Dann nagelte ich ihn am Boden fest und verpasste ihm einen heftigen, rechten Kinnhaken. Ich hörte etwas knacken und knurrte: „Lektion 1: Versuche niemals, einen Jäger zu täuschen!“

Darauf folgte ein Tritt in die Seite, aus dem Halbstand, gefolgt von dem Satz: „Lektion 2: Lege dich niemals mit einem Jäger an“

Zum Abschluss zerrte ich ihn wieder auf die Füße und schlug ihm mit so viel Schwung in den Bauch, dass Falke zurück taumelte und gegen eine Säule krachte.

„Lektion 3: Unterschätze niemals deinen Gegner!“

Damit war ich fertig. Ich wischte mir die Hände an der Hose ab, weil unerklärlicher Weise Blut an meinen Finger klebte und wollte mich umdrehen, aber Falke stand schon wieder auf den Füßen.

„Hey, Bastard! War das schon Alles?“

Ich knurrte etwas. Er besaß also die Frechheit mich noch immer als Bastard zu bezeichnen?! Dem würde ich aber mal was erzählen! Ich drehte mich wieder um und stapfte zurück zu Falke.

„Noch nicht genug?“, fragte ich heraus fordernd, wobei ich kaum registrierte, dass ich bereits wieder eine Menschenmenge um uns gebildet hatte.

Falke wischte sich das Blut aus dem Wundwinkel, dass von meinem ersten Schlag stammen musste, dann ballte er die Fäuste.

„Die Frage ist eher, ob du noch was verträgst!“

Ich knurrte eine Kampfansage und ging in Kampfstellung.

„Ich setze 7 Bronzlinge auf den dicken“

Empört sah ich auf, doch ich konnte den Ausrufer in der Menge nicht ausmachen. Na gut, ich war ein bisschen breiter gebaut als die Höheren, aber für meine Verhältnisse war ich fast schon dürr!

„Ich halte 9 dagegen!“, stieg jemand Anderes mit ein.

Falke sah sich gelassen um und wirkte, als wäre das nicht der erste Kampf, in dem um ihn gewettet wird.

„11!“

„13!“

„14!“

Die Wetteinsätze wurden immer höher und stoppten schließlich bei 42 Bronzlingen und einem Strumpfband, den irgendein Witzbold noch drauf setzte. Dann formierten sich die Schaulustigen in einem Kreis um mich und Falke herum. Einmal kurz flog mein Blick zu dem Tisch am Ende des Saals, doch weder Soymen noch Endrian hatten die Aufruhr bemerkt.

Also wandte ich meinen Blick zu Falke, der sich gerade die Jacke auszog, um im Hemd zu kämpfen. Ich hatte sowieso nichts Anderes an, also postierte ich lediglich das Band der Roten ein wenig höher an meinem Oberschenkel und krempelte die Ärmel hoch.

In diesem Moment konnte ich gar nicht richtig denken, weil ich so müde war und mir der Kopf noch immer von Falkes Schlägen schwamm, aber irgendwo in meinen Gedanken kamen doch Lyens Worte auf. 'Wenn jetzt noch ein Verdacht mit reinkommt, bricht das totale Chaos aus'

Es war schon zu spät, das Chaos breitete sich gerade aus.

Falke war nun ebenfalls bereit und ballte die Fäuste. Ich konnte nicht verhindern, dass mir ein Schauer den Rücken herunter lief, als ich seinen entschlossenen, finsteren Blick sah, doch ich behielt meine unbeteiligte Maske auf und brachte mich ebenfalls in Position.

Ein Bursche mit Lederweste begann, anzuzählen, seine Stimme hallte noch lange in meinem Kopf nach.

„Auf die Plätze... Fertig... Los!!“, rief er, dann ging Falke auch schon zum Angriff über.

Mit einem Hechtsprung, der tatsächlich ein wenig an einen Falken erinnerte, stürzte er sich auf mich und ich konnte im letzten Moment einem Kinnhaken entgehen, indem ich mich beherzt zur Seite rollte. Nun saßen wir beide am Boden und es wäre nur eine Frage der Zeit, wer als erstes auf die Beine käme.

Ich gab mein Bestes, doch Falke war schneller und versengte seine Faust in meinem Magen, als ich noch um Gleichgewicht kämpfte. Aber ich schaltete schnell und hielt ihn am Arm fest, als er zurückspringen wollte, um Deckung aufzubauen, dann nutzte ich seinen Schwung, tauschte mit ihm Seiten und schlug in sein Gesicht.

Falkes Kopf wurde zur Seite geschleudert und während er sich noch sammelte, ging ich bereits zum nächsten Angriff über, einem beherzten Seitenhieb, den der Krieger allerdings im letzter Sekunde abwehrte.

Ich spürte kaum noch etwas, während wir so herum wirbelten, immer darauf konzentriert, den eigenen Frust am Gegenüber abzulassen und trotzdem nicht die Deckung zu verlieren. Nur, dass meine Beine schwer wurden und Falke langsam Oberhand gewann. Inzwischen wehrte ich seine Angriffe nur noch ab, kam nicht mehr zum Gegenzug, und mir wurde bewusst, dass ich verlieren würde, wenn nicht gleich ein Wunder geschehen würde.

Ich bereitete mich bereits darauf vor, gleich mit zerschmetterten Knochen am Boden zu liegen, aber das Glück ließ mich nicht allein. Während ich zur Seite sprang um Falkes Faust zu entgehen und einen kläglichen Gegenangriff startete, sah ich über seine schmale Schulter, wie Soymen die Stirn runzelte und auf die Gruppe Schaulustigen um uns herum zeigte. Fast augenblicklich erhob sich Endrian und schnipste mit den Fingern.

Mehr konnte ich vorerst nicht erkennen, weil Falkes Schlag mich mit so einer Wucht ereilte, dass es mir Tränen in die Augen trieb und mir den Atem nahm. Während ich noch darum bemüht war, stehen zu bleiben und Luft zu schöpfen holte Falke bereits wieder aus, diesmal zielte er auf mein Gesicht.

Ich bereitete mich auf einen höllischen Schmerz in meiner Nase vor, doch Falkes Faust wurde urplötzlich vor meinem Gesicht abgestoppt. Seine linke Hand klammerte sich allerdings noch um meinen Kragen, so dass ich nur auf seine, vor Anspannung weißen, Fingerknöchel schielen und versuchen konnte, zu erkennen, wer oder was mich da vor einer gebrochenen Nase bewahrt hatte.

Neben mir stand ein riesiger, breit schultriger Kerl, der Falkes Arm umklammert hielt und ihn kühl musterte. Seine Haut war dunkel und kerbig, sein Oberarm zitterte vor Anspannung, als er und Falke sich in einem Duell maßen, in dem der Einsatz anscheinend meine, noch gerade, Nase war.

Inzwischen war ein zweiter Mann an uns getreten und riss mich von Falke fort, drehte mir die Hände auf den Rücken und zwang mich in die Knie.

Mit einem Mal war es mucksmäuschenstill im Saal und keiner sagte auch nur ein Wort, als Falke von dem schwarzhaarigem Mann ebenfalls zu Boden gerungen wurde.

Nun hallten Schritte den Gang entlang und die Menge wich zurück, ehrfürchtig, wie eine Horde Kinder, die etwas angestellt hatten. Endrian ging langsam, Schritt für Schritt auf uns beide zu und musterte kühl unsere Blut verschmierten Gesichter.

Schnell leckte ich mir über die aufgesprungene Lippe, aber es war schon zu spät.

Zuerst dachte ich, nun gäbe es eine Standpauke, doch Endrian sah uns nur abwertend an, bis er dann schließlich einen einzigen Satz sagte, einen halben, um genau zu sein.

„In den Kerker“

Ich zuckte zusammen. Das war nicht sein Ernst! Auch Falke war leicht blass um die Nasenspitze, auch wenn er verbissen gegen den Griff des Mannes ankämpfte, der ihn festhielt.

Auch Soymen wollte etwas einwenden, aber Endrian brachte ihn mit einem Fingerwink zum Schweigen.

„Worauf wartet ihr noch?“. Seine Stimme klang hoch und hohl, kühl und blass, wie die hohen Säulen, die die Decke hielten wo sie hin gehörte.

Ich wurde wieder auf die Füße gezerrt und egal wie sehr ich mich gegen den eisernen Schultergriff aufbäumte, der Typ hinter mir war einfach zu stark.

Auch Falke ließ das nicht einfach mit sich machen. Er spuckte auf den teuren Teppichboden und brüllte: „Das könnt ihr nicht machen, ihr Schweinekerle! Ich hab alles gemacht, was ihr wolltet! Ihr Hundssöhne, ihr!!“

Ich runzelte die Stirn, hatte aber keine Zeit über seine Worte nachzudenken, weil nun die Türen mit einem Ohren betäubendem Poltern ins Schloss fielen und Soymen und Endrian hinter sich verbargen.

Falke zeterte unverdrossen weiter, beschimpfte sämtliche Adelsketten und Häuser, Aufträge und Anwohner der Burg, sogar ich kam in seinen Schimpfarien vor.

Irgendwann erbarmte sich sein Bewacher und zog ihm mit der flachen Hand eins über den Schädel, sodass dem Krieger die Beine weg sackten und er den Reste des Weges ohnmächtig über den Boden geschleift wurde.

Ich hielt es in Anbetracht von Falke also für das Beste, nicht länger aufzumucken und ließ mich von den beiden Kerlen durch die verlassenen Gänge führen, die eben noch mit Menschen gefüllt gewesen waren.

Irgendwann kamen wir an eine Treppe und hielten an. Noch ehe ich wirklich begriff, was der Mann hinter mir vorhatte, klemmte bereits ein Knebel in meinem Mund und die Außenwelt wurde von einem Tuch verhüllt, das mir um den Kopf gebunden wurde.

Ich stolperte oft, als ich die Treppenstufen hinunter geschoben wurde, doch irgendwann verlor ich den Boden unter meinen Füßen und spürte kräftige Schultern unter meinen Beinen. Wurde ich jetzt schon getragen?! Man konnte zwar viel über mich sagen, aber nicht, dass ich ein Leichtgewicht war, bei meiner kräftigen Statur. Doch dieser Kerl trug mich, als würde ich kaum dem Gewicht einer Feder gleichkommen, mühelos und selbstverständlich.

Während ich spürte, dass wir immer tiefer kamen und hörte, dass die Schritte und die Schleifgeräusche von Falke von den Wänden widerhallten, erfasste mich plötzlich Angst. Was war, wenn ich und Falke gerade alles verspielt hatten, was wir je erreichen konnten, nur durch diese eine, unnötige Prügelei? Was war, wenn ich nun den Rest meines Lebens in diesen Kerkern schmoren musste? Und wie lang war nun überhaupt noch der Rest meines Lebens?!

Plötzlich verlor ich das Gleichgewicht und wurde hart zu Boden geschleudert. Der Druck des Knebel verschwand und sofort befeuchtete Speichel die nun ausgetrockneten Teile meines Mundes. Schließlich wurde auch die Augenbinde abgenommen und während ich noch mit der plötzlichen Helligkeit kämpfte, hörte ich ein Gitter zuknallen und hörte, wie sich Schritte entfernten.

„Hey!“, rief ich, doch mein Mund war zu trocken als dass ich einen richtigen Schrei zu Stande brachte.

Endlich gewöhnten sich meine Augen an die Lichtverhältnisse und ich konnte mich aufrappeln und umsehen. Ich befand mich in einer winzigen Zelle aus Stein, nur eine der vier Wände bestand aus einem Gitter. Es war ziemlich dunkel, nur eine Fackel erhellte einen schmalen Gang, der mich von einer weiteren Zellenwand trennte.

Es roch modrig und in der Ferne tropfte Wasser auf den Stein, die Wände waren teils von Moos überzogen und das Gitter war trotz seiner Stabilität rostig.

Ich rieb mir die Augen und sah mich um, in der anderen Ecke des kleinen Gefängnisses lehnte Falke an der Wand und starrte mich finster an. Er saß auf einem kleinen Haufen Stroh, das auch schon bessere Zeiten gesehen hatte und an einigen Stellen bereits vollkommen verschimmelt war.

Ich beachtete den Krieger nicht, sondern schritt an die Zellenwand. Um einen möglichst guten Überblick zu bekommen lehnte ich mich gegen die Gitterstäbe und ließ meinen Blick um die Ecke schweifen. Anscheinend gab es hier nicht besonders viel einzusperren, denn ich konnte nur zwei Gestalten in den umliegenden Gefängnissen ausmachen.

Vorne links von mir saß eine Gestalt im Schatten und regte sich nicht, vorne rechts lehnte ein Mädchen am Gitter. Ihr Gesicht war dreckig, ihre Haare verfilzt und unter ihren Augen lagen solch tiefe Ringe, dass ich sie kaum wieder erkannt hätte.

Fenja jedoch schien das nicht so zu gehen. Sie musterte mich wohl wissend, bewegte sich jedoch keinen Zentimeter von ihrem Sitzplatz fort. Weder sagte sie etwas, noch ließ sie sich irgendwie anmerken, dass sie mich bemerkt hatte.

Doch ihre Augen verrieten ihr Erstaunen in irgendeiner Weise, weshalb ich mich schnell wieder der anderen Zelle widmete. Doch auch dort regte sich nichts. Ein paar Momente hörte ich einfach nichts außer dem Tropfen des Wassers, dann brach ich die Stille und drehte mich mit scharrenden Sohlen um, um mich an der gegenüberliegenden Wand von Falke nieder zu lassen.

Ich sah auf seinen Strohhaufen und stellte fest, wie kalt der Boden war. Falke musterte erst mich, dann seine Sitzfläche, abschätzend und ein wenig spöttisch. Doch er tat nichts. Anscheinend wollte er es auf ein Flehen meinerseits heraus zögern, deshalb schwieg ich störrisch und winkelte lediglich mein rechtes Bein an, um bequemer zu sitzen.

Dann herrschte wieder Stille und ich bemerkte kaum, wie mir der Kopf schwer wurde und ich in einen unruhigen, hektischen Schlaf sank.

 

Er streckte seine Hand aus und musterte den großen, roten Ring an seinem Finger, den er nun schon so lange trug. Er war alt geworden und wusste, dass es bald zu Ende sein würde. Er spürte bereits, wie etwas in seiner Brust zog, das nicht von dieser Welt war und gab sich selbst nur noch wenig Zeit.

Sein Leben lang hatte er ihn verborgen, den Schlüssel des Fluchs und selbst, nachdem Antropos in andere Länder gegangen war, zur Verwaltung der Ansichten des Königs, hatte er geschwiegen, den Ring still behalten und bewahrt.

Aber nun stand er vor einem großen Rätsel. Wem konnte er dieses wichtige Stück anvertrauen? Wer war bedacht genug, dieses Artefakt zu bewahren?

Vielleicht hätte er es früher sagen sollen, vielleicht hätte man dann noch etwas retten können. Aber nun war es zu spät und er hatte keine Wahl mehr, wohl oder übel musste er den Ring weitergeben, wenn er dieses Schmuckstück nicht mit ins Grab nehmen wollte.

Er strich sich durch das schüttere Haar, wie er es früher schon getan hatte, als sein Haar noch voll und glatt gewesen war. Er hätte es jemandem erzählen sollen. Aber nun konnte er nichts mehr daran ändern.

Sein Blick schweifte zu seinen Ahnentafeln, gefüllt mit unzähligen Namen und suchte nach Jemandem, dem er sagen konnte, was ihm auf dem Herzen lag. Doch niemand schien ihm geeignet. Sie waren doch alle, wie er gewesen war, als junger Mann. Unerfahren und übermütig, in dem Glauben, die Welt bezwingen zu können, wenn sie es nur wollten. Der Ring würde das gesamte Königreich ins Unheil stürzen, wenn er in solche Hände geraten sollte.

Also musterte er widerwillig die Namen der weiblichen Seite. Doch auch dort wollte ihm keiner so recht gefallen.

In Gedanken drehte er den roten Rubin nach innen in seine Handfläche und umschloss ihn mit seiner Faust. Weder Antropos, noch der König hatten je wieder nach dem Ring gefragt, trotzdem war er immer auf der Hut gewesen.

Mit einem Mal spürte er, wie das Ziehen in seiner Brust stärker wurde. Als wollte das Dunkel ihm sagen, dass es Zeit wurde, ihn drängen wollte, eine Entscheidung zufassen.

Also umklammerte er den Ring fester.

„Es ist besser, ich nehme dieses Geheimnis mit ins Grab, als dass er unsere Welt ins Unheil stürzt. So wahr ich...“

Ihm versagte die Stimme und Atemnot überkam ihn, trotzdem blieb er ruhig in seinem Sessel sitzen und wartete darauf, was kommen würde. Denn er wusste, dass er erneut eine Entscheidung getroffen hatte, und diese ausschlaggebend für vieles war.

Und dann starb Janys, still, einsam, ruhig.

 

Ich fuhr hoch und griff mir automatisch an die Brust, in der sich eine eisige Kälte breit gemacht hatte, ein stählernes Ziehen, dass ich noch nie verspürt hatte. Mit aufgerissenen Augen kämpfte ich um Luft und versuchte, mich zu orientieren.

Unter meiner Hand klopfte mein Herz und ich war darüber so erleichtert, dass ich auf seufzte und meine Hand sinken ließ.

Erst jetzt registrierte ich, wo ich war, nämlich immer noch in der Kellerzelle neben Falke. Dieser musterte mich nun mit hoch gezogenen Augenbrauen, als würde er mich für vollkommen verrückt halten, doch das war mir im Moment egal.

Ich war einfach nur glücklich, dass ich im Schlaf nicht mit Janys gestorben war. Janys... schon wieder einer dieses Visionsträume...

Meine Gedanken rasten, als ich an den roten Ring dachte. Es war der selbe gewesen, wie bei meinem ersten Traum und irgendwie wusste ich, dass er der Schlüssel zu meiner Freiheit war.

Antropos, dieser ominöse Dämon, hatte unser Volk in den Wald gebannt und diesen verflucht, und dieser Fluch ruhte auf dem Ring mit dem roten Rubin. Es galt also, an dieses Schmuckstück zu kommen, wenn ich mein Volk befreien wollte.

Falke riss mich aus meinen Gedanken.

„Na, fertig geschnarcht?!“, fragte er und in seine Augen trat ein genervter Ausdruck.

„Ich schnarche gar nicht...“, brummte ich beleidigt.

„Stimmt“, mischte sich jemand ein, der bis dahin geschwiegen hatte. Ich drehte mich um und sah Fenja an. „Glotz nicht so!“, fuhr sie mich an.

„Der glotzt nicht, so guckt er immer“, kommentierte Falke und verschränkte finster die Arme vor der Brust.

„Na warte, du...“. Ich sprang auf, aber in diesem Moment meinte jemand: „Ist das euer Ernst? Ihr seid doch schon in der Zelle, müsst ihr euch sogar hier noch gegenseitig die Köpfe einschlagen?! Beim Henker, anscheinend habt ihr ja gar nichts mehr in der Birne...“

Sowohl ich, als auch Falke wandten die Köpfe in Richtung der Stimme, doch ihr Herr stand im Schatten der anderen Zelle und ich konnte nicht mehr erkennen als eine Silhouette. Der Sprecher war klein und gedrungen, ich konnte weder an der Stimme, noch an der Statur erkennen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Allerdings tippte ich eher auf eine Frau, denn in der Taille wurde die Gestalt sehr schmal.

„Was wollt ihr?“, fragte Falke misstrauisch.

„Ich will vieles, mein Junge, aber vor allem Eines: Hier raus. Und ich denke, dabei können wir einander behilflich sein“

 

 

„Und jetzt?“, fragte Falke mürrisch, nachdem wir endlich das Schloss geknackt hatten und die Eisentür qietschend aufschwang. „Wo sollen wir jetzt hin?!“

„Zu meiner Tür“, kommandierte die Gestalt, die immer noch nicht aus dem Schatten getreten war. „Macht sie auf. Mit den Schlüsseln“

„Welche Schlüssel?“, fragte ich Stirn runzelnd. Unser Schloss war das rostigste gewesen, also hatten wir es mit einem Holzsplitter und viel Geduld aufbekommen. Also nicht Ich. Eher Falke. Ausnahmsweise hatte er nicht gemeckert, sondern sich an die Arbeit gemacht wie ein richtiger Profi. So langsam fragte ich mich wirklich, was er als Krieger schon für Missionen gehabt hatte.

„Die Wache hat einen Bund bei sich“, erklärte die geheimnisvolle Gestalt. „Ihr müsst sie überwältigen und sie klauen“

Ich runzelte die Stirn. „Aber wo ist die Wache denn?“

„Und ihr Bastarde wollt gute Augen haben?!“, fragte Falke genervt. Dann deutete auf das Ende des Ganges. Dort stand mit dem Rücken zu uns ein Mann, der allerdings nicht besonders wach aussah.

„Aaah...“, machte ich. „Die Wache. In Ordnung. Falke?“

Ich drehte mich zu ihm um, doch der Krieger war längst auf dem Weg zu der Wache. Fenja sah nicht einmal auf, sie kickte ein paar Kiesel Hin und Her und tat, als würde sie all das gar nichts angehen.

Ich schüttelte den Kopf und folgte Falke dann lautlos. Die Gestalt sah uns hinterher, sagte allerdings nichts mehr. Zunächst beschränkte ich mich darauf, Falke zuzusehen und hielt mich im Hintergrund.

Der Mann drückte sich an die Wand und pirschte sich so auf eine geschmeidige, raubkatzenartige Weise an die Wache heran. In dem Moment, in dem sie aufschreckte, bekam sie schon einen gewaltigen Schlag auf die Stirn und sackte am Boden zusammen. Routiniert fing Falke den Sturz ab und weitere Sekunden später hielt er plötzlich ein unscheinbares Schlüsselbund in der Hand, das mir gar nicht aufgefallen wäre. Er erstaunte einen immer wieder...

Falke ging lässig an mir vorbei, warf das Schlüsselbund und fing es genau so gelassen wieder auf, dann suchte er mit geübten Fingern den richtigen heraus und schloss die Zelle auf. Ich beobachtete das Alles mehr oder weniger fassungslos. Woher konnte er all das?!

Noch bevor ich mir weitere Gedanken darüber machen konnte, riss mich Fenja aus meinen Gedanken.

„Hey! Nehmt ihr mich auch mit?“. Die Prinzessin lehnte gelangweilt am Gitter und musterte ihre Fingernägel, doch ich sah die Sorge in ihren Augen. Sie hatte Angst. Verständlich.

Mein Blick schweifte zu Falke, doch der spuckte nur verächtlich aus.

„Ihr werdet noch früh genug raus kommen, glaubt mir“, knurrte er dann und hielt der unbekannten Gestalt die Tür auf.

Diese schlüpfte nun leichtfüßig heraus und stand neben uns auf dem Gang. Ihr Gesicht wurde von eine Kapuze verdeckt, aber ich war mir inzwischen ziemlich sicher, es mit einer Frau zu tun zu haben.

„Und... wer seid ihr?“, fragte ich neugierig.

„Das ist nebensächlich. Hauptsache ist, dass wir hier heraus kommen“, meinte die Gestalt nur knapp und dann lief sie auch schon an mir vorbei und steuerte durch den Gang auf die nächste Biegung zu.

Falke folgte ihr einfach ohne ein Wort zu sagen und deshalb entschied ich mich ebenfalls zur Flucht. Ich dachte nicht an Fenja, zumindest redete ich mir das ein. Sie hatte die Papiere verbrannt. Wegen ihr würde ich nun vermutlich sterben.

Ich rechnete die Zeit nach und stellte fest, dass der 1. von den 6 Monaten bereits verstrichen war. 5 Monate und dann würde selbst die Medizin nicht mehr helfen. 5 Monate, in denen ich einen Kristall finden musste, um die Schuld des Königs einzufordern. 5 Monate, um hinter das Geheimnis unseres Waldes zu kommen und den Fluch zu lösen.

5 Monate, um das Abenteuer meines Lebens zu erleben.

 

Zeit

15. Kapitel Zeit

 

„Man scheint euch wirklich nicht im Zaum halten zu können“

Erschrocken fuhr ich herum und sah in das finstere Gesicht von Endrian. Sowohl Falke als auch die Gestalt schienen genau so entsetzt wie ich über das plötzliche Auftauchen des Burgherren.

„Ähm....“, stotterte ich. „Also...“

Falke unterbrach mich. „Wir sind eben nicht wie eure Tiere. Wir lassen uns nicht einfach weg sperren“

Endrian überging Falkes Bemerkung mit hoch gezogenen Augenbrauen und sein Blick blieb an unserer unbekannten Begleiterin hängen.

„Wie ich sehe habt ihr euch auf kriminelle Machenschaften mit Verbrechern eingelassen...“, stellte er fest. „Wachen“

Ich zuckte zusammen, doch jede Reaktion kam zu spät. Kaum eine Sekunde später war unser Begleiterin bereits von kräftigen Männern in Rüstung umstellt und 7 Lanzenschäfte richteten sich auf sie.

Ich sah mich um, doch ich konnte keine Waffen entdecken, die auf mich oder Falke gerichtet waren. Hatte der Burgherr etwa doch ein Herz?!

„Führt sie ab. Wieder ins Verlies. Zu dem anderen Gör“

„Moment mal!“, wollte ich protestieren, doch diesmal unterbrach mich die Gestalt. „Ist schon in Ordnung. Wir sehen uns bestimmt bald wieder, Rain“

Dann schob sie ihre Kapuze zurück. Mir stockte der Atem. Denn vor mir stand niemand Anderes als Nora. Sie war wieder erwachsen und ihre schwarzen Haare umrahmten ihr hübsches, weiches Gesicht wie Rabenfedern, die sie jederzeit fort tragen könnten.

Mir klappte der Mund auf. „Nora...“, meinte Falke, ebenfalls so perplex wie Ich.

Endrian schnaubte. „Worauf wartet ihr?! Sperrt sie weg!“

Sobald Nora außer Sichtweite war und in den Fluren verschwunden war, fuhr ich zu Endrian herum. „Ihr sperrt eure eigene Tochter ein?! Wie abscheulich seid Ihr denn?“

Endrian musterte mich abwertend. „Ich sehe keinen Grund warum, aber ich erkläre es euch trotzdem, Bastard. Nach einer Wiedererschaffung ihres Geistes kann Nora sich teilweise nicht entsinnen, in welchem Leben sie sich befindet und vermischt ihre Existenzen miteinander. Zurzeit hält sie sich noch für eine gefährliche Kopfgeldjägerin und hat bereits ein viertel meiner Besatzung angegriffen.

Tut nicht so, als würdet Ihr irgendetwas über sie wissen, denn das tut Ihr wahrlich nicht“

Darüber musste ich erst einmal schweigen. Nora war Kopfgeldjägerin gewesen?! In einem anderen Leben? Wo war das kleine, verletzliche Mädchen geblieben? Die Kopfschmerzen setzten mir wieder stark zu, doch ich blieb bei meinen Gedankengängen. Wie sollte man das verstehen?

Falke riss mich unsanft aus meinen Überlegungen. „Was ist nun los? Was wollt Ihr von uns? Wieso wird Nora weg gesperrt, aber wir nicht?“

„Nun, ich wollte euch sowieso gerade holen lassen, in der Hoffnung, dass ihr nicht gleich wieder aufeinander los geht“

Mein Blick flog zu Falke, doch in dessen Gesicht regte sich nichts und er sah unbeteiligt zu Endrian.

„Sherin ist soeben eingetroffen und ich dachte, das würde den Bastard freuen. Und mit dir, Falke, habe ich noch etwas zu besprechen“

Ich brauchte eine Weile, um zu verstehen, dass das eine Aufforderung zum Gehen war, also verabschiedete ich mich umso schneller: „In Ordnung, dann... sehen wir uns später“

Ich hegte immer noch Groll auf Falke, den Verräter, doch ich hatte auch Hoffnung auf eine Einsicht des Hauptmanns und Endrian. Vielleicht hätten sie endlich verstanden, dass der finstere Krieger Ursprung des Übels war, das uns verfolgte.

Aber vorerst wollte ich Sherin aufsuchen. Die Glockenfrau befand sich auf dem Hof, wo sie ein kleines Zelt aufgebaut hatte. Noch immer verfolgten mich Fragen über Nora und Falke, aber ich unterdrückte sie mit aller Kraft und blinzelte sie weg wie die Sonne, die wieder vom Himmel strahlte.

Es war ziemlich frisch draußen und es roch stark nach Regen. Außerdem stapfte ich durch Pfützen auf das Zelt zu. Allem Anschein nach war es noch früh am Morgen, was heißen musste, dass ich gestern Abend nach der Gefangennahme eingeschlafen war und dann eine Nacht im Kerker verbracht hatte.

Endlich erreichte ich das Zelt aus violettem, seidenen Stoff und steckte meinen Kopf herein. Der dumpfe Geruch nach Kräutern empfing mich, der von allen Seiten auf mich einströmte und mir sofort zu Kopf stieg.

Getrocknete Pflanzen hingen überall von der Ecke und hinter diesem Vorhang aus Kräutern saß Sherin auf einem kleinen Kissen. Sie saß im Schneidersatz und ihre Augen waren geschlossen, in den Händen hielt sie eine kleine, seltsame Flöte. Um ihre Schultern lag wieder das Glockentuch und das leise Klingeln vermischte sich mit dem Luftzug der Flöte. Kein Ton drang aus dem Rohr, nur die Tonlage der Luft veränderte sich, je nachdem, welche Finger sie hob oder senkte.

Als ich einen Schritt hinein machte, setzte sie die Flöte von den Lippen und murmelte: „Setz dich, Rain“, wobei sie allerdings nicht die Augen öffnete.

Ich gehorchte ihr ohne ein Wort, denn Sherin war die, von der mein Leben abhing. Niemand konnte die Medizin mixen, wenn nicht sie, die Glockenfrau.

„Wie geht es dir?“, fragte sie leise, mit knarrender Stimme. Während sie nach meiner Hand griff und mit der Handfläche nach oben drehte. Ich runzelte die Stirn, antwortete ihr aber.

„Nicht sonderlich. Ich habe Kopfschmerzen und meine Knochen sind auch nicht mehr die Selben..“, berichtete ich brav von meinen Leiden.

„Nicht körperlich. Das sehe ich selbst“, erwiderte Sherin und begann, mit ihren Fingern meine Handlinien nachzufahren. An ihren Fingern haftete leichter, rosa Staub, der sich sofort auf meiner Hand absetzte und prickelnde Frische hinterließ.

Ich atmete tief durch. „Was möchtest du dann wissen?“, fragte ich, während die Kopfschmerzen langsam abklangen.

„Du erinnerst dich viel“, stellte Sherin fest, während sie meinen Hemdsärmel hoch schob und begann, meine Handgelenke zu betasten. Noch immer waren ihre Augen geschlossen. „An alte Zeiten. Du verspürst Unsicherheit, aber auch Entschlossenheit. Du weißt nicht, was richtig ist“

Ich sah sie erstaunt an. Woher wusste sie all das?! Aber vermutlich war es ziemlich offensichtlich, was ich empfand.

Ich wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, da legte Sherin die Hand auf die Lippen und griff nach meiner anderen Hand.

Nachdenklich betrachtete ich sie ebenfalls. Meine Finger, meine Nägel, meine Haut. Sie sahen abgenutzt aus, stark und robust, mit Narben übersaht. Sie erinnerten mich an die scharfen Zähne der Waldbewohner. Aber aus Fehlern lernte man bekanntlich am Besten und so war ich zum Schluss ein wahrer Meister des Waldes gewesen. Niemand hatte mich kommen sehen, niemand hatte mich gehen sehen. Ich hinterließ keine Spur, fand aber jede. Ich wurde nie erwischt, sah aber alles.

'Wie ein Wolf', hatten sie gesagt. 'Ganz wie ein Wolf'

Ich bemerkte wie in Trance, dass Sherin meine Hände mit weiteren Kräutern einrieb, doch es interessierte mich nicht wirklich. Ich versank ganz in Gedankengängen, die ich noch nie betreten hatte. Die Welt aus einer anderen Sichtweise.

Ich spürte den Boden unter meinen Füßen weicher, bedachter, als je zuvor. Ich fühlte die Kälte auf meinen Schultern lasten wie ein riesiger Stein, aber ich war leichtfüßiger wie je zuvor. Die Welt wirkte riesig, von hier unten und trotzdem fühlte ich mich nicht klein. Eher schneller, gewitzter, gefürchteter.

Im Einklang mit dem Wald streifte ich von Strauch zu Strauch, der Regen wurde von meinem dichten Pelz abgehalten und kein Hauch Furcht erreichte mich je. Ich war stark. Ich war ein Jäger. Und trotzdem nicht unbedacht. Die Bäume boten mir den Schutz, den ich brauchte und trotzdem war ich für mich selber mehr Sicherheit als genug.

Ich roch jedes Tier, jedes Wesen, das je hier gewesen war. Ich spürte, wie die Welt sich um mich verzog, wie ein einziges Gemisch aus Empfindungen und Instinkten, denen ich folgte. Ich musste mich nicht konzentrieren, ich lief wie von alleine durch den Wald und folgte dem Ruf der Natur.

Ganz langsam schlief ich über diesen Gedanken ein, über den neuen Gefühlen und Empfindungen. Und plötzlich war ich wieder da. Stärker, frischer, erholter als vorher. Verwundert setzte ich mich auf. Vor mir saß noch immer Sherin, doch nun hatte sie ihre Augen auf und beschmierte ein Stück Brot mit einem dunkelgrünen Mus. Auf einmal bemerkte ich, wie hungrig ich war. Noch immer war es mir ein Rätsel, was sie mit mir angestellt hatte.

Ohne Worte reichte sie mir das Brot und ich verschlang es stumm. Obwohl es nur ein kleines Scheibchen gewesen war, fühlte ich mich danach wie nach einem Festessen.

„Was war das?“, fragte ich, nachdem ich auch noch einen Schluck warmen Tee von ihr bekommen hatte.

„Tannenzapfenmus mit Vollkornbrot“, meinte Sherin lächelnd und begann, mit einem kleinen Mörser Kräuter zu zermahlen. Sie rochen frisch und erholsam.

„Nein, nicht das“, erwiderte ich ungeduldig. „Dieser... Zauber vorhin!“

„Zauber? Nein, ich kenne keine Zauber“, wehrte Sherin ab und führte die durchgängige Bewegung des mörserns weiter durch.

„Aber das eben, dieses... Träumen!“, rief ich hibbelig. „Was war das?!“

„Ich habe dir lediglich die Welt aus einer anderen Sichtweise gezeigt“, erwiderte Sherin.

„War es die Zukunft?“, fragte ich leise.

„Nein, Rain. Es ist die Gegenwart“, widersprach mir Sherin ruhig und sah lächelnd zu mir auf. „Aber vielleicht auch nicht“

Ich runzelte verwirrt die Stirn. „Aber... aber ich bin doch hier und nicht im Wald!“

„Habe ich vom Jetzt gesprochen?!“, fragte Sherin.

„Nein, aber von der Gegenwart. Das ist das Selbe“, hielt ich dagegen.

„Nein, ist es nicht“, erklärte Sherin leise. „Das Jetzt ist das Jetzt. Das, was wir nun tun, das, was unsere Entscheidungen beeinflusst haben. Das Jetzt ist die Situation, die ist“

„Aber... wo liegt der Unterschied?“, fragte ich weiter.

„Es gibt andere Varianten der Gegenwart. Das Jetzt ist lediglich das Produkt unserer Taten. Die Gegenwart jedoch kann alles sein. Es gibt unendlich viele Gegenwarten auf dieser Welt, nicht nur deine, Rain. Jedes Wesen auf dieser Welt hat unzählige, aber wir können immer nur ein Jetzt leben“

„Willst du mir sagen... dass ich gerade mein Leben gesehen habe, wie mein Jetzt aussehen könnte, wenn ich mich anders entschieden hätte?“

„Oder wenn sie jemand Anderes anders entschieden hätte“, stimmte Sherin zu und nickte. „Ich weiß nicht, was du gesehen hast, aber vielleicht gibt dir das zu denken“

Danach schwiegen wir beide eine Weile. Ich dachte über das Gesehene nach. Ich war ein Tier gewesen. Ein Tier. In meinem Wald. Die Sagen meines Volkes kamen mir wieder in den Sinn. Der Kreis der ewigen Wiedergeburt... Das bedeutete, ich könnte jetzt tot sein. Beziehungsweise ein Tier, ohne jegliche Erinnerung an mein früheres Leben.

Ich schüttelte den Kopf und plötzlich fiel mir auf, dass ich keine Kopfschmerzen mehr hatte. Auch so fühlte ich mich seltsam erholt und kein Echo der Schmerzen verfolgte mich.

„Danke“, meinte ich leise.

„Wofür?“, fragte Sherin verwundert.

„Dafür, dass du mir gezeigt hast, dass ich mich richtig entschieden habe“, erwiderte ich und plötzlich musste ich auch lächeln. In mir wuchs Sicherheit, wie ich sie lange nicht mehr gespürt hatte. Ich hatte alles richtig gemacht. Richtig gemacht.

„Wenn die Schmerzen wieder kommen, komm zurück! Bis dahin ist dein Trank fertig!“, rief Sherin mir lachend hinterher, als ich leichtfüßig aus ihrem Zelt schlüpfte. Draußen regnete es und keine Menschenseele ließ sich hier blicken.

Aber ich fühlte mich so sehr befreit, dass mich nicht einmal die Kälte störte. Ich stellte mich einfach auf den Hof, streckte das Gesicht in den Himmel und breitete die Arme aus.

Der Regen prasselte auf mich ein, doch ich genoss das vertraute Gefühl der Nässe auf meiner Haut und lächelte versonnen. Ich würde das richtige tun. Und wenn nicht, dann war es auch egal. Denn es zählte nicht, ob ich starb oder nicht. Ich würde wiederkommen. Als was auch immer.

Nach einer Weile bekam ich genug und schlüpfte schnell durch die Tür zum Stall. In der Box stand Tonne und schnaubte schläfrig, als ich auf sie zuging. Der Regen klang hohl auf dem Dach und an einigen Stellen tropfte Wasser durch die Ziegel.

„Naa?“, fragte ich grinsend und zog ein bisschen aufgeweichten Zucker aus meiner Jackentasche. Tonne schnaubte nun schon erfreuter und schleckte mir die klebrigen Überreste aus der Hand. Ihr fehlendes Auge beeinträchtigte sie inzwischen kaum noch und wenn man es nicht wusste, konnte man annehmen, sie würde es einfach nicht richtig auf bekommen. Die Wunde war hervorragend verheilt.

Jetzt gerade ging es mir so gut wie schon lange nicht mehr. Das einzige, was mir ein Dorn im Auge war, waren Falke, Nora und Fenja.

Um meine Gedanken zu sortieren, begann ich erneut, über die Drei nachzudenken.

Falke. Ich war mir so sicher, dass er unser Vorhaben stürzen wollte... wieso sah es bloß keiner, außer mir?!

Nora. Es tat mir so Leid, wie ihr Vater mit ihr umsprang... als wäre sie ein Tier, dass nur richtig dressiert werden müsste...

Fenja. Sie wusste etwas, das wir brauchten. Das ich brauchte. Und zwar dringend!

Und da waren wir schon beim vierten Punkt: Dem Serum. Solange wir es nicht in den Händen hielten, würden wir nie etwas aus Fenja heraus bekommen.

Ich schüttelte den Kopf und schon war sie wieder dahin, die gute Laune. Tonne stupste mich an und schnaubte leise, dann wandte sie sich ihrem Heu zu und begann, die einzelnen Halme mampfend zu vernichten. Ihre ruhige, gelassene Art brachte mich zum Lächeln und ich klopfte ihr den Hals.

„Wir sehen uns später, meine Gute“

Ja, ich hatte sie lieb. Da konnte ich leugnen, soviel ich wollte, Tonne war einfach ein Schatz. Langsam schlenderte ich zurück auf den Hof. Aus Sherins Zelt waberten immer noch wohltuende Gerüche, doch ich steuerte nun zurück zum Haupthaus.

Eigentlich wollte ich Lyen suchen, um ihn zu fragen, ob es schon Fortschritte bei der Suche nach dem Serum gab. Aber als ich durch den langen Flur schritt, hörte ich plötzlich einen lang gezogenen Schrei.

Erschrocken hielt ich inne, doch die wenigen Leute auf dem Gang schienen gar nichts gehört zu haben. Zugegeben, er war sehr leise gewesen, aber ich hatte ihn gehört. Da ich aber nichts weiter wahr nahm, ließ ich mich resignierend auf einer Bank nieder.

Ich beobachtete, wie Leute an mir vorbei eilten, eine Truppe kichernder Mägde, die einen gut aussehenden Ritter anhimmelten, geschäftige Gelehrte in langen Mänteln und Kinder, die Essen und Verpflegung für die Arbeitenden brachten.

Nach einer Weile leerte sich der Flur und der Trubel des Tages verhallte in leisen Echos und schließlich wurde es ganz still. Plötzlich stieß jemand eine Tür auf. Ich erschreckte mich so sehr, dass ich zusammen fuhr und mein Herz einen Satz machte.

Stirn runzelnd lehnte ich mich nach vorne, um den Flur hinunter sehen zu können. Was ich sah, verschlug mir den Atem.

Zwei kräftige, finstere Männer, schleifte einen anderen Mann quer über den Flur. Der Dritte blutete stark und zog eine kleine Spur hinter sich her, sein Gesicht war von einem Striemen verunstaltet...

„Falke!“, hauchte ich erschrocken, doch niemand hörte mich.

Der Krieger kämpfte sichtlich mit der Ohnmacht, immer wieder blinzelte er träge und seine Beine trugen ihn anscheinend auch nicht mehr.

So schnell die Drei gekommen waren, so schnell verschwanden sie auch wieder in einer Tür. Und ich blieb fassungslos sitzen und starrte die Tür an, hinter der sie verschwunden waren. Und in meinem Kopf schwirrten die Gedanken nur so umher.

Vor allem eine Frage drängte sich in mir auf.

Wer war Falke?!

Lyen riss mich aus meinen Gedanken. Seufzend ließ er sich neben mich auf die Messingbank fallen und brummte: „Was für ein Tag...“

Ich nickte zustimmend und musterte den jungen Soldaten. Er hatte tiefe Augenringe und sein Haar war völlig verstrubbelt, so als hätte er sich heute mehrmals nervös hindurch gefahren.

„Wo hast du gesteckt?“, fragte Lyen nun und erwiderte meinen abschätzenden Blick. „Man konnte dich nirgends finden...“

Ich nickte. „Habe geschlafen, war bei Sherin“, erzählte ich dann knapp. Den Kerker erwähnte ich nicht, einerseits, weil es mir peinlich war, andererseits, weil ich ihn nicht noch mehr belasten wollte.

Lyen nickte ebenfalls. „Achso...“

„Lyen?“, fragte ich gerade heraus.

„Ja?“, fragte Lyen zurück und gähnte.

„Wer ist Falke?“

Lyen seufzte wehmütig. „Du willst es also immer noch wissen?“

Ich nickte entschlossen. „Immer mehr!“

„Na gut. Ich denke, in nächster Zeit hättest du es sowieso erfahren, weil sich die meisten Verdächtigungen, neben dir, auch auf Falke beziehen. Eigentlich dachte ich, ich würde heute Abend ein bisschen früher ins Bett gehen können, aber gut...“, redete Lyen und gähnte erneut.

Ich konnte mein Glück noch gar nicht fassen! Endlich hatte ich ihn herum bekommen, mir zu erklären, wer Falke war! Endlich würde wenigstens ein bisschen Ordnung in meine Gedanken gebracht werden...

Gespannt setzt ich mich etwas gerader, während Lyen sich auf die Bank flezte, als würde er jeden Moment einschlafen.

„Falke ist ein...“

„Lyen! Endlich finde ich dich!“

Verärgert drehte ich mich um und sah Lynnea, die eilenden Schrittes auf mich und Lyen zu kam. „Stell dir vor, wir haben das Serum!“

„Was?!“

Lyen sprang auf und lief ihr entgegen. Mich hatte er völlig vergessen. „Das ist ja großartig! Wo habt ihr es gefunden?!“

„Nicht gefunden. Wir haben ein Neues“, erzählte Lynnea aufgeregt und ließ sich neben mich auf die Bank fallen. „Ein benachbarter Baron kann einen winzigen Anteil abtreten und es ist gerade angekommen!“

Lyen lächelte erleichtert. „Dann kann ich jetzt ja endlich schlafen gehen... Rain, wir sehen uns morgen früh“

„Hey, Moment mal!“, rief ich, doch Lyen war schon aufgestanden und im nächsten Gang verschwunden.

„Mach dir nichts draus...“, murmelte Lynnea und steckte sich eine Nuss in den Mund, die sie aus ihrer Tasche fischte. „Der ist einfach zu müde, um sich richtig zu freuen“

Ich sagte nicht, dass es mir um etwas anderes ging, sondern schwieg frustriert. Jetzt war ich so kurz davor gewesen...

„Willst du auch eine?“, fragte Lynnea und hielt mir eine Walnuss hin.

Ich schüttelte den Kopf. Als ich das letzte Mal so ein Teil probiert hatte, hatte ich furchtbaren Ausschlag am Hals bekommen, der gejuckt hatte, wie sonst was. Auch sonst bekam mir das Essen nicht besonders gut, wenn ich nicht höllisch aufpasste, verdarb ich mir andauernd den Magen mit irgendwelchen exotischen Früchten, die einfach zu verlockend aussahen, um zu widerstehen.

Plötzlich tauchte Bär am Ende des Ganges auf.

„Rain! Meine Güte, wo hast du bloß gesteckt?!“, brüllte er und seine polternde Stimme hallte von den hohen Wänden wieder, als er auf mich zu rannte. Nach wenigen Sekunden war er bei uns angekommen und quetschte sich zwischen mich und Lynnea. Er nahm eine Nuss an und so hörte ich die ganze Zeit das Krachen der Nuss zwischen seinen Zähnen, während er mich zutextete.

„Rain, dieser Tag war echt anstrengend! Also heute Morgen, da waren du und Falke plötzlich weg und alle dachten schon, ihr wärt zusammen abgehauen, mit dem Serum, aber dann kam Endrian und meinte, er hätte euch einen Auftrag gegeben, weshalb ihr nicht könnt, und....“

Ab da schaltete ich ab. Endrian hatte vermutlich nur für sein eigenes Ansehen gelogen. Immerhin hatte er mich und Falke einfach eingesperrt, das war nicht sehr vorteilhaft, wenn er als Unterstützer der königlichen Mission gelten wollte...

Irgendwann endete Bärs Redeschwall und er schloss mit einer Frage.

„Was war das denn nun für eine Mission?“. Dabei steckte er sich die nächste Nuss in den Mund.

Nun waren Lynneas Taschen leer und sie erhob sich.

„Ich verbreite dann mal die freudige Nachricht, dass wir ab morgen die Prinzessin befragen können“, grinste sie und verschwand ebenfalls.

Ich sah ihr hinterher und wusste, dass wir nun auf dem richtigen Weg waren, trotzdem beschäftigte mich die Frage, wer der Dieb des Serums war, immer noch.

„Rain?!“, fragte Bär erneut. „Hörst du mir zu?“

„Was?!“, fragte ich verwirrt. „Ach... achso, ja. Wir sollten... Kräuter für Sherin suchen“. Was Besseres war mir auf die schnelle einfach nicht eingefallen. Aber Bär kaufte mir die Geschichte allen Ernstes ab und lachte.

„Achso, na dann ist ja gut. Ich dachte schon, ihr hättet wirklich irgendetwas angestellt...“

'Wenn du wüsstest...', dachte ich still für mich und wieder dachte ich an Falke. Wenn ich mich nicht irrte, sah mir das nach übelster Folter aus. Aber wieso? Was wollte Endrian von Falke? Und vor allem: wer war Falke denn nun?!

„Du, Rain...?“, fragte Bär und stieß mich an.

„Hm?“, fragte ich abwesend.

„Weißt du, was das bedeutet, dass wir das Serum haben?“

„Ich glaube schon, aber... sag du es mir“. Nun war ich doch aufmerksam geworden.

„Wir sind auf dem richtigen Weg“, meinte Bär und lächelte aufmunternd. „Du schaust so unentschlossen, aber es wird bestimmt alles gut!“

Ich lächelte dankbar und hob meinen Kopf. „Bestimmt“, bestätigte ich dann.

Dann erhob auch Bär sich. „Wir sehen uns morgen...“, gähnte der stämmige Krieger, Dann drehte er sich um und verschwand in einem der unzähligen Gänge.

Ich sah ihm stumm hinterher, wie ich es vorhin auch bei Lynnea getan hatte, doch ich blieb sitzen. Mit der Zeit war es still im Saal geworden und ich hörte nur Hin und Wieder den Nachhall von verirrten Schritten in der Nacht, sonst nichts.

Die Kerzen flackerten und warfen düstere Schatten auf die Gemälde, doch ich beachtete das nicht. Mich zog es nur noch zu einem Ort. Nach Hause.

 

„Hey, Rain! Aufwachen!“

Erschrocken fuhr ich hoch und sah mich um. Ich hockte noch immer auf der Bank im Saal, nur dass nun Licht durch die Fenster schien und vor mir Bär stand. Er grinste fröhlich und rüttelte erneut an meiner Schulter.

„Ein neuer Tag bricht an! Heute werden wir dem Ziel einen Schritt näher kommen!“

Ich brummte etwas, war aber immerhin wach. Nachdem ich mich ausgiebig gestreckt hatte, erhob ich mich und schlenderte gemeinsam mit Bär durch die Flure. Unterwegs aß ich das Gebäck, das er mir mit gebracht hatte und sah nach draußen. In der Ferne ragten die Baumspitzen des Waldes auf und irgendwie empfand ich Sehnsucht nach den mir bekannten Pfaden.

Draußen roch es nach Sommer und durch den Regen, der letzte Nacht eingesetzt hatte, hing ein frischer und zugleich süßer Duft in der Luft. Ich wusste sofort, dass es heute noch sehr warm werden würde.

Bär redete unentwegt, doch ich hörte ihm fast gar nicht zu, sondern folgte ihm nur. Ich hatte mich nun doch dazu entschlossen, bei Fenjas Verhörung dabei zu sein. Ich wollte wissen, was sie wusste und zwar persönlich. Denn das konnte mir keiner mehr nehmen.

 

Im Kerker war es finster wie immer und vor Fenjas Zelle hatte sich bereits eine kleine Menschenmenge gebildet. Unauffällig hielt ich nach Nora Ausschau, doch die war nicht aufzufinden.

Lynnea und der Hauptmann waren ebenfalls da, genau so Endrian, der auch einem Stuhl in der Mitte saß und spöttisch zu Fenja lächelte, die wie ein verängstigtes Tier in die Ecke gedrängt worden war. So saß sie da, zusammen gekauert, unruhig, zitternd.

Ich verspürte leichtes Mitleid mit ihr, das konnte ich einfach nicht unterdrücken. Aber noch bevor ich irgendetwas machen konnte, rief Endrian bereits: „Ruhe bitte!“

Augenblicklich verstummte das Gemurmel, das bis eben noch die Gänge erschallt hatte und ich stellte mich schnell neben Lynnea. Bär folgte mir und zu dritt verfolgten wir gebannt, wie ein Mann von vier Soldaten bewacht, in den Käfig schritt und ein Fläschchen aus der Tasche holte.

Die folgenden Szenen waren nicht schön und ich hoffte, ich könnte sie für immer vergessen. Fenja war nicht willig, zu gehorchen und so brauchte es einige Prozeduren, bis sie sich auf den Stuhl fesseln ließ.

Sie machten es ähnlich wie bei mir, rammten ihr einfach den Flaschenhals zwischen die Zähne und sie schluckte aus Reflex. Mir wurde schlecht, als ich sah, wie Fenja sichtbar mit sich selbst kämpfte. Der Einsatz war ihre Kontrolle über ihre Stimme und Gedanken.

Doch schon bald sackte sie kraftlos auf dem Stuhl zusammen und redete.

Ich verstand nicht besonders viel, aber es waren wohl vor Allem Namen und Orte. Doch ein kleiner Mann schrieb alles eifrig mit, während Endrian mit leiser, bedrohlicher Stimme dafür sorgte, dass Fenja weiter sprach.

Irgendwann ließ die Wirkung des Mittels nach und die Prinzessin stockte immer wieder, zuckte unruhig mit dem Kopf oder verhaspelte sich in ihren Worten. Gänsehaut kroch mir über die Arme und Lynnea bemerkte das sofort.

„Entschuldige nochmal, Rain, wegen damals, aber ich hatte keine Wahl...“, meinte sie Schuld bewusst und obwohl ich genau wusste, wie sehr sie das spielte, nickte ich nur kurz.

„Passt schon“

Endrian wusste wohl genug, denn er ließ sich nach draußen eskortieren. Nach und nach zog die Truppe ab, nur der Hauptmann warf ein paar Blicke länger auf die Prinzessin, die zitternd und stotternd auf ihrem Stuhl hing, bevor er den Anderen folgte.

Ich trat näher an das Gitter und nun konnte ich ihre konfusen Sätze verstehen.

„Ich... ich liebe ihn... Jolomeas... Jolomeas... er ist eine Hexe, ich weiß... aber er hat mich verraten... ich liebe ihn... liebe ihn... Gänseblümchen“

Plötzlich wurde mir bewusst, wovon Fenja hier redete. Der Mann, der damals mit ihr in der Hütte gewesen war, derjenige, der gesagt hatte, er hätte nichts mit der Sache zu tun, er war ihr Geliebter.

Schnell machte ich einen Schritt zurück zu Lynnea und Bär. Eigentlich wollte ich davon gar nichts wissen...!

„Wovon redet sie d...“

„Nichts!“, erwiderte ich etwas zu schnell. „Nur irgendetwas von... Blumen...“

Bär sah mich irritiert an, sagte aber nichts mehr. Nun machte Lynnea einen Schritt auf Fenja zu, aber die gewann anscheinend langsam wieder an Selbstkontrolle.

„Ihr Mistkerle“, rief sie aufgebracht und sprang auf. Gleich darauf ging sie wieder auf die Knie, kroch zum Gitter und umfasste die Stäbe mit ihren schmutzigen Fingern. „Ihr verdammten Mistkerle!“

Dabei traten ihr Tränen in die Augen und rollten langsam über ihre Wangen.

Bär und ich beobachteten sie gleichermaßen betroffen, doch Lynnea schüttelte nur abfällig den Kopf.

„Wieso musstest du es so weit kommen lassen?! Ein bisschen mehr Kooperation und schon wäre das ganze einfacher geworden!“. Dabei spuckte sie verächtlich aus und wandte sich zum Gehen.

„Rain, Bär, wir sehen uns später“

Bedröppelt sahen wir beide Lynnea hinterher, dann wanderten unsere Blicke synchron zurück zu Fenja.

„Was glotzt ihr so, hm?! Na los, verzieht euch!“, schrie die Prinzessin verzweifelt, wobei sie noch immer auf dem Boden herum rutschte und einfach nur jämmerlich aussah.

Wie automatisch setzte ich mich in Bewegung und Bär folgte mir nach einigem Zögern. Irgendwie wusste ich nicht, was ich fühlen sollte. In mir herrschte ein Chaos aus Mitleid, Selbstbedauern und Wut. Und irgendwo in diesem Sturm vielleicht auch ein klein wenig Hilflosigkeit.

Ich konnte erst wieder richtig denken, als ich mich auf meinem Bett nieder ließ. Und dann wurde mir plötzlich speiübel. Ich schaffte es gerade noch so zum Fenster, dann übergab ich mich in die fein angepflanzten Rosen darunter.

Kraftlos ließ ich mich zurück auf den Boden sinken. Das Hochgefühl von gestern Nachtmittag war wie fort geblasen. Ich konnte einfach nicht mehr denken. Das Rätsel um Falke, mein nächstes Leben, Tonne, Fenjas Liebe, die Informationen, der weitere Verlauf der Reise, die Glaubwürdigkeit des Versprechens des Königs, der wahre Verräter in diesem Spiel... alles ungelöste Rätsel, die ich wohl niemals wirklich begreifen würde.

Als es an meiner Tür klopfte, schreckte ich aus tiefem Schlaf hoch. Ich lag noch immer auf dem Fußboden und mir ging es genau so elend, wie vorher.

„Es ist offen“, brummte ich und starrte die Tür an, die sich nun langsam öffnete.

Joee kam herein. Unruhig sah er sich um, als müsse er kontrollieren, ob vielleicht Feinde anwesend waren, dann winkte er mich mit hektischen Bewegungen zu sich.

„R...Rain... komm... es gibt ei..eine Versammlung... drüben...“

Ächzend erhob ich mich und stellte fest, dass es schon wieder Abend war. Ich hatte den ganzen Tag verschlafen und Hunger hatte ich auch schon wieder.

Während ich und Joee schweigend durch die Gänge wanderten, ließ ich meinen Blick aus dem Fenster wandern und betrachtete die Landschaft draußen. Die Abendsonne färbte die Wolken in einer seltsamen Farbe, die ich noch nie vorher gesehen hatte. Eine Art helles, quietschiges Rot.

„Joee...“, fragte ich und stieß den Heiler an.

„Waaaah!“, machte dieser und sprang zur Seite. „Nicht anfassen! Er darf uns nicht anfassen!“

Ich runzelte die Stirn, hob aber beschwichtigend die Hände. „Ist ja gut, ist ja gut...! Aber schau doch mal... das da draußen!“

Ich blieb stehen und lehnte mich aus dem Fenster. „Was ist das?!“

„Man nennt es Abendrot. Abendrot. Aber eigentlich ist es eher rosa“

Rosa. Das klang warm und vielleicht auch ein bisschen qietschig. Angesichts dieser treffenden Bezeichnung lächelte ich zufrieden.

„In Ordnung, wir können weiter“

Joee führte mich wieder zu der schweren Holztür und von dem großen Saal aus wieder in den kleinen Nebenraum, in dem wir unseren allerersten Rat abgehalten hatten.

Alle Anderen waren schon da. Auch Falke. Ohne, dass ich es wollte, blieb mein Blick an ihm hängen. Doch sein Gesicht und auch der Rest seiner Gestalt waren durch einen Umhang verdeckt und die Kapuze verbarg auch sein Gesicht vor meinem Blick. Mist...

Lyen bemerkte sofort, wie ich Falke anstarrte und warf mir einen mahnenden Blick zu. Da ich ihn in den letzten Wochen als Anführer anerkannt hatte, wandte ich den Blick ab und setzte mich neben Bär. Joee ließ sich neben Lynnea nieder und der Hauptmann am Ende des Tisches räusperte sich.

„Endrian kann an diese Sitzung leider nicht teilhaben, da es gewisse... Probleme... gab“

„Nora“, raunte Bär mir zu und ich nickte wissend, obwohl es Sorge in mir auslöste. Ihr war doch nichts zu gestoßen?!

„Deshalb werde ich euch jetzt aufklären. Die Weggefährten werden so schnell wie möglich zu ihrem nächsten Ziel aufbrechen: Es sind die Wasserfälle im Nordwesten. Angeblich gibt es dort die entscheidenden Informationen, die nötig sind, um die Reise zu beenden.

Erneut wurde an die Rätselstrophe erinnert:

Die furiosen Reiter, die wilden,

treffen auf die kalten Mädchen, die stillen.

An diesem Ort, unter wachsamem Blick der hellen Mutter,

werden die Geister für den sichtbar,

der sich den Herrscher allen Lebens zu eigen gemacht hat.

Wir denken, wir sind auf dem besten Wege, sie zu lösen. Die furiosen Reiter stehen wohl für die Wasserfälle und die helle Mutter für die Sonne, oder den Mond, das steht noch zur Debatte. Die stillen, kalten Mädchen werden ebenfalls noch heiß diskutiert, einige Leute meinen, diese Zeilen würden auf die Eisgrotte hinter den Wassermassen anspielen, andere denken, es geht hier um Nymphen.

Aber vermutlich wird sich auch das klären“

„Und der, der sich den Herrscher allen Lebens zu eigen gemacht hat?“, fragte Falke.

Seine Stimme klang heiser, als hätte er sie zu viel benutzt, in letzter Zeit.

Vielleicht beim Schreien... schoss es mir durch den Kopf.

Der Hauptmann schüttelte den Kopf. „Nein, auch da sind wir überfordert. Der König und auch Endrian setzen nun darauf, dass sich im Laufe der Reise Weiteres ergeben wird“

„Das ist reichlich wenig, finde ich“, mischte der Dryad sich ein. „Wann soll es denn los gehen?“

„Morgen früh“, erwiderte der Hauptmann knapp.

„Was bitte?!“, empörte sich Bär. „Hätte man uns das nicht früher sagen können?!“

„Musst du dich noch von wem verabschieden?“, stichelte Lynnea grinsend und Bär grummelte nur beleidigt: „Nein, trotzdem...“

Lyen schüttelte den Kopf. „Entschuldigung, aber ich halte das hier für Zeitverschwendung. Wir sollten unsere Sachen packen und uns über alles Andere morgen Gedanken machen. Wir werden kurz nach Sonnenaufgang aufbrechen!“

Damit stand er auf und rauschte aus der Tür.

„Was hat der denn?!“, fragte Falke finster.

„Zu wenig gegessen!“, erwiderte Lynnea und folgte Lyen langsamer. „Ich werde mich dann wohl schlafen begeben und morgen früh packen. Gute Nacht alle zusammen“

Und damit war auch sie weg.

„Ich hab Hunger!“, stimmte Bär zu und stand ebenfalls auf.

„Bring mir was mit“, rief ich ihm noch hinterher und...

damit war auch er weg.

Joee sprang auf, sah sich zitternd um und sprintete hinter Bär hinterher. Er hatte während der ganzen Zeit kein Wort gesagt.

„Also ich fand, das war eine ziemlich kurze Besprechung...“, murmelte ich und der Hauptmann nickte.

„Da hast du wohl Recht, Bastard. Aber es gibt auch nicht sonderlich viel zu besprechen“

„Was ist mit Nora?“, fragte ich und überging die Beleidigung. „Wird sie mitkommen?“

„Wenn es nach ihr ginge? Sicherlich. Aber ich glaube kaum, dass Endrian das erneut dulden wird“

„Und die Prinzessin?“

Ich hatte völlig vergessen, dass Falke noch da war, als sah ich ihn erstaunt an, als ausgerechnet er sich nach Fenja erkundigte. Sie war ihm doch nicht etwa ans Herz gewachsen?!

„Was soll mit ihr sein? Vermutlich lässt man sie laufen. Der König hat betont, dass er nicht will, dass sie gewaltsam nach Hause verfrachtet wird“

Wahrscheinlich, weil es seinem Ruf schaden würde... dachte ich, aber ich sagte kein Wort.

Auch der Dryad war noch nicht gegangen und so saßen wir zu viert am Tisch und alle hingen ihren eigenen Gedanken nach, bis der Hauptmann sich erhob.

„Ich werde dem König noch berichten und euch Karten heraus suchen, mit einer markierten Route. Ihr solltet aufpassen, dass ihr nicht wieder getrennt werdet. Und Rain, du solltest morgen nochmal bei Sherin vorbeisehen. Du brauchst Reisearzneien!“

Ausnahmsweise stimmte ich ihm zu und nickte ergeben. Dann klappte eine Tür und es wurde wieder still.

„Verdammte Menschen“, knurrte der Dryad.

„Verdammte Adelssöhne“, murmelte Falke.

„Verdammte Höhere“, brummte ich.

Dann schwiegen wir wieder, bis auch der Dryad aufstand und lautlos verschwand.

„Was ist mit dir?“, fragte ich Falke nach einer Weile. „Willst du nicht auch gehen?!“

Inzwischen war es stockdunkel und ich sah nur noch seine Silhouette vor dem grauen Fenster.

„Wieso sollte ich? Geh du doch“, fuhr er mich an, aber für Falkes Verhältnisse war es eher ein kläglicher Versuch, abweisend zu wirken.

„Nein. Ich will sehen, was die mit dir gemacht haben“, meinte ich ruhig. „Wieso haben sie dich gefoltert? Wieso mussten sie dich halb ohnmächtig über den Flur schleifen?“

Aus der Dunkelheit kam keine Antwort.

„Falke, ich habe das alles gesehen!“

Noch immer herrschte eisige Stille, also erhob ich mich und begann, um Falkes Stuhl herum zu wandern, ganz wie es all die Anderen Leute bei einem Verhör getan hatten.

„Na los, sprich schon! Was hast du angestellt, hm?“

Ich lehnte mich vor und sprach direkt vor die Kapuze: „Du bist der Verräter, nicht wahr?! Du hast uns alle verkauft, für einfaches Geld! Du hast das Serum geklaut und du hast du Joees Pferd angestachelt! Du bist der Böse in diesem Spiel!“

Ich hörte ein unterdrücktes Knurren und spürte Falkes Anspannung förmlich. Vielleicht war das hier ein Fehler- aber ich wollte es jetzt endlich wissen!

„Und du bist keinen Deut besser als die Menschen, Adelssöhne und Höheren!“

Jetzt war es um seine Beherrschung geschehen. Ich hatte Falke geknackt. Mit einem Wutschrei sprang er auf und brüllte mir ins Gesicht: „Halt dein Maul, du nichtsnutzer Bastard! Wegen dir bin ich doch erst in dieser Situation gekommen! Wärst du nicht gewesen, mit deinen dämlichen Papieren, dann hätten die mir all das nicht antun müssen! Na los, sieh es dir an!“

Falke riss sich den Umhang von Leib und was ich sah, nahm mir den Atem. Sein Gesicht war vollkommen zu geschwollen, mit Veilchen und Schnitten übersäht, an seinen Handgelenk waren wunde Stellen von Ketten zu sehen und als er sich auch noch das Hemd vom Körper riss, sah ich jede einzelne Wunde, die die Peitschenriemen auf seiner Haut hinterlassen hatten.

Die rote, aufgerissene Haut sah grausam aus, selbst im Dunkel erkannte ich, dass die Narben nie ganz verheilen würden.

„Na los! Sieh hin! Verdammte scheiße, sieh hin, du elender Bastard!“, brüllte Falke und stieß mich hart gegen eine Wand. Ich bemerkte sofort, wie sehr er humpelte.

„Siehst du sie? Die Wunden? Die Narben? Das Blut?“. Er schüttelte mich und ich erwiderte mit erstaunlich fester Stimme: „Ja, tu ich“

„GUT! WEIL DU NÄMLICH AN JEDER EINZELNEN SCHULD BIST!!!“, schleuderte er mir entgegen und dann verpasste er mir einen Kinnhaken.

So langsam bekam ich es mit der Angst zu tun. In diesem Moment kam mir Falke wild und unberechenbar vor... Ich schluckte und rappelte mich auf.

„Warum, Falke? Warum? Ich bin mir sicher, du hattest jeden einzelnen Schlag verdient. Du hast für jede Missetat, für jedes schmierige Wort, dass du dem Feind geflüstert hast, bezahlt. So was nennt man Gerechtigkeit, mein Freund“, fuhr ich fort und auf meinem Gesicht spiegelte sich ein Lächeln wieder, obwohl ich mich gerade auf gefährlich dünnes Eis begab.

Falke bebte vor Zorn und seine sämtlichen Muskeln spannten sich an, von denen er wirklich nicht wenige hatte.

„Willst du die Wahrheit wissen? Willst du die verdammte Wahrheit wissen, Dreckskerl?!“

Und ich nickte. Ja, das wollte ich. Und wie lange schon...

„Ich wäre jetzt tot, wenn du nicht gekommen wärst“

Falkes Augen blitzten im Mondlicht auf, das jetzt durch die Vorhänge schien.

„Sie hätten mich hin gerichtet. Einfach erhängt, verstehst du?“

Erneut griff er nach meinem Kragen und stieß mich gegen die harte Steinwand. Ich erwartete weitere Schläge, doch die blieben aus. Er hielt mich einfach nur fest und starrte mir in die Augen, während er weiter sprach.

„Denn ich. Bin. Ein. Verdammter. Schwerverbrecher! Meuchelmörder! Meisterdieb!“

Ich brauchte lange, um die Worte zu begreifen. Schwerverbrecher. Meuchelmörder. Meisterdieb.

„W...was?“, stotterte ich verunsichert. Ich hätte mit vielem gerechnet, aber nicht damit.

„Ich wäre tot, Bastard. Und dann kamst du. Und sie hatten neue Informationen. Stellten eine Gruppe zusammen. Und sie haben sich gedacht: Wenn wir schon einen Verbrecher haben, dann stecken wir ihn halt mit da rein! Warum sollten wir seine Fähigkeit nicht nutzen?!“

„Wieso bist du nicht abgehauen?“, fragte ich und in mir ratterte es. Vorbelastet... natürlich, das hatte Bär gemeint!

„Meinst du nicht, ich hätte es nicht versucht?! Nein, jede dämliche Nacht bin ich hier ausgestiegen und jede Nacht haben sie mich wieder eingefangen! Irgendwann wird man die Schmerzen Leid, verstehst du?! Die brechen deinen Willen leichter als eine Stück Glas, wenn sie es wollen. Nach ein paar Wochen konnte selbst ich nicht mehr, auch wenn du es mir vielleicht nicht glaubst“

Perplex starrte ich Falke an. Ein Schwerverbrecher... auch Falke war hier nicht freiwillig mit dabei! Und jeder bedeutende Blick von Lyen, jedes mahnende Wort von Endrian... jede Geste war eine Warnung gewesen. Und ich hatte es nicht verstanden.

Plötzlich ging die Tür auf und Bär kam hinein.

„Rain, ich hab dir Essen mit gebracht. Ich... WAS ZUR HÖLLE?!“

Falke ließ von mir ab und stolzierte an Bär vorbei, der nur fassungslos auf die Wunden des Kriegers starrte. Nein... nicht des Kriegers... der Verbrechers.

„Rain... was ist passiert?“, fragte er dann verwirrt und sah mich irritiert an.

„Ich glaube...“, murmelte ich, „Ich glaube, ich verstehe so langsam, wie wenig wir über einander wissen“

 

 

Verhalten

16. Kapitel Verhalten

 

Wir wussten nichts über einander. Nichts. Rein gar nichts.

Immer wieder gingen mir diese Gedanken durch den Kopf, während ich die Anderen musterte. Kalter Regen prasselte vom Himmel und ich schien der einzige zu sein, den das nicht störte. Eisige Tropfen wuschen die Hitze und die Schwüle aus der Luft und ich konnte endlich wieder frische Luft atmen.

Leider regte das auch meine Gedankengänge an und jetzt sah ich in jedem meiner Gefährten jemanden Anderen.

Falke- ein Schwerverbrecher, Mörder, Dieb.

Joee- ein schizophrener Geisteskranker mit Mordträumen und Blutdurst.

Lynnea- eine kriegerische Amazone ohne Gesetze oder Regeln.

Lyen- ein Kampfmagier mit vernichtenden Plänen.

Dryad- ein schwer gestörter Baumgeist mit Racheplänen, die sich auf mich konzentrierten.

Und zu guter Letzt Bär. Aber so, wie er neben seinem Pferd stand, ein müdes Lächeln auf den Lippen und mit gutmütigen Gesichtszügen, konnte ich ihm einfach nichts Böses andichten. Nicht Bär.

Die Laune unserer Truppe war am Tiefpunkt angelangt und es heiterte nicht einmal irgendjemanden auf, dass der Regen langsam nachließ und die schwache Morgensonne am Horizont auftauchte. An meinem Gürtel hingen zwei neue Lederbeutel mit Medizin, doch Sherin war bereits vor uns aufgebrochen und mit ihrem kleinen Esel in Richtung Berge gezogen.

Noch immer beschäftigten mich die Geschehnisse von letzter Nacht, aber Falke sah mich nicht einmal an, als er mit der Kapuze tief im Gesicht an mir vorbei stapfte, um sein Gepäck auf sein Reittier zu binden.

Der Dryad hielt erneut ein gieriges Pferd von seinen Haaren ab und Lynnea und Lyen standen eng bei einander und redeten. Joee packte mit zittrigen Händen Kräuter in kleine Beutel und verstaute sie in seinen Satteltaschen, Bär streckte seine Nase genießerisch der Sonne entgegen und ich stand da und dachte nach.

Im Grunde wusste keiner so wirklich, worauf wir warteten, aber es meinte auch keiner, dass wir los reiten sollten. Es lag eine Demotivation in der Luft, wie ich sie noch nie verspürt hatte.

 

Die Stimmung änderte sich auch bis zum Nachmittag nicht. Die Sonne blieb hinter einer dicken Wolkendecke und ihr Licht erreichte uns nur gedämpft. Obwohl ich diese Wetterlage perfekt fand, war auch meine Laune am Tiefpunkt angekommen, was von der eisigen Stille nur noch verstärkt wurde.

„Wasserfälle, also...“, murmelte Bär neben mir und strich sich Gedanken verloren durch den Bart. „Da war ich noch nie, glaub ich. Der Westen ist wie eine andere Welt, wenn du aus dieser Ecke kommst...“

„Wie meinst du das?“, fragte ich verständnislos und froh, endlich die Stille zu durchbrechen.

„Naja, man sagt, im Westen ist alles besser. Angeblich gibt es dort fast nur Sonne und wenn es regnet, dann ist er frisch und angenehm. Die Wesen dort sollen friedlich sein, kein Krieg soll herrschen und nichts und niemand könnte den Frieden in diesen Weiten durchbrechen...“

Ich prustete los. „Als ob es das irgendwo gäbe...“, murmelte ich dann, nachdem ich mich wieder gefangen hätte. „Nicht, so lange es dort Höhere gibt“

Bär musterte mich nachdenklich, doch es lag kein Zorn in seinem Blick. „Wahrscheinlich hast du Recht. Trotzdem bin ich gespannt, wie es dort drüben so ist“

Tonne machte einen Schlenker nach rechts, weil sich jemand von ihrer blinden Seite genähert hatte. Nachdem ich sie wieder zurück gelenkt hatte, sah ich auch, wer es gewesen war.

Falke, der bis vorhin noch ganz hinten geritten war, hatte zu uns aufgeholt und musterte mich finster.

„Der Westen? Ich sage euch, was damit ist. Nichts. Ich war schon oft genug dort, um euch sagen zu können, dass man sich dort genau die selben Geschichten über den Osten erzählt. Schwachsinn ist das. Reiner Schwachsinn“

Während ich noch darüber staunte, dass sich Falke tatsächlich in unser Gespräch eingemischt hatte, antwortete Bär fröhlich: „Tja, wie sagt man, mein lieber Falke? Auf der anderen Seite ist das Gras viel grüner!“

Dann lachte er herzlich, obwohl Falkes Gesicht wieder leicht mit einer Gewitterwolke zu verwechseln war.

„Was gibt’s da hinten denn zu lachen?!“, rief Lyen von vorne.

„Die Philosophie!“, erwiderte Bär grinsend. „Reine Philosophie!“

Und plötzlich war die Laune wieder besser. Zwar sagte nun wieder lange Zeit niemand etwas, trotzdem kamen wir schneller voran und waren viel lockerer in unserer Art.

Als wir am Abend rasteten, kam irgendjemand auf die dumme Idee, das Feuer mit feuchtem Gras zu füttern und so irrten wir mehrere Minuten hustend und keuchend im Rauch umher, bis er sich schließlich verzogen hatte. Ich war mir ziemlich sicher, dass es der Dryad gewesen war, auch, wenn es vielleicht ziemlich makaber war, dass ausgerechnet er Gras verbrannte, wo er doch selbst zur Hälfte ein Baum war.

Irgendwann, als die Sterne bereits am Himmel standen, stellten wir Lyen als Nachtwache auf und legten uns auf den Boden, um zu schlafen. An diesem Abend dachte ich ausnahmsweise mal nicht Stunden lang nach, sondern schlief sofort tief und fest.

 

Die nächsten Tage verliefen ähnlich. Wir ritten durch die nicht enden wollende Grasebene, alberten ein wenig herum oder redeten über belanglose Themen. Natürlich hatte ich die Geschichte mit dem Verräter nicht vergessen und ich dachte auch noch viel an den Fluch und Falke, den Schwerverbrecher, trotzdem war die Zeit erträglich.

Natürlich konnte es nicht für immer so bleiben, auch wenn ich diese Tatsache nicht gut hieß.

 

„Hey, Rain! Schmeiß mal das Brot rüber!“

Ich griff in die Satteltasche hinter mir und warf den Laib Brot zu Lynnea, die mich fordernd ansah. Das erste Mal seit langem brach die Sonne durch die dichte Wolkendecke und ließen ihre Haare schimmern, wie goldene Wasserfälle, die sich über ihre Schultern ergossen.

Lyen bekam seinen Blick kaum noch von seiner Gefährtin los und auch die Anderen warfen Hin und Wieder einen begehrlichen Blick auf die Haarpracht.

Die einzigen, die völlig unbeeindruckt blieben, waren der Dryad und ich. Als Waldbewohner schienen wir beide nicht wirklich viel von irgendwelchen menschlichen Reizen zu halten und so ritt ich ausnahmsweise neben ihm und nicht neben Bär.

Anscheinend kämpfte der Dryad wieder mit der Entfernung zu seiner Tanne, denn der Schweiß perlte ihm bereits von der Stirn und seine Augen waren zu Schlitzen verengt.

Ich musterte ihn mitleidig, aber immer, wenn er zu mir sah, wandte ich den Kopf schnell ab. Ich wollte nicht, dass er dachte, ich würde wissen, was er durchmachte. Schließlich hatte ich schon einmal gesehen, wie aggressiv ihn das machte und irgendwie konnte ich das auch nachvollziehen.

Als es dämmerte, hielt Lyen die Gruppe an und stieg ab. Wir führten unsere Pferde zu einer kleinen Ansammlung Felsen, die so ungeordnet da standen, dass es wirkte, als hätte sie irgendjemand verloren und liegen lassen, dann setzten wir uns hin und aßen zu Abend. Etwas warmes gab es heute nicht, dafür die Reste des Brotes und viele Beeren und Käse.

Die Nachtwache übernahm ich diesmal und so saß ich nach ein paar Minuten völlig alleine in der Nacht, während die anderen schliefen. Die Sterne über mir sahen so faszinierend aus, dass mein Blick eine Weile an ihnen kleben blieb, bevor er über das Gras und die Umgebung schweifte.

In ein paar Stunden würde Lynnea mich ablösen, aber bis dahin musste ich wach bleiben, egal, wie schwer es mir fiel. Doch meine Beine kribbelten bleischwer und meine Augenlider sanken immer wieder nach unten, so müde war ich. Um mich abzulenken nahm ich einen großen Schluck aus dem Wasserbeutel, dann begann ich, die Grashalme auszurupfen und zu überlegen, wo Nora wohl gerade war und wie es ihr ging.

Tonne schnaubte leise und scharrte mit den Hufen, ein so idyllisches Geräusch, dass es mir schwer fiel, mich daran zu erinnern, wie gefährlich unsere Situation noch immer war. Jeden Moment konnte eine Horde Monster hinter den Felsen hervor springen...

Genervt schüttelte ich den Kopf. Ich machte mich ja nur verrückt... doch das ungute Gefühl wollte nicht weichen. Nach weiteren Nerven zerreißenden Minuten in der erdrückenden Stille erhob ich mich und begann, einen der Felsen zu erklimmen.

Jede einzelne meiner Bewegungen verklang unnatürlich laut in der Nacht und mein Unbehagen wuchs noch mehr, als ich endlich auf der Spitze des Felsblocks saß und mich aufrichtete.

Im Norden war nichts zu sehen, genau wie im Osten. Auch der Süden war ruhig und als ich mich zum Westen drehte, konnte ich nichts verdächtiges erkennen. Ich wollte gerade wieder zu Boden springen, als ich plötzlich ein Geräusch hörte. Mit einem Satz stand ich bei den Waffen und richtete mein Messer drohend auf den Felsblock, von dem aus das Schaben gekommen war. Da...! Schon wieder!

Krrrrrt.... Krrrrrrt...

Mit gerunzelter Stirn umklammerte ich den Messergriff fester und näherte mich Schritt für Schritt dem Felsen. Im Wald wäre es ein leichtes für mich gewesen, mich von hinten an den Felsen heran zu pirschen und den Unbekannten zu überwältigen, aber hier auf offener Ebene hatte ich keine Chance.

Trotzdem beschleunigte ich meinen Schritt noch etwas, um endlich heraus zu finden, wer oder was da dieses Schaben verursachte.

Krrrrt.... Krrrrrt...

Mein Herz schlug schneller, als mich nur noch wenige Meter von dem Fels trennten und ich entschloss mich für einen Überraschungsangriff. Was auch immer da hinten auf mich wartete, es konnte nicht so schlimm sein, dass es mich innerhalb weniger Sekunden zerschlagen könnte.

Krrrrt.... Krrrrt...

Sechs Schritte noch, vielleicht weniger.

Krrrt....

Vier....

Krrrt....

Drei....

Krrrrt.... Krrrrt...

Die letzten Zwei Schritte überflog ich mit einem kraftvollen Sprung. Mit einem dumpfen Aufschlag setzte ich hinter dem Felsen wieder auf dem Boden auf und wirbelte herum, um den Störenfried zu erkennen.

Mit einem heiseren Schrei fuhr das Vieh vor mir zusammen, schlug mit seinen braunen Flügeln und schwang sich in die Luft. Mein Messer zitterte, so kalt war es mir den Rücken hinunter gelaufen, nun stieg mir das Blut in den Kopf, vor Scham.

„Dämlicher Vogel...“, fluchte ich und spuckte auf die Stelle, wo er eben noch gesessen hatte.

Von denen gab es in dieser Gegend Tausende und ich ärgerte mich über mich selbst, dass ich das charakteristische „Krrrrt“ nicht gleich gedeutet hatte. Mit frustrierter Mine kehrte ich zum Lager zurück und setzte mich wieder an meinen Platz. Die Anderen hatten zum Glück nichts mit bekommen und schliefen noch immer, sonst hätte ich mir schon ausmalen können, was für Sprüche das von Falkes Seite gegeben hätte.

Den Rest der Nacht verbrachte ich ohne Probleme, bis ich schließlich Lynnea weckte und mich selbst zu einer Kugel zusammen rollte, um wenigstens noch ein wenig Schlaf abzubekommen.

Am Morgen verschoben wir das Frühstück und ritten gleich weiter, weil wir nun alle nur noch ein Ziel hatten: Möglichst schnell das Ziel erreichen und dann die Mission erfüllen, welche Gründe wir auch immer dafür hatten.

 

„Wann werden wir Rast machen?“, fragte ich und blinzelte, weil mir die helle Mittagssonne ins Gesicht strahlte.

„In einer Stunde kommen wir in einer größeren Stadt an, dort werden wir unsere Vorräte auffüllen“, erklärte Lyen knapp, ohne von der Karte aufzusehen, die vor ihm auf dem Pferdehals lag.

„Partheon?“, fragte Bär interessiert und er bekam ein bestätigendes Nicken zur Antwort. „Das ist eine schöne Stadt“, meinte der kräftige Krieger zufrieden.

„Woher kennst du sie?“, fragte ich nun und Fragen stiegen in mir auf. Eine Stadt. Wie die wohl aussehen mochte?

„Ich habe eine Zeit lang dort gelebt“, antwortete Bär und sah in die Ferne, während er erzählte: „Damals war ich noch jung und unerfahren, habe meine Ausbildung gerade begonnen. Allerdings war ich dort nur ein paar Wochen stationiert, dann sind die Fronten im Osten gefallen und sie brauchten alle Krieger, die es gab. Auch die jungen, die noch nichts gelernt hatten“

„Wie bist du da heile raus gekommen?“, fragte ich erschrocken.

„Heile? Wer sagt heile? Unsere Reihen haben sich im Wald verlaufen, während der Schlacht. Von Formation war keine Rede mehr, jeder hat gegen jeden gekämpft und um ein Haar wäre ich nicht mehr davon gekommen...“, erzählte Bär, wobei ein finsterer und wehmütiger Ausdruck in sein Gesicht trat.

Eigentlich wollte ich noch weiter fragen, aber ein warnender Blick von Lynnea hielt mich zurück. Anscheinend war es nicht gerade die beste Idee gewesen, Bär auf seine Vergangenheit anzusprechen, nur leider merkte ich das erst jetzt. Was wohl damals im Krieg noch alles passiert war?

Eine Stille entstand, die nur ein paar Mal durch das Husten des Dryaden unterbrochen wurde. Seit heute Morgen ging es ihm wieder schlechter, was sich in einem gereiztem Keuchhusten zeigte, den er jedoch bestmöglich unterdrückte. Wahrscheinlich war das der zweite Grund, warum Lyen in der Stadt rasten wollte und nicht unter freiem Himmel, in der Kälte.

Plötzlich sagte Bär ganz unvermittelt: „Ich werde nicht mit nach Partheon kommen“

„Was?!“, fragte ich entsetzt.

„Nur die Ruhe, Rain. Ich bleibe einfach vor den Mauern. Mit den Pferden wird es sowieso teuer, in der Stadt und ich werde mit ihnen in ein Gasthaus außerhalb ziehen“

„Das ist doch Schwachsinn! Lyen!“, rief ich aufgebracht. Ohne den gutmütigen Krieger in dieser Gruppe zu überleben schien mir so gut wie unmöglich.

„Eigentlich hat Bär Recht....“, gab Lyen nun zu. „Der Zoll ist schon alleine nicht teuer und für Pferde knüpfen die Kerle einem ein ganz schönes Sümmchen ab...“

„Wir bezahlen Zoll?!“, mischte Falke sich nun mit gerunzelter Stirn ein.

„Wie willst du denn sonst durch das Tor kommen?“, fragte Lynnea schnippisch zurück.

Falke schüttelte schnaubend den Kopf. „Als ob ICH jemals Zoll bezahlt hätte...“

„Ja, aber DU warst auch...“, begann Lynnea, brach dann jedoch ab. „Ach, vergiss es. Ja, wir bezahlen Zoll, falls es dir nicht passt. Rechtschaffende Bürger halten sich nämlich an die Gesetze. Ich habe keine Lust auf Ärger, wegen so ein paar unzufriedenen Wachen“

Der Dryad hustete erneut, diesmal rasselnder. Joee musterte den Baumgeist besorgt und bot ihm ein paar kleine Bären an, die dieser jedoch mit verzogenem Mund ablehnte. Wenn der Dryad weiterhin so störrisch wäre, würde ihm das wohl noch den Hals kosten...

„Also, da habt ihr's. Ich werde mit den Pferden warten. Ist ja keine große Sache“, meinte Bär erneut und Lynnea und Lyen nickten.

„In Ordnung. Aber pass auf dich auf!“

Bär nickte ebenfalls, doch ich gab mich noch nicht zufrieden.

„Bär, wieso denn? Kannst du nicht doch mitkommen? Bitte... ich sterbe doch, ganz alleine in dieser dämlichen Stadt!“

„Wieso tust du dich nicht mit Falke zusammen? Der hat hier doch auch keine Freunde“, stichelte Bär grinsend und ich brummte sarkastisch: „Ja, ganz bestimmt“.

„Ach, jetzt nimm's doch nicht so schwer. Immerhin bin ich nicht für immer weg. Nur zwei, drei Tage, dann kommt ihr wieder“

Den zweiten Satz sprach er irgendwie seltsam laut, so als würde er wollen, dass jemand anderes ihn auch noch hörte. Lynnea drehte sich im Sattel um und nickte.

„Ja, zwei oder drei Tage. Das passt. Du schaffst das schon“, fügte sie noch aufmunternd hinzu und lächelte freundlich.

„Was ist mit mir?“, fragte der Dryad nun mit kratziger Stimme. „Ich...glaube kaum, dass ich in der Stadt erwünscht bin. Rain werden sie wohl kaum von euch unterscheiden, aber ich bin da doch offensichtlicher...“

Es war das erste Mal seit langem, dass er den Mund mal wieder aufmachte und noch dazu für so einen langen Satz.

„Ich fürchte, du wirst mit Bär warten müssen“, seufzte Lyen. „Eine andere Lösung sehe ich nicht“

„Aber dann kann der Dryad doch mit den Pferden aufpassen und Bär kann mitkommen!“, rief ich dann aufgeregt.

„NEIN!“, protestierte Bär sofort heftig und ich runzelte die Stirn. Irgendetwas stimmte da doch nicht...!

„Äh... nein...“, wiederholte Bär nun etwas leiser. „Zu zweit ist sowieso besser. Alleine könnte ich alle sieben Tiere sowieso nicht unter Kontrolle halten“

„Aber das ist doch...“

„Rain, jetzt hör doch einfach mal auf und akzeptier es!“, rief Lynnea gereizt. „Die beiden bleiben draußen und warten, während wir Vorräte auffüllen und uns um Arzneien kümmern. Du wirst schon nicht sterben, in drei Tagen ohne deine beste Freundin!“

Beleidigt zog ich den Kopf ein, aber meine Gedanken kreisten weiter. Wieso wollte Bär unbedingt draußen bleiben? Und wieso wurde er in allem so dermaßen von Lynnea unterstützt? Dass Lyen sich für ihre Meinung einsetzte, war klar, aber wieder war sie so für Bär? Kopf schüttelnd trieb ich Tonne ein wenig an und fand mich neben Joee wieder.

„Alles klar?“, fragte ich, ohne daran zu denken, was für Kommunikationsstörungen der Heiler hatte.

„W...was? A...achso, ja... ja... es... geht.... denke ich... oder...“

Ich unterbrach ihn schnell mit einem: „Schön“, dann lächelte ich aufgesetzt und schwieg anschließend wieder, bis sich am Horizont die gewaltigen Stadtmauern auftaten. Mit offenem Mund starrte ich die riesigen, wuchtigen Wälle an und konnte ihre Größe gar nicht begreifen, so ungewohnt war sie für mich.

Desto näher wir kamen, desto größer wurden sie und als wir schließlich nur noch wenige hundert Meter von der Stadt getrennt waren, bekam ich mein Herz kaum noch zur Ruhe. Partheons Mauern waren mit Abstand das Heftigste, was mir je unter die Augen gekommen war. Die großen Wälle waren wie ein Dreieck angeordnet, dessen Flache Seite nun zu uns gerichtet war. So weit ich das von unserem Hügel erkennen konnte, gab es in der Mitte des Dreiecks ein Zentrum in Form eines großen Gebäudes, darum herum standen Reihe um Reihe Häuser und Gebäude, zwischendurch unterbrochen von weiteren Wällen, die das Dreieck in kleinere Bezirke teilte und, wie ich vermutete, in Territorien von einzelnen Befehlshabern.

„Partheon“, lächelte Lyen feierlich, als er meine gefesselten Blicke bemerkte und deutete auf das monströse Dreieck. „Unter Befehl von Sire Ge'e, errichtet von König Restulos im Jahre 145, bis heute in Stand gehalten von König Fheodor van Indiga. Angeordnet in 7 Bezirke, im Zentrum die Winterresidenz unseres Königshofes: Schloss Eranar“

Ich wusste jetzt schon, dass ich mir all die Namen nicht merken würde, doch ich nickte langsam.

„Das ist...“

„...unglaublich“, beendete Lynnea meinen Satz. „Ich weiß. Und jetzt weiter, wir wollen möglichst noch vor Nachmittag in der Stadt sein“

„Aber es ist doch noch Mittag...!“, erwiderte ich verwundert.

„Dann schau dir mal die Schlange an“, brummte Falke und nickte zu der ewig langen Reihe von Menschen, die sich von dem großen Torbogen in der Wand bis zur anderen Ecke der Mauer zog. Und das war wirklich keine kurze Strecke...

„Die wollen doch nicht alle da rein!“, rief ich ungläubig.

„Leider doch. Und deshalb sollten wir jetzt unsere Pferde abgeben und uns anstellen“

 

„Ich sage euch: Lasst mich für eine halbe Stunde die Führung übernehmen und wir sind in der Stadt, ohne dass uns jemand bemerkt!“, rief Falke verzweifelt, als wir eine viertel Stunde später in der riesigen Schlange eingereiht standen und Bär und dem Dryaden hinterher sahen, die mit den Pferden Richtung Wäldchen verschwanden. Ich beneidete die beiden wirklich, denn es schien ewig zu dauern, bis wir einen Platz weiter nach vorne rücken konnten, um dem Tor wenigstens ein paar Schritte näher zu kommen.

„Nein“, antwortete Lyen hart und wich einem Huhn aus, das aufgelöst zwischen seinen Beinen hindurch flatterte, während sein Besitzer, ein stämmiger Bauer, es verzweifelt jagte, um es wieder einzufangen.

Anscheinend handelte es sich beim Großteil der Menschen um Händler, denn in ihren Karren lagen viele Waren, sowohl einheimische, als auch fremdländische Dinge. Am Besten gefiel mir der Haufen Flöten, zwei Männer vor mir. Es gab so viele abstrakte Macharten und Formen, dass ich mich nicht satt sehen konnte, an all den Farben.

„Aber wieso denn nicht?“, fragte Falke. „Das ist doch unnötig, sich hier die Beine in den Bauch zu stehen, wenn es durch die Kanalisation viel schneller geht!“

„Nochmals nein!“, wiederholte Lyen. „Und jetzt sei still, oder willst du, dass ich Endrian alles haarklein berichte?“

Falkes Mine verfinsterte sich und er murmelte ein paar unterdrückte Flüche, die anscheinend aber wieder nur ich hören konnte. Dann richteten wir unsere Blicke auf das verlockende Ende der Schlange in der Ferne, um alle paar Minuten zwei Schritte nach vorne zu gehen. Schon bald war ich mit den Nerven am Ende und beschäftigte mich mit anderen Dingen.

Die Leute vor uns handelten anscheinend mit Trophäen von Monstern und Gruselgestalten, zumindest den Hörnern nach zu urteilen, die sie in allen Größen und Formen hatten. Auch Krallen gab es zu Genüge, sogar einen Beutel Augen entdeckte ich zwischen all den Geräten.

Der Mann, der ein blütenweißes Hemd mit goldenen Säumen trug, schien meinen Blick zu bemerken, zumindest stellte er sich neben mich und meinte:

„Sehr schöne Waren, nicht? Jaja, sie sind sehr schön. Und sehr selten, jaja. Möchtet ihr mal eines ansehen? Jaja, bestimmt. Seht mal, hier, dieses Stück, das ist sehr selten. Aus dem verfluchten Wald, jaja. Fasst es ruhig an, genau. Jaja, schön rau, nicht?“

Meine Finger fuhren über das Horn, das er mir hin hielt und ich hakte nach: „Aus dem verfluchten Wald?“

„Jaja, genau. Finsterer Ort, ich weiß. Aber im Geschäft muss man Risiko eingehen, nicht? Jaja, muss man“, brabbelte der Mann und fuhr sich über die Glatze, während er ein zahnloses Lächeln entblößte.

„Von welchem Tier soll das bitte sein?“, fragte ich interessiert. Ich war mir ganz sicher, dass es keine Wesen mit solchen gewaltigen Hörnern in unserem Wald gab.

„Von einem... naja, einem Vieh eben. Merk ich mir nicht. Jaja, aber es war sehr groß“

„Wie sah es aus?“

„Jaja... groß... und... haarig eben“

Ich schüttelte den Kopf. „Fälschung. Das seh ich“

Plötzlich wurde der Kerl knallrot und begann, zu stottern. „Was? Neinnein, Alberto verkauft keine Fälschungen... neinein.... wir sind ein gutes Fachgeschäft, keine Fälschungen, bei uns“

„Doch Fälschungen bei euch“, erwiderte ich kühl. „Dieses Horn ist eindeutig nicht echt“

Der Kerl sah sich nun hastig zur Seite um, ob nicht jemand gehört hatte, was ich gesagt hatte, dann lehnte er sich vor und drückte mir einen Beutel in die Hand.

„Hier. Jaja, behaltet es ruhig. Jaja, ich weiß, es ist nicht echt. Aber irgendwovon muss man ja leben, nicht? Junger Mann, ihr müsst das verstehen. Bitte sagt niemandem etwas“

Ich runzelte die Stirn, aber noch bevor ich etwas sagen konnte, war der Kerl schon wieder irgendwo zwischen seinen Körben und Beuteln verschwunden. So lief das hier also... lose Mäuler mit Geld stopfen. Unauffällig lugte ich in das Säckchen, was er mir gegeben hatte, und musste zugeben, dass das keine kleine Summe war, die mir da zu gesteckt worden war. Damit konnte ich leben... Ein letztes Mal wanderte mein Blick zurück zu den gefälschten Hörnern, dann zuckte ich mit den Schultern und steckte den Geldbeutel weg. Konnte mir doch egal sein, was dieser Kerl fälschte... und über meinen gekränkten Stolz meiner Heimat tröstete mich das Geld gut hinweg.

 

 

Die Tormannschaft bestand aus sieben Leuten. Neben den vier Wachen, die mit grimmigen Gesichtern ihre Lanzen umklammerten, gab es noch zwei Zöllner und einen Laufburschen, der dem Gesicht nach zu urteilen, noch sehr jung war. Mit angezogenen Knien hockte er neben dem Schreibtisch von Zöllner Nummer 1, einem kleinen, unscheinbarem Kerl, der geschäftig Buch darüber führte, wer hinein und wer heraus kam. Sein Kollege, Zöllner Nummer 2, war da schon ein ganz anderer Geselle. Mit dem Gesicht eines aufgequollenen Kuchens blickte er uns mit seinen Schweinsaugen an, als wären wir kleine Törtchen, die er verspeisen wollte. Mit jeder Bewegung von ihm fürchtete ich ein kleines Erdbeben. So erdrückend war die Körpermasse eines Menschen mir noch nie begegnet...

„Wie viele seid ihr?“, fragte Zöllner Nummer 2 mit barscher Stimme.

Während ich noch mit dem Zählen beschäftigt war, antwortete Lyen bereits: „Fünf“

Zöllner Nummer 1 wiederholte leise: „Fünf...“ und schrieb mit seiner Feder eine geschwungene Zahl in sein Buch.

„Was führt ihr mit euch?“, fragte Nummer 2 weiter und seine kleinen Augen suchten uns alle nach der Reihe ab.

„Nur Gepäck, keine Handelsstücke“, antwortete Lyen wieder.

„Waffen?“

„Nein“

Daraufhin bekam Falke einen dermaßenen Hustenanfall, dass ich kurz an seiner Professionalität zweifelte. Wenn er sich so leicht verriet, wie konnte er dann ein „Meisterdieb“ sein, wie er sagte? Aber Recht hatte er schon. Das, was wir unter den Kleidern trugen, konnte man als Vieles bezeichnen, aber nicht als nichts. Erst jetzt fiel mir auf, dass sowohl Lyen als auch Lynnea ihre Schwerter hatten verschwinden lassen. Und auch die Anderen ließen sich ihre Schwere nicht ansehen, obwohl wir bestimmt alle unsere Schätzchen im Stiefel hatten.

Zöllner 1 hob eine Augenbraue, notierte aber dennoch: „keine Waffen“.

„Pferde oder anderes Vieh?“, fragte Nummer 2 und Lyen schüttelte erneut den Kopf.

„Gut. Lasst euch noch von den Wachen durchsuchen“

Lynnea sog scharf die Luft ein, aber wir gehorchten trotzdem und rückten brav in einer Schlange vorwärts. Bei Lyen und Lynnea dachte ich schon, sie würden auffliegen, was die Waffen anging, aber die Wachen konnten anscheinend nichts finden.

Dann war Falke an der Reihe. Ein langer, dünner Kerl zerrte ihm grob die Kapuze vom Kopf und sah ihm lange ins Gesicht.

„Dich kenne ich doch irgendwo her...“, murmelte er nachdenklich, doch ich konnte nicht verfolgen, wie es weiter ging, weil ich nun selbst ziemlich unsanft kontrolliert wurde.

Zunächst klopfte der stämmige Typ meine Beine und Arme nach versteckten Klingen ab, dann war mein Gesamtbild dran. Bereits nach zwei Sekunden unter seinem Blick war mir klar, dass das hier nicht gut ausgehen würde. Ehe ich mich versah, klebte bereits eine Hand in meinem Gesicht und drehte meinen Kopf grob hin und her.

„Hey, Cass, komm mal her!“, rief der Soldat und ich musste mich beherrschen, ihm nicht eine zu verpassen, für diese Respektlosigkeit.

Der Kumpane von dem Soldaten eilte sofort an seine Seite. „Was denn?“

„Schau dir diesen Kerl mal an. Findest du nicht auch, dass der seltsam aussieht?“

„Hey!“, rief nun ein Anderer, rechts von mir. „Ich dachte, ihr habt keine Waren zum Handeln!“

Ich wollte mich umsehen, um festzustellen, was nun das Problem war, aber Cass stieß mich nun grob gegen eine Wand und befahl: „Umdrehen, Kopf an die Wand und Hände hinter den Kopf!“

Ich wollte protestieren, aber in Angesicht ihrer gleißenden Lanzen zog ich es doch vor, zu gehorchen und mich um zudrehen. Ich konnte ihre abschätzenden Blicke praktisch spüren, aber noch reagierte keiner.

„Ich hab ja gleich gesagt, wir sollen durch die Kanalisation!“, rief jemand. Ich war mir ziemlich sicher, dass es Falke war. Wer sonst? Anscheinend waren wir bei unserem Vorhaben, in die Stadt zu kommen, ziemlich gescheitert.

Aus der Geräuschekulisse hinter mir entnahm ich, dass man Joees Kräuter als Handelswaren ansah, man sich bei Falkes Nacken ziemlich sicher sei (worüber auch immer) und dass ich auch nicht ganz normal wäre. Nach ein paar Minuten begannen die Leute, sich zu beschweren und auch ich wurde langsam ungeduldig. Wie lange sollte ich denn noch die bemoosten Steine vor mir anstarren?!

Es dauerte noch eine ganze Weile, bis sich schließlich jemand an mich wendete. Lynnea klang ziemlich genervt, als sie neben mir stand und murmelte, dass ich mich jetzt bloß nicht zu auffällig bewegen solle.

„Wir brauchen mehr Geld, sonst kriegen wir euch nie durch den Zoll“, flüsterte sie. „Aber wir haben schon alles zusammen gekratzt und an Joee und Falke komm' ich nicht ran. Hast du noch was übrig?“

Ich nickte fast unmerklich und raunte ihr zu: „In meiner linken Jackentasche ist ein ganzer Beutel voll“

Obwohl ich nicht auf sah, registrierte ich Lynneas überraschte Mine über all das Geld, aber dann schwieg sie und war wieder verschwunden. Nach einer gefühlten Ewigkeit trat erneut jemand an mich heran und meinte: „Ihr könnt euch wieder umdrehen, Sir. Entschuldigt die Unannehmlichkeiten, aber wir machen ja auch nur unsere Arbeit, versteht ihr?“

Darauf sagte ich erst Mal nichts, stieß mich schweigend von der Mauer ab und eilte zu Lynnea, Lyen, Joee und Falke, die nur noch auf mich zu warten schienen. Kaum waren wir durch die dicken Mauern, stöhnte Lyen auf.

„Wie ich diesen Staat verfluche...!“

Aber ich hörte ihn kaum. Denn das, was sich jetzt vor mir auftat, war der helle Wahnsinn. Überall Menschen. Und wenn ich sage überall, dann meine ich auch überall. Sie strömten aus allen Gassen, aus allen Häusern, standen am Straßenrand, lachten, redeten, feilschten. Partheon war wirklich keine kleine Stadt, aber durch die Masse an Menschen fühlte ich mich so eingeengt, dass ich mich am liebsten wieder umgedreht hätte und abgehauen wäre. Die Gassen, die sich nach rechts, links und vorne aufteilten, waren erfüllt mit Geräuschen, die ich alle gar nicht richtig einordnen konnte. Von Hühnergackern bis zu Marktschreiern, lachende Frauen und weinende Kinder, bellende Hunde und streitende Männer: Alles aber auch wirklich alles war hier vertreten. Alles...bis auf die Stille. Denn die wurde hier wirklich verdrängt, als gäbe es sie nicht und hätte es auch nie gegeben.

Falke holte mich mit einem Schlag auf die Schulter wieder zurück in die Realität.

„Hey, Bastard! Mund zu, es zieht!“

Ich schüttelte mich benommen, dann folgte ich der Truppe durch die Menge. Immer wieder wurden wir an gerempelt oder mussten Tieren ausweichen, die in diesen Gassen ernsthaft Gefahr liefen, tot getrampelt zu werden. Und mit jeder Minute wuchs mein Unbehagen in dieser riesigen Ansammlung von Leuten. Ich wollte hier nicht sein. Ich gehörte hier nicht hin. Der Geruch nach Schweiß und Mist, die Geräusche, das Leben...all das waren Dinge, mit denen ich mich wohl nie anfreunden würde.

Zwar gab ich mein Bestes, bei Falke zu bleiben, aber ich bildete leider das Schlusslicht und ich verlor seine dunkle Kapuze immer wieder in der Menge. Zweimal hatte ich Angst, nun für immer in diesem Gedränge verloren zu sein, aber am Schluss fand ich meine Gruppe dann doch immer wieder.

Inzwischen war es Nachmittag geworden und die Sonne blendete mich nicht mehr- trotzdem fühlte ich mich erdrückt von all den Farben und Eindrücken, die auf mich einströmten. Der Geruch von Gebäck und anderen Speisen umspielte meine Nase, aber ich durfte jetzt nicht abgelenkt werden, sonst würde ich wirklich verloren gehen, wie ein unerfahrener Jäger im Wald.

Anscheinend hatte ich wirklich Recht gehabt, mit den Territorien, denn je nach Wall, den wir passierten, veränderte sich das Klima der Bewohner. Wenn wir zunächst noch durch Gassen liefen, die von hellen, freundlichen Häusern gesäumt wurden und mit Gelächter erfüllt waren, so wurden wir nun von verfallenen, düsteren Bruchbuden angestarrt. Die Gestalten wurden immer finsterer und mir wurde klar: Wir befanden und nun in der linken Ecke, direkt an der Hauptmauer. Der Gestank wurde immer schlimmer und am Ende waren die Wege so schmal, dass wir hintereinander laufen mussten, um nicht ständig in Dreck oder Fäkalien zu treten. Doch einen Vorteil hatte dieses Gebiet: Es wurde nun auch leiser und ich hörte den Schwall Geräusche nur noch gedämpft, in weiter Ferne.

„Wieso hier lang?“, fragte Falke, der nun endgültig entnervt war. „Wieso ausgerechnet durch diesen Teil der Stadt? Hier leben die Bettler, mehr nicht!“

„Die anderen Wege sind viel zu voll, um ins Zentrum zu gelangen. Wir werden eine Seitenstraße benutzen und die zweigt nun Mal von hier ab. Wenn es dir nicht passt kannst du auch gerne wieder zurück, aber wir warten nicht auf dich!“, antwortete Lynnea, ohne sich umzudrehen. Sie ging vor Falke und war die letzte, die ich noch sehen konnte. Joee und Lyen schienen uns anzuführen.

„Oh, ich hätte kein Problem damit!“, ätzte Falke. „Wenn es nach mir ginge, wären wir von Anfang an nicht die Hauptwege gegangen! Das ist doch Mist, was wollt ihr überhaupt im Zentrum?!“

„Falke, jetzt halt einfach mal dein Schandmaul!“, tönte es von vorne. Lyen.

Falke schnaubte und brüllte zurück: „Wieso sollte ich?! Es ist doch so! Seit Tagen latschen wir durch die Gegend, rennen wie die Verrückten nach Westen, stehen Stunden in der Schlange, bleiben im Zoll hängen und tauschen fast unsere gesamten Ersparnisse, um rein zu kommen und jetzt stiefeln wir wortwörtlich durch die Scheiße!“

„FALKE!!“

Anscheinend war Lyen stehen geblieben und zurück gegangen, zumindest stand er nun plötzlich direkt vor Falke und damit auch fast vor mir. Seine Augen funkelten zornig und so wütend hatte ich ihn glaube ich noch nie gesehen. Die Hand des Soldaten fuhr zum Kragen des Schwerverbrechers und blieb dort, während er bedrohlich zischte: „So langsam kriege ich nicht übel Lust, meine Drohungen wahr zu machen. Inzwischen sehe ich keinen Grund mehr, dich überall mit hin zu schleifen. Wie oft sind uns deine Fähigkeiten bisher zu Nutze gekommen? Noch gar nicht, richtig. Wir brauchen dich nicht, um zu überleben. ICH brauche dich nicht, um zu überleben. Dann kannst du zurück in dein schönes Kellerloch und bekommst vielleicht sogar einen eigenen Galgen und ich kann weiter durch die Scheiße stiefeln- hat doch jeder, was er will!“

Angespannt hielt ich die Luft an, aber Falke spuckte nur verächtlich aus, als Lyen ihn wieder los ließ und nach vorne marschierte, um weiter zu gehen. In seiner Körperhaltung sprach noch immer die Arroganz, aber inzwischen sah ich in Falkes Augen etwas ganz Neues: Angst. Was auch immer Endrian mit ihm angestellt hatte: Es hatte eine verdammt gute Wirkung.

 

Als wir am frühen Abend endlich das Zentrum der Stadt erreichten, hatte sich das Pflaster bereits wieder gelehrt und die Atmosphäre war weitaus entspannter, als zuvor. Eine Katze huschte von Kiste zu Kiste und die wenigen Passanten, die wir jetzt noch trafen, waren entweder auf dem Weg in die Häuser, oder sturz besoffen. Leider wurde Lyen erst jetzt klar, dass wir dringend eine Behausung für die Nacht brauchten und so begann die Tour: Von Gasthaus zu Gasthaus, zu Herberge zu Herberge. Aber keiner schien an einem solch geschäftigen Tag auch nur noch ein Zimmer frei zu haben und so standen wir immer noch mitten auf der Straße, als die Sonne wie ein lodernder Ball am Horizont verschwand.

„Ich habe das Gefühl, heute läuft echt alles schief“, seufzte Lyen und ließ sich auf den Boden sinken. Joee tat es ihm sofort gleich. Der Heiler war mit dem schwersten Gepäck beladen und schien ernsthaft erleichtert darüber, nun eine Weile die Beine ausstrecken zu können.

Ehe ich mich versah war ich bereits wieder der einzige, der noch stand, meine Gefährten hatten sich nun um Lyen versammelt und hockten auf dem Straßenpflaster. Prompt vermisste ich Bär, der die Stimmung bestimmt mit einem seiner Sprüche aufgeheitert hätte, aber der war nun Mal nicht hier. Frustriert ließ ich meinen Rucksack zu Boden gleiten und setzte mich dann auch hin.

„Was machen wir denn jetzt?!“, fragte ich Lynnea und Lyen eine Spur vorwurfsvoll.

„Ich habe keine Ahnung, Rain“, antwortete Lynnea und rieb sich entnervt die Stirn. „Ich bezweifle, dass wir noch ein Lager für die Nacht finden werden. Anscheinend müssen wir uns morgen früh weiter bemühen...“

„Und bis... d... dahin?“, fragte Joee zitternd.

„Ich habe nicht den blassesten Schimmer. Wir sollten auf jeden Fall bei der Straße bleiben, hier patrouillieren die Wachen oft genug, dass wir keine Angst vor Banditen haben müssen. Allerdings sollten wir uns ihr vielleicht auch nicht zeigen, denn Landstreicher und Obdachlose werden meist gnadenlos aus der Stadt gejagt“

„Dort drüben ist eine kleine Sackgasse...“, meinte Falke und deutete quer über die Straße. „Darin verirrt sich bestimmt keiner und trotzdem scheint sie einigermaßen sicher zu sein“

Erleichtert rafften wir uns und unsere Sachen zusammen, um uns in der kleinen Gasse einzuquartieren. Falke hatte Recht- dieser Ort schien wirklich zu gut, um wahr zu sein. Inzwischen wollte ich einfach nur noch schlafen und achtete nicht mehr auf Lyen, der noch irgendetwas sagte: Mit fahrigen Bewegungen zerrte ich meine Decke hervor und wickelte mich in meinen Umhang ein, dann rollte ich mich ohne große Umschweife zusammen und genoss das prickelnde Gefühl, von schmerzenden Gliedern, die endlich Ruhe fanden, um in einen sorglosen und tiefen Schlaf zu sinken.

 

„RAIN!!“

Wie von der Tarantel gestochen fuhr ich hoch.

„Was?!“

Erschrocken sah ich mich um und stellte fest, dass wir noch immer in der Sackgasse hockten. Vor mir saß Falke und stierte mich panisch an. Mein Herzschlag schoss in die Höhe. Was war passiert?!

„Nichts!“

Falke sah mich noch zwei Sekunden an, dann ging er lachend zu Boden. „Du...du hättest mal dein Gesicht sehen sollen...“, japste er. „Ich glaube, so wecke ich dich jetzt immer...“

Missmutig brummte ich sarkastisch: „Ha-ha. Wie amüsant...“

„Jaaa...“, bestätigte Falke lachend. Wenigstens er schien seinen Spaß zu haben. Von der ängstlichen oder mies gelaunten Maske von gestern war nichts mehr übrig.

„Hey, ihr Spaßvögel, da drüben!“, rief Lynnea herrisch. „Lachen könnt ihr später! Packt eure Sachen zusammen, wir müssen uns dringend ein Zimmer besorgen!“

Nachdem ich widerwillig all meine Sachen verstaut hatte, stellte ich mich neben die blonde Soldatin und wartete, bis die anderen fertig waren. Die Sonne war gerade erst aufgegangen, was ich mit einem halb genuschelten: „Warumnsofrüh?“ quittierte. Lynnea schien mich trotzdem verstanden zu haben, denn sie antwortete:

„Weil die ganzen Händler von gestern jetzt wieder abkarren müssen und wir jetzt Zeit haben, eine Unterkunft zu suchen, bevor die nächsten hier ankommen“

Ich nickte eingermaßen zufrieden mit dieser Auskunft und als auch Joee seinen Kram zusammen hatte, stiefelten wir los. Tatsächlich kamen uns wieder viele Händler entgegen, die ihre Waren gen Tor schoben und Lyen verlegte sich erneut auf ein paar Nebengassen, die aber zum Glück nicht ganz so abstanden, wie die von gestern. Bald kamen wir bei einem Gasthaus namens „Glückliche Kuh“ an und Lyen schien zufrieden damit. Ob das jetzt am Namen oder am freundlichen Haus lag, wusste ich nicht genau, doch es war mir auch ziemlich egal, wenn ich endlich meine schweren Sachen loswerden könnte.

Die glückliche Kuh war ein sehr helles Gasthaus. Die Schankstube wurde nur von wenigen, hellen Tischen befüllt, um die nun die Wirtin herum watschelte. Sie war klein, rundlich und ihre blonden Kringellökchen wippten auf und ab, als sie und strahlend emfping.

„'Erzlich Willkommen in der glücklischen Kuh!“, begrüßte sie uns mit starkem Akzent. „Möschten die 'Erren und Damen ein Simmer mieten, oder nur rasten?“

„Zimmer“, antwortete Lyen geschafft und anscheinend ziemlich glücklich, endlich ein freies Gasthaus gefunden zu haben.

„Wir 'aben noch swei“, lächelte die rundliche Frau weiter. „Eines mit vier und eines mit swei Betten“

Lyen nickte. „Wir nehmen beide“

„Oh, das freut mich“, strahlte die Wirtin und plötzlich schlug sie sich pikiert die Hand vor den Mund. „Oh, entschuldigt. Ich 'abe misch noch gar nischt vor gestellt. Isch bin Orealea, nennt misch einfach Lea“

Ich war sehr erfreut über diese Abkürzung, denn es schien mir unmöglich, ihren Namen mehrmals auszusprechen, ohne über meine eigene Zunge zu stolpern.

„Sehr erfreut“, lächelte Lyen und ergriff die kleine, stämmige Hand. „Lyen, Lynnea, Falke, Joee und Rain“

„Aaach, so viele Namen...“, meinte Lea und schüttelte lächelnd den Kopf. „Müsst ihr mir später nochmal erklären. Mein Mann bereitet euch ein Essen, wenn es Recht ist. Geht ruhig auf die Zimmer, ich bringe bald das Bad nach. Denn -mit Verlaub- ihr stinkt fürchterlisch“

 

Ein paar Stunden später saßen wir alle fünf pappsatt und sauber in der Schankstube und die Stimmung war ausgelassen wie schon lange nicht mehr. Sogar auf Falkes Lippen stahl sich Hin und Wieder ein Lächeln, was ihm gar nicht so schlecht stand, wie ich fand. Wenn man mal von dem riesigen Kratzer auf seiner Wange absah, wirkte er bei Tageslicht und ohne Kapuze gar nicht mehr so gruselig. Auch Joee kicherte manchmal, wenn auch eher nervös. Der Alkohol schien ihm nicht wirklich gut zu bekommen.

Lynnea und Lyen aber waren bester Laune. Sie alberten herum, fütterten sich gegenseitig mit Weintrauben und machten immer wieder Späße auf anderer Leute kosten. Erneut vermisste ich Bär, mit dem man sicherlich ganz wunderbar hätte reden können, anstatt hier vor dem halb leeren Bierkrug zu sitzen und den Beiden beim Lachen zuzusehen.

Mich tröstete einzig und allein die Aussicht darauf, dass ich Bär bald wiedersehen würde über den Verlust des Kriegers hinweg. Ehrlich gesagt hätte ich niemals gedacht, dass er mir so wichtig geworden war, über die gemeinsame Zeit. Ja, vielleicht würde ich ihn sogar als meinen Freund bezeichnen. Und das hatte ich bisher noch über keinen gesagt, der mir je begegnet war.

„Hey, Rain, warum so traurig?“

„Du machst ja ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter“

„Aber Lyen, da wo er her kommt, nennt man so was Sommer!“

Daraufhin brachen die Beiden in schallendes Gelächter aus und ich betrachtete Stirn runzelnd die leere Karaffe Wein, die auf dem Tisch saß. Die Beiden hatten eindeutig zu viel gehabt.

„Ach komm schon, Rain, jetzt nimm's doch nicht so schwer!“

Lyen klopfte mir auf die Schulter. „Dess wird wieder“

Irritiert sah ich Lyen an und der kriegte sich wieder kaum ein, vor Lachen. Hatten die denn heute alle Probleme, ihren Humor richtig rüber zu bringen? Immerhin hielt Falke jetzt die Klappe.

„Komm, Liebster. Die sind mir zu unlustig“, grinste Lynnea, griff nach Lyen und zog ihn vom Tisch fort.

„Ähm... wir sehen uns heute Abend, Leute“, rief Lyen noch schnell über die Schulter, dann waren die beiden auf der großen Holztreppe verschwunden, die ins Obergeschoss und damit zu den Zimmern führte.

Falke, Joee und ich sahen den beiden nach, dann wandten wir uns schweigend unseren Getränken zu. Irgendwie war die gute Laune jetzt verflogen, wo Lyen und Lynnea sich nicht mehr andauernd bewiesen, was für gute Laune sie gerade hatten.

„I...ich werd... nach draußen gehen...“, murmelte Joee hastig. „I..ich muss noch Kräuter bes...sorgen“

„Pass nur auf, dass du nicht durchdrehst, ohne Begleitung“, brummte Falke, dann stand auch der Heiler auf und ging zur Tür, wobei er immer wieder nach rechts und links sah, als erwarte er einen Angriff.

„Und wir zwei Hübschen?“, lächelte ich sarkastisch, aber Falke schien da keinen Spaß zu verstehen.

„Es gibt kein wir, Bastard, nur weil du jetzt meinen Beruf weißt“, zischte er verächtlich. „Und es wird auch niemals ein wir geben!“

Dann stand er auf und stapfte nach oben. Ein Knall verkündete mir, dass er soeben in unserem Zimmer angekommen war und die Tür nicht sehr freundlich hinter sich zu geschmissen hatte. Kopf schüttelnd blieb ich zurück und leerte nach und nach mein Bier. Der Wirt, ein sehr breiter Mann, wischte gerade die Theke ab und seine Frau, Lea, räumte das Geschirr von unserem Tisch.

„Darf es noch etwas sein?“, fragte sie freundlich und ich bat um etwas Wasser.

Mein Kopf schwamm ein wenig, doch ich wollte nicht all die Medizin verschwenden, deshalb hatte ich vor, sie mit Wasser verdünnt zu trinken.

Das tat ich dann auch und augenblicklich verschwand das Stechen aus meinem Kopf, so dass ich wieder klarer denken konnte. Das Gasthaus war leer, was mich wirklich wunderte. Es war eigentlich wirklich schön und freundlich.

„Warum habt ihr nur so wenig Gäste?“, fragte ich Lea, die gerade einen Tisch abwischte.

„Ach, weischt du, wir 'aben unser Gast'aus einfach an einer ungünschtigen Stelle gebaut...“

„Was heißt ungünstig?“, fragte ich interessiert.

„'ier ischt ein ganz übles Viertel... wir sind so ziemlisch das einzige Gasthaus, dass nischt von üblen Gestalten und Verbrechern besiedelt wird...“

Ich dachte unwillkürlich an Falke und daran, dass es nun Mal keine Ausnahme war, aber ich antwortete nur mitfühlend: „Das ist wirklich Pech. Kann man denn da gar nichts machen?“

Lea schüttelte den Kopf. „Wir kommen schon über die Runden“

Nur zu gern hätte ich den Beiden ein wenig Geld geliehen, aber Lynnea hatte meine gesamten Ersparnisse konfisziert, als wir im Zoll stecken geblieben waren.

Die Wirtin watschelte wieder hinter die Theke und ich blieb über meinem Wasser sitzen, während ich überlegte, was ich nun mit der Zeit anfing. Mir fiel auf, wie frei ich mich bewegen konnte. Natürlich- abhauen kam immer noch nicht in Frage, denn die Medizin würde schätzungsweise für eineinhalb Monate reichen, aber ich könnte anstellen, was ich wollte. Anscheinend lockerte der Alkohol das Misstrauen von Lyen und Lynnea, oder sie vertrauten unsere Gruppe inzwischen einfach blind. Daran glaubte ich aber eher weniger, wenn ich mich an die Auseinandersetzung von Lyen und Falke erinnerte.

Resignierend lehnte ich mich zurück und beschloss, einfach auf den Abend zu warten. Draußen schien die Sonne und ich scheute mich noch immer ein wenig vor den heißen Strahlen, die meine Haut spröde werden ließen, außerdem war ich ziemlich erschöpft, von der Reise.

Nachdenklich fuhr ich mit dem Finger ein paar Rillen im Tisch nach, während ich über die Bedeutung der Buchstaben nachsann. Es gab so viele seltsame Sprachen und Alphabete, dass ich längst den Überblick verloren hatte. Die einzige, die ich beherrschte, war die der Höheren und Bruchstückhaft die Laute, die sich im Wald eingelebt hatten und die der Dryad bestimmt perfekt sprechen konnte.

Als ich an den Dryaden dachte, gingen meine Gedanken unbewusst auch zu seiner verbliebenen Lebenszeit über. Der Husten von ihm war wirklich schlimm gewesen und ich konnte nicht verhindern, dass ich mir Sorgen um ihn machte. Wenn das so weiter ging, würde er langsam sterben und seine Tanne mit ihm.

Und auch ich hatte nicht mehr lange, das durfte ich ebenfalls nicht vergessen. Wenn ich nicht den Bann des Waldes brechen würde, dann würde es mir schon bald genau so elendig gehen, wie dem Baumgeist.

Während ich so in meinen trüben Gedanken vor mich hin hing, bemerkte ich gar nicht, dass Joee irgendwann wieder kam, sich ein Wasser bestellte und seine Kräuter auf dem Tisch ausbreitete, die er erstanden hatte. Erst, als mir die süßen oder bitteren Gerüche der Kräutermischungen in die Nase stiegen, sah ich auf. Der Heile versuchte gerade, ein paar violette Blüten mit einer Kordel zusammen zu binden, doch seine schlanken, langen Finger zitterten so unkontrolliert, dass er immer wieder abrutschte. Unaufgefordert nahm ich ihm das Bündel aus der Hand und machte einen Knoten hinein, dann legte ich es zu den anderen, die bereits fein säuberlich aufgestapelt am Tischende lagen.

Joee warf mir einen schnellen, dankbaren Blick zu, dann fragte er: „K...kannst du mir helfen?“

„Klar“. Ich nickte und so verbrachte ich den Rest der Zeit damit, Blätter und Blüten zusammen zu binden, damit der Heiler sie in seiner Tasche verstauen konnte. Nicht selten war ich versucht, eines der Heilmittel zu probieren, aber mein Waldinstinkt sagte mir, dass fremde Pflanzen gefährlich werden konnten, deshalb ließ ich es schlussendlich doch bleiben.

Als Joee das letzte Päckchen in seiner Tasche verstaute, kamen auch Lynnea und Lyen die Treppe herunter. Sie hielten Händchen und sahen sehr glücklich aus, aber immerhin lachten sie nicht mehr so bescheuert. Lyen hatte Karten dabei und ließ sich neben mir auf der Bank nieder, während Lynnea Joee half, seine Taschen zur Seite zu stellen, damit auch die gegenüberliegende Sitzecke frei wurde.

„Wo ist Falke?“, fragte Lyen und breitete die Karte aus dem Tisch aus, indem er sie an zwei Enden mit Messern fixierte, was nicht verhinderte, dass die Ecken sich stark wellten.

„Oben, im Zimmer“, antwortete ich. „Soll ich ihn holen?“

„Ja, bitte. Wir wollen die weitere Route planen“, meinte Lyen und so erhob ich mich und ging die lange Treppe hinauf.

Eigentlich wusste ich gar nicht, warum ich mich freiwillig gemeldet hatte, denn ich hatte keine Lust, dass Falke seine schlechte Laune wieder an mir auslassen würde. Trotzdem atmete ich todesmutig noch einmal tief durch und klopfte an die Zimmertür.

„Falke? Wir warten auf dich! Könntest du bitte runter kommen?“

Keine Antwort.

Stirn runzelnd klopfte ich erneut.

„Falke!“

Aber auch jetzt rührte sich nichts, im Zimmer. War er wirklich so beleidigt, dass er auf Kinderspielchen zurück griff? Ärgerlich drückte ich die Klinke herunter und betrat unser Zimmer.

Aber alles, was ich vor fand, war ein offenes Fenster und die Gardinen, die im Wind wehten. Verwirrt suchte ich nach Falke, aber der war nicht da. Und dann fiel mein Blick auf ein Stück Papier, auf dem Boden, neben den Gardinen.

Darauf stand nur ein Satz, schwarz auf weiß, hastig gekritzelt.

Ihr könnt den Falken nicht zähmen.

 

Verzweiflung

17. Kapitel Verzweiflung

 

„Er hat was?!“, rief Lyen und sprang auf.

„Ich weiß es doch auch nicht... aber alles, was ich gefunden habe, war das hier. Und seine Sachen sind auch weg. Aus dem Fenster kommt man auf die Nachbardächer und von da aus in die ganze Stadt. Er könnte überall sein...“, erzählte ich hilflos und legte das Blatt Papier auf den Tisch.

„Ihr könnt den Falken nicht zähmen...“, las Lynnea nachdenklich vor. „Ja, das sieht nach Falke aus“

„Wir werden ihn suchen gehen“, beschloss Lyen und seine Augen blitzen grimmig unter seinen blonden Haaren auf.

„Was?“, wiederholte ich fassungslos. „Wieso lasst ihr ihn nicht laufen?! Den finden wir doch sowieso nicht wieder!“

„Ich glaube, Rain“, meinte Lynnea mit gerunzelter Stirn, „Du hast noch immer nicht verstanden, wer Falke eigentlich ist“

 

***

 

„Ich verstehe es trotzdem noch nicht“, meinte ich missmutig, als ich später mit Lyen aus dem Stadttor schritt und um die riesigen Menschenmenge herum ging. „Nur, weil er ein Verbrecher ist, müssen wir ihn wieder einfangen?!“

„Er ist nicht nur irgendein Verbrecher“, erklärte Lyen ruhig, aber ich sah, wie gereizt und müde er war. Dieser Gesichtsausdruck war eingetreten, als er sich von Lyenna verabschiedet hatte und war bis jetzt nicht gewichen. Seine Gefährtin und der Heiler wollte noch schnell in die Stadt, das nötigste besorgen und dann zu Bär und dem Dryaden gehen, um mit den Pferden zu uns aufzuschließen. Lyen und ich hingegen verfolgten nun das Ziel, Falke noch zu finden, bevor aus dem Land heraus war. Denn das wollte er sicher, so Lyen.

„Was ist er denn dann für ein Verbrecher?!“, fragte ich weiter.

„Er ist eine Legende. Wenn man seinen Namen hier als sarkastischen Militärsruf benutzt, dann war er früher sein Titel. Falkes Geschichte war die, die man abends den Kindern erzählt hat, damit sie nachts nicht mehr vor die Tür gingen. Er kam aus dem Nichts und verschwand darin auch wieder, sobald er seine Arbeit verrichtet hatte“

„Und was war seine Arbeit?“, fragte ich, während ich meinen Blick suchend über die Menschenmenge schweifen ließ.

„Alles. Er hat getötet, gestohlen, betrogen. Ihm war egal, für wessen Seite er dabei kämpfte, wichtig war ihm angeblich nur die Bezahlung. Niemand hatte bis dahin je sein Gesicht gesehen, also fürchtete er auch nicht, dass man ihn über die Auftraggeber verfolgen könnte. Jeder, der ihm wirklich in die Augen geblickt hat, wurde am nächsten Morgen tot aufgefunden und konnte keinem mehr erzählen, wer der Mörder war“

„Schön und gut“, erwiderte ich, „Aber wieso ist er denn nun so wertvoll?“

„Weil Endrian ihn damals mit viel Aufwand überführt hat. Der König hat ihm Falke nur ungern überlassen, denn der hätte den größten Schwerverbrecher unserer Epoche gerne am Galgen gesehen“

„Lass mich raten“, seufzte ich. „Er wurde überführt, weil er sich verliebt hat“

Das wäre ja nur typisch, für die Welt der Höheren!

Lyen lachte leise. „Oh nein. Falkes Liebe war kein Privileg. Ich wette, es gibt immer noch mindestens 20 Frauen, die darauf warten, dass ihr Geliebter nach Hause kommt und endlich für die Familie sorgt, die er gegründet hat. Die anderen 10 haben ihrem Mann bestimmt versichert, dass das Kind von ihm sei und leben glücklich und zufrieden, in Gedanken nur noch selten an die nette Affäre mit ihm.

Nein, Falke hinterließ entweder keine Spur oder eine so weit gefächerte, dass man ihn damit unmöglich ergreifen konnte. Wer weiß, vielleicht hat er eine von ihnen wirklich geliebt. Aber wer das nun war...?“

„Aber... wie hat man ihn dann bekommen?“, fragte ich und sah mich weiterhin nach der dunklen Kapuze meines ehemaligen Gefährten um. Aber in der Menschenmenge gab es so viele dunkle Mäntel, dass es selbst für meine Augen unmöglich war, auszumachen, ob Falke unter ihnen war.

„Man hat ihm eine Falle gestellt. Einer war mutig genug, den Köder zu geben, indem er Falke einen falschen Auftrag unter jubelte. Möge er in Frieden ruhen...“

„Ist er tot?“, fragte ich.

„Ja. Er ging gemeinsam mit dem Epos des ungreifbaren Falken der Nacht unter und genau wie dieser wurde er auch nie mehr gesehen. Aber von diesem Tag an hatten sie Falke in ihrer Gewalt. Aber Endrian war so schlau, Falke zu nutzen. Oder soll ich lieber sagen, dumm? Ich weiß es nämlich bis heute nicht. Fakt ist auf jeden Fall, wenn wir Falke nicht wieder mit zurück bringen, können wir uns schon Mal auf einen netten Galgen einstellen...“, schloss Lyen Kopf schüttelnd. „Ich glaube nicht, dass er vor dem Tor herum lungert. Eher vermute ich, sein Ziel ist der Süden. Dort kennt er sich am besten aus und es ist zurzeit am Leichtesten, dort unterzutauchen, bei den Zuständen, die dort herrschen“

Ich fragte gar nicht erst, sondern nickte nur. „Ich würde wetten, er ist durch den Wald gegangen“, mutmaßte ich dann und deutete auf die bedrohlichen Tannenwipfel, im Süden. Lyen stimmte mir zu.

„Hoffentlich holen wir ihn noch ein...“, murmelte er, dann griff er seinem Pferd in die Zügel. Es war ein schnelles, gelenkiges Tier und er hatte es vor 10 Minuten bei einem Händler am Stadtrand erkauft, genau wie meins. Woher er plötzlich das Geld hatte, war mir schleierhaft, aber Hauptsache, wir kämen schnell hier weg. Auch, wenn ich keine große Lust verspürte, Falke hinterher zu jagen, egal was für einen Galgen ich dafür bekam. Meinetwegen konnten sie mich auch im Teich ersaufen.

 

„Das gibt es doch gar nicht...“, schnaufte Lyen und sah verzweifelt zum Horizont, in dem die Sonne lodernd versank. „Er muss doch irgendwo sein...“

Seine Haare klebten verschwitzt an seinem Kopf und auch sein Hemd sah ähnlich nass aus. Mir war immer noch schlecht von dem Todesritt, den wir gerade hinter uns hatten und deshalb ließ ich mich von dem schwarzen Pferderücken fallen und stützte mich an eine große Tanne, die finster in den Himmel aufragte.

„Lyen, der Wald ist riesig...“, keuchte ich atemlos. „Wir finden ihn nicht wieder. Falke könnte überall sein!“

Lyen drehte sein Pferd im Kreis und sein Blick flog vom einen Baum zum nächsten.

„Wir MÜSSEN ihn wieder bekommen! Sonst sind wir geliefert!“

Inzwischen wirkte er einfach nur noch hysterisch, von der nachmittäglichen Ruhe war nichts mehr über.

„Erst Mal sollten wir ein Lager aufschlagen. Sonst wird das sowieso nichts mehr“, meinte ich möglichst klar denkend. Wenn Lyen jetzt die Nerven verlor, dann wäre ich an der Reihe, mit organisieren.

„Hast du Decken dabei?“

Lyen nickte hektisch. „Aber wir können jetzt nicht aufhören zu suchen... wenn wir ihn nicht finden, sterben wir alle! Auch Bär, der Dryad, Joee und... Lyenna...“. Den Namen seiner Geliebten hauchte er nur und ich sah den Wahnsinn in seinen Augen klarer als je zuvor.

„Lyen, jetzt atme erst Mal durch. Wir finden Falke! Und wenn nicht, dann wir uns Endrian auch nicht gleich erhängen! Wir können auch ohne ihn den Kristall finden, glaub mir. Und wenn wir den haben, wird er den Verlust von Falke gar nicht weiter bedauern“

Lyen starrte mich entsetzt an. „Der Kristall... nein...!“

„Doch!“, erwiderte ich ruhig, griff Lyen am Arm und zerrte ihn vom Pferd. „Wir kriegen ihn. Schließlich sind wir immer noch sechs Leute und wenn wir ehrlich sind, dann hat uns Falke sowieso kaum weiter gebracht“

Lyen setzte zu einer panischen Antwort an, aber er wurde von den Pferden unterbrochen. Die Beiden Tiere schrien laut und gingen auf ihre Hinterbeine. Gerade noch rechtzeitig gelang es mir, Lyen zur Seite zu schubsen und vor den gewaltigen Hufen zu retten, die Sekunden später durch die Luft sausten, wo er eben noch gestanden hatte.

„Hooo...“, versuchte ich, die Tiere zu beruhigen, wie Bär es damals getan hatte, aber das bewirkte nichts, außer dass die Beiden völlig durchdrehten, den Kopf in den Nacken warfen und noch einmal schrien. Dann preschten sie wie wild los. Tannnennadeln wurden aufgewirbelt und spritzten mir ins Gesicht, dann hörte ich nur noch die Äste unter ihren Füßen brechen und weg waren die Pferde.

„Nein!!“, brüllte ich. „Kommt zurü...“

Eine Hand legte sich von hinten auf meinen Mund und erstickte den Satz. Erschrocken fuhr ich herum und sah in Lyens Gesicht. Dieser blickte jetzt schon klarer drein und legte den Finger auf die Lippen. Dann sah er mich fragend an und ich nickte, da ich verstanden hatte: Irgendetwas stimmte hier nicht.

Lyen zog lautlos sein Schwert und blickte sich um, genau so tat ich es mit meinem gespannten Bogen. Dieser hatte die ganze Zeit auf meinem Rücken gelegen und mir wenigstens ein ganz bisschen Sicherheit gegeben, auf dem schwankenden Pferderücken.

„Was ist los?“, fragte ich leise, aber Lyen fuhr mich sofort an: „Psssht! Hörst du das nicht?!“

Mit angehaltenem Atem lauschte ich und nun hörte ich es auch: Den gleichmäßigen Trott einer Truppe. Mit aufgerissenen Augen sah ich Lyen an und dieser nickte. Es waren Feinde hier im Wald und es waren viele. Es hatte ja so kommen müssen.

Vielleicht bemerken sie uns ja gar nicht... vielleicht erkennen sie uns nicht, oder sind gar nicht auf der Suche nach uns... Ich versuchte mit allen Mitteln, mich zu beruhigen, trotzdem schoss mein Herzschlag in die Höhe, als ich den Bogen fester umfasste und mich weiterhin aufmerksam umsah. Um auf eine der Tannen zu klettern, war es jetzt schon zu spät und das wusste ich genau. Die Schritte wurden immer lauter, bis ich begann, in Gedanken mit zu zählen.

Links- zwei, drei vier

Links- zwei, drei vier

Links- zwei, drei vier...

Es war eine gut einstudierte Truppe.

Lyens Hand legte sich auf meine Schulter und ich fuhr zusammen, doch der junge Soldat schob mich bestimmt hinter einen Baum, dann postierte er sich selber hinter einem. Kaum zwei Sekunden später brach der erste Unbekannte durch das Gehölz und ich dankte Lyen in Gedanken dafür, mich davor bewahrt zu haben, wie ein Idiot auf der offenen Lichtung zu stehen und dem Vieh direkt ins Gesicht zu sehen, dass nun an uns beiden vorbei marschierte, vorerst ohne uns zu registrieren. Es waren die selben Viecher wie in der Enge, Wildschweinmänner, mit wilden Mutationen am ganzen Körper. Nur sah ich diese das erste Mal in voller Aktion und das war wirklich Angst einflößend.

Der Anführer von allen, ich erkannte ihn durch die goldene Rüstung und die gewaltigen Hauer, schnaufte wie eine Bestie und seine Augen leuchteten rot und wild, als er durch das Unterholz brach, wie Tonne zu ihren besten Zeiten. Hinter ihm folgten, in zweier Reihen, ein ganzes Gefolge von gut zwei Dutzend Wildschweinmännern, die ebenfalls grunzten und knurrten, was das Zeug hielt. Sie schienen voll in ihrem Element, leise Parolen vor sich her murmelnd. Ihre Stiefel schienen den Boden zum Erzittern zu bringen, sie zerstampften den Grund und das Beben stieg bis in meine Magengrube auf, wo es sich vibrierend in alle Richtungen ausbreitete. Meinen Herzschlag schien es mitzureißen, denn der drehte nun völlig durch. Es schien wie ein Wunder, dass uns bisher noch niemand entdeckt hatte. Mit angehaltenem Atem verfolgte ich die Truppe, die an uns vorbei zog, ohne auch nur einen Blick nach rechts oder links zu werfen.

Plötzlich ging alles so schnell, dass ich erst Sekunden später begriff, was geschehen war. Der Anführer der Truppe blieb stehen, warf seinen schweren, borstigen Kopf in den Nacken und brüllte mit schriller und zugleich tiefer Stimme: „Schnappt sie euch!!“

Erst rechnete ich gar nicht damit, dass sie uns meinten, denn bisher hatte uns noch keiner angesehen, aber ein paar Augenblicke später war ich von Wildschweinmännern umstellt, die alle drohend ihre gewaltigen Lanzen auf mich richteten. Ich hörte das Klirren von Waffen, dort, wo Lyen gestanden hatte, aber ich wurde durch eine Lanze abgelenkt, die minimal an mir vorbei zischte und sich in den Baumstamm hinter mir bohrte. Jetzt galt es also: Ein Kampf um Leben und Tod. Und es sah nicht gut aus, für uns. Die Luft bestand plötzlich nur noch aus grunzenden Wesen, die mir ihre Waffen um die Ohren schleuderten und durchgehend abartige Kampfschreie ausstießen. Immer wieder musste ich hinter mich greifen, um neue Pfeile aus meiner Tasche zu ziehen und insgeheim verfluchte ich mich dafür, dass ich nur so wenige mit genommen hatte. Trotzdem leistete mein Bogen gute Dienste und mit viel Mühe und Kampfreflexen schickte ich viele in den Tod, oder sonst wohin. Einer stieß seine Lanze vor, ich sprang zur Seite, trat mit meinem Stiefel so darauf, dass die Spitze abbrach, dann spannte ich blitzschnell einen Bogen ein und schoss ihn gekonnt in den ungeschützten Bauch meines Gegners, der zusammen brach. Inzwischen konnte ich gar nicht mehr unterscheiden, ob die Kampfgeräusche von mir, oder von Lyen stammten, alle Geräusche verbanden sich zu einem ekeligen Mischmasch in meinem Kopf, der mich allerdings nur noch konzentrierter werden ließ. Ich nahm nichts mehr wahr, dachte nur noch an meine Bewegungen und die nächsten Angriffe.

Natürlich blieben die ersten Verletzungen nicht aus. Eine Lanze bohrte sich in meinen Oberarm, aber mein Schrei verklang in dem Lärm meiner Gegner, als hätte er gar nicht existiert. Schweiß überströmt nahm ich mich zusammen, griff erneut unter Schmerzen nach einem Pfeil und schoss. Und wieder. Und wieder. Und wieder.

Aber es wurden einfach nicht weniger. Nacht wenigen Minuten tat mir alles weh und ich war so weg getreten, dass ich die Wunden kaum noch spürte, die sich im Laufe der Zeit ebenfalls vermehrten. Inzwischen kniete ich nur noch, mit dem Rücken am Baumstamm und die Herde von Wildschweinen hatten mich umkreist. Von allen Seiten hagelte es Angriffe, trotzdem schlug ich mich tapfer.

Der Bogen war inzwischen schon halb zu einem Schild unfunktioniert, immer wieder schlug ich in letzter Sekunde eine Lanze fort oder wandelte Angriffe so ab, dass sie mich nur streiften, oder, im Idealfall, in der Baumrinde landeten, sodass ich danach leichtes Spiel mit ihren Besitzern hatte.

Immer wieder kippte einer der Wildschweine ins Gras, aber sie trafen auch immer öfter. Ich wusste kaum noch, wo mir der Kopf stand, so überflutet war ich von all den Eindrücken, trotzdem tat mein Körper weiterhin das, was mir mein ganzes Leben lang an trainiert wurde: Überleben.

Eigentlich wusste ich auch gar nicht mehr, wie lange es schon ging, als mich eine der Lanzen im Oberschenkel erwischte. Mit einem Stöhnen ging ich zu Boden, schickte meinen letzten Pfeil in die Luft und griff nun nach meinen Messern. Noch vier Wildschweine standen, aber selbst diese Tatsache konnte mich nicht von dem Feuer in meinem Bein ablenken, das nun ausgebrochen war.

Mehr aus Reflex als aus Wille rollte ich mich zur Seite, sodass sich die Lanze in die Erde bohrte und nicht in meinen Bauch, wobei ich eine dicke Blutspur im Gras zog. Mit verschwommenem Blick musterte ich das rote Blut zwischen den Halmen. Ich war drauf und dran, aufzugeben. Es ging einfach nicht mehr. Es waren zu viele. In meinem Kopf kreisten die Gedanken.

Kämpf! Steh auf, verdammt! Rief irgendwer, aber vermutlich bildete ich mir das nur ein. Das Zittern meiner Hände unterdrückte ich krampfhaft, indem ich meinen Bogen nur noch fester umklammerte, mein Bein dagegen hatte ich kaum noch unter Kontrolle.

Kraftlos verharrte ich im Gras und wartete auf den letzten Schlag. Jetzt war es zu spät, noch etwas zu tun, ich hatte wertvolle Zeit verschenkt und jede Sekunde musste wohl oder übel das Ende kommen. Tat es aber nicht. Verwundert hob ich den Kopf und musste fest stellen, dass sich die letzten vier von mir abgewandt hatten, um ihre Kumpanen auf der anderen Seite zu unterstützen. Anscheinend gingen sie nicht davon aus, dass ich noch lange leben würde.

Immer mehr Wut stieg in mir auf, als ich die humpelnden Gestalten sah, die sich nun um Lyen scharrten, von dem ich nichts sehen konnte, weil er durch all die Leiber verdeckt wurde. Anscheinend hatten sie ihn genau so umzingelt, wie mich, eben.

Es waren Mutanten! Und sie hatten keine Ahnung! Dachten sie wirklich, ein Bastard würde sich so leicht unterkriegen lassen, durch ein paar Kratzer und eine Wunde?!

Keine Ahnung, woher ich die Kraft nahm, aber ächzend und taumelnd kam ich wieder auf die Beine und griff mit fahrigen Bewegungen nach den Pfeilen, die aus den Leibern meiner Feinde ragten. Ich bekam fünf zu fassen und steckte sie routiniert hinter mich, in die dafür vorgesehene Öffnung meines Rucksacks. Ich konnte jetzt nicht aufgeben. Lyen lebte noch und ich musste ihn da raus holen.

Mein Bein brannte immer noch wie Hölle und ich hatte Probleme, gerade stehen zu bleiben, trotzdem begann ich, mich an die Feinde heran zu pirschen. Wenn ich auf offenem Feld noch so verletzlich war, der Wald war einfach mein Territorium. Mein Vorteil.

Schließlich stand ich direkt hinter den Verbliebenen Feinden, die ich nicht zählen konnte, weil sich vor meinen Augen alles drehte. Mit einem halbherzigen Schrei schmiss ich mich einfach in die Gruppe hinein, riss mindestens vier zu Boden und begann, wie ein Löwe zu kämpfen.

Jetzt hatte ich keinen Sinn mehr für Taktik. Keine Bedacht mehr, keine Vorsicht. Jetzt metzelte ich mich einfach nur noch durch alles, was mir vor die Nase kam. Das Feuer in meinem Oberschenkel loderte noch heller auf, aber ich versuchte, mich nicht davon beeinträchtigen zu lassen.

Ein Schuss nach da. Einer nach dort. Ducken. Aufsetzen. Beine wegziehen. Zuschlagen. Messer ziehen. Messer wegstecken. Wieder schießen. Umdrehen. Ducken.

Mein Körper tat alles von alleine, ich fühlte mich seltsam abwesend. Ich roch nur noch das Blut und spürte die bleiernde Erschöpfung, die nur noch von meinem Oberschenkel auszugehen schien.

Innerhalb kürzester Zeit waren die vier Wildschweinmänner, die in dem Tohuwabohu ihre Waffen verloren hatten, tot und es standen nur noch drei weitere. Unter ihnen war aber leider auch der Anführer, der sich bisher nicht in den Kampf eingemischt hatte.

Mein Blick flog zu Lyen und ich erstarrte. Sein ganzes Gesicht war Blut überströmt, seine Kleidung rot getränkt und er lehnte nur noch an einem Baumstamm, um die Angriffe halbherzig abzuwehren. Der Schmerz und die Erschöpfung standen ihm auf das Gesicht geschrieben und ich wusste, dass er nicht mehr länger durchhalten würde.

Kaum hatte ich diesen Gedanken zu Ende gedacht, strauchelte der Soldat auch schon und fiel zu Boden. Die beiden Wildschweine, die ihn umzingelt hatten, stürzten sich wie ein Rudel Wölfe auf ihn, aber sie kamen nicht an ihn heran.

„Lasst ihn in Ruhe, ihr Mistviecher!“, zischte ich und zog meine Messer. Die Pfeile waren leider wieder leer. „Oder ihr müsst erst an mir vorbei!“

Ehrlich gesagt wusste ich selber nicht, wie ich so schnell zwischen die Feinde und den Soldaten gekommen war, aber die Schmerzen in meinem Bein waren jetzt kaum noch auszuhalten und mein Atem ging schwer. Wahrscheinlich sah ich auch nicht wesentlich besser aus, als Lyen.

Meine Kampfansage ließen die beiden Wildschweinmänner sich nicht zweimal sagen. Mit lauten Geheul und freudigen Grunzern stürzten sie sich auf mich und begruben mich einfach unter ihren schweren, haarigen Leibern. Einer von ihnen, ihm wuchs ein riesiges Horn aus der Nase, zog einen langen Dolch und versuchte, meine Schulter zu durchstoßen, aber ich schlug meine Stirn vor seinen Kopf und schaltete dadurch für's erste seinen Orientierungssinn aus. Nun versuchte der Andere aber, mir die Kehle durchzuschneiden, was ich nur in einen langen Schnitt über mein Schlüsselbein abwenden konnte, weil sein Kumpane mit dem riesigen Horn noch auf mir lag. Der, der mir die Kehle durchschneiden wollte, lachte wild und ich erkannte erst jetzt, dass er ein rotes und ein gelbes Auge hatte, die beide furchterregend blitzten. Blut floss aus dem Schnitt und mir wurde schlecht, als mir klar wurde, wie viel ich schon verloren hatte, trotzdem gab ich nicht auf. Lyen lag noch immer hinter mir und regte sich nicht, das war eine Tatsache, die mir einen unersetzlichen Antrieb gab.

Das Nasenhorn hatte sich inzwischen wieder erholt und zückte seine Lanze, doch er kam nicht weiter, denn da hatte er bereits mein Messer in der Schulter und fiel kreischend und zuckend von mir runter.

Gelbauge allerdings war noch quieklebendig und versuchte nun erneut, mich mit seiner Klinge zu erdolchen. Ich wusste mir nicht anders zu helfen, als schützend meinen Arm zu heben, was im Nachhinein vielleicht wirklich schlau war. In diesem Moment aber erschien es mir der größte Fehler gewesen zu sein, denn ich hatte begehen können, da nun auch noch rotes Blut aus meinem Arm mein Hemd durchtränkte. Ich war kurz abgelenkt, durch das Stechen in meinem Fleisch, dass nun von überall auf mich einprasselte, und eben diesen Moment nutzte Gelbauge, um erneut anzugreifen. Dieses Mal schaffte ich es nur noch, mich ein wenig zur Seite zu rollen, damit seine Klinge sich in den Boden bohrte und nicht in meine Brust. Es war wirklich ein verdammt knappes Spiel, vor allem, da nun gleißende Flecken mein Sichtfeld beeinträchtigten, ähnlich, wie wenn ich meine Medizin brauchte. Nur leider würde die Medizin hier genau so wenig bringen, wie das Ausruhen beim Fluch. Meine Zeit wäre abgelaufen, wenn ich mich nicht irgendwie aus der Affäre ziehen konnte.

Erneut spürte ich Gewicht auf mir und als ich endlich wieder gucken konnte, sah ich nur noch, wie das Wildschwein ausholte und seine Klinge in rasender Geschwindigkeit auf mein Gesicht zu sauste. Diesen Angriff erlebte ich nicht zum ersten Mal und urplötzlich besann ich mich wieder meiner Waldinstinkte. Binnen weniger Sekunden riss ich meine Hand hoch, schlug gegen sein borstiges Handgelenk und krallte mich in die mit langen Krallen bestückte Hand. Ein paar Sekunden hing das Messer zitternd direkt vor meinen Augen in der Luft, dann brachte ich genug Kraft auf, ihm seine eigene Waffe in die Brust zu schlagen.

Das rote Auge rollte wild, das linke flackerte, als mein Gegner rasselnd Luft holte, dann war auch das Vieh tot. Nun stand nur noch der Anführer... aber wo? Kraftlos wandte ich den Kopf Hin und Her. Aufstehen konnte ich nicht, die Leiche von Gelbauge fesselte mich am Boden. Aber auch Lyen war verschwunden, was mir noch viel mehr Sorge machte.

„Lyen?“, wollte ich rufen, aber meine Kehle war ausgetrocknet von dem vielen Schreien, egal, ob es nun Schmerzens- oder Kampfschreie waren. Hilflos zerrte ich an dem leblosen Arm des Wildschweinmannes, aber er war einfach zu schwer. Erneut sah ich mich um. Irgendwo mussten die Beiden doch sein... Was, wenn der Anführer Lyen verschleppt hatte?! Ob er gefangen war...? Oder gar... tot?

In diesem Moment verschwand das Gewicht des Kadavers von meinem Körper und ich sah erschrocken auf. Fast hätte ich Lyen nicht erkannt, so Blut verschmiert war er. Mit versammelte Kräften zerrte er Gelbauge von mir herunter und ließ sich neben mir zu Boden sinken. Erleichtert atmete ich auf. Er sah zwar nicht besonders gut aus, aber immerhin lebte er noch.

„Der Hauptmann?“, brachte nun doch mit kratziger Stimme hervor und Lyen antwortete knapp: „Tot“

Dann sanken wir beide kraftlos in uns zusammen und erst jetzt ließ ich die Schmerzen zu. Mein Bein spürte ich kaum noch, so sehr brannte und stach es, genau wie mein Oberarm, der komplett ertaubt war.

Lyen schien es schlechter zu gehen, er atmete nur noch rasselnd und blutete still vor sich hin.

„Lyen...“, hustete ich. „Lyen, bitte stirb mir hier jetzt nicht...“

„Ich werd's überleben...“, meinte der Soldat gequält lächelnd und wandte den Kopf zu mir.

Vor Schreck schrie ich auf. Hinter Lyen ragte Nasenhorn in die Höhe, in seiner Hand mein Messer, das bis eben noch in seiner Schulter gesteckt hatte.

„Lyen!!“, brüllte ich heiser. „Lyen, pass auf!“

Aber es war zu spät. Mit einem schmatzenden Geräusch versenkte sich die Klinge in Lyens Bauch und dem Soldat traten fast die Augen aus dem Kopf, vor Schmerzen.

„Nein!“, zischte ich. „Du Mistvieh!!“

Dann sprang ich auf, wartete kurz, bis sich nicht mehr alles drehte und stürzte mich aus Nasenhorn. Mit Lyens Messer, dass neben ihm lag, schlug ich immer wieder auf ihn ein, immer und immer wieder. Ich hatte ihn doch erstochen! Was fiel dem Mistvieh eigentlich ein, einfach wieder aufzustehen?! Das durfte doch nicht wahr sein... Es sollte bezahlen, für diese Unverschämtheit und zwar jetzt!!

Wie in Trance hörte ich nicht auf, den Mutanten bluten zu lassen. Ich hatte ihn umgebracht! Umgebracht! Es war ein präziser Stich in die Schulter, er hätte nicht mehr leben dürfen...

„Rain...“, flüsterte jemand, doch ich hörte nicht auf. Der Wildschweinmann rührte sich längst nicht mehr, trotzdem wollte ich ihn nicht lassen. Er sollte bluten, für seine Tat! Bluten!

Ich vergaß jeden guten Vorastz, was die Toten und Sterbenden anging, jetzt fühlte ich nur noch die eiskalte Wut. Wut auf denjenigen, der Lyen das Messer in den Bauch gerammt hatte, obwohl er eigentlich nicht mehr hätte leben dürfen.

„Rain!“

Eine Hand legte sich auf meinen Arm. Sie war eiskalt und krallte sich so intensiv in meine Haut, dass ich inne hielt und aufsah. Lyen war kalkbleich im Gesicht und Tränen rannen ihm über die Wangen.

„Hör auf, er ist tot“

Widerwillig ließ ich von dem Wildschweinmann ab. Zitternd ließ ich mich neben Lyen auf den Boden und wollte nach dem Messer greifen, aber Lyens Hand krallte sich erneut in meinen Arm.

„Lass. Rain, ich muss dir was... sagen...“

Er sah mir so intensiv in die Augen, dass ich nicht anders konnte, als ihn anzusehen. Lyens braune Augen waren wässrig, von den Tränen und seine Pupillen weit, von dem Schmerz.

„Lyen, ich bring das wieder in Ordnung... du wirst nicht sterben...“, stotterte ich und konnte die Verzweiflung in meiner Stimme nicht verbergen. Die ausdruckslose Maske war gegangen und ich konnte mir in diesem Moment nicht vorstellen, sie jemals wieder aufzurichten.

„Nein, hör mir zu. Es gibt... den Kristall nicht....“

„Was?!“, rief ich entgeistert. „Lyen, was redest du da?“

„Es war... eine Fälschung. Ein Ablenkungsmanöver. Genau, wie Falke gesagt hat. Es gibt etwas Größeres- etwas.. wichtigeres“

„Lyen!“, schrie ich ihn an. Ich konnte nicht anders. „Bitte sag mir, dass das ein Scherz ist!“

„Nein...“. Der Soldat schüttelte verzweifelt den Kopf. „Es tut mir so Leid. Ich wollte das nicht. Ich hab ja versucht, es aufzuhalten...“

„Moment...“, flüsterte ich. „DU...? Du warst der Verräter? Du hast das Serum geklaut?! Du hast... unsere Standorte weiter gegeben? Du hast Joees Pferd angestachelt und die Schuld auf Falke geschoben? Das warst alles... DU?!“

Ich spürte nichts, als ich diese Worte sagte. Die Emotionen waren zu schwer zu verstehen und die Worte, die mir da gerade offenbart wurden waren zu unfassbar. Es gab den Kristall nicht. Es gab ihn nicht.

„Nein...“, hauchte Lyen und erneut verzerrte sich sein Gesicht, vor Schmerz. „Das war ich nicht. Ich habe das Serum geklaut, ja, aber mehr nicht. Ich habe versucht, Lyenna davon abzubringen, aber sie wollte nicht hören... und ich konnte es ihr nicht sagen, denn dann... hätte sie mich gehasst...“

Ich wollte sagen: „Ja, vermutlich!“, aber mir kam kein Wort über die Lippen, so erschlagen war ich von seinen Worten.

„Aber warum hast du nichts gesagt? Wieso hast du uns ins Dunkle laufen lassen, wohl wissend, dass es nutzlos ist? Wieso?!“

Lyen holte rasselnd Luft und hustete Blut.

„Ich konnte es euch nicht sagen. Vielleicht gibt es den Kristall ja auch... vielleicht... vielleicht ist es ja wahr und der König irrt sich. Ich wusste doch auch nicht, was ich tun sollte... ihr hättet mir doch nie geglaubt!“

Wahrscheinlich hatte er Recht. Wir waren alle so voller Elan und Ehrgeiz gewesen, Lyen hätte uns nie abbringen können, es wenigstens zu versuchen.

„Aber das heißt, wir haben doch einen Verräter dabei“, murmelte ich und Lyen nickte. „Und er wurde vom König selbst eingebaut. Da bin ich mir sicher“

„Alles nur eine Fälschung...“, wiederholte ich. „Die ganze Geschichte... war völlig umsonst...“

„Nein, Rain“. Erneut krallte Lyen seine Finger in meinen Arm. „nein, so darfst du nicht denken. Du kriegst die Freiheit für dein Volk. Versprochen. Ihr findet einen Weg. Bitte, gib jetzt nicht auf. Bitte, du musst...“

Er wurde von einem weiteren Hustenanfall unterbrochen und ich stand entschlossen auf.

„Wir müssen hier weg!“

„Du musst weg, du kannst mir nicht mehr helfen...“

„Doch“

Mit finsterer Mine hob ich Lyen auf und kam taumelnd zum Stehen. Alles drehte sich und mein Bein rebellierte gegen jeden Schritt, trotzdem trug ich den Soldaten wortlos in den Wald hinein. Ich konnte nicht richtig verarbeiten, was er da gesagt hatte. Alles war umsonst gewesen. Alles. Es gab den Kristall nicht. Alles war nur ein Spiel gewesen. Ein Spiel des Königs, um von der großen Sache abzulenken.

Die Bäume zogen an mir vorbei und kurz fühlte ich mich wieder so, wie früher, im Wald. Da war nichts mehr, nur die Schwärze und der verzerrte Hass auf die Höheren. Keine Emotionen, keine Gefühle. Nur kalter Hass. Hass auf all das Ungerechte, da draußen. Trotzdem ließ ich Lyen nicht fallen. Er konnte nichts dafür. Oder vielleicht doch. Aber er hatte ein Messer im Bauch und zwar, weil ich nicht ordentlich gearbeitet hatte. Und das war mir noch nie passiert.

Es dauerte kaum ein paar Minuten, dann war ich mit meinen Kräften am Ende. Die dunkle Wolkendecke gab das Mondlich heute nicht preis und es war stockfinster, alles war ich hörte, war Lyens rasselnder Atem, alles was ich roch, sein Blut. Alles was ich wollte war, hier raus zu kommen.

„Lyen, was ist die große Sache?“, fragte ich irgendwann in die Stille hinein.

Lyen war inzwischen weiß wie eine Wand, das sah ich sogar durch die Dunkelheit, und flüsterte nur noch röchelnd: „Ich weiß es nicht...“

Strauchelnd taumelte ich von Baum zu Baum, aber irgendwann verließen auch mich die letzten Kräfte. Nach ein paar Schritten brach ich am Boden zusammen, mit einem seltsamen Brennen in den Augen.

Lyen rollte kraftlos aus meinen Armen und blieb keuchend am Boden liegen. Noch immer verlor er viel zu viel Blut, aber ich konnte ihm schlecht den ganzen Unterleib abbinden.

„Lyen, bitte, du musst wach bleiben...“, murmelte ich verzweifelt. „Bitte...“

„Sag Lyenna... dass ich sie liebe...“, murmelte Lyen und schloss die Augen. Seine Lippen bewegten sich kaum noch, beim Sprechen, seine Lider zitterten.

„Hör auf!“, brüllte ich wütend. „Du kannst jetzt nicht sterben!“

„Du weißt es jetzt, Rain. Du musst entscheiden. Sag es ihnen, oder... tu's nicht...“, flüsterte Lyen und sein Kopf rutschte zur Seite.

„Nein!“, schrie ich ihn an. „Nein, das werde nicht ich entscheiden, sondern du! Weil du weiter leben wirst!“

Plötzlich machte Lyen die braunen Augen wieder auf und noch mehr Tränen rannen über seine Wange.

„Ich will nicht sterben, Rain...“

„Wirst du nicht...“, versprach ich leise. „Wirst du nicht...“

Aber das Blut, das aus Lyens Mundwinkel rann, war eindeutig. Seine Zeit war abgelaufen und ich konnte nichts dagegen tun.

„Hallo?!“, brüllte ich aus Verzweiflung. „Ist hier jemand? Irgendjemand?! Wir brauchen Hilfe!“

Doch mir antwortete nur die Stille und der Mond, der nun doch zwischen den Wolken hervor gebrochen war und der Lyens Blut funkeln und glänzen ließ, wie flüssiges Bronze. Hier war keiner. Niemand. Und Lyen würde sterben. Ich konnte nichts dagegen tun. Ich war hilflos.

„Lyen, hör zu, du musst wach bleiben...“, flüsterte ich und nahm sein Gesicht in die Hände.

„Ich.. kann nicht...“, stieß dieser hervor und seine Augen klappten wieder nach unten. „Ich kann es nicht...“

„Doch! Du musst! Denk an Lynnea, du kannst sie nicht allein lassen... Halt durch! Du MUSST durchhalten... Für sie...“. Plötzlich spürte ich etwas nasses auf meiner Wange. Moment, nein. Das durfte nicht wahr sein! Ich wollte doch nicht weinen... nicht hier, nicht jetzt...

Aber es war zu spät und so ließ ich mich mitreißen von der bodenlosen Verzweiflung, die mich überkam, als ich dem Soldaten ins Gesicht sah.

„Lyen...“

„Lynnea...“, hauchte Lyen zurück und begann, zu zittern. „Hör auf damit, bitte... Lynnea... ich will nicht sterben... Lynnea...“

Und dann wurden seine Gesichtszüge plötzlich weich und entspannt. Seine verkrampfte Hand löste sich von meinem Arm und rutschte zu Boden, seine Beine entspannten sich.

„Nein!“, schrie ich verzweifelt. „Lyen, nein!“

So hatte ich nicht geschrien, als Olon gestorben war, nicht, als Zena gestorben war. Es war Lyen, der mich dazu brachte. Aufgebracht schüttelte ich seinen kraftlosen Körper.

„Hör auf! Du kannst mich jetzt nicht alleine lassen!“, schrie ich und hörte nicht auf, ihn Hin und Her zu schleudern. „Lyen!!“

Nach Stunden, Minuten, oder aber auch nur Sekunden gab ich es auf und ließ mich neben ihm ins Gras sinken. Inzwischen versagte mein Körper ebenfalls und ich wusste, dass es vorbei war. Nun würde ich sterben, neben der Leiche meines Freundes. Ja, meines Freundes. Lyen war mein Freund gewesen, genau wie Bär, Lynnea, Joee und der Dryad. Sie alle waren meine Freunde und in dieser Sekunde begriff ich, woran das lag. Ich könnte es nicht aushalten, wenn sie gehen würden.

Aber ich durfte jetzt nicht aufgeben. Nicht jetzt, hier...

Es war sinnlos. Alles war sinnlos. Diese Reise, die Kämpfe, die Schmerzen. Es hatte keinen Sinn. Es gibt den Kristall nicht. Es war umsonst. Hör auf, dir Hoffnungen zu machen. Es gibt keine mehr. Es war sinnlos.

Das sagte die Stimme in meinem Kopf und einmal hörte ich auf sie. Es gab keinen Kristall. Es gab keine Freiheit für mein Volk. Alles war umsonst. Alles.

Es gab kein Ziel mehr.

 

Ich war mir nicht wirklich sicher, ob ich aufwachte, oder nicht. Aber ich spürte nichts. Weder die brennende Sonne auf meiner Haut, noch das Pulsieren in meinen Gliedern. Die getrockneten Tränen auf meiner Wange, das Blut an meinen Kleidern. Ich spürte nichts und doch irgendwie alles.

Lyen lag neben mir, er schlief. Oder nicht...? Er war so unglaublich blass... seine Lippen blau, die Nägel ebenfalls. Aber er schlief. Tief und unerreichbar. Oder...?

Irgendwie zog ich mich auf die Knie. Brennender Durst in meiner Kehle, unbezwingbar, selbst durch die nebelige Wolke in meinem Kopf drang er. Ich brauchte Wasser... Sofort...

Alles tat mir weh, jetzt spürte ich es doch.

„Lyen... wir müssen weiter... die Anderen finden...“, krächzte ich und stieß Lyen an. Seine Hand war eiskalt, erinnerte mich daran, wie warm mein eigenes Blut sich anfühlte. „Lyen... wach auf...“, murmelte ich verwirrt. „Komm schon...“

Aber der Soldat antwortete nicht. Er stand auch nicht auf, er lag nur da und schlief.

„Ich muss los...“, meinte ich konfus. „Ich muss... die Anderen finden...“

Irgendwie registrierte ich das Messer in Lyens Bauch. Irgendwie auch nicht. Er schlief. Was auch sonst?

„Die Anderen finden...“, wiederholte ich leise. „Die Anderen...“

Dann kroch ich los. Wer die Anderen waren? Das wusste ich selber nicht. Aber ich musste sie finden. Sie und das Wasser, das bereits jetzt so verlockend in meinen Ohren rauschte. Der Boden vor mir war seltsam gesprenkelt. Licht... Sonne... oder?

Ich stand völlig neben mir. Langsam und quälend krabbelte ich ins Unterholz hinein.

„Er wird schon nach kommen...“, flüsterte ich bei dem Gedanken an Lyen, der noch auf der Lichtung schlief. „Bestimmt...“

Irgendwann gaben meine Arme nach und ich legte mich einfach auf den Boden. Die Tannennadeln stachen in meine Haut, aber ich würde es einfach so machen, wie Lyen. Ich würde einschlafen und dann wäre alles gut. Ich würde auch wieder aufwachen... Bestimmt...

Blinzelnd starrte ich in den Himmel über mir. Er war blitzblau und die Sonne stach in meine Augen, trotzdem wich ich ihren Strahlen nicht aus. Irgendwann wurden meine Lider schwerer und ich gab dem Sog in meinem Kopf nach.

Einfach schlafen... wie Lyen...

„Ich komm' nach...“, nuschelte ich noch, dann war alles schwarz. 

Wahrheit

18. Kapitel Wahrheit

 

Ich wurde wach.

Ich hörte einen Schrei.

Ich wurde wach, WEIL ich einen Schrei hörte.

Alleine um das festzustellen, brauchte ich viel zu lange. Ungesund lange.

Nicht einmal ein Ächzen brachte ich zu Stande, aber immerhin konnte ich meine Augen aufschlagen.

Das flackernde Licht um mich herum war rot und halbdunkel.

Sonnenuntergang.

Auch, um mich an diesen Zusammenhang zu erinnern, benötigte ich viel zu viel Zeit. Irgendetwas stimmte hier nicht.

Verzweifelt versuchte ich, meinen Kopf zu wenden, oder mich wenigstens irgendwie zu bewegen, aber sobald ich auch nur irgendetwas rühren wollte, schossen zuckende Blitze durch meinen ganzen Körper.

Die Sonnenstrahlen brannten in meinen Augen und Schweiß lief mir von der Stirn- schon wieder mehrere Minuten, bis ich das verstand.

Was war hier los?

Unter meiner Haut spürte ich etwas nasses und Tannennadeln. Ob es mein Blut war? Nein, unmöglich. Wenn ich eine solche Menge verloren hätte, dann müsste ich jetzt tot sein. Oder? So gut hatte ich mich damit noch nie ausgekannt.

Erneut drang ein Schrei an meine Ohren. In ihm lag die ganze Verzweiflung desjenigen, von dem er stammte, all der Schmerz und die Ausweglosigkeit, die ich auch verspürte. Es war ein Weinen, das realisierte ich erst viel zu spät.

Ein weiteres Mal wollte ich um jeden Preis aufsehen, aber ich konnte mich einfach nicht dazu zusammen reißen. Eine schwere Müdigkeit lag über mir und der quälende Durst in meiner Kehle brachte mich eben so um den Verstand, wie der Schwindel in meinem Kopf.

Vielleicht war das Nasse unter mir ja doch mein Blut. Wer wusste das schon.

Von wem das Weinen und die jetzt einsetzenden Stimmen stammten, interessierte mich nicht. Wichtig war nur das, was mir durch den Kopf ging. Alles Andere erschien mir so weit weg und so abgelegen, dass ich gar nicht erst darüber nachdenken wollte. Am Ende wäre es ja doch nur wieder sinnlos.

Sinnlos...

Dieses Wort hinterließ einen unguten Nachhall in meinem Kopf. Als würde es mehr bedeuten, mehr Hintergrund haben. Aber wahrscheinlich irrte ich mich. Warum auch dieses Wort?

Sinnlos...

Es war nichtssagend. Was war schon wirklich sinnlos?

Über diesen Gedanken wurde ich langsam träge, während das Nass unter mir immer mehr wurde. Auch die Stimmen wurden leiser. Krachen von Ästen...

Sinnlos...

Nichts war sinnlos. Wirklich nichts. Wenn etwas sinnlos war, dann das Wort sinnlos. Was konnte schon sinnlos sein? Immerhin zog alles eine Konsequenz hinter sich, die auch wieder Konsequenzen hatte. Alles, was man tat, veränderte irgendetwas. Von daher gab es kein sinnlos.

Sinnlos...

Inzwischen hörte ich die Stimmen und das Weinen kaum noch. Es war auch unwichtig. Was ging mich das schon an?

Sinnlos...

War vielleicht doch etwas sinnlos? Vielleicht unsere ganze Existenz? Am Ende gab es ja doch nur noch die herzlosen, philosophischen Gedanken und das Nass unter meinem Körper.

Sinnlos...

Sinnlos...

Sinn...

„ICH HAB IHN GEFUNDEN!!!“

 

***

 

Das nächste, was ich spürte, war Schmerz.

Furioser Schmerz in meinem Bein.

Ein Stechen und Zwicken, wie ein Tanz aus brennenden Blitzen, die sich in mein Fleisch bohrten und sich von da aus über meinen ganzen Körper ausbreiteten.

Mein Schrei ging unter in rauem Stoff.

Moment... Stoff?!

Ich wollte an meinen Mund fassen, aber irgendetwas hielt meine Hände zurück. Verdammt... was ging hier ab?

Meine Augen bekam ich nicht auf, meine verbliebene Hand wurde genau so hart an den Boden gedrückt, wie die andere. Und der explodierende Schmerz in meinem Bein wurde auch nur dort abgeschwächt, wo heftiger Druck meine Glieder an den Boden fesselte.

Jetzt kam die Hysterie zurück. Alles, was ich sah, was intensives Schwarz, aber immer und immer wieder fuhr der Schmerz in kreisenden Spiralen durch meinen Oberschenkel und oft konnte ich meine Schreie nicht zurück halten.

Sofort bekam ich es mit der blanken Angst zu tun. Kalte Schauer rieselten mir über den Rücken und in kurzen Abständen begann ich zu würgen, weil mir der raue Stoff im Mund die Luft abschnürte, von der ich allein durch die Nase nicht genug bekam.

Und ein weiteres Mal gleißende Stiche in meiner Haut, die sich unerbittlich ausbreiteten. Verzweifelt begann ich, mit meinem freien Bein auszutreten. Ich hörte nichts, nur die dumpfen Schläge meines eigenen Herzens in meinen Ohren. Ich traf etwas. Triumphierte aber nur kurz. Binnen weniger Sekunden schwang sich weiteres Gewicht auf mein freies Bein und dann ging es weiter. Stich für Stich wummernde Schläge in meinem Bein. Und egal, wie sehr ich mich Hin und Her wandte, versuchte, um mich zuschlagen, oder aufschrie, weder das Gewicht, noch die Schmerzen gaben nach.

Erst viel zu spät erbarmte sich die Ohnmacht meiner und tauchte mich in ruhiges, warmes Schwarz.

 

 

Das nächste Aufwachen war nicht viel besser. Auch diesmal war ich nicht fähig, meine Augen zu öffnen, oder etwas anderes zu hören, als mein eigenes Blut, aber immerhin wurde ich nicht mehr zu Boden gedrückt. Die Schmerzen waren dafür aber auch nicht besser.

Mein Oberarm brannte wie Hölle, mein Schlüsselbein schien zu schmelzen, so heiß fühlte es sich an und für meinen Oberschenkel fand ich gar keine Umschreibung, so sehr schüttelte es mich.

Schon bald fühlte ich etwas nasses auf meiner Zunge und obwohl ich es nicht wollte, schluckte mein ausgetrockneter Mund jede Art von Flüssigkeit bereitwillig. Hier meldete sich wieder mein Überlebensinstinkt und vor allem wohl auch mein Hals, der noch immer nach Wasser schrie.

Zu meiner Überraschung ließen die Schmerzen aber fast sofort nach und das Rauschen in meinen Ohren wurde immer leiser, bis ich schließlich Stimmen hören konnte. Mein Atem ging inzwischen schon regelmäßiger, weil die Schmerzen nun erträglich waren, trotzdem schlug mein Herz noch wie wild gegen meine Brust.

„Wo ist sie?“

„Weg“

„Kommt sie wieder?“

„Ja“

Die beiden Stimmen kamen mir so tröstlich und vertraut vor, dass ich aufatmete. Auch, wenn ich sie jetzt noch nicht bestimmen konnte, ich wusste, dass ich bei ihnen in Sicherheit war. Ich kannte sie. Und ich vertraute ihnen. Ein Gefühl, das ich so gut wie nie verspürte, breitete sich in meiner Magengegend aus und augenblicklich entspannte ich mich ein wenig.

Jetzt schien es mir realistischer, schlafen zu können und fast wie aufs Wort versank ich auch schon in meinen eigenen Gedanken, bis mich die Müdigkeit schließlich ganz übermannte und mit sich nahm.

 

„Was hast du getan?!“

Erneut wurde ich durch einen Schrei geweckt, aber diesmal begriff ich das wesentlich schneller. Erschrocken riss ich die Augen auf und wurde fast erschlagen von dem blendenden Hell um mich herum. Das Licht war so unglaublich weiß im Gegensatz zu den letzten Stunden, die ich vor mich hin vegetiert hatte, dass ich ein paar Sekunden brauchte, bis mir einfiel, wer ich war, wo ich mich befand und wer da mit Tränen in den Augen über mir stand.

Ich war Rain.

Ich befand mich im Wald, umringt von gewaltigen Tannen.

Über mir stand Lynnea und in ihren Augen blitzten sowohl Tränen als auch unbändiger Hass.

„Du räudiger Hundssohn, was hast du getan?!“, schrie sie erneut und dann griff sie nach meinem Kragen und riss mich mit gewaltiger Kraft unsanft auf die Füße.

Fast augenblicklich knickte mir mein rechtes Bein weg und stechende Schmerzen schossen durch meinen Knochen. Stöhnend war ich im Begriff, wieder auf den Boden zu sacken, aber Lynnea hielt mich fest und drängte mich gegen einen Baustamm.

„REDE!!“. Sie konnte ihre Tränen nicht zurück halten, ihre Stimme klang brüchig und verzweifelt, über ihre bleichen Wangen rannen jetzt schon Sturzbäche.

„Lynnea, hör auf, es ist noch zu früh...“, rief jemand, aber sie hörte gar nicht, sondern schüttelte mich nur durch, um mich erneut gegen den Baumstamm zu stoßen.

Alles drehte sich, mein Bein versagten völlig, mein Arm pochte heiß.

„Waas?“, fragte ich völlig verwirrt, immer noch nicht richtig anwesend.

„Was. Hast. Du. Mit. Lyen. Gemacht?!“, schrie Lynnea weinend und schüttelte mich erneut. Dann holte sie aus und schlug mir ins Gesicht. „Du elender Bastard!!“

Schwankend versuchte ich, alles einzuordnen... Lyen... Lyen war tot... und der Kristall nur eine Lüge... und... Lynnea war hier...

„Ich... was...?!“

Erneut holte Lynnea aus, aber diesmal kam sie nicht zum Schlag, da ihr Arm unsanft von jemandem zurück gerissen wurde. Bär... Vor Erleichterung wäre ich fast zu Boden gegangen. Was ich dann aber auch tat, sobald Lynnea mich los gelassen hatte.

„Lynnea, beruhig dich!“, rief Bär nun mit polternder Stimme. „Und lass Rain in Ruhe!“

„Nein!“, brüllte Lynnea und versuchte, sich gegen Bärs Griff zu wehren. Sie sah furchtbar aus. Ihr Haar war ungekämmt und unzählige Blätter und Ästchen hatten sich darin verfangen, sie war leichenblass und zitterte am ganzen Körper. „Nein, er soll bluten, dafür! Er soll leiden! Dafür, was er getan hat!“

Nun war ich völlig irritiert. Was hatte ich getan? Lyen...? Ja, ich hatte gepfuscht. Aber woher wusste sie das? Bilder schossen mir durch den Kopf und mir wurde übel, als ich mich an den Kampf erinnerte. An den sterbenden Lyen, dessen kaltes Gesicht zwischen meinen Händen ruhte. An das Aufwachen von vorhin und das eben.

Eine Hand legte sich auf meine Schulter.

„Komm runter, es ist doch nichts passiert...“, hörte ich jemanden sagen und wandte den Kopf. Neben mir stand der Dryad. Er sah wirklich nicht gut aus, seine grüne Hautfarbe hatte sich ins dunkle verfärbt und seine Haare standen wild vom Kopf ab, während seine Lippen erblasst waren. Alles in einem sah er aus wie eine wandelnde Leiche.

„Nein... nein...“, stotterte ich, immer noch nicht wirklich fähig, normal zu sprechen. Mein Blick flog erneut zu Lynnea, die nun schreiend und heulend am Boden lag, immer noch nieder gerungen von Bär, dessen Gesicht zwar ziemlich hart wirkte, doch in seinen Augen lag die selbe Verzweiflung.

„Du zitterst aber wie Espenlaub“, brummte der Dryad und dann stellte ich selbst fest, wie heftigt meine Schultern zitterten.

Plötzlich stand Joee neben mir und drückte mir ein Kraut in die Hand.

„Iss das, dann geht es besser“

„Ich...“, versuchte ich erneut, einen einigermaßen sinnigen Satz zusammen zu basteln, aber es gelang mir nicht.

„Ruh dich einfach erst Mal aus. Später sehen wir dann weiter“, lächelte Joee und ich bemerkte, dass in seine Augen wieder dieses seltsame Weiß getreten war, das das hektische Zucken seiner Pupillen vollkommen verdeckte. Hoffentlich heilte er mich gleich nicht zu Tode... Trotzdem aß ich brav das bittere Kraut und sah währenddessen zu Bär und Lynnea. Die blonde Soldatin lag zusammen gerollt am Boden, zitternd und weinend, während Bär hilflos neben ihr hockte und eine Hand auf ihre Schulter legte.

„Was... was...?“, fragte ich, noch immer unfähig, kontrolliert zu sprechen.

„Ruh dich aus“, meinte Joee erneut. „Wir werden morgen weiter sehen, wie wir das regeln. Noch bist du zu schwach, um dich dem ganzen zu stellen, aber bald wird es besser gehen und dann wird auch Lynnea wieder klar kommen“

Ich wollte mich aber nicht ausruhen! Mir ging so viel im Kopf herum... mein Blick wanderte zum Dryaden und der grinste breit, wobei er seine gewaltigen Fänge entblößte.

„Egal, was du oder die sagen, ich find klasse, was du gemacht hast. Ein paar Wochen habe ich wirklich geglaubt, du hast dich einfach so unterkriegen lassen...“

„Was?!“, fragte ich perplex. Jetzt wusste ich aber wirklich nicht mehr, wovon er sprach!

Der Dryad musterte mich eine Weile, dann nickte er. „Ja, du hast Recht. Tu am besten die ganze Zeit unschuldig, vielleicht glauben sie dir dann. Aber meine Unterstützung hast du!“. Dann klopfte er mir auf die Schulter, was sofort von einem stechenden Schmerz quittiert wurde. In meinem Kopf drehte sich alles und ein Blick auf mein Bein zeigte mir einen dicken, weißen Verband. Anscheinend hatte Joee sich bereits um die Wunde gekümmert.

„Du solltest schlafen“, meinte Joee, dessen Gesichtszüge nun seltsam verhärtet waren. „Und zwar jetzt. Es ist wirklich noch zu früh, dass du wach bist. Du wirst sehen, ein paar Stunden Schlaf und du kannst auch wieder richtig sprechen und denken. Vielleicht sogar stehen“

Widerwillig gehorchte ich dem Heiler und ließ mich einfach nach hinten ins Gras sinken. Am liebsten hätte ich noch mit Bär gesprochen, aber der wachte immer noch neben Lynnea, die schluchzend am Boden lag und kein Wort über die Lippen brachte. Fast sofort stieg mir die Müdigkeit zu Kopf und meine Gedanken wurden betäubt, langsam aber sicher versank ich wieder im traumlosen Schlaf. Zumindest hoffte ich, dass er traumlos war.

 

Es war ein einziger Alptraum. Alec stand vor der Grabkammer seines Herrn und bekam seinen Mund nicht mehr zu. Die Tür aufgebrochen, die Marmorplatten zerschlagen, wilde Parolen an den heiligen Wänden. Das Gotteszeichen beschmiert, die Heiligtümer umgeschmissen... es war ein einziges Chaos.

Ein Stein mit der Aufschrift 'ant Janys' rutschte zur Seite. Nur ein Bruchstück der Inschrift, die eigentlich noch auf dem Sarg hätte liegen sollen. Nur wenige Leute bekamen ein solch wunderbares Grab und Alec war immer stolz gewesen, es in Stand halten zu dürfen. Und nun? Wie sollte er das dem Vorgesetzten erklären? Das gäbe Prügel, ganz bestimmt.

Vorsichtig lugte er über den Rand des gewaltigen Steinsargs. Vor Schreck schrie er auf und schlug sich die Hand vor den Mund und presste die Augen fest aufeinander. Dem alten Herrn, Janys, der mit friedlichen Gesichtszügen im Sarg ruhte, fehlte die linke Hand. Komplett. Nichts als ein paar Blut durchtränkte Tücher waren zurück geblieben und der Ring, den er stets am Ringfinger getragen hatte und den man nicht einmal bei der Beerdigung hatte lösen können, war ebenso fort.

Zitternd ballte Alec die Fäuste. Was waren das für Schweinehunde! Schändeten das Grab seines Herrn und misshandelten seine Leiche! Wut stieg in ihm auf und er trat zornig gegen eines der Marmorstücke am Boden.

Er würde diese Verbrecher finden. Und dann bekämen sie ihre gerechte Strafe!

 

Ich fuhr aus dem Schlaf und sank sogleich zurück auf den Boden. Noch völlig verstört von den Bildern meines Traums spürte ich die Schmerzen kaum, die immer noch in pulsierenden Schlägen durch meinen Körper jagten. Janys Hand war fort. Und der Ring mit ihr. Das hieß, der Schlüssel zu meiner Freiheit lag nicht mehr wohl verwahrt in einer Grabkammer, sondern kursierte irgendwo im Land. Wie sollte ich den jemals finden? Meine Gedanken wurden dunkel und das letzte bisschen Hoffnung entglitt mir wie Regen, der einem durch die Finger rann.

Alles war nur eine Lüge...

Inzwischen konnte ich so klar denken, dass ich wusste, was das bedeutete. Ich musste eine Entscheidung treffen, die mitunter über mein Schicksal bestimmen könnte. Sollte ich den Anderen erzählen, dass es den Kristall nicht gab? Oder Stillschweigen bewahren? Ich bekam Kopfschmerzen, vor Anspannung. Es gäbe keine richtige Antwort und das wusste ich. Und trotzdem konnte ich die Verantwortung nicht einfach abgeben. Es lag an mir, ob ich mit der Wahrheit herausrückte, oder nicht.

„Rain! Du bist wach!“

Blinzelnd wandte ich den Kopf. Vor mir, oder eher über mir, stand Bär und grinste. „Na endlich. Ich dachte schon, du willst ewig schlafen. Wie geht es dir? Kannst du aufstehen?“

Ich nickte vorsichtig und griff nach Bärs sehniger Hand, die er mir bereitwillig entgegen streckte. Langsam und behutsam half mir der kräftige Krieger auf die Beine. Mit Schmerz verzerrtem Gesicht entlastete ich meinen Oberschenkel, der bereits wieder in Flammen stand.

„Geht es?“, fragte Bär und in seinen Augen spiegelte sich Sorge. Er hatte tiefe Augenringe und obwohl er sich unbeschwert lächelte, wie möglich, sah ich, wie fertig er war. Da ich ihn nicht noch mehr belasten wollte, rang ich mir ebenfalls ein gequältes Lächeln ab.

„Ja... schon viel besser...“

„Na komm. Ich helf dir zu den Anderen“, schlug Bär vor und legte meinen Arm um seine Schulter, damit er meine verletzte Seite stützen konnte.

„Nein“, erwiderte ich entschlossen und zog meinen Arm wieder zurück. „Ich schaff das schon alleine...“

Es war mir unangenehm, auf seine Hilfe angewiesen zu sein. Es fühlte sich einfach nicht richtig an und widersprach einfach allem, was ich je gelernt hatte. 'Beiß dich durch, wo es nur geht. Sei ein Einzelkämpfer und auf niemanden angewiesen!'

Worte, die im Wald durchaus Sinn ergaben, hier aber seltsam abstrakt waren. Trotzdem schob ich Bär entschlossen fort und machte zögerlich einen Schritt nach vorne.

Ich musste mich beherrschen, nicht aufzuschreien. Gleißende Blitze schossen durch mein Bein und fast sofort verließ mich jegliche Kraft, sodass ich mich an einem Baum abstützen musste, um nicht zusammen zu brechen.

„Sicher, dass ich nicht...?“, fragte Bär unsicher, aber ich winkte ab.

„Ach was... geht schon. Geh einfach vor, ich komme gleich nach“

Bär nickte langsam, aber kritisch. „Gut... aber wenn du Hilfe brauchst, dann musst du nur rufen...“

Ich nickte ebenfalls, mit zusammen gebissenen Zähnen, dann wartete ich, bis Bär zwischen den Bäumen verschwunden war und mich nicht mehr sehen konnte. Mit einem gequälten Stöhnen sank ich vollends gegen den Baumstamm. Meine Hände krallten sich in den Verband, aber das machte die Schmerzen nur noch schlimmer.

Was war bloß mit mir geschehen? So eine einfache Wunde brachte mich doch sonst nicht davon ab, stark zu bleiben... Mehr oder weniger zusammen gerissen machte ich einen weiteren Schritt nach vorn, aber auch hier war das Ergebnis nicht anders. Fünf weitere Male schleppte ich mich von Baum zu Baum, dann kam endlich das Lagerfeuer in Sicht. Joee, Bär, der Dryad und Lynnea schienen nur auf mich gewartet zu haben. Sie sahen mich alle an, doch in ihren Blicken lagen so unterschiedliche Aussagen, dass sie mich sogar kurz den Schreck vergessen ließen, der von ihrem Aussehen verursacht worden waren.

Joee saß Stockgerade da, seine Hände spielten unruhig mit ein paar Grashalmen herum und seine Augen stierten mich an, als wollte er mich hypnotisieren. Schnell sah ich zu Bär, doch der wirkte einfach nur müde. Stress und Schlafmangel zeichneten sich in seinem Gesicht ab, tiefe Augenringe und viele kleine Falten, die sonst nie aufgefallen waren. Neben ihm saß der Dryad, der noch immer mehr wie ein Zombie aussah. Doch um seine Mundwinkel bildete sich ein kleines, spöttisches Grinsen, das ich nicht ganz zuordnen konnte.

Aber am schlimmsten war es mit Lynnea. Mit apathischen Bewegungen schaukelte sie vor und zurück, ihre Augen waren halb geschlossen. Die blassen Finger krallten sich in ihre angezogenen Knie und sie murmelte immer wieder nur ein Wort. Ich brauchte kaum ein paar Sekunden, um es zu verstehen.

Lyen.

Erst, als sie mich sah, riss sie ihre Augen auf und begann zu kreischen. Mit panischen Bewegungen wollte sie aufspringen und fortrennen, aber Joee hielt sie fest.

„Da ist er!!“, schrie Lynnea und ich konnte nicht anders, als zu erstarren und sie verstört anzustarren. „Erledigt ihn!! Ich will ihn nicht sehen... ich will hier weg...“

Den letzten Satz wimmerte sie nur noch. Das bleiche Gesicht in den Händen vergraben sank sie auf die Knie und Tränen ergossen sich in Sturzbächen über ihre Arme. Ich schluckte. Was war bloß mit der starken Kriegerin geschehen...?

„Rain... tut mir Leid. Setz dich...“, murmelte Bär und wollte sich erheben, doch ich winkte ab.

„Bleib ruhig sitzen...“. Dann ließ ich mich irgendwie auf den Boden sinken und beobachtete Joee und Lynnea, die sich ein wenig von uns Dreien entfernt hatten. Joee gab Lynnea irgendein Kraut in die Hand und sprach eindringlich auf sie ein, seine Augen leuchteten weiß.

„Was hat sie?“, fragte ich besorgt und ignorierte das Stechen in meinem Oberschenkel.

„Ach... sie ist einfach völlig fertig, wegen Lyen...“, erzählte Bär und rieb sich die Stirn. Die Schatten unter seinen Augen schienen mit einem Mal noch viel tiefer.

„Und... was meint sie damit, dass sie mich nicht sehen will...?“, fragte ich nach einigem Zögern. Wollte ich das wirklich wissen?!

„Mach... mach dir keine Gedanken“, murmelte der breite Krieger und wich meinem Blick aus. „Ich bin mir sicher, dass wird sich bald klären“

„Was meinst du denn überhaupt?“, fragte ich erneut.

„Es lohnt sich nicht, sich darum Gedanken zu machen. Denk einfach nicht dran...“, riet mir Bär und lächelte schief.

„Aber...“

„Ach komm, Bär, das wird er sowieso bald rausfinden.“, mischte der Dryad sich ein und wandte sich zu mir um. Sein Gesicht veränderte sich kein Stück, völlig unbeteiligt fixierten seine Pupillen meine, als er trocken verkündete: „Sie denkt, du hast den Blondie abgestochen“.

Mir verschlug es kurz die Sprache. Ich...? Lyen...? Getötet?!

„Nein!“, protestierte ich. „Das ist nicht wahr!“

Bär schob den Dryaden ärgerlich zur Seite. „Halt den Mund!“, fuhr er ihn an und ich erlebte ihn das erste Mal aggressiv, anstatt gelassen. „Was hast du dir dabei gedacht?! Denkst du nicht, wir haben schon genug Probleme?!“

Der Dryad zuckte unberührt mit den Schultern und verzog sich in den Schatten der Bäume. Ich starrte noch ein paar Sekunden auf die mächtigen Stämme, hinter denen er verschwunden war, dann brach alles aus mir heraus.

„Nein, Bär, ich war das nicht... wirklich nicht, ich wollte ihn beschützen, vor all den Monstern, er hat es nicht geschafft, aber ich wollte ihn noch retten... da waren diese beiden Wildschweine und der Anführer... aber der eine ist wieder aufgestanden... und er hat Lyen getötet, nicht ich... ich wollte das doch verhindern, aber...“

Bär unterbrach meinen aufgelösten Redeschwall mit nur zwei Wörtern.

„Ich weiß“

Erleichtert atmete ich auf. „Du glaubst also nicht, dass ich ihn...?“

„Nein“. Bär schüttelte den Kopf. „Aber Lynnea hat Lyen gefunden, weißt du? Und er hatte dein Messer im Bauch... sie war so außer sich, dass ihr gar nicht aufgefallen ist, dass die Blutspuren aus dem Wald führten und eindeutig von Zweien stammten. Ich bin ihnen gefolgt und auf die Leichen der Mutanten gestoßen. Ich weiß, dass du das nicht gewollt hast. Aber Lynnea ist viel zu aufgelöst, um das zu glauben...“

„Und die Anderen?“, fragte ich weiter. „Der Dryad und Joee? Was denken sie?“

„Dem Dryaden ist das völlig egal“, seufzte Bär. „Und Joee... er meint zwar, er wüsste auch, dass du es nicht warst, aber seine Blicke sprechen eine ganz andere Meinung...“

„Das Weiße?“, hakte ich nach.

Bär nickte. „Wenn das weiß da ist, dann ist er davon überzeugt, dass du es nicht warst. Er ist ruhig, besonnen und verständnisvoll, kümmert sich aufopfernd um Lyenna, aber... sobald es weg ist, wirkt es, als würde er dich am liebsten tot sehen“

„Weißt du, was das Weiße zu bedeuten hat?“

Bär schüttelte den Kopf und rieb sich erneut die Stirn. „Auf jeden Fall geht gerade alles den Bach runter. Inzwischen bin ich mir nicht mal mehr sicher, ob wir überhaupt noch beim Kristall ankommen werden...“

Ich zuckte zusammen, als er das sagte. Und schon waren sie wieder da, die Zweifel. Sollte ich ihnen sagen, dass es den Kristall nicht gab?! Oder nicht? Ich war mir so unsicher... also schwieg ich einfach und starrte gemeinsam mit Bär in die knisternden, lodernden Flammen, die sich gen Sternenhimmel streckten und wandten.

Irgendwie zog sich alles in mir zusammen, wenn ich an den schwarzen Wald dachte. Inzwischen wusste ich nicht einmal mehr, ob ich traurig sein, oder mich freuen sollte, dass ich ihn wahrscheinlich nie wieder sehen würde. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn ich ihn einfach niemals verlassen hätte. Dann würde ich jetzt immer noch im Regen leben und nichts tun, als die Höheren zu verfluchen. Jetzt erschien mir das irgendwie einfacher, als hier zu sitzen und in einen immer tieferen Zwiespalt zu rutschen, der mich langsam wirklich verrückt machte.

„Du, Bär...“, meinte ich nach einer Weile zögernd. „Was wäre... wenn es den Kristall gar nicht gäbe...?“

Bär wandte seinen Blick nicht vom Feuer ab, sodass die Flammen lodernde Schatten auf sein Gesicht malten, als er antwortete: „Dann wären wir verloren. Ausnahmslos alle“

Falkes Worte hallten in meinem Kopf nach und ich wunderte mich, dass ich mich immer noch an den genauen Wortlaut erinnerte.

'Wenn ihr mich fragt, ist das hier ein abgekartetes Spiel, nur ein Ablenkungsmanöver, für irgendeine große Sache, von der möglichst niemand etwas mit bekommen soll'

Wieso hatte ich nicht früher erkannt, wie Recht er hatte? Falke war vielleicht nicht leicht zu durchschauen und ein sehr finsterer Mann, aber an Intelligenz und Verstand mangelte es ihm wirklich nicht. Und trotzdem war da nichts als Wut, wenn ich an ihn dachte. Dadurch, dass der Meuchelmörder sich abgesetzt hatte, waren wir doch erst in den Wald geritten... wenn er nicht gegangen wäre, dann würde Lyen jetzt noch leben und ich hätte nicht den Druck, eine Entscheidung zu treffen, die über unser aller Leben entscheiden würde.

„Wir müssen weiter“.

Ich zuckte zusammen, als mich Bär überraschend aus meinen Gedankengängen holte.

„Wir haben kaum noch Verpflegung und Joees Medikamente sind auch fast aufgebraucht. Aber sowohl Lynnea, als auch du braucht weiterhin Versorgung, sonst sind wir bald nur noch zu dritt...“

„Schwebt dir ein Ziel vor?“, fragte ich und schluckte den verletzten Stolz herunter, der mir wispernd zu verstehen gab, wie peinlich es war, auf die Anderen angewiesen zu sein. Ohne sie wäre ich tot. Eine ernüchternde Erkenntnis, mit der ich mich nie richtig anfreunden würde. Sie hatten mich gerettet, doch für Lyen hatte ich nichts tun können.

Bär schüttelte den Kopf. „In dieser Gegend kenne ich mich kaum aus. Joee ist völlig am Ende, Lynnea kaum noch ansprechbar und du hast deinen Wald ja, so weit ich weiß, auch noch nie verlassen... wir bräuchten Lyen oder Falke. Am Besten beide...“

Wehmütig sah Bär zum Himmel. „Möge es den beiden gut gehen, wo auch immer sie nun sind“

Entgeistert starrte ich den stämmigen Krieger an. „Du wünschst Falke immer noch das Beste?! Wegen ihm ist Lyen tot, Bär! Er hat uns verraten, ist einfach abgehauen, ohne sich einmal umzudrehen!“

Bär schüttelte nur den Kopf. Seine Augenlider flackerten, vor Müdigkeit. „Es bringt nichts, ihn verantwortlich zu machen. Er war ein Gefangener, die ganze Zeit, und man kann ihm den Ausbruch nicht verübeln. Wenn wir schon den Verursacher der ganzen Geschichte suchen, so ist es Endrian und niemand Anderes. Doch darum geht es jetzt auch gar nicht. Wir müssen weiter, aber keiner von uns kennt sich hier aus, was zurzeit wohl unser größtes Problem ist“

„Ich weiß, wo wir lang müssen“.

Bär und ich fuhren gleichermaßen erschrocken zusammen, als die raue Stimme hinter uns erklang. Zwischen den Bäumen stand der Dryad, halb im Schatten, doch seine Augen glitzerten wissend im Feuerschein, als sich ein überlegenes Lächeln auf seine Lippen stahl.

„Eure verdammten Höheren-Freunde waren nicht dumm, als sie einen Dryaden mit auf Reisen nahmen...“

„Du warst einmal hier?“, fragte Bär überrascht, doch ich verstand bereits. Die anderen Bäume...

„Ihr wisst so wenig über uns und doch verachtet ihr meinesgleichen...“, grinste der Dryad abwertend. „Dumme, kleine Höheren. Oder sollte ich eher sagen Menschen? Das ist doch euer alter Name, oder?“

Ich hatte mir längst angewöhnt, die Höheren so zu nennen, doch er Dryad schien sich fester an alte Gewohnheiten zu klammern, als ich. Wer von uns beiden damit den besseren Weg wählte, war unklar, aber ich wusste, dass es garantiert mehr Schwierigkeiten bereitet hätte, wenn ich mich weiterhin gegen die Menschen gesträubt hätte.

„Jetzt rück schon raus mit der Sprache“, befahl Bär unwirsch. Erneut wunderte mich die Aggressivität in seiner Stimme.

„Die Bäume... auch sie sind bewohnt. Ich habe die letzten Tage nicht wie ihr damit verbracht, untätig rumzusitzen, sondern habe mich ein wenig umgehört. Es gibt einen Pfad nach Osten, mit dem wir in zwei Tagen auf eine kleine Stadt treffen werden. Die Bewohner sind wohl sehr gastfreundlich und froh über jeden Reisenden, der ihren Ort beehrt“

„Wieso sagst du das erst jetzt?“, fragte Bär, aber er konnte nicht verbergen, dass die Falten um seine Augen sich ein wenig entspannten und Hoffnung in seinen Augen aufglimmte.

„Früher hättet ihr doch sowieso nicht losziehen können. Außerdem hat mich ja keiner gefragt...“, antwortete der Dryad und musterte gelangweilt seine Fingernägel. Eines musste man ihm lassen: Er verstand sich auf sein Schauspiel.

 

 

 

 

Tourun war wirklich eine kleine Stadt, kaum mehr als ein Dorf. Und trotzdem waren wir alle so erleichtert, als sie am Horizont auftauchte, dass die bedrückte Stimmung sich mit einem Schlag ein wenig besserte. Obwohl ich immer noch um jeden Atemzug kämpfte und kaum aufrecht auf Tonne sitzen konnte, wäre ich fast ohnmächtig geworden, so froh war ich, das Ziel endlich vor Augen zu haben. Der Dryad hatte von zwei Tagen gesprochen, aber bei unseren Umständen waren wir inzwischen seit fünf elendig langen Tagen durch den Wald geirrt, dem verwucherten Pfad nach, mit dem einzigen Ziel, endlich irgendein Ziel zu erreichen. Lynnea schlief fast die ganze Zeit über und wenn sie mal aufwachte, dann sprach sie kein Wort, nahm schweigend das Wasser von Joee entgegen und starrte mit glasigen Augen in die Leere. Sie startete keine weiteren Attacken auf mich, aber ich war mir nicht sicher, ob ihre abwesenden Blicke besser waren, als brennende Schläge in meinem Gesicht.

Lyen war tot... mit jedem Tag war mir das klarer geworden. Immer öfter ertappte ich mich dabei, wie ich nach seine Silhouette an der Spitze der Truppe Ausschau hielt, aber da war kein Führer mehr, sondern nur ein dreckiger Dryad, dessen Augen mit jedem Tag trüber und sein Husten mit jeder Minute schlimmer wurden, je weiter wir uns vom verfluchten Wald entfernten.

Selbst Bär ließ nur ein halbherziges: „Endlich...“, erschallen, als wir uns den Hausdächern näherten, trotzdem brach es das eisige Schweigen wie ein Vorschlaghammer. Die Gemüter wurden besänftigter, in Aussicht auf ein warmes Bett und ein Bad, selbst die Schmerzen in meinem Oberschenkel erschienen mir erträglicher. Aber ich hing dennoch nur mit letzter Kraft auf Tonne. Wie dankbar ich ihr war, dass sie so breit und stämmig war... von jedem anderen Pferderücken wäre ich längst gekippt, wie ein schlaffer Sack Kartoffeln. Vor eineinhalb Tagen waren Joee die Medikamente ausgegangen und seitdem brannte selbst meine Lunge. Fieber glühte auf meiner Stirn und Kopfschmerzen pressten meine Schläfen zusammen, nicht einmal die Medizin gegen den Fluch half gegen irgendetwas. Was hätte ich um ein paar Stunden Regen und Zuhause gegeben... Ja, inzwischen bezeichnete ich den verfluchten Wald als mein Zuhause. Denn genau wie der Dryad litt ich unter der wachsenden Entfernung zu den schattigen Baumwipfeln, wenn auch eher seelisch. Eine Stunde auf den Boden legen, das kalte Nass auf meiner Haut spüren und all das riechen und hören, was es hier nicht gab. Das Geräusch von Wasser, wenn irgendwelche Tiere durch Pfützen wateten, das Flügeschlagen von Krähen, das Zuhause so viel mehr bedeutete, als hier... ich hatte Heimweh. Mehr, als jemals zuvor. Und ich vermisste Lyen. Sogar Falke fehlte mir irgendwie. Seine finstere Visage, immer im Wettstreit mit der Mine des Dryaden... es war einfach nicht das Selbe, ohne ihn.

Die Einwohner von Tourun wirkten ähnlich, wie ihre Stadt. Klein, gedrungen und überfüllt an Herzlichkeit. Der erste Mann, den wir auf der Straße trafen, empfahl uns gleich drei Unterkünfte und zwei Ärzte, die erste Frau einen Markt in der Nähe und ein kleines Kind fragte, ob es uns die Schuhe putzen dürfe.

Aber ich hatte für all die besorgten Fragen kein Ohr. Die bleiernde Müdigkeit und das Fieber schafften mich dermaßen, dass ich mir nichts sehnlicher wünschte, als Schlaf, egal, ob in einem Bett, bei einem Arzt oder auf der Straße. Einfach nur schlafen... ohne Träume, ohne Gedanken. Einfach nur schlafen.

Als ich gefühlte Stunden später in irgendein Bett in irgendeinem Gasthaus sank, konnte ich mich nicht einmal daran erinnern, in welcher Stadt wir uns überhaupt befanden.

 

 

„Nein, nein und nochmals nein!“, protestierte ich vehement gegen Bärs bittenden Blick. „Das könnt ihr sowasvon vergessen!“

Seit einer halben Stunde diskutierte ich nun schon mit ihm, was alleine mir schon Schweiß auf die Stirn trieb. Kaum fähig, aufrecht sitzen zu bleiben verteidigte sich mein ohnehin schon halbtoter Stolz immer noch mit letzten Kräften.

„Joee war das eine, aber irgend so ein Höherer?! Niemals!“, wiederholte ich gereizt. Inzwischen war ich wieder auf die alte Bezeichnung zurückgefallen, was mir aber erst im Nachhinein auffiel. Das Fieber machte Denken so schwer... ich dachte, meine Schläfen müssten jede Sekunde zerbersten, unter dem Druck, der auf ihnen lastete.

„Rain... sieh es doch ein, du kannst nicht ewig nur hier rumliegen und dich auf Joee verlassen. Er ist inzwischen auch am Ende seiner Kräfte angelangt... und selbst Lynnea haben wir zu einem richtigen Arzt gebracht“

„Die kann sich ja auch nicht wehren“, erwiderte ich finster. „So lange ich noch die Augen aufhabe, werdet ihr mich nie zu einem eurer dämlichen Doktoren bekommen!“

Keine Ahnung, woher diese Abscheu plötzlich kam, aber sie war da, heftiger denn je. Es fiel einem einfach schwer, verständnisvoll und einsichtig zu sein, wenn man seit Tagen keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte, vor Kopfschmerzen und pochenden Verletzungen.

„Rain...“

„Nein!“

So langsam wurde selbst das Diskutieren anstrengend. Am liebsten hätte ich einfach weiter geschlafen. Mein Bein fühlte sich an, wie eingegipst, so taub war es inzwischen, aber selbst Joee ließ ich nur sehr selten die Wunde kontrollieren. Mit jedem Mal wurde sein Gesicht besorgter und ich hasste es, wenn man sich Sorgen um mich machte. Es war ungewohnt und fühlte sich einfach nicht richtig an, wenn ich lag und jemand, der noch stehen konnte, sich um mich kümmerte, anstatt mich abzumurksen.

„Weißt du was?!“, fragte Bär zornig. „Wir können auch nicht ewig auf dich warten! Lynnea geht es auch noch nicht besser, aber sie wird bald wieder reiten können und dann wirst DU uns aufhalten! Während wir schon längst beim Kristall sein könnten, sitzen wir dann noch hier und schlagen uns mit deinem verdammten Stolz herum!“

Da war erneut dieses wütende Glitzern in seinen Augen, das ich nicht richtig einordnen konnte, aber meine Wut kochte gleichsam mit seiner hoch.

„Auf mich WARTEN?! Bär, ich wäre froh, wenn ich endlich hier raus komme! Wenn ich dich erinnern dürfte, wurde ich dazu gezwungen, mit euch zu gehen!“

Tiefste Verachtung in meiner Stimme. Sie klang nach Regen und roch nach Feuchtigkeit. Dinge, die ich unter dieser Decke nicht finden konnte, nicht in diesem engen Raum, nicht in dieser Stadt. Ich wollte wieder Bäume sehen.

„Manchmal bist du wirklich ein Vollidiot, Rain“, zischte Bär, drehte sich um und rauschte ab.

Worte, die mir eigentlich nicht so hätten weh tun sollen, wie sie es taten. Fieber... die Hitze in meiner Stirn verstärkte jede Empfindung doppelt so stark, so auch die Verzweiflung, die sich jetzt über mein Gemüt legte. Niemals hätte ich gedacht, mich zurück in den Wald zu wünschen, wirklich niemals. Und nun tat ich es doch.

Mit aller Kraft zog ich mich aus den Bett, in Richtung des Fensters.

Die Nacht war lauwarm und es roch nach Regen, draußen. Aber anscheinend hatte ich ihn verschlafen, wie ich so vieles in letzter Zeit verschlafen hatte. Nachdenklich starrte ich in die glitzernden Punkte am Himmel. Sterne... noch so eine Tatsache, die mich daran erinnerte, dass ich nicht Zuhause war. Und trotzdem hatten sie etwas tröstliches, wie sie da oben funkelten und auf mich herabzusehen schienen. Der Mond zeigte sich nicht, diese Nacht, doch ich vermisste ihn auch nicht. Ich wollte nicht wieder dieses seltsam wehmütige Ziehen in mir spüren.

Die Kälte der Nacht zauberte mir Gänsehaut auf den Rücken, doch ich machte keine Anstalten, mich vom Fenster fortzubewegen, egal, wie sehr mein verletztes Bein gegen diese Entscheidung rebellierte.

Touruns Häuser waren viel kleiner, als in Partheon, aber sie standen ebenso dich aneinander gedrängt neben den schmalen Gassen, in denen um diese Zeit nur ein paar Katzen herumstromerten. Ich mochte ihre schmalen Bernsteinaugen und ihre Art, die sie mit der Nacht verband, wie die Hunde mit dem Tag. Sie waren elegant, angepasst und bedacht, dennoch wurden sie jeden Tag wieder von den Hunden durch die Straßen gejagt. Ob es mit den Höheren und den Jägern ebenso war? Nachdenklich erinnerte ich mich an meine erste Vision zurück, in der ich mit den Augen von Janys die fliehenden Jäger beobachtet hatte und langsam begriffen hatte, wie es jemals dazu kommen konnte. Im Grunde genommen waren es nicht die Höheren, die Menschen gewesen, nein. Falls Antropos tatsächlich für den Fluch verantwortlich war, so war der Dämon der Böse in diesem Spiel.

All diese neuen Gedanken verstärkten meine Kopfschmerzen nur noch mehr und ich wollte mich gerade zurück ins zerwühlte Bett schleppen, als ich plötzlich eine Stimme hörte.

„Rain?“

Verwirrt hielt ich inne und sah zurück zur Fensterbank. Aber ich konnte niemanden erkennen. Begann ich jetzt auch noch zu halluzinieren? Mit gerunzelter Stirn lehnte ich mich aus dem Fensterrahmen. Unter den Läden ging es nicht tief nach unten- ein Vordacht verkürzte den Abstand zum Boden um einige Meter. Blumentöpfe standen dort, mit allen möglichen, vertrockneten Pflanzen und dazwischen...

„Nora!“

Die junge Frau stand zwischen Farnen und Blumen wie ein Geist. Ihre Füße waren nackt und alles, was sie trug, war ein langes, weißes Nachthemd. Nichts von dem kleinen Mädchen war geblieben, nur in den Augen lag das selbe, schelmische Funkeln, wie in dem kleinen Kindergesicht, dem ich erklärt hatte, dass wir nun ein Spiel spielten.

„Wie kommst du hierher?“

Doch da war sie schon wieder fort. Vollends verwirrt suchte ich mit meinem Blick nach ihr, aber dort, wo sie vorhin noch gestanden hatte, war nur eine zersplitterte Vase zurückgeblieben. Eben so zerbrochen, wie meine Beherrschung. Wütend fuhr ich herum und griff nach dem nächstbesten, was mir in die Hand fiel- in diesem Fall ein Glaskrug, der auf dem Tisch stand. Er zerbarst scheppernd an der Wand, als ich ihn durch das ganze Zimmer schleuderte.

Und dann war sie wieder da. Als wäre Nora aus den Glasscherben aufgestiegen, stand sie vor mir und musterte mich mit so einem tiefen Blick, dass mir kurz das Herz stockte. Vergessen die Schmerzen, vergessen das Fieber. Nur all die unausgesprochenen Worte, die zwischen uns im Raum schwirrten. Noch nie hatte ich mich einem Lebewesen so seltsam verbunden gefühlt, wie in diesem Moment. Noras Blick erzählte die selben Geschichten, wie meiner, die selben Sorgen, der selbe Schmerz und die selbe Erschöpfung in ihrem Gesicht.

Weggewischt, das kleine Kind. Fortgeflogen, die weiße Henne. Nur sie, sie mit ihrer Leier auf dem Turm von Endrians Burg, nur Nora und ihre unglaublich weiche Stimme, die Worte sang, die ich nicht verstand.

Unmerklich waren sich unsere Gesichter näher gekommen, noch immer von dem selben Sog angezogen, der unsere Pupillen verband, wie ein Strang, der immer kürzer wurde. Ich bemerkte es selbst nicht richtig, doch ich murmelte irgendetwas.

„Lyen ist tot...“

Worte, die sich in meiner Brust angestaut hatten und die ich nie ausgesprochen hatte. Es war seltsam befreiend, sie in die Stille des Raumes zu schicken, herauszulassen.

„Ich weiß...“, kam die Antwort angeflattert.

Ich konnte Nora riechen. Und sie roch nach Wald und Vogelfedern. Niemals hätte ich gedacht, dass ich den Geruch erkennen würde.

„Ich hätte es verhindern können...“

Keine Hemmungen mehr, in dem totgeschwiegenen Thema. Die Worte kamen einfach, leicht von meiner Zunge und mit jedem Moment wurden meine Gedanken klarer.

„Du lügst...“

Inzwischen konnte ich jede einzelne ihrer feinen Hautporen sehen, so nah war mir Noras Gesicht. Ihre Augen glitzerten in einem so durchdringenden Grün, dass ich kurz brauchte, um die Farbe zu begreifen. Noch nie hatte ich mich so nach einer Farbe gesehnt, wie nach eben diesem tiefen, vollen Grün, das sich um ihre tiefschwarzen Pupillen schmiegte, wie Moos an die dunklen Baumstämme meiner Heimat.

„Es gibt den Kristall nicht. Da ist keine Hoffnung mehr“, flossen die Worte weiterhin aus meinem Mund. Es tat so gut, sich jemandem anzuvertrauen... wie in einem Rauschzustand stierte ich Nora ins Gesicht, völlig gefesselt von ihrer Mimik.

„Hoffnung gibt es immer... wenn es den Kristall nicht gibt, dann suche nach etwas Anderem, Rain“

Sie sprach meinen Namen aus, als wäre jeder einzelne Buchstabe ein Geschenk, zerbrechlich und empfindlich, etwas, was es zu bewahren galt.

„Lyen ist tot“, wiederholte ich tonlos. „Lyen ist tot...“

Ein Zittern durchfuhr meinen Oberkörper, als ihre Lippen auf meine trafen. Sie waren so kalt... so gut... Noch nie hatte ich etwas derartiges empfunden, wie nun. Eiskaltes Verlangen in ihren weichen, glatten Lippen, die sich sanft um meine schlossen.

„Rain...“

Sie flüsterte erneut meinen Namen und ich folgte ihr, würde ihr immer folgen, bedingungslos, ins Nichts. Mein Bein ließ mich zusammenfahren, als ich ihr hinterher schritt, aber ihre kalten, reinen Finger strichen nur sanft über die Wunde und ließen mich den Schmerz vergessen, während mir ihre Lippen den Verstand aus dem Gehirn strichen, als würde es niemals mehr etwas anderes geben, als Nora und meinen Namen, den sie immer wieder in meine Lippen flüsterte.

„Rain...“

Mein Kopf war vollkommen eingehüllt von ihrer Stimme, von den Berührungen ihrer Finger auf meiner Haut, meiner Wange, meiner Brust. Kalte, reine Schönheit, so sehnsuchtsvoll, so weit entfernt und doch im hier und jetzt. Meine Beine bewegten sich wie von selbst, auf der Suche nach ihrer Nähe, ihren Fingern und ihren Berührungen. Es war wie eine Sucht, die in den tiefen meiner Brust entsprungen war und mich nun mit sich riss, wie ein sanfter, kalter Orkan, der mich behutsam aus jedem Gedanken schob, der mit etwas anderem zusammen hing, als Nora und ihrer Stimme.

„Rain...“

Nasses Salz auf meinen Wangen. Es war nicht schlimm. Es war gut. Bei ihr war es gut, zu weinen. Bei ihr war alles gut. Selbst mein Name... Ich spürte, wie ich mich immer weiter von mir selbst entfernte, mich ihren kalten Lippen hingab und schließlich ganz verlor, in ihren Berührungen, bis ich selbst kalt wurde und einfror, in der Lieblichkeit ihrer Finger.

 

*

 

Der Schlag auf meine Schulter war so hart und erschütternd im Gegensatz zu den wispernden Fingern auf meiner Haut, dass ein Ruck durch meinen ganzen Körper ging. Als hätte plötzlich jemand eine Kerze angeszündet, sah ich wieder Licht. Um mich Häuser, die ich nicht kannte, über mir der mondlose Sternenhimmel, hinter mir Bär.

„Rain... was machst du denn für Sachen?“

Nora war fort. Die sehnsüchtigen, kalten Berührungen hatte sie mit sich genommen. Vollkommen perplex suchte mein Blick nach ihrer Gestalt in der Dunkelheit, aber es schien, als hätte Bärs Schlag auf die Schulter sie eingestampft und zu Staub verarbeitet. Verzweifelte Wut kochte in mir hoch. Für ein paar Sekunden... alles war gut gewesen. Sie hatte mir die Schmerzen genommen, die Last, den Druck. Und er hatte alles zerstört. Mit einem einzigen Handschlag.

Langsam drehte ich mich um. Bär stand hinter mir und musterte mich besorgt, als wäre ich komplett durchgedreht.

„Du...“, stieß ich hervor. Irgendwo wusste ich, dass es nicht richtig war, aber alles, woran ich denken konnte, waren Noras Berührungen, die ich jetzt nicht mehr spüren konnte.

„Rain... hör mir zu! Was auch immer du eben gesehen hast, es war nicht...“

Weiter kam er nicht. Es war ein wenig wie im Wald, als ich ihn mit einem Fausthieb niederstreckte, aber da war kein kühler Regen, der mir die Stirn abkühlte und verhinderte, dass meine Gedanken sich wie ein Kreisel drehten. Lyen war tot... und ich hatte es nicht verhindern können. Lyen war tot. Tot. Tot. Tot.

Mit einem Stöhnen raffte Bär sich wieder auf.

„Rain... es war nicht echt... die Mondmädchen hätten dich fast bekommen... versteh doch...“

Ich wusste gar nicht wirklich, was ich tat, als ich erneut zuschlug. Er hatte sie mir genommen, die Sorglosigkeit. So nah dran an der ewigen Gedankenlosigkeit und er hatte sie zerstört... mir war, als hörte ich immer noch Noras Stimme in meinem Kopf.

Rain...

Rain...

Rain...

Ich kam nicht dazu, zu zählen, wie oft sie mich rief, weil ihr sanftes Flüstern durch ein Ohren betäubendes Brüllen übertönt wurde. Erschrocken fuhr ich zusammen und stierte auf das Ungetüm, was sich vor mir auf der Straße wälzte. Bär war fort, genau so plötzlich, wie Nora, doch an seine Stelle war jemand anderes getreten. Das Fieber engte mein Sichtfeld mit flimmernden Rändern ein, doch ich konnte trotzdem jeden einzelnen, gewaltigen Zahn aus dem Maul des Bären ragen sehen, der seinen Kopf gen Himmel streckte und erneut sein Brüllen durch die Gassen schickte. Fenster öffneten sich, Schreie erklangen, Licht fiel auf die Straße.

Und ich rannte. Kein Gedanke mehr an Nora. Keinen an die bestialischen Schmerzen in meinem Oberschenkel. Nur noch fort von hier, von diesem flimmernden Ort, ohne Regen, ohne Kälte, ohne Bäume. Fort von dem Bären, fort von den kreischenden Menschen, fort von allem. Zurück in den Wald. Zurück in den Regen.

Das Stadttor lag bereits weit hinter mir, als mein Bein endgültig versagte und ich an dem Hang eines kleinen Hügels zusammen sackte. Meine Brust platzte fast vor unterdrückten Gefühlen und die Hitze in meinem Kopf verhinderte jeden noch so kleinen Gedanken, der vielleicht das Durcheinander in mir irgendwie geordnet hätte.

Bär... war ein Bär...

Ich hatte Nora gespürt...

Mein Bein schmerzte fürchterlich...

und Lyen war tot. Lyen war tot.

Sein bleiches Gesicht in meinen Händen. Lynnea... er rief ihren Namen. Und Nora rief meinen. Ich rief Zenas. Und Zena rief Lyens... endlose Schleifen in meinem Kopf, die sich zu einem durchgehenden Brummen vermischten und mich in den Abgrund trieben.

Lyen war tot.

Immer nur dieser eine Gedanke.

Regen. Ich brauchte Regen. Jetzt.

Vielleicht gab es diesen seltsamen Allmächtigen, an den der Hauptmann glaubte, doch. Und vielleicht sorgte er doch nicht nur für die Höheren. Denn noch bevor die kalten Tropfen von dem nun Wolken bedeckten Himmel auf meine glühende Haut trafen, roch ich ihn, den Regen. Instinktiv zog ich den Kopf zurück, damit mir das Wasser nicht in den Kragen rann. Ein vertrauter Reflex...

in der nächsten Sekunde trafen mich die ersten Tropfen und mit jedem weiteren wurden die vibrierenden Gedanken in meinem Schädel weiter fort gespült. Eiskalte Pfeile, die das Fieber vertrieben, frostige Nässe, die durch all meine Kleider drang, mir Wasser in die Augen trieb...

Tränen schmeckten anders als Regen.

In salziger Verzweiflung rollte ich mich am Boden zusammen und ließ zu, dass mir der Regen die Haut aufweichte und die Kleider schwer machte, mir Matsch ins Gesicht spülte und mir die Kälte in die Schultern pflanzen... denn es war gut.

Regen war gut.

Ich hatte ihn vermisst. 

Kraft

19. Kapitel Kraft

 

 

Sie hörte seine Schritte noch bevor er aus dem Regen auftauchte und doch schaffte sie es nicht, dem Mann auszuweichen, der plötzlich wie aus dem Nichts erschien, als hätten ihn die peitschenden Tropfen und die Dunkelheit selbst erschaffen.

Einen kurzen Moment strauchelte sie noch, doch dann lag sie neben ihm auf dem aufgeweichten Boden. Der Fremde rappelte sich auf und wollte sich davon stehlen, aber sie erkannte das bekannte Funkeln in seinen Augen zu schnell. Diesen unergründlichen Blick würde sie unter Tausenden wiedererkennen, war es doch er selbst gewesen, der sie damals gefesselt und verspottet hatte. Ihre Hand krallte sich unerbittlich in seinen Arm, als er sein Gesicht weg drehte und sie hatte nicht vor, ihn loszulassen. Wenn er hier war, dann mussten die Anderen auch in der Nähe sein.

Noras erstickter Schrei bestätigte ihre Vermutung.

Falke! Was in aller Welt tust DU hier?!“

Er schaltete schnell, doch sie registrierte trotzdem die Verblüffung und das Entsetzen, das nur für Sekunden auf seinem Gesicht lag.

Prinzessin? Lady Nora? Ich hätte viele erwartet... aber nicht euch beide... wie kommt ihr hierher?!“

Sein Erstaunen war gut gespielt. Falke, Meister der Tarnung. Sie hatte ihn dennoch durchschaut. Sie warf einen kurzen Blick zu Nora, doch auf dem Gesicht der jungen Frau spiegelte sich das selbe Misstrauen, wie auf ihrem Eigenen.

Zu Fuß... aber viel interessanter ist, wieso du hier alleine herumstreunerst und wo die Anderen sind!“, antwortete Nora. In ihren Augen lag Hoffnung, die Selbe, wie damals, als sie plötzlich vor der Zelle gestanden und um Hilfe gebeten hatte. Irgendetwas oder irgendjemand hatte in der Vogeltochter das unbändige Verlangen nach Abenteuern geweckt. Aber das war nur gut, denn so war sie ein nützlicher Schutz in der Wildnis und zugleich der Schlüssel zur Freiheit gewesen.

Falke brauchte keine Sekunde, um seine Lüge überraschend glaubwürdig aufzutischen: „Ich habe die Anderen vor ein paar Tagen bei einem Kampf im Wald verloren... seitdem suche ich ununterbrochen nach ihnen, aber sie tauchen einfach nirgendwo auf...“

Er wollte fort von hier. Möglichst schnell. Das war nur allzu offensichtlich. Nora sprang auf die Lüge an, aber sie glaubte ihm genau so wenig.

Wirklich?! Weißt du, ob jemand verletzt ist?“. Sie spielte die Sorge viel zu gut... es war wohl doch ein Jemand, der sie zu all den Taten trieb und er gehörte zu der Gruppe.

Nein... ich habe einen Schlag auf den Kopf abbekommen und als ich aufwachte waren sie alle fort“, erwiderte Falke. „Ich weiß nicht einmal, in welche Richtung sie gegangen sind.“

Komm mit uns“, schlug Nora vor. „Fenja meint sie weiß, wo wir sie am Besten abpassen können.“

Nora und Falke wandten ihre Köpfe zu ihr und sie nickte stumm.

In Ordnung.“

Das Widerstreben war deutlich in Falkes Gesicht zu lesen, doch er wusste genau so gut wie die beiden Anderen, dass er keine Wahl hatte. Er würde sich ihnen anschließen und es würde nicht lange dauern, bis er versuchen würde, sich aus dem Staub zu machen.

Ein Blick zu Nora reichte, damit Beide es wussten: Er würde es nicht schaffen und früher oder später würde die Wahrheit ans Licht kommen.

 

 

Als ich irgendwann erwachte, war der Regen fort und auch der nasse Boden unter mir. Es war warm und ich zitterte nicht, das Glühen in meiner Stirn war vorüber und alles, was ich vor dem Schlaf gespürt hatte, war vergangen. Es war das erste Mal seit Langem, dass ich aufwachte und nicht gleich an Lyen und die Geschichte mit dem Kristall dachte, stattdessen lag ich einfach nur da und machte mir Gedanken über gar nichts. Es war nicht wichtig, wo ich war, wer ich war oder was passiert war, Hauptsache ich konnte einfach nur daliegen und nichts tun.

Nach einer Weile hörte ich gedämpfte Stimmen. Die von Bär erkannte ich sofort und nach einiger Zeit auch Joees typisches Stottern.

„Ich mache mir solche Vorwürfe... ich hätte mich unter Kontrolle haben sollen, dann wäre er auch nicht weg gelaufen. Er war ja gar nicht bei Sinnen, da hätte ich ihn niemals mit so etwas konfrontieren dürfen!“. Die Stimme des stämmigen Kriegers klang Schuld bewusst und besorgt, aber um Einiges kräftiger als das letzte Mal, als ich ihn gehört hatte.

„D...du hattest keine Sch..sch...Schuld... du warst geschwächt u..und konntest nichts dafür, d...dass es ausgeb..brochen ist.“, antwortete Joee leiser. „E...er wird bestimmt b...bald wieder auf d...den Beinen sein...“

„Wenn nicht werde ich mir das nie verzeihen...“

Eine Tür klappte und ich hörte Schritte. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich noch immer die Augen geschlossen hatte, doch das Schwarz war zu beruhigend, als dass ich das jetzt geändert hatte. Außerdem war ich viel zu erleichtert darüber, dass Bär wieder Bär war und nicht dieses riesige Monster, um auch nur eine Bewegung durchzuführen. War am Ende vielleicht doch alles nur ein Fiebertraum gewesen?

„Ach Rain, alter Junge... wieso wachst du bloß nicht auf...?“, fragte Bär nun direkt neben mir und ich zuckte zusammen, wegen der plötzlichen Lautstärke.

„Joee? Hast du das gerade gesehen?! ...Rain...?“

Ich spürte Bärs Atem auf meinem Gesicht und war mir sicher, dass er sich nun direkt über mich beugte, deshalb beschloss ich spontan, ihn ein wenig an der Nase herum zu führen. Mit einem Ruck riss ich die Augen auf und zischte: „Der Fluch der Toten soll dich treffen!“

Tatsächlich sprang Bär zurück und riss seinen Dolch aus dem Gürtel, was ich allerdings nur halb sehen konnte, weil mich die plötzliche Helligkeit derartig blendete.

Trotzdem drang ein Lachen aus meiner Kehle, um genau zu sein kugelte ich mich fast auf dem Boden, so lustig fand ich seinen Gesichtsausdruck.

„Um Himmels Willen, Rain...“, keuchte Bär und griff sich ans Herz. „Ich hätte dir die Untoten-Nummer fast abgekauft...“

Aber ich brachte noch immer keinen Laut heraus, so sehr schüttelte es mich.

„D...das sind die Schmerzmittel...“, raunte Joee dem irritierten Bär zu. „Sie b...beflügeln die S..Sinne ein wenig.“

„Ach, Schmerzmittel Hin, Schmerzmittel Her... Hauptsache Rain ist wieder einigermaßen beisammen!“, winkte Bär ab und steckte erleichtert seinen Dolch weg. „Ich dachte wirklich fast, das wär's gewesen mit dir...“

Schlagartig wurde ich wieder ernst. „Wie lange war ich weg?“, fragte ich.

„Fast eine Woche...“, antwortete Bär zögernd.

„EINE...?!“ Ich schnappte nach Luft. Eine Woche... das war zu lange!

„Nachdem wir dich nach einem halben Tag irgendwo draußen neben einem Hügel gefunden haben warst du so gut wie tot... hast andauernd deinen eigenen Namen gestammelt und irgendetwas von Lyen... wir haben dich zum Arzt gebracht und der hat deine Wunden behandelt, aber du bist einfach nicht aufgewacht. Ich habe mir ernsthafte Sorgen um dich gemacht, zumal der letzte Abend ja wirklich etwas turbulent war“ Er wurde rot, vor Scham. „Glaub mir, ich wollte es nie so weit kommen lassen, aber früher oder später hättest du es sowieso heraus bekommen. Trotzdem wäre eine sanftere Art sicherlich angenehmer geworden“

„Also war es kein Traum...“, stellte ich leise fest und ich konnte nicht verhindern, dass mir schlecht wurde. Und das lag nicht an Bärs unheimlicher Verwandlung, sondern an etwas Anderem. An EINER Anderen.

Bär schüttelte den Kopf und senkte den Blick. „Ich bin ein Gestaltwandler, Rain.“

Eine Weile sagte Keiner von uns Dreien etwas. In mir drehte sich alles und ich fasste kaum einen klaren Gedanken, doch es tauchte immer und immer wieder die selbe Szene in meinem Kopf auf. Noras Lippen. Auf Meinen.

„Bär... was meinstest du, als du mir gesagt hast, dass das, was ich gesehen habe, nicht echt war?“, fragte ich zögernd und konnte nicht verhindern, dass Angst in meiner Stimme mit schwang.

„Es war ein Mondmädchen, dass dich fast in seinen Klauen hatte“, antwortete Bär sorgenvoll.

„Mondmädchen?“

„Grausige Biester. Im Auge des Betrachters können sie alles sein, aber niemand sieht das Selbe in ihnen. Klar ist nur, dass sie bei Neumond aus ihren Löchern gekrochen kommen und Alles und Jeden verschleppen, der ihnen in die Fänge kommt. Sie machen keinen Unterschied zwischen Menschen, Tieren oder was auch immer auf dieser Welt kreucht und fleucht... wichtig ist ihnen nur, sie alle mit zuschleppen in ihre Unterwelt“, erzählte Bär nachdenklich. „Keiner weiß, woher sie gekommen sind, aber sie waren plötzlich da, in allen Ecken des Landes. Und keiner ist ihnen jemals entkommen, wenn er erst mit ihnen mit gegangen ist“.

Gänsehaut kroch mir über den Rücken, aber zugleich durchströmte mich Erleichterung. Ich hatte nicht Nora geküsst. Alles war in Ordnung, ich musste die Gefühle, gegen die ich mich sträubte, nicht zulassen.

„Und... wen siehst du in ihnen?“, fragte ich neugierig. Wer würde wohl Bär dazu bewegen, sich der eisigen Kälte bedingungslos hinzugeben?

Bär zögerte lange und als ich schon dachte, keine Antwort mehr zu bekommen, sagte er es mir doch.

„Shana... meine Frau“.

Mir verschlug es den Atem. Seine Frau?! Bär hatte eine Frau? Womöglich auch noch Kinder?

„Du... hast...?“, stammelte ich fassungslos und Bär unterbrach mich: „Hatte. Hab sie verlassen, bevor ich sie verletzen konnte. Gestaltwandler-Krüppel-Kinder kann niemand gut gebrauchen... wahrscheinlich ist sie bereits seit Jahren wieder glücklich liiert“

Ich war nicht fähig etwas zusagen, deshalb nickte ich nur stumm. Eine Frau... warum war mir das immer so abwegig erschienen? Als ich mich wieder beisammen hatte fragte ich vorsichtig: „Kannst du dieses Verwandeln denn gar nicht kontrollieren?“

Bär schüttelte den Kopf. „Nein. Auf unserer Reise ist es mir mehrmals passiert, aber die Einzigen, die davon wussten, waren Lyen und Lynnea“

„Wann?“, fragte ich verwirrt. Ich hatte nie mitbekommen, dass ein riesiger Bär durch unser Lager gestapft war...

„Nach dem Gewitter, als wir auf der Ebene waren... erinnerst du dich an die Mütze, die Nora unbedingt haben wollte?“

Nora... ein Schauer lief mir über den Rücken, doch ich ließ mir nichts anmerken und meinte nur: „Ja... wieso?“

„Ich hatte Komplikationen bei der Rückverwandlung. Auf meinem Kopf ist damals ein Stück Fell zurück geblieben, das erst in der Burg wieder verschwunden ist. Und damals vor Partheon bin ich nicht mit in die Stadt gekommen, weil ich gespürt habe, dass es bald wieder so weit ist. Der Dryad wusste es von da an auch und Joee haben wir auch eingeweiht, weil er einige Kräuter dabei hatte, die eine beruhigende Wirkung haben“

Der Heiler hatte die ganze Zeit nur unruhig da gestanden und gelauscht, doch jetzt nickte er zustimmend. „Baldrian... und K..Krix“

„Das heißt, alle wussten es... nur Falke und ich nicht...“, murmelte ich abwesend. So langsam ergab alles einen Sinn... Deshalb hatte Bär auch nur so ungern über seine Vergangenheit gesprochen. Wer wusste schon, was ihm noch alles widerfahren war...

„Wer hat dich denn eigentlich in die weite Wildnis gelockt?“, fragte Bär nun. Man merkte, dass er das Thema wechseln wollte.

Augenblicklich zuckte ich zusammen, vor Schreck.

„Ähm...“, stammelte ich, nicht fähig, mir so schnell eine Lüge auszudenken. Erst ein paar Sekunden später antwortete ich schnell: „Ich... ich kannte sie nicht, aber es war eine Jägerin“

Bär zog die Augenbrauen hoch, doch ich versuchte mit allen Mitteln, mir die Lüge nicht anmerken zu lassen.

„Man sagt manchmal, die Mondgeister nehmen zeitweise auch die Gestalt von Wesen an, die sie gesehen haben, wenn ihr Opfer sich nicht nach einer bestimmten Person verzehrt... wer weiß, vielleicht ist uns das Biest von Endrians Burg gefolgt und hat nur auf die mondlose Nacht gewartet...“

Erleichterung durchströmte mich, als mir Bär, ohne es zu wissen, eine logische Erklärung für Noras Erscheinen lieferte. Vielleicht war mir der Geist ja wirklich schon seit unserem zweiten Aufbruch gefolgt... immerhin verzehrte ich mich ja nicht nach Nora! Ich beschloss, nicht länger darüber nachzudenken und lenkte mich ab, indem ich mich aufsetzte und fragte: „Wo sind denn die Anderen? Und wie geht es Lynnea?“

„Ihr geht es besser... aber sie hat aufgehört, zu sprechen“, erzählte Bär und zog sich einen der Holzstühle heran. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich in einem hellen, freundlichen Zimmer lag und die Gardinen im Wind sanft Hin und Her schwangen.

„Wie?“, fragte ich Stirn runzelnd.

„Sie sagt einfach kein Wort mehr... und schaut den ganzen Tag nur aus dem Fenster“

„Und der Dryad?“

„Was soll der schon groß machen? Er läuft herum und guckt finster... sein Husten ist aber besser geworden. Er scheint die Entfernung noch auszuhalten, aber wer weiß schon, wie lange das noch hält“, meinte Bär sorgenvoll und sah aus dem Fenster, durch das ihm blasses Morgenlicht aufs Gesicht fiel. „Alles in einem ist unsere Gruppe ziemlich labil“

Ich presste meine Lippen aufeinander und starrte zu Boden. Noch immer gab ich mir die Schuld an Lynneas Depressionen und ich kam nicht über die Ereignisse im Wald hinweg. Nicht an Lyens Leiche denken. Nicht an den Kampf. Zum Glück riss Joee mich aus meinen Gedanken, indem er sich räusperte und sagte: „Dein Bein ist wieder so gut wie verheilt. Trotzdem solltest du dich ein wenig zurück halten, die Kräuter haben eine sehr einschränkende Wirkung. In zwei, drei Tagen sollte alles wieder in Ordnung sein“

Erstaunt über seine ruhige Stimme sah ich auf -direkt in die weißen Pupillen des Heilers. Er lächelte freundlich und nickte mir zu. „Ich werde jetzt gehen, wir sehen uns nachher. Bis später!“

Dann drehte er sich um und ließ uns allein.

„Es geschieht immer öfter“, meinte Bär und sah die geschlossene Tür an, als wolle er sich vergewissern, ob Joee wirklich fort war. „Dieses Leuchten“

„Vielleicht hilft es ihm“, mutmaßte ich, obwohl mir eine Gänsehaut über den Rücken gekrochen war. „Es ist besser, als wenn er genau so zusammen bricht wie alle Anderen“

Bär nickte langsam. „Wahrscheinlich hast du Recht. Möchtest du etwas trinken oder essen? Es ist reichlich da, aber es gibt ein Problem: Wir können die Unterkunft nicht mehr bezahlen... nach Partheon sind wir alle pleite und wenn wir irgendwann die Rechnung für all das hier bezahlen müssen, sind wir arm dran“

Ich schüttelte den Kopf als Verneinung auf die Essensfrage, dann rieb ich mir nachdenklich die Stirn. „Kann man denn nicht irgendwo ein bisschen Geld auftreiben? Woher bekommt man das denn normalerweise?“

„Arbeiten“, antwortete Bär. „Du machst etwas und bekommst dafür einen Lohn, zum Beispiel backen oder schmieden. Aber das bringt uns nicht weiter... alleine die Arztkosten übersteigen unsere Mittel bei Weitem. Joees Kräuterration hat auch ihre Grenzen und sowohl für Lynnea als auch für dich haben wir einiges mehr gebraucht, dazu kommen noch die Zimmer und die Verpflegung... alles in einem haben wir in dieser Woche Schulden von gut 400 Goldmünzen gemacht“

Ich konnte mit diesem Wert nicht viel anfangen, aber mir war klar, dass das wohl ziemlich viel war, denn Bärs Sorgenfalte auf der Stirn wurde immer tiefer.

„Was ist mit dem Dryaden und dir? Ihr ward doch nicht mit in der Stadt...“

„Ich habe nur wenig dabei gehabt und alles für die Pferdeställe ausgegeben... und der Dryad weiß bestimmt nicht einmal wirklich, was Geld ist“

„Dann müssen wir türmen“, meinte ich nach einer Weile. „Abhauen. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht“

„Ich würde den Gastwirt ungern betrügen... alle Leute in dieser Stadt waren sehr zuvorkommend und haben sich aufopfernd um uns gekümmert, besonders um die Kranken. Das kann ich einfach nicht mit meinem Gewissen vereinbaren“, seufzte Bär.

„Hast du eine andere Idee?“, fragte ich mit hochgezogenen Augenbrauen und als der stämmige Krieger den Kopf schüttelte, wiederholte ich: „Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Entweder wir hauen ab, oder wir machen noch mehr Schulden und fliegen früher oder später auf“

„Dann sollten wir aber schnellstmöglich weg... ich kann diesen Leuten nicht noch länger auf der Tasche sitzen, wohlwissend, dass wir sie übers Ohr hauen, als wäre Falke noch bei uns“

Ich zuckte mit den Schultern. „An mir soll's nicht liegen. Laufen kann ich wieder und reiten erst Recht. Wir müssten heraus finden, ob Lynnea in der Verfassung ist, mitzukommen, aber ansonsten sehe ich keine Hindernisse... du etwa?“

Bär schüttelte den Kopf. „Wenn wir es irgendwie schaffen, uns Verpflegung für den Ritt zu erschnorren, dann können wir vielleicht noch morgen früh los, wenn noch alles schläft. Aber ich habe wirklich kein gutes Gefühl dabei...“

„Ach komm schon...“, beruhigte ich ihn und schlug ihm auf die Schulter. „Die Menschen werden es sicherlich verstehen, wenn sie wirklich so zuvorkommend und verständnisvoll sind, wie du sagst. Immerhin handeln wir aus reiner Not und nicht aus böser Absicht! Daran ist ja nichts verwerflich, oder?“

Bär sah mich zweifelnd an, aber ich hatte ihn anscheinend umgestimmt.

„Na Gut. Morgen früh türmen wir aus der Stadt“

 

 

 

 

„Es würde mich nicht wundern, wenn diese Idee auf deinen Mist gewachsen ist“, knurrte der Dryad und sah mich böse an. „Man könnte fast meinen, jetzt wo Falke weg ist, gibst du dir Mühe, seine Kriminalität zu ersetzen!“

„Ich die Kriminalität, du seine Laune“, konterte ich. „Ist doch fast, als würde er uns noch mit seiner Anwesenheit beglücken!“

Der Baumgeist schüttelte den Kopf und drehte sich von mir ab.

„Im Ernst, Bär! Wenigstens du solltest verstehen, dass das die beknackteste Idee ist, die wir jemals hatten. Oder eher ihr, ich war ja von Anfang an dagegen!“

„Fällt dir war Besseres ein?!“, fragte Bär genervt und zog sich seine Kapuze über. Obwohl man in der finsteren Dunkelheit der Nacht sowieso kaum etwas sah, legte er großen Wert darauf, dass man uns nicht erkannte.

„Jede Idee ist besser, als mitten in der Nacht die Speisekammern auszurauben und zu türmen, in einer Stadt, die nur so strotzt vor frommen Eingeborenen, die keinerlei Rechtssystem kennen und jeden Verbrecher einfach mit der Mistgabel erstechen! So nett diese Leutchen auch wirken, glaubt mir, wenn die sauer werden, dann wird das übel!“

„Woher weißt du das eigentlich so genau?“, fragte ich und schnürte den Umhang zu, den Bär mit besorgt hatte. Ich mochte diese lakenartigen Kleidungsstücken eigentlich nicht sonderlich, aber es war das einzige, was Bär als warm und dunkel genug erachtet hatte, damit es für die Reise und den Diebstahl reichte.

„Oh, im Gegensatz zu euch Jägern können Baumgeister den Wald verlassen“, zischte der Dryad verächtlich. „Denkst du wirklich, nur weil ich die selbe Wohnsituation hatte, wie du, bin ich genau so primitiv, dass ich noch nie außerhalb der Bäume war?!“

„Jetzt beruhig dich doch!“, knurrte Bär. „Und sei um Himmels Willen leiser! Sonst weckst du die ganze Straße auf und wir sind gleich wirklich von Mistgabeln umzingelt“

Der Dryad schwieg eingeschnappt und starrte die schmale Gasse hinunter, die nur vom schwachen Lichtschein einiger Laternen und dem Mondlicht beleuchtet wurde.

„Wir haben gut eine Stunde Zeit“, fuhr Bär fort. „Dann treffen wir uns mit Joee und Lynnea am Tor. Sie bringen die Pferde mit und dann sollten wir uns wirklich beeilen, hier wegzukommen“

„Ich weiß. Das hast du schon dreimal erzählt“, bemerkte der Dryad trocken.

„Ich will nur sicher gehen, dass du auch zuhörst, beim rumätzen“, erwiderte Bär, sichtlich darum bemüht, nicht die Fassung zu verlieren.

„Jetzt hört auf zu streiten und lass uns los, sonst schaffen wir es wirklich nicht mehr“, ging ich zwischen die Beiden, bevor die Situation noch eskalierte. Der Dryad war wirklich übel gelaunt und auch ich musste mich beherrschen, um dem nicht irgendwie ein Ende zu setzen.

„Na gut. Dann folgt mir jetzt. Und seid leise!“, wiederholte Bär eindringlich, dann trat er aus dem Schatten der finsteren Gasse auf die große Hauptstraße, die hinunter zum Stadttor führte. Der Dryad und ich zogen uns unsere Kapuzen über und taten, wie uns geheißen: wir folgten ihm.

„Wir müssen von der Hauptstraße aus einsteigen“, erklärte Bär flüsternd, wobei er immer wieder prüfende Blicke von rechts nach links warf. „Einer muss aufpassen, dass uns niemand erwischt“

„Das wäre dann wohl mein Part“, meinte der Dryad sofort und Bär und ich nickten gleichermaßen erleichtert. Mit dem Baumgeist einen Einbruch zu begehen wäre sicherlich nicht angenehm, mal ganz abgesehen von dem Risiko, dass er uns in einem unbeobachteten Moment sicherlich nur allzu gerne an die Gurgel gehen würde.

„Wenn jemand kommt, pfeif einfach. Rain und ich packen so lange alles ein, was wir finden können und kommen dann wieder raus. Bitte denk daran, dass wir in diesem Gasthaus ziemlich oft gegessen haben -der Wirt kennt uns also auch mit Kapuzen!“

Der Dryad nickte und fragte dann: „Also was ist? Wollt ihr Wurzeln schlagen oder geht es dann jetzt auch mal los?!“

Ich verkniff mir eine bissige Bemerkung und beobachtete stattdessen Bär dabei, wie er das Türschloss binnen weniger Sekunden mit einem gebogenen Stück Draht knackte. Eine gewisse Bewunderung konnte ich nicht verhehlen, reichten meine Kenntnisse doch kaum zum Öffnen einer Tür ohne Schloss.

Der kräftige Krieger winkte mich in das Backsteinhaus und lehnte die Tür hinter uns sorgfältig wieder an. Bär schien genau zu wissen, wo wir lang mussten, denn er zögerte nicht einen Moment, um sich in dem kleinen Schankraum zu orientieren. Es war wirklich nicht leicht, mit ihm Schritt zu halten und sich gleichzeitig möglichst lautlos um all die Stühle und Tische herum zu schlängeln, die im Dunkeln kaum zu sehen waren, doch ich schaffte es dann doch irgendwie, heile am anderen Ende des Raumes anzukommen.

Selbst jetzt hing der Geruch nach Bier und Schweiß in der Luft und ich fragte mich, wieso dieses Gasthaus nicht über Nacht geöffnet war, wie all die Anderen in Partheon oder auf der Windebene. Anscheinend gab es einen weiteren Unterschied zwischen den großen und kleinen Städten, mal abgesehen von der Bevölkerungsanzahl.

„Rain!“, holte Bär mich aus meinen Gedankengängen. „Ich brauche Hilfe bei der Falltür“

Er deutete auf den Boden hinter der Schanktheke, wo sich die Umrisse einer Tür abzeichneten. „Sie ist zu schwer für mich alleine!“

Schnell kniete ich mich neben ihn und griff nach dem großen Metallring, um daran zu ziehen. Ein erschreckend lautes Knarren drang durch den Boden und durch die nächtliche Stille wurde das Geräusch mindestens doppelt so laut. Mein Herzschlag setzte eine Sekunde aus und ein paar Sekunden herrschte angespannte Stille, dann hörte ich Geräusche aus dem Obergeschoss.

„Verdammt...“, zischte Bär. „Schnell, beeil dich!“

Anscheinend sollte ich erneut an der Falltür ziehen und auch wenn ich darin nicht den geringsten Sinn sah, half ich dem Krieger. Er hatte bestimmt mehr Erfahrung als ich im Stehlen.

„Ich hätte niemals gedacht, das aus meinem Mund zu hören, aber ich wünschte, Falke wäre noch bei uns...“, ächzte ich, als ich unter Anstrengung die Falltür aufzog und gemeinsam mit Bär aufhielt. „Hierbei wäre er sicherlich nützlich gewesen!“

„Hör auf zu wünschen und beeil dich!“, erwiderte Bär und schlüpfte in die Öffnung. „Und mach hinter dir die Tür zu!“

Ich hörte bereits Schritte auf der Treppe und folgte Bär schnell, nur seine zweite Anweisung war nicht so leicht umzusetzen. Mit aller Kraft hängte ich mich an die Falltür, in dem Versuch, sie alleine zu schließen, doch vergebens: sie bewegte sich kein Stück.

„Bär... verdammt Bär...“, stieß ich hervor, doch von dem Krieger war keine Spur mehr zu sehen. Dafür wurden die Schritte nun immer lauter und Stimmen waren zu hören.

„Hallo? Hallo, ist da jemand?!“

Immer und immer wieder warf ich mich gegen die verflixte Tür, doch sie wollte einfach nicht zuklappen.

„Hallo? Wenn da jemand ist, dann soll er sich zeigen!“

Inzwischen konnte ich bereits die Silhouette des Wirts hinter der Theke sehen, es konnte sich nur noch um Sekunden handeln, bis er sich umdrehte und mich entdeckte. Kurz hielt ich inne, um alle meine verbliebene Kraft zu sammeln, dann warf ich mich ein letztes Mal gegen den Tragering. Keine Sekunde zu früh. Mit einem gewaltigen RUMMS knallte die Tür zu und ich konnte nur noch den erstaunten Ausruf des Wirts hören.

„Was zum...?!“

Er stand nun direkt über mir, aber alleine konnte er die Luke nicht öffnen. Mit schweißigen Händen krallte ich mich in die Treppenstufen, auf denen ich hockte, während der Wirt über mir nach seinen Bediensteten verlangte.

„Fredie! Hey, Fredie, komm her! Und bring die Forke mit!!“

Wir würden gleich ein ganz schönes Problem haben, wenn wir hier nicht irgendwie raus kamen... Doch nun wo die Falltür zu war, drang kein einziger Lichtstrahl mehr in den Keller und eine Fackel oder Ähnliches hatte ich auch nicht dabei. Zudem hatte ich keine Ahnung, wo Bär war oder wo ich überhaupt Hin musste. Vorsichtig ertastete ich die weiteren Treppenstufen unter mir und näherte mich damit Schritt für Schritt dem Boden. Hin und Wieder schickte ich ein verlorenes: „Bär...?“, in die Dunkelheit, doch ich hörte meine Stimme selber nicht, bei dem Gebrüll des Wirts, das gedämpft durch die Bretter klang. Wenn der und Fredie mit der Forke gleich hier unten stehen würden, hätte ich keine Chance mehr.

In dem finsteren Kellergewölbe roch es nach Essen und obwohl mir mein Herz bis zum Hals schlug, hielt ich ein paar Sekunden inne, um die verschiedenen Gerüche zu unterscheiden. Schinken, Käse, Brot, Weintrauben, Äpfel, Wein... Das waren nur einige der Dinge, die ich identifizieren konnte und es waren zusätzlich noch viele Dinge dabei, die ich noch nie in meinem Leben gerochen hatte. Auf dem Boden rutschend bewegte ich mich fort, immer darauf bedacht, möglichst viel Abstand zwischen mich und die Falltür zu bringen. Jeden Moment könnte Fredie da sein und dann wäre alles zu spät. Ich wollte mir gar nicht ausmalen, was diese Bauern mit uns anstellen würden...

Immer öfter stieß ich gegen irgendwelche Kanten oder Ecken und irgendwann wusste ich nicht einmal mehr, aus welcher Richtung ich gekommen war. Alles war schwarz und überall waren Regale, von oben drang nur noch unbestimmbares Poltern und ich traute mich nicht, nach Bär zu rufen, vor Angst, dass man mich hören könnte. Hin und Wieder meinte ich, ein Geräusch zu hören, das von ihm stammen könnte, doch sicher bestimmen konnte ich es nie.

So war es kein Wunder, dass ich von der Flutwelle an Licht erschlagen wurde, als Fredie und der Wirt es doch noch schafften, die Luke zu öffnen. Es fiel zwar nur extrem wenig von der Helligkeit zu meinem Standort, doch es reichte dennoch aus, um mich so zu blenden, dass ich ein paar Sekunden nur meine Hand auf meine Augen pressen konnte und hoffte, dass ich weit genug von der Falltür entfernt saß. Als ich mich endlich wieder orientieren konnte, stellte ich fest, dass die Speisekammer erfüllt von Fußgetrappel und Geschrei war. Anscheinend hatte Fredie Verstärkung mitgebracht. Aus reinem Reflex versteckte ich mich hinter dem nächstbesten, was ich sah, in diesem Fall einem großen Weinfass. Erneut keine Sekunde zu früh: Kaum war ich hinter ihnen verschwunden, stürmten bereits die ersten Leute hinter den Regalen hervor. In ihren Händen Fackeln, in ihren Augen die Wut. Aufgeregt schreiend rannten sie an mir vorbei und kannten scheinbar nur ein Ziel: Denjenigen finden, der ihre Kleinstadtidylle gefährdete. Ich fand erschreckend, wie schnell die Menschen sich von freundlichen Gastgebern in erbitterte Kämpfer wandeln konnten und so saß ich ziemlich verstört hinter meinen Fässern, während ich ihren Stimmen lauschte.

„Wir werden dich finden, lausiger Dieb!“

„Glaub ja nicht, dass du davon kommst!“

„Wir kriegen dich!“

„Rain... Pssht, Rain, hier!“

Der Letzte Satz wurde nicht gebrüllt, sondern geflüstert. Erschrocken fuhr ich zusammen und fuhr herum. Neben mir saß Bär, mit gefüllten Leinenbeuteln und Wasserschläuchen.

„Wo in aller Welt warst du?!“, fuhr ich ihn an, konnte aber meine Erleichterung über sein Auftauchen auch nicht komplett verbergen.

„Vorräte auffüllen. Wir müssen nur hier raus, dann können wir wegreiten!“

„Leichter gesagt als getan...“, seufzte ich. „Ich fürchte, wir werden hier verschimmeln oder gefunden werden. Oder gibt es noch einen anderen Ausgang?“

Bär schüttelte den Kopf. „Nein... aber wir müssen trotzdem hier raus kommen. Die Anderen warten sicher schon!“

„Ich glaube, dass ist unser geringstes Problem!“, erwiderte ich leise und zog den Kopf ein, weil erneut Bedienstete angerannt kamen. Wie groß war diese Speisekammer denn?! „Ich wäre schon froh, wenn ich hier einigermaßen heil wieder raus komme!“

„Das wird schwierig...“, gab Bär zu. „Aber lass mich mal machen. Hier. Halt das gut fest!“

Er drückte mir die aufgefüllten Taschen und Leinen in die Hand und bedeutete mir, still zu sein. Dann rutschte er bis zum Rand des Fasses und lugte vorsichtig darum herum. Als die Bediensteten vorbei waren, stahl er sich auf den halb erleuchteten Gang und griff in ein Fass, dass ich von meinem Standort aus nicht identifizieren konnte. Er zog ein paar runde Früchte heraus, vermutlich Äpfel, und holte aus. Er wollte doch nicht etwa?! Doch, er wollte.

Mit einem gezielten Wurf schleuderte er den Apfel gegen das nächste Regal. Eine Tonschale mit Honig fiel klirrend zu Boden und ihr Inhalt ergoss sich über den Boden. Mit einem Satz war Bär wieder zurück bei mir und rief nun ohne Rücksicht auf die Lautstärke: „Renn!!“

Was ich auch tat. So schnell ich konnte stürzte ich auf den Flur und rannte genau in die entgegen gesetzte Richtung von dem umgestürzten Honigtopf, zu dem nun alle Bediensteten hasteten. Leider nahmen auch ein paar unseren Gang. Ohne groß nachzudenken lief ich einfach weiter, ohne Rücksicht darauf, den Leuten auszuweichen. Ein kleiner, schmaler Mann ging zu Boden und ich beinahe mit ihm, doch im letzten Moment konnte ich den Sturz verhindern und weiter sprinten, Bär hinterher. Hoffentlich wusste er, wo der Ausgang aus diesem Essenslabyrinth war...

„Haltet sie!“, tönte es hinter mir und man musste nicht übermäßig intelligent sein, um zu wissen, dass Bär und ich gemeint waren. Doch nun sah ich bereits die Treppe nach oben, die Bär bereits erklommen hatte und es gab kein Halten mehr. Neben meinem rechten Ohr sauste eine Forke entlang, die zitternd in der Wand stecken blieb. Das war knapp gewesen... Mit einem Satz nahm ich die letzten Stufen und rannte durch die Schankstube hinaus, wobei ich noch ein paar Stühle umriss. Polternd drangen wir auf die Straße, doch damit war es noch nicht vorbei. Im Gegenteil: Dort erwartete Bär und mich ein noch viel größeres Chaos. Alle Lichter brannten und die halbe Stadt war auf den Beinen, Kinder weinten und Frauen schrien. Es war wie eine Massenpanik, die wohl ganz alleine Bär und ich zu verantworten hatten. Und wo in aller Welt war der Dryad? Von dem Baumgeist fehlte jede Spur.

Als wir aus der Tür stürzten, richteten sich alle Blicke auf uns und Bär und ich mussten uns nicht absprechen, um das selbe zu tun: Einfach weiter rennen. Nicht nachdenken, nicht ablenken lassen. Rennen. Und nichts fallen lassen. Ich rempelte ein paar Leute an, als ich mich durch die Menschenmenge kämpfte, doch noch hatte niemand verstanden, dass wir die Übeltäter waren. Erst, als auch die Bediensteten auf die Straße stürzten und uns mit erhobenen Forken folgten, begannen die Anderen zu begreifen. Doch da waren Bär und ich längst von der Hauptstraße abgebogen und hasteten durch ein paar dunkle Gassen.

Das Wasser in den Schläuchen schwappte fröhlich Hin und Her und ich hatte Probleme, alles festzuhalten, doch es gelang mir mehr oder weniger. Dafür ging mir langsam meine Kondition aus, sodass ich nach wenigen Abbiegungen kaum noch mit Bär Schritt halten konnte. Dazu kam noch, dass mein Bein wieder schmerzte und mein Schlüsselbein brannte, was mir fast unmöglich machte, normal zu laufen.

„Rain, beeil dich!“, rief mein Kumpane über die Schulter. „Es ist nicht mehr weit bis zur Mauer!“

„Das... motiviert mich jetzt auch... ungemein...“, keuchte ich, darum bemüht, bloß nichts los zu lassen. Bär hätte mir ja auch mal beim Tragen helfen können...!

Als ich dachte, dass meine Lunge jeden Moment explodieren müsste, kamen wir tatsächlich doch noch am Tor an. Hinter mir schwoll bereits der Lärm an, wie eine Flutwelle breitete sich die Panik rasend über die ganze Kleinstadt aus.

„Aber... aber hier ist ja gar kein Tor!“, japste ich verzweifelt. Wir standen tatsächlich vor einer blanken Steinmauer. Nirgends war auch nur eine Spur von einer Fluchtmöglichkeit zu sehen und ich konnte bereits wieder die flackernden Schatten der Fackeln an den Hauswänden sehen.

„Da rüber!“, befahl Bär. „Ich kletter hoch und du reichst mir die Sachen an!“

Als hätte er niemals etwas Anderes gemacht, schwang er sich in Windeseile auf die Mauer und schneller als ich nachvollziehen konnte, wie genau er das angestellt hatte, streckte er mir fordernd die Hände entgegen. Ich hatte keine andere Wahl, als ihm zuerst die Lebensmittel hinauf zu werfen und dann zuzusehen, wie er sie fest an sich presste.

„Ich spring rüber und laufe außen herum! Bleib du auf der Mauer, ich komme mit den Anderen und den Pferden!“

„Warte...“, rief ich noch entsetzt, aber der war er schon auf der anderen Seite hinunter gerutscht.

Etwas verloren stand ich vor dem riesigen Bauwerk, ohne auch nur den Hauch einer Idee, wie ich da hinüber kommen sollte. Allerdings wurde die Zeit langsam knapp, denn das Getrappel der Füße und das Geschrei der aufgebrachten Menschen inzwischen wirklich laut war.

„Diese Schweine!“

„Ausgenutzt haben sie uns! Ausgenutzt!“

Ich warf einen schnellen Blick über die Schulter, stellte fest, dass die Menge jeden Moment um die Ecke biegen würde und warf mich planlos gegen die Mauer. Meine Hände fanden halt in einer Spalte im Gestein, doch meine Stiefel rutschten immer wieder an der glatten Oberfläche ab.

Mir entfuhr ein Fluch, als ich einen hellen Schrei hörte.

„Da! Da hängt er, der Verräter!“

Endlich schaffte ich es, meinen linken Fuß auf einem Stein abzustützen und stieß mich mit voller Kraft ab. Ich war mir im Nachhinein nicht sicher, wie ich es bewerkstelligt hatte, aber irgendwie gelang es mir, mich mit meinen Händen an der Kante festzukrallen und zu halten.

Leider war der erste, aufgebrachte Bauer jetzt auch angekommen und hing sich an meine Beine, die noch haltlos in der Luft baumelten. Verzweifelt trat ich mit allen verfügbaren Kräften aus und schien auch zu treffen. Mein Fuß traf auf etwas Hartes, offensichtlich ein Kopf, und endlich hatte ich die Chance, noch einmal Schwung zu holen.

Wie ein Kartoffelsack hing ich halb auf der breiten Mauer, halb auf der anderen Seite, als auch die Anderen zu bemerken schienen, dass ich es noch nicht aus der Stadt geschafft hatte. Immer mehr Leute kamen her und plötzlich hing das doppelte Gewicht an meinem Unterkörper. Außerdem schrie irgendjemand etwas vonwegen „Holt das Feuer“, was ich auch nicht unbedingt begrüßte. Strampelnd befreite ich meine Füße und zog mich endlich das letzte Stück hinauf. So schnell ich konnte, richtete ich mich auf und sah auf die tobende Gruppe Menschen hinab, die mir mit ihren Fäusten drohten und Mistgabeln in die Luft streckten.

Vor Erleichterung wurde ich leichtsinnig und konnte mir ein: „Pech gehabt!“, nicht verkneifen. Im Nachhinein bereute ich nichts mehr, als das. Denn nun hatte ich anscheinend endgültig das Fass zum Überlaufen gebracht. Die ersten Menschen begannen, sich gegenseitig auf die Mauer zu helfen!

...hörte das denn nie auf?

Ich hatte keine Ahnung, in welcher Richtung Bär mich erwartete, aber ich nutzte meine Chance und sprintete los. Die Mauer war nicht besonders breit, aber es reichte, um im Dunkeln den Weg zu finden und nicht herunter zu fallen, wie damals im Wald, wenn ich mitten in der Nacht instinktiv den Wurzeln ausgewichen war.

„Schnappt ihn!“

Die Ersten waren auf der Mauer angekommen und folgten mir lautstark. Allerdings schienen sie nicht so einen guten Gleichgewichtssinn wie ich zu besitzen, da ich mehrmals einen Aufschrei und einen dumpfen Aufprall hörte. Zum Glück war die Mauer nicht besonders hoch...

Irgendwann, als ich wieder kurz vorm Ende stand, hörte ich endlich das erlösende Wiehern.

„Rain! Hier drüben!“

Bär kam angeritten, auf seinem Rappen. An der langen Leine führte er Tonne, die sichtlich genervt von dem schnellen Tempo war und unwillig ihren Kopf Hin und Her warf. Von den Anderen war keine Spur, aber das war mir ziemlich egal. Denn einer der Dorfbewohner hatte extrem aufgeholt und war nun kurz davor, mich zu Fall zu bringen.

Seine Mistgabel hatte er anscheinend verloren, zumindest war keine Spur von einer Waffe zu sehen, als ich einen nervösen Blick nach hinten warf. Bär ritt nun an die Mauer heran, Tonne war nur noch ein paar Zentimeter neben meinen Füßen.

„Spring! Spring, verdammt nochmal!“

Ich sollte springen?! Was dachte sich Bär denn? Dass ich innerhalb der letzten Wochen zum perfekten Athleten geworden war?! Unsicher schielte ich auf Tonnes Rücken, der auf und ab schwankte wie ein unsicheres Schiff. Ich konnte doch nicht...

Mein Verfolger nahm mir meine Entscheidung ab, in dem er einen Hechtsprung nach vorne machte und mich zu Fall brachte.

Mit einem Aufschrei verlor ich das Gleichgewicht und plumpste unsanft auf den Rücken meiner Lieblingspferdedame. Tonne wieherte panisch und machte einen Satz nach vorne, was mich fast aus dem Sitz katapultierte. Verkrampft krallte ich mich in ihre Mähne und hoffte inständig, dass sie von selbst wusste, wohin sie laufen musste. Tonne enttäuschte mich nicht. Zielstrebig schlug sie den selben Weg ein wie Bärs Pferd, während ich einfach nichts mehr tat, außer mich festzuhalten.

„Das... war... knapp...“, ächzte ich, nachdem ich mich wieder einigermaßen gefangen hatte.

„Du warst super!“, strahlte Bär und warf einen Blick zurück auf die Stadt. „Auch, wenn es anders gelaufen ist, als geplant“

„Das kannst du laut sagen“, stöhnte ich. „Wo sind die Anderen? Haben sie es geschafft?“

„Sie sind vor geritten, um die Beute in Sicherheit zu bringen. Ich hab ihnen gesagt, dass sie am Frostkamp warten sollen... der Dryad sollte wissen, wo das ist“

„Wie hat der es eigentlich da raus geschafft?“, fragte ich Stirn runzelnd, während die Stadt hinter uns immer kleiner wurde. Anscheinend kam keiner auf die Idee, uns zu folgen.

„Ich bin noch nicht dazu gekommen, ihn zu fragen... habe nur schnell die Pferde geholt und bin dann zurück gekommen. Keine Sekunde zu früh, könnte man meinen“

„Da hast du allerdings Recht“, erwiderte ich und atmete tief durch. Mein Herz klopfte immer noch wie wild und übertönte sogar Tonnes Huftrappeln.

Aber wir hatten es geschafft und nun würde die letzte Etappe unserer Reise beginnen. Die, die schlussendlich über alles entscheiden würde.

Entschlossenheit

20. Kapitel Entschlossenheit

 

Wir holten die Anderen erst am Mittag des nächsten Tages wieder ein. Das könnte einerseits daran gelegen haben, dass Bär und ich so erleichtert über unsere gelungene Flucht gewesen waren, dass wir unsere Pferde im Schritt durch die Hügellandschaft trotten gelassen hatten, andererseits aber auch daran, dass der Dryad eben doch nicht gewusst hatte, wo der Frostkamp genau zu finden war, sodass unsere Gefährten sich um ein paar Hügel vertan hatten. Schlussendlich trafen wir uns allerdings doch noch wieder. Ein mulmiges Gefühl stieg in meiner Magengrube auf, als ich daran dachte, dass ich nun das erste Mal Lynnea wiedersehen würde und sofort kamen die Gedanken an Lyen wieder.

„Hey, alles in Ordnung?“, fragte Bär besorgt, als er bemerkte, wie mein Gesichtsausdruck sich veränderte.

„Jaja... geht schon“, winkte ich ab.

„Ist es das Bein? Dort hinten sind doch schon die Anderen... Joee kann dir bestimmt was gegen die Schmerzen geben!“

„Nein, das ist es nicht“, meinte ich schnell. Dann fügte ich zögernd hinzu: „Es... es ist wegen Lynnea“

Eine Weile herrschte Schweigen, während die drei einsamen Gestalten vor uns immer näher kamen. Inzwischen konnte ich den Dryaden, Joee und Lynnea schon unterscheiden. Keiner von ihnen sah besonders erfreut aus, uns zu sehen.

„Ach, weißt du... ich glaube nicht, dass du dir Sorgen machen musst. Das ist nur der Schock. Sobald sie wieder klar denken kann, wird sie selbst verstehen, dass es keinen Grund für Zorn gibt. Du hattest keine Schuld“

Den letzten Satz sagte er eindringlich, fast schon wie ein Befehl. Du hattest keine Schuld. Ob er Recht hatte? Ich nickte unentschlossen und rang mir ein Lächeln ab.

„Wird schon wieder. Danke“

„Na los. Dann lass uns zusehen, dass wir wieder zu den Anderen kommen“, meinte Bär und ließ sein Pferd antraben.

Tonne wehrte sich zunächst störrisch dagegen, aus ihrem gemütlichen Schaukelschritt zu wechseln, aber sie tat es dann doch. Ich konnte sie verstehen. Am liebsten wäre ich auch einfach weiter in diesem Tempo geritten, am Besten noch an den Anderen vorbei und ins Nichts.

Desto näher wir den Dreien kamen, desto klarer konnte ich sie erkennen. Es war wirklich ein Trauerspiel. Ich hätte niemals gedacht, dass ich so etwas sagen würde, aber Joee wirkte in dieser Truppe wie ein starker Anführer, auch ohne das weiße Leuchten in seinen Augen. Lynnea saß mit leerem Blick auf ihrem Pferd und zupfte an den Zügeln herum, wobei sie immer wieder tonlose Wörter murmelte. Lyen. Lyen, Lyen, Lyen. Ich musste nicht hinsehen, um zu wissen, welcher Name es war, den sie pausenlos wiederholte.

Der Baumgeist hing wie tot auf seinem Pferd und hielt sich nur mit letzter Kraft aufrecht. Es war nichts von dem verächtlichen, nervigen Geist geblieben, als ein klägliches Überbleibsel seiner Mentalität, die noch dazu nach Luft schnappend am Pferdehals hing. Joees Stute konnte sogar ungehindert an seinen Haaren knabbern, bis der Heiler sie erschrocken zurück hielt. Als seine zuckenden Pupillen Bär und mich erblickten, seufzte er erleichtert.

„E...endlich... ich d..dachte schon, wir hä...hätten uns doch verlaufen...“

„Tatsächlich ist das hier nicht der Frostkamp“, erwiderte Bär. „Aber gefunden haben wir uns ja doch noch. Habt ihr die Beute?“

Joee nickte und deutete auf die prallen Satteltaschen von den drei Pferden. „A...alles dabei“

„Schön. Gab es ansonsten irgendwelche Probleme?“

Ich fragte mich, wie Bär standhaft Lynnea und den Dryaden ignorieren konnten. Beide hätten dringend Hilfe benötigt... allerdings musste auch ich zugeben, dass wir über diese Hilfe nicht verfügten.

Der Heiler nickte stumm in Richtung des Dryaden und Lynnea, die beide noch überhaupt keine Notiz von uns genommen hatten. Sorgenvoll musterte ich die Beiden, die in ihren eigenen Gedankenwelten verloren zu sein schienen. Wenn wir nur irgendetwas hätten tun können...

Bär folgte meinem Blick eine Weile, dann räusperte er sich.

„Ich sehe, dass es zurzeit schwer scheint, aber wir sollten wirklich weiter. Wir haben zu viel Zeit in der Stadt verbracht und Rains Medizin geht bald aus... wenn wir uns nicht beeilen, gibt das Probleme“

Keiner reagierte, nicht einmal ich. Was hätte ich auch sagen sollen? 'Wonach sollen wir suchen?! Es gibt den Kristall nicht. Die bittere Wahrheit ist, dass wir hier mitten in einem fremden Land sitzen, mit zwei schwerkranken Gefährten und ohne ein Ziel oder einen Plan, wie es weitergehen soll!'

Da konnte ich nicht tun. Es ging einfach nicht. Ich konnte nicht auch noch Bärs Hoffnungen zerstören, wo es doch so schien, als sei er der Einzige, der von uns noch wirklich an irgendetwas glaubte. Vielleicht lernte man als Gestaltwandler, die Nerven nicht zu verlieren...

„Hört mir jemand zu?“, fragte Bär.

Lynnea murmelte weiterhin Lyens Namen. Immer wieder. Es machte mich wahnsinnig.

„Hallo?“

Die Hände des Dryaden verkrallten sich im Pferdehals, als er erneut einen Hustenanfall bekam. Ich roch den Tod, der in seiner Brust saß, bis hierher.

„Versteht ihr mich nicht mehr? Was soll das?!“

Joees Finger spielten unruhig mit den Zügeln seines Pferdes. Sein Blick lag starr auf den Boden gerichtet und es schien, als ob er etwas Anderes sehen würde, als die Hufabdrücke in dem weichen Wiesengras. Vielleicht ein anderes Land? Ein anderes Leben? Ich wünschte mich sosehr in den Wald zurück, wie noch nie.

Mein Blick schweifte ab, in die Ferne und irgendwann nahm auch ich Bär gar nicht mehr war, der wie verzweifelt auf uns einredete. Ich konnte einfach nicht mehr. Wir waren gescheitert. Wo war mein Kampfwille? Mein Überlebensinstinkt? Das Selbe hatte ich mich gefragt, als ich im Wald neben dem sterbenden Olon gesessen hatte, während mein Stamm um mich herum ausgerottet worden war. Vielleicht hätte ich Leben retten können, wenn ich nicht nur untätig herum gesessen hätte. Aber was tat das jetzt noch zur Sache? Olon war tot, genau wie Zena und auch Lyen.

Bär hatte es aufgegeben. Er sagte nichts mehr. Und so saßen wir da, bis das Abendrot kam, schweigend auf unseren Pferden. Keiner sagte ein Wort und die Stille wurde höchstens von dem Husten des Dryaden unterbrochen. Wohin? Und warum überhaupt noch?

Fragen, die wir uns alle stellten und auf die keiner von uns eine Antwort wusste.

 

 

 

Das Feuer war wütend. Das Feuer fraß schnell. Viel zu schnell. Zu gewaltig, zu unberechenbar. In Sekundenschnelle verschlang es die Holzwände, verbiss sich in den Vorhängen und brüllte seinen Zorn in die knisternde Nachtluft hinaus.

Bilder, an denen Erinnerungen hingen, wurden eins mit bedeutungslosen Kronleuchtern, verschmolzen in der selben Asche. Die Flammen machten keinen Unterschied zwischen den Dingen, sie waren fast schon sympathisch in ihrer Gleichgültigkeit, doch sie konnte dennoch nichts Anderes spüren, als die Angst, die mit eisigen Klauen nach ihrem Herzen griff.

Sie waren da. Natürlich waren sie das. Wie hatte sie denken können, dass sie auch dieses Mal davon käme?

Wo war Cliff? Wo war Linus? Ihnen durfte nichts geschehen. Nicht, weil sie einmal zu viel leichtsinnig gewesen war...

Mya riss sich zusammen, unterdrückte die Angst mit eisigem Willen und rannte. Ausnahmsweise einmal nicht um IHR Leben...

Cliff!“, schrie sie. „Cliff!“. Doch ihr Name ging unter in dem tosenden Feuersturm, der im ganzen Haus zu toben schien. Wo waren sie? Wo?

Tränen stiegen ihr in die Augen. Kein Schmerz, keine Gefahr, keine noch so brenzlige Situation hatte sie jemals das fühlen lassen, was sich nun langsam über ihren Körper ausbreitete. Panik.

'Du musst darauf vorbereitet sein, Mya. Nur ein unvorsichtiger Schritt und sie finden dich und zerstören alles, was dir wichtig ist'. Worte aus einem längst vergangenen Leben. So bedeutungslos und doch so wichtig. Nie hätte sie gedacht, dass es so weit kommen würde.

Sie fand Cliff nicht. Dafür Linus.

Mama?“

Er stand so verletzlich, so verängstigt da, in der Hand den kleinen Stoffvogel, den sie ihm erst vor ein paar Wochen geschenkt hatte. Mya hatte ihm nie erzählt, dass er gestohlen war, von der kleinen Kronprinzessin, die so unschuldig in ihrer Wiege Hin und Her geschaukelt war, dass selbst sie für einen kurzen Moment verzaubert gewesen war. Einen Moment zu lange? Für ein paar Sekunden hatte sie den Auftrag vergessen, nur für einen Herzschlag, und schon hatte einer von ihnen ihr Gesicht gewesen. Nur, weil ihr Herz nicht mehr nur das der Auftragsmörderin und Diebin war, sondern auch das einer Mutter, hatte sie ihre eigene Familie ins Verderben gestürzt.

Mama!“

Seine winzige Hand schmiegte sich an ihre. Er würde nicht mehr erleben, wie es war, wenn prickelnde Schauer der Anspannung seinen Nacken kitzelten, nicht mehr das Hochgefühl fühlen, wenn er seinen ersten Raub gemeistert hatte. Er hätte es werden können, der würdige Nachfolger für ihre Ära, doch nun hatte sie ihm alles zerstört. Die Zukunft. Das Leben.

Wir müssen hier weg... das Feuer...“, stammelte der kleine schwarzhaarige Junge und zerrte an ihrem Rock. „Es ist heiß...“

Ja... ja, ich weiß“, antwortete Mya schluckend. Wieso er? Ausgerechnet er? Er war perfekt, das Beste, das Vollkommenste, was jemals diese Welt erblickt hatte und nun? Sie würden seine Asche später nicht mal von der der Tische unterscheiden können. Sie wollte das nicht. Jetzt hasste sie das Feuer doch wieder.

Die Flammen waren inzwischen auch in ihrem Raum angekommen. Was nun? Sie würde niemals fliehen können. Es war zu spät.

Mama...“

Zitternd streckte er seine Arme nach ihr aus und Mya griff nach ihnen, wie nach einem Rettungsring. Tränen rannen über ihr Gesicht, als sie ihn ganz fest an sich presste und nie wieder loslassen wollte. Nie wieder...

Ich hab Angst... das Feuer ist so heiß...“

Er hustete. Der Rauch war zu stark. Nicht mehr lange... Sie hörte auf, nach Cliff zu suchen. Entweder, er war bereits in die ewigen Flammen eingegangen, oder er hatte es geschafft. Jetzt zählte nur noch Linus, das kleine, unschuldige Rabenkind, dass sich husten und würgend an ihre Schulter krallte.

Weißt... weißt du noch, was ich dir über die Vögel erzählt habe...?“, fragte sie leise und obwohl das tobende, knisternde Feuer unendlich laut schien, nickte Linus. „Sie... sie könnten jetzt einfach wegfliegen“, redete sie weiter, obwohl sie selbst kaum noch klar denken konnte, wegen dem Brennen in ihrem Hals. „Aber wir, wir sind an die Erde gebunden und können nicht fort...“

Ihre Augen suchten nach einem Ausweg. Es musste einen geben. Er durfte nicht hier untergehen, mit ihr. Nicht wegen ihr. Selbst im Tod wäre das eine unbegleichbare Schuld. Die lodernen Funken hatten bereits die ganze Wand in Brand gesteckt und Mya konnte kaum noch atmen, als ihr Blick auf das winzige Fenster an der anderen Seite des Raumes fiel. Rabenkind...

Linus...“, flüsterte sie. „Linus, kannst du mich hören?“

Der kleine Junge nickte. Unmerklich, aber er nickte.

Du musst es wie die Vögel tun... flieg...“

Aber Mama... was ist mit dir?“

Mama wird auch fliegen, du kannst es nur nicht sehen. Sie wird wegfliegen und...“. Tränen und Husten unterbrachen ihre Worte. Sie konnte nicht mehr. Er musste fort von hier. Fort von dem Inferno ihres Versagens.

Flieg, kleiner Vogel...“, flüsterte sie ihm ins Ohr, dann nahm sie Anlauf und rannte auf das Fenster zu. Es war Wahnsinn. Vielleicht. Aber eine andere Chance hatte er nicht. Linus krallte sich in seinen Stoffvogel, als wüsste er, was folgen würde. Und trotzdem traf sein Blick sie härter als erwartet, als das Holz unter ihrem Gewicht zersplitterte und er ihren Armen entglitt, unaufhaltsam, für immer.

Flieg...

Und er flog. Ihr Blick verlor den Kontakt zu ihm, als er in der Dunkelheit verschwand, doch sein Leben blieb.

Flieg...“, wisperte sie in die Dunkelheit, dann versagte Myas Atem und die Flammen nahmen sie lodernd in Empfang.

 

 

Husten und röchelnd fuhr ich aus dem Schlaf. Das Brennen in meinem Hals war zu real, zu schrecklich, als dass es ein Traum war. Mit aufgerissenen Augen schnappte ich nach Luft, meine Hände krallten sich in meinen Hals und ich kämpfte verzweifelt um jeden Atemzug.

Erst nach wenigen Sekunden verflog der Zauber und zurück blieb nicht als das Rauschen des Windes und die nächtliche Stille. Schon wieder ein Traum. Eine Vision? So langsam wusste ich nicht mehr, nach welchem Schema ich von Dingen träumte. Bisher war es immer Janys gewesen, der mich verfolgt hatte und nun...? Mya... es war ein schöner Name, doch gehört hatte ich ihn noch nie, genau so wenig wie Linus. Die Namen der Höheren klangen zu weich, um zu meiner Heimat zu passen, doch hier, unter dem blanken Sternenhimmel erschienen sie mir perfekt.

Nachdem mein Herz sich wieder ein wenig beruhigt hatte, ließ ich meinen Blick über meine Umgebung schweifen. Bär, der Dryad und Joee schliefen mehr oder weniger ruhig, der Dryad zuckte im Schlaf und Bär schnarchte leise. Wo war Lynnea?

Verwirrt suchte ich nach ihrer Silhouette, doch es dauerte lange, bis ich sie auf der flachen Hügelkuppe neben mir ausmachte. Sie stand vor dem schwachen Mondlicht der schmalen Sichel wie ein Geist und beinahe hätte ich sie für eines der Mondmädchen gehalten, so blass und verletzlich sah sie aus.

Die Soldatin stand mit dem Rücken zu mir und sie bemerkte mich nicht, selbst als ich direkt neben ihr stand nahm sie keine Notiz von mir. Ihr Blick hing Gedanken verloren in der Ferne und kurz schweiften auch meine ab.

Mya... Linus... wieso träumte ich von ihnen? Was hatten sie mit Janys oder dem Ring zutun? Nicht einmal Alec, den Diener von Janys hatte ich irgendwo identifizieren können. Und doch mussten sie alle irgendeine Verbindung haben. Ich zerbrach mir ewig den Kopf darüber, doch ich fand keine plausible Erklärung. Flieg...

„Ich habe ihn als kleines Mädchen kennen gelernt“

Lynneas Stimme brachte mich so aus dem Konzept, dass ich zusammen fuhr und ein paar Sekunden brauchte, um zu verstehen, dass sie mit mir gesprochen hatte.

„Wir waren kaum 10 Jahre alt und schon die besten Freunde... unser Dorf war nicht groß, im Gegenteil. Man hat es leicht übersehen, zwischen all den großen Städten...“

Ihre Stimme wurde immer leiser, immer abwesender. Sie sprach von Lyen, keine Frage. Unsicher musterte ich ihr verzweifeltes Gesicht. Was sollte ich tun? Sie nahm mir die Entscheidung ab und sprach weiter.

„Er hat mich schon immer geliebt. Schon seit dem ersten Tag. Ich habe es erst verstanden, als er schon fort war, als Söldner zum Militär. Sie haben früher alle jungen Männer eingezogen, um die Wölfe auszurotten, die aus dem Westen gekommen sind... und erst als er weg war ist mir aufgefallen, wir sehr mir sein Lächeln fehlt“

Ihr Blick verlor sich in der Dunkelheit, abgestumpft und traurig.

„Ich bin im gefolgt. Einfach so. Es war nicht einfach, als Frau. Aber ich habs geschafft. Habe ihn wieder gefunden. Sechs Jahre... Und jetzt ist er tot. Einfach so“

Als sie das aussprach, wovor ich mich so fürchtete, bekam ich Gänsehaut. Er war tot.

„Es tut mir Leid“, meinte ich, ohne groß darüber nachzudenken. „Ich hätte das nicht zulassen dürfen“. Mein Atem zitterte, vor Anspannung, doch ich hatte keine Tränen mehr.

Lynnea sagte nichts. Sie verzieh mir nicht, das las ich in ihren Augen. Sie würde mir niemals verzeihen, dass ich Lyen hatte sterben lassen. Ihren Lyen.

„Hat er gelitten?“

Aus ihrem Augen sprach die pure Angst, als sie mich anblickte. Sie sah alt aus, durch die Augenringe und den Schmerz auf ihrem Gesicht und ich konnte ihr einfach nicht noch mehr Sorgen auferlegen.

„Nein. Aber er hat dich gerufen...“

„Hat er das?“

Sag Lynnea, dass ich sie liebe. Es war so ein Klischee. Und es tat so weh.

Ich sagte ihr nicht, was er gewollt hatte. Sie wusste es auch so.

„Ich kann nicht mehr...“, murmelte Lynnea und ihre Augen glitzerten im Mondlicht, angefacht von den Tränen in ihren Augenwinkeln. „Es geht einfach nicht mehr“

Schweigen. Was sollte ich auch sagen? In diesem Moment wurde mir erneut klar, dass ich ihr nicht sagen konnte, dass es den Kristall nicht gab. Ich wollte nicht schon wieder die Schuld für all den Schmerz und Hoffnungslosigkeit in ihren Gesichtern tragen. Oder zumindest noch nicht jetzt.

„Ich gehe wieder schlafen“, murmelte Lynnea. Dann drehte sie sich um und ging den kleinen Hügel hinunter. Kurz bevor hinter der Erhöhung verschwunden war, drehte sie sich noch einmal um. „Rain?“

„Ja?“

„Danke“

Dann war sie fort und ich wieder allein. Der Sternenhimmel funkelte kühl und plötzlich wirkte er gar nicht mehr so heimelig. Eine Windböe ließ mich frösteln und die Bäume in der Ferne rascheln, irgendwo heulte ein Wolf. Danke. Wofür? Obwohl ich das nicht klar bestimmen konnte, tat ihre Geste gut. Vielleicht würde die Last des schlechten Gewissens doch nicht für immer bleiben. Womöglich konnte Lynnea mir eines Tages sogar verzeihen, dass ich Lyens Tod nicht verhindern hatte können.

Erneut sehnte ich mich nach kalten Regentropfen, doch der blieb aus und so stand ich noch eine Weile auf der Hügelkuppe und ließ meine Gedanken um Lyen, Mya und ihren Sohn, Janys und den Kristall kreisen, bis die Müdigkeit auch mich wieder einholte und mich zu Boden zwang. Diesmal hatte ich keine Träume und keine Visionen, ich wusste von nichts mehr, als ich erwachte.

 

„Es hat keinen Sinn mehr“.

Verwirrt schlug ich die Augen auf. Widerstand wie immer dem Drang, nach einer Waffe zu greifen und sie schützend vor mich zu halten. Zog automatisch meinen Kopf ein, um kein Wasser in den Kragen zu bekommen. Das würde ich wohl nie loswerden.

„Was?“, nuschelte ich verschlafen und rieb mir die Augen frei. Vor mir saß Bär. Er sah müde aus.

„Es hat keinen Sinn mehr. Wir sind gescheitert. Falke ist fort, Lyen ist tot und Lynnea und der Dryad bald auch, wenn das so weiter geht. Dein Lebenstrunk ist so gut wie leer und dann wirst auch du krepieren und die Einzigen, die zurück kehren könnten, wären Joee und ich. Warum sollten wir uns noch weiter die Mühe machen?“

Ich hatte noch nie so harte Worte aus Bärs Mund gehört. 'Dann wirst auch du krepieren'. In seinem Gesicht regte sich kein Muskel, als er das sagte. Also waren über Nacht auch seine Hoffnungen verschwunden. Es hatte ja so kommen müssen.

„Bär...“

„Was, Bär? Na los, sag schon! Was willst du mir sagen? Gib mir einen Grund, warum ich mich aufs Pferd schwingen, euer aller Tod riskieren und weiter reiten sollte! Richtig, es gibt keinen. Das ganze Unternehmen ist sinnlos, es ist zu spät. Machen wir uns nichts vor. Mit etwas Glück kommen wir noch zu fünft bei Endrian an und ab dann ist Schluss“

Es war so hart, diese Tatsachen aus seinem Mund zu hören, aus dem Mund von Bär, dem unermüdlichen Bär. Er hatte nie auch nur eine Sekunde gezweifelt und nun wollte selbst er umkehren. Ich brachte kein Wort hervor und so stand Bär auf und wandte sich ab.

„Ich werde die Anderen wecken und dann reiten wir zurück“.

Mir versagte die Stimme. Oder der Wille. Ich war mir nicht sicher. Während ich beobachtete, wie Bär die Anderen aufweckte, drehte sich mein Magen um. Jetzt, wo alles so kurz davor war, zu scheitern, regte sich plötzlich wieder ein Funken Entschlossenheit in mir. Wir konnten doch nicht zurück... dann wäre alles umsonst gewesen.

„Was ist mit Lyen?“

Es war meine Stimme, die das sagte.

„Und mit Fenja?“

Bär hielt inne.

„Was ist mit Noras Magie? Und mit der Tanne? Alles wäre umsonst gewesen, Bär. Sie haben alle gelitten, damit wir am Ziel ankommen. Wir können doch jetzt nicht umdrehen, aufgeben und damit alles in den Dreck schmeißen, was hierfür geopfert wurde...“

Ich war selbst erstaunt über die Stärke in meinen Worten. Doch sie schienen zu wirken, denn Bär sackte am Boden zusammen und vergrub das Gesicht in seinen Händen. Vorsichtig rutschte ich zu ihm.

„Alles in Ordnung?“

„Nichts ist in Ordnung!“, rief Bär und sah auf. „Schlimmer könnte es gar nicht sein!“

'Oh doch...', dachte ich, doch ich sagte nichts. Stattdessen legte ich ihm meine Hand auf den Rücken und murmelte: „Wir können jetzt nicht aufgeben. Dazu stecken wir einfach schon zu tief in der Sache drin“

Schweigen. Die Morgensonne tauchte hinter einem der Hügel auf und tauchte alles in ein seltsam warmes Licht. Obwohl meine Haut brannte und meine Augen tränten, genoss ich den Moment Frieden, der sich tastend über den Boden ausbreitete und atmete tief durch.

„Wahrscheinlich hast du Recht“, antwortete Bär. „Ich habe einfach nicht mehr die Kraft, all das auf meine Schultern zu nehmen“

„Das musst du doch auch nicht“, besänftigte ich ihn. „Wenn wir alle noch ein paar Tage durchhalten, werden wir am Ziel ankommen, du wirst schon sehen“

Am Ziel. Wenn es denn ein Ziel gab. 'Das Ziel ist die Gewissheit', rief eine Stimme tief in mir und sie hatte Recht. Die Wahrheit war zurzeit eigentlich alles, was ich wollte. Endlich wissen, ob alles umsonst gewesen war oder nicht. Bär schien es ähnlich zu gehen, auch wenn er von meinem inneren Zwiespalt gar nichts wissen konnte.

„In Ordnung. Dann werden wir jetzt weiter reiten“, nickte er entschlossen. „Weck die Anderen, ich mache die Pferde fertig!“

Ich atmete auf. Endlich war er wieder der Alte... und hoffentlich hatte ich mit meiner Überzeugungsarbeit nicht alles noch schlimmer gemacht. Noch einen Rückschlag könnte ich nicht aushalten. Keiner von uns könnte das.

 

 

Stechender Schmerz in meiner Brust. Ein glühendes Brennen raubte mir den Atem. Ich bekam keine Luft. Hustete. Meine Schläfen schienen unter dem Druck zu zerbersten. Über das Schlagen meines eigenen Herzens hörte ich kaum, wie jemand meinen Namen rief. Wo war ich? Was tat ich?

Meine Hände fanden keinen Halt mehr, ich verlor den sicheren Grund und fiel, immer tiefer, immer weiter. Harter Boden. Von dem Aufprall angefacht schoss der Schmerz verdoppelt heftig durch meinen Körper. Meine Augen klappten zu, egal wie heftig ich dagegen ankämpfte. Ich hatte die Kontrolle verloren. In verzweifelten Versuchen, irgendetwas zu tun, wälzte ich mich über den Boden, bis ich in starken Armen landete.

Ich rief einen Namen. Schrie. Wo war der Regen? Die Kälte? Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.

Meine Hände krallten sich in die festen Arme um meine Schultern, mein einziger Halt in dem Tornado aus schemenhaften Schatten und Empfindungen. Betete, dass ich nicht auch noch sie verlieren würde. Bitte, halt mich fest, bitte bitte lass nicht los...

Dann endlich die Erlösung: saure Flüssigkeit auf meiner Zunge, die den Schmerz mit jedem Schluck mit sich nahm und mich zitternd zurück ließ. Bär ließ mich nicht los und ich war ihm dankbar dafür.

„Geht's wieder?“. Er klang besorgt, fast schon verstört.

Benommen öffnete ich die Augen. Die Umgebung flimmerte nicht mehr allzu stark und so konnte ich genau in die entsetzten Gesichter meiner Gefährten sehen. Ihnen stand die Angst deutlich ins Gesicht geschrieben, sogar der Dryad war nicht mehr so teilnahmslos, wie sonst.

„Ja... ja, ich denke schon...“, murmelte ich und mit Bärs Hilfe kam ich schwankend zum Stehen. Der Trinkschlauch, aus dem die rettende Medizin stammte, war fast leer. Jeder von uns wusste, was das bedeutete, doch es wagte keiner auszusprechen.

„Die Fähre... wir müssen zur Fähre...“, murmelte Bär konfus und strich sich über den Kopf. „Es ist der schnellste Weg zu den Wasserfällen“

„Da lang“. Joee deutete nach Westen. Keine großen Worte. Uns allen saß der Schreck deutlich in den Knochen. Nicht nur für den Dryaden tickte die lautlose Uhr... mein Herz pochte noch immer wie wild, als wollte es mit den verstreichenden Sekunden wetteifern, die mir plötzlich viel zu kostbar erschienen, um sie zu verschwenden.

Tonne schnaubte leise und wandte mir ihre sehende Seite zu, um mich anzustupsen, bevor ich mich wieder auf ihren Rücken schwang und langsamer den Anderen hinterher ritt. Sie ließen mir die Ruhe, die ich brauchte und noch nie war ich ihnen dafür so dankbar gewesen.

Abwesend ließ ich meinen Blick über die Felder und Berge in der Ferne schweifen. Bisher war ein Anfall noch nie so heftig ausgefallen, wie vorhin. Was hatte das zu bedeuten? Dass meine Zeit knapp wurde oder nur, dass mein ohnehin schon geschwächter Körper die Strapazen nicht mehr lange mitmachte? Das Fragezeichen schien mir im Gesicht zu stehen, denn wenn Bär oder Joee sich hin und wieder einmal nach mir umdrehten, wandten sie sich nach kurzer Zeit mitleidig wieder ab. Der Dryad litt sichtlich, aber immerhin konnte er wieder aufrecht sitzen und mich gepflegt ignorieren, wie immer. Aber ich war sowieso glücklich, dass sie mich alle in Ruhe ließen und ich unter dem Wolken bedeckten Himmel vor mich hin reiten konnte, ohne gestört zu werden. Der Scham über den plötzlichen Schwächeanfall stand mir noch immer heiß auf den Wangen. Mein Kopf war immer noch viel zu schwammig, um etwas dagegen zu unternehmen.

„Du hast ihren Namen gerufen“

Erschrocken fuhr ich zusammen. Bär hatte sich zu mir zurück fallen lassen und musterte mich aufmerksam.

„Welchen Namen?“, fragte ich verwirrt.

„Noras“

Nora. Gänsehaut lief mir über den Rücken.

„Du hast keine Jägerin gesehen, als die Mondmädchen dich geholt haben, oder?“, fragte Bär vorsichtig und traf genau ins Schwarze.

Ich war zu müde, um zu lügen, deshalb schüttelte ich den Kopf. „Nein, du hast Recht. Es war weder eine Jägerin, noch war sie mir nicht bekannt“

Bär nickte und richtete seinen Blick auf die Mähne seines schwarzen Pferdes, das unruhig den Kopf hin und her warf. Er schien mit sich selbst zu kämpfen, dann fragte er: „Liebst du sie?“

Liebst du sie? Eine schwierige Frage. Mein Kopf brummte viel zu sehr, als dass ich ernsthaft darüber hätte nachdenken können.

„Du hast selbst gesagt, dass es sein könnte, dass der Mondgeist auch nur Noras Gestalt angenommen hat, weil er uns bereits seit Endrians Burg folgt“, erinnerte ich ihn. „Es ist bestimmt nur der Zauber der Mondmädchen, der mich etwas härter erwischt hat, als erwartet“. Ich versuchte, ein Lächeln zu Stande zu bringen, aber es musste sehr gequält aussehen, Bärs Mimik nach zu urteilen.

„Ja, wahrscheinlich hast du Recht...“, meinte er dennoch. „Die Blicke der Anderen wirst du wohl trotzdem nicht so schnell los“

Automatisch wanderte mein Blick zu meinen Gefährten und ich bekam gerade noch so mit, wie Lynnea zusammen zuckte und sich schnell wieder nach vorne drehte.

„Ich wusste gar nicht, was ich redete... geschweige denn, wo ich war, oder was ich tat“, murmelte ich. „Hoffentlich interpretieren sie da nicht zu viel hinein“

Bär zuckte mit den Schultern, dann schwiegen wir wieder. Ritten. Und versuchten, unseren Puls zu beruhigen.

Wir kamen noch vor Mittag bei der Fähre an, von der Bär gesprochen hatte. Der Fluss vor uns war wild und reißend und ich keine zehn Pferde hätten mich dazu gebracht, auch nur einen Fuß hinein zu setzen, so eine Abscheu erweckte das tosende Wasser in mir. Am Ufer des Gewässers lag ein unscheinbares Boot, viel zu klein, um die Pferde mit hinauf zu bekommen und auf ihm stand ein kleiner, krumm gewachsener Mann. Aus kleinen, eingefallen Augen starrte er uns finster an und klammerte sich an sein Steuerrad, als wäre es das letzte, was ihn auf den dünnen Beinen hielt.

„Was wollt ihr hier?! Wenn ihr nur zum Gaffen gekommen seid, könnt ihr euch gleich wieder verziehen!“, keifte er und drohte wild mit der Faust. Bär seufzte.

„Kann denn nicht einmal jemand freundlich und zuvorkommend sein?“

„Die Letzten, die freundlich und zuvorkommend waren, haben wir ausgeraubt und hintergangen, wenn ich erinnern dürfte“, brummte der Dryad. Ihm schien es wirklich besser zu gehen, sogar meckern konnte er wieder.

„Pst jetzt! Guten Tag mein Herr, wäret Ihr so frei, uns mit dem Euren Boot den Fluss hinunter zu bringen? Wir sind müde und unsere Pferde lahm und wir haben es äußerst eilig!“

Der alte Mann starrte misstrauisch zwischen uns hin und her.

„Seid ihr Banditen?“

„Nein, mein Herr“, antwortete Bär höflich.

„Wegelagerer?“

„Auch das nicht“

„Bettler?“

„Nein, Ihr irrt euch“

„Mörder?“

„Verdammt nochmal, wir sind einfach nur ganz normale Wanderer!“, rief Bär nun aus, ihm schien die Geduld verloren gegangen zu sein. „Setzt Ihr uns nun über oder nicht?“

Der Man verschränkte die dürren Ärmchen vor der Brust. „Wie steht's mit der Bezahlung?“

Ich zuckte zusammen und schielte zu Bär. Doch der blieb ruhig. Seelenruhig log er: „Wir haben genug dabei. Ihr werdet Euren Sold bekommen, sobald wir am Ziel sind“

„Pfah!“. Der Greis spuckte ins Wasser. „Auf solche Tricks falle ich nicht hinein! Zeigt mir euer Geld! Na los!“

„Ich wäre vorsichtig“

Verwundert sah ich mich um. Da stand sie. Lynnea. Jetzt verliehen ihr ihre verfilzten Haare und die Augenringe eher ein unheimliches, eindrucksvolles Aussehen, anstatt sie traurig und schwach wirken zu lassen. In ihrer rechten Hand blitzte ein scharfes Messer aus und sie machte einen Schritt auf den Greis zu, als wolle sie zeigen, dass sie zu allem bereit war.

„Wie mein Gefährte bereits sagte, wir haben es eilig und werden keine Rücksicht darauf nehmen, ob wir einen Fährmann oder nur das Boot haben“

Ich erwischte mich dabei, wie meine Hand automatisch zu dem Dolch an meiner Seite wanderte, als ich Lynnea beobachtete. Sie konnte einem wirklich Angst einjagen...

Der knochige Mann starrte sie ähnlich erschreckt an.

„Also doch Banditen!“, zeterte er, aber es war deutlich sichtlich, wie heftig er mit seiner Angst zu kämpfen hatte. „Macht, dass ihr aufs Boot kommt und seid bloß still!“

„Was ist mit unseren Pferden?“, fragte Bär.

„Was ist mit unseren Pferden...“, äffte der Mann ihn verächtlich nach. „Was soll schon mit denen sein?! Die passen nicht mit drauf! Lasst sie laufen oder sonst was, kann mir egal sein“

Ich zuckte zusammen. Mich von Tonne verabschieden? Niemals.

„Es muss eine andere Möglichkeit geben“, warf ich ein, noch bevor Bär antworten konnte. „Wir können sie doch nicht einfach hier lassen...!“

Bär sah mich mitleidig an.

„Ich fürchte, wir haben keine andere Wahl... Tonne hat es doch schon ein paar Mal zurück zu uns geschafft, Rain. Mach dir keine Sorgen, sie wird auch dieses Mal unbeschadet davon kommen“

„Unbeschadet?!“, rief ich leicht hysterisch. „Schau dir ihr Auge an! Was ist, wenn sie in einen Graben fällt und sich den Hals bricht?!“

Ich hörte das leise Glucksen des Dryaden, doch ich ignorierte ihn. Ich wollte mich eben nicht von Tonne trennen. Na und? Was sollte daran so verwerflich sein? Ich hatte sie eben lieb gewonnen, die unbezwingbare, standhafte Tonne.

Als wollte die Stute mich bekräftigen, schnaubte sie bestätigend. Dann nutzte sie die Chance der Freiheit und begann, sich innig dem saftigen Gras am Uferrand zu widmen. Besonders besorgt sah sie dabei nicht aus und kurz begann ich, zu zweifeln. Sollte sie am Ende vielleicht doch gut ohne mich klar kommen?

Bär argumentierte ebenfalls: „Sieh sie dir an. Tonne ist ein starkes Pferd und zur Not wird sie auch den Weg zurück zu Endrian kennen. Spätestens dort wirst du sie wieder treffen, vielleicht sogar früher. Wer weiß. Diese Dame hat mich ja schon mehrmals überrascht“

Gutmütig klopfte er der kräftigen Stute den Hals. Mir fiel auf, dass ich der Einzige war, der noch nicht aus dem Sattel gestiegen war. Die Anderen zäumten ihre Tiere bereits ab, anscheinend stand die Entscheidung für alle fest: sie würden die Pferde frei lassen. Und Tonne würde mit ihnen gehen.

„Jetzt komm schon, Rain“. Bär zog an meinem Umhang. Erneut verfluchte ich das Kleidungsstück für seine Länge. „Desto länger du dich zierst, desto schmerzhafter wird es“

Ich seufzte ergeben und rutschte von dem breiten Rücken meiner gewaltigen Freundin. Da ich sie noch nie mit Zaumzeug oder Sattel geritten hatte, genau wie Bär seinen schwarzen Alptraum, hatte ich nichts zu tun, außer die Decke und die Satteltaschen loszumachen, dann strich ich ihr noch einmal wehmütig über den Rücken.

„Mach's gut, Dicke“

Im Gegensatz zu den anderen Pferden, die sich sofort einige Meter von uns entfernten, schien Tonne nicht das Verlangen zu spüren, sich zu bewegen. Unbeteiligt knabberte sie weiter an den Grashalmen und beachtete mich nicht einmal ansatzweise, was vermutlich am Besten für alle war.

„Na komm“

Bär zog mich fort vom sicheren Ufer, auf die Holzfähre, wo die Anderen bereits standen. Der alte Mann musterte mich Stirn runzelnd.

„Ihr seid wirklich ein seltsamer Haufen...“, stellte er fest. „Naja, man sollte das Beste draus machen, was? Ich bin Yesper. Erzählt mir bloß nicht eure Namen, sie scheren mich kein bisschen. In zwei Tagen sind wir unten am Fluss angekommen und ich will hoffen, bis dahin noch kein Messer in der Brust zu haben!“

Grummelnd wandte er sich von uns ab und befahl: „Macht die verfluchten Seile los!“

Bär und Joee taten, wie ihnen geheißen und so bewegte sich das Schiff erst langsam, dann immer schneller vom rettenden Ufer fort. Tonne sah kurz auf, wieherte empört, als sie uns sah und wandte sich dann wieder dem Gras zu. Wirklichen Abschiedsschmerz schien sie nicht zu verspüren.

Aber auch ich wurde schnell abgelenkt, denn der hölzerne Untergrund begann so heftig zu schwanken und zu schaukeln, dass ich nach wenigen Minuten kreidebleich an der Reling hin, damit beschäftigt, meinen Mageninhalt beisammen zu behalten.

„Was denn? Seekrank?“, fragte der Dryad spöttisch. Erst jetzt fiel mir auf, dass er gar nicht weit von mir entfernt saß, nur mit dem feinen Unterschied, dass er auf und nicht hinter der Reling saß und die Beine entspannt baumeln ließ, anstatt sich panisch irgendwo festzuhalten.

„Halt den Mund“, knurrte ich angestrengt und versuchte, meinen Blick auf das viel zu weit entfernte Ufer zu fixieren. Aber alles schwankte einfach viel zu sehr, als dass ich überhaupt irgendwo hätte hinsehen können, ohne dass mir schlecht wurde und so wandte ich mich nach einer Weile einfach von den schäumenden Stromschnellen ab und starrte auf das Schiffsinnere.

Die Fähre sah aus wie eine kleine Nussschale, über deren Hälfte in einiger Höhe ein Laken gespannt worden war, als provisorischer Schutz vor Regen und Sonne, auch wenn ich bezweifelte, dass dieses Dach im Ernstfall viel ausrichten könnte. Außer ein paar Kisten, die neben dem verhältnismäßig großem Mast standen, gab es keine Hinweise auf eine Einrichtung oder Ähnliches, sodass ich schloss, dass Yesper woanders die Nächte verbrachte. Mit für seine Größe und sein Alter erstaunlicher Sicherheit dirigierte er unser Gefährt zwischen Stromschnellen, Felsen oder Baumstämmen, die aus dem Fluss ragten, vorbei und so konnte ich mich immerhin ein wenig sicherer fühlen, als ich erneut über den Rand der Reling lugte. Von Tonne oder den anderen Pferden war nichts mehr zu sehen, dafür erschienen nun Wälder und Gebirge in der Ferne, von denen bisher noch nichts zu sehen gewesen war. Mein Herz schlug schneller, als mir unsere Schnelligkeit bewusst wurde, aber ich redete mir ein, dass Boot fahren nicht groß anders war, als reiten. Wenn man sich daran gewöhnte, war es sicherlich ganz amüsant.

Ich irrte mich.

Boot fahren wurde mit keiner vergangenen Minute angenehmer und selbst, als die Abenddämmerung einzog, war die Übelkeit noch kein bisschen besser geworden. Als die Sonne lodernd im Horizont versank, saß ich im Schiffsinneren zusammen gekauert und beneidete den schnarchenden Bär um seinen Schlaf, genau wie Joee um seine Beschäftigung, Kräuter zusortieren.

Lynnea stand am Bug des Schiffes und sah wieder ein klein wenig besser aus, als die letzten Tage, während sie auf das Wasser starrte und mit ihren Gedanken völlig woanders zu sein schien.

Der Dryad fand immer mehr Gefallen daran, sich auf dem Schiff zu bewegen und nachdem er ein paar Stunden weit oben auf dem Mast verbracht hatte, saß er nun wieder auf der Reling und hustete hin und wieder mal.

Ich fragte mich, wie sich sein Zustand so dramatisch ändern konnte, immer und immer wieder, aber mir war auch klar, dass ich darauf wohl nie eine Antwort bekommen würde. Außerdem konnte ich auch kaum klar denken, bei dem Geschaukel.

Ich lehnte mit den Knien an den Körper gezogen an der feuchten Wand des Bootes und hoffte darauf, dass der Wellengang bald nachlassen würde, damit ich vielleicht auch endlich ein wenig schlafen konnte, als ich sie das erste Mal hörte. Es war kaum mehr als eine Ahnung, ein fast vergangenes Echo eines Gesangs, der vor langer Zeit einmal schön und kraftvoll geklungen haben musste. Es war die Stimme einer Frau, eher die eines Mädchens, die immer und immer wieder die gleiche Melodie wiederholte, kaum hörbar und doch einnehmend.

'Wahrscheinlich ein Hirngespinst...', dachte ich schläfrig. 'Die Wellen scheinen mir den Verstand zu rauben'.

Aber egal, ob ich mit dieser Annahme nun Recht hatte oder nicht, die Stimme beruhigte mich auf sanfte Art und Weise, als würde mir jemand über den Rücken streichen oder mir auf andere Art das Gefühl geben, sicher und geborgen zu sein. Langsam entglitten mir meine Gedanken ins Dunkel und ehe ich mich versah, war ich eingeschlafen. 

Beherrschung

21. Kapitel Beherrschung

 

In der Nacht hörte ich sie wieder. Diesmal war der Gesang deutlicher, kräftiger, zu real, um ihn noch zu leugnen. Ich konnte die Worte nicht verstehen, aber sie klangen traurig. Als ich die Augen aufschlug, war Bär fort, dafür erkannte ich seine Silhouette neben denen der Anderen an der Bootsreling. Sie schienen alle auf etwas zu starren, das ich nicht sehen konnte, selbst Yesper hatte seinen Kopf abwesend aufs Wasser gerichtet.

„Was ist los?“, fragte ich verschlafen, als ich neben den Anderen stand, aber ich erntete nur ein „Sssht!“ von Bärs Seite. Der kräftige Gestaltwandler starrte wie paralysiert an mir vorbei und als ich seinem Blick folgte, ging es mir eben so.

Yesper hatte das Boot in der Nähe weniger Felsen angehalten und auch er war genau so gefesselt von dem Schauspiel, wie wir.

Wie gebannt starrte ich auf die schillernden Schuppen der Fischschwänze, lauschte ihrem Gesang, suchte nach einem Anhaltspunkt, der mich aus dem vermeintlichen Traum befreien würde, doch ich fand keinen. Sie waren echt. Echter als echt. Sie waren... übernatürlich.

Sie waren nicht hübsch. Nicht jung. Nicht zart. Aber ihre Ausstrahlung hatte etwas an sich, das mich alles vergessen ließ, was jemals wichtig gewesen war. Sirenen.

Selbst ich hatte von ihnen gehört, in alten Liedern und Sagen, die wundervollen Fischmädchen, die den Fischern den Verstand raubten und sie mit sich nahmen... die Mondmädchen des Wassers.

Doch sie waren anders, als in den Gedichten. Kein wallendes, strahlendes Haar. Keine weiche, porenfreie Haut. Kein verführerischer Augenaufschlag.

Die Sirenen waren alt. Alt und gezeichnet von dem Leben, das sie geführt hatte. Ihr brüchiges, graues Haar und die unzähligen Falten in ihrem Gesicht erzählten Geschichten, die sich mit ihren Liedern vermischten und etwas im Betrachter erzeugten, das zugleich schmerzte und vertraut war. Heimatlosigkeit. Unruhe. Die Suche nach Geborgenheit.

Hin und wieder streifte mich ein blasser, tiefgründiger Blick, doch keine der Gestalten schien Interesse an uns zu hegen. Sie sangen scheinbar nur für sich und das Wasser, das nun eben so andächtig und still lauschte, wie wir.

Sie befahlen uns nicht, zu kommen. Wir taten es von selbst. Der Dryad war der Erste. Lautlos glitt er von der Reling, versank in dem schwarzen Wasser und tauchte erst wieder auf, als er neben ihnen auf ihrem Felsen saß und sie anstarrte, als könnte er ihre Gestalt nicht begreifen.

Lynnea folgte ihm. Fort der Schmerz aus ihrem Gesicht. Weggewischt die Schatten. Die Sirenen nahmen sie auf wie eine von ihnen, schlossen sie in ihrem Kreis ein und wirkten, als würden sie sie schon Jahre kennen, alte Freunde sein, die sich lange nicht mehr gesehen hatten. Sie wuschen und flochten ihr blondes Haar, bis es wieder strahlte, ausgiebig und eingehend, ganz so, als gäbe es in diesem Moment nichts wichtigeres als sie und ihr Wohlbefinden. Niemand sagte ein Wort. Die Stille war wie eine Decke, die sich über uns alle legte und miteinander verband, wie ein unsichtbarer Strang.

Irgendwann waren sie alle drüben, der Dryad, Lynnea, Joee, Bär. Zärtlich, wie Mütter, kümmerten die Sirenen sich hingebungsvoll um jeden Einzelnen, sangen ihre fremden Lieder, strichen Ängste und Zweifel von ihren Gesichtern, wuschen den Schmutz von ihrer Haut und erweckten dabei nicht eine Sekunde lang den Anschein, jemals damit aufzuhören. Sie waren die Heimat für die rastlosen Hilferufe, Geborgenheit für die Hoffnungslosigkeit, Sicherheit für die Rastlosigkeit. Wärme, Liebe, Sicherheit und das alles zugleich.

Ich folgte ihnen nicht. Abwesend strich ich über das rissige Holz der Brüstung und starrte in das schwarze Wasser, nur um in mein eigenes Gesicht zu sehen, das sich neben den Sternen und dem Halbmond auf der glatten Oberfläche spiegelte. Vielleicht war es albern, aber selbst in dieser einfachen Spiegelung konnte ich klar sehen, wie wenig ich hierher gehörte. Meine Augen, meine Körperhaltung, mein Gesicht erzählten Geschichten von Regen und Einsamkeit, der Gleichgültigkeit und Dunkelheit des Waldes, nicht von der aufgewühlten Suche nach der warmen Geborgenheit eines schützenden Arms.

Woher kommst du?

Wohin gehst du?

Ich meinte, diese Fragen aus dem Gesang der Sirenen herauszuhören, klarer als alles Andere.

Woher kommst du?

Was ist dein Ziel?

„Sie ziehen dich nicht an, weil du heimatlos bist“

Ich wusste, dass Yesper mich ansprechen würde, noch bevor der alte Mann zu mir getreten war.

„So geht es uns Suchenden doch allen... Wenn es keine Heimat gibt, nach der man sich sehnen kann, dann wird man von der Sicherheit auch nicht angezogen“

Ich antwortete nicht, aber seine Worte hinterließen pochenden Schmerz in meiner Brust. Heimatlos.

Die Sirenen sangen noch immer.

Du bist gekommen. Du wirst gehen.

Du wirst weiter suchen.

Traurige, fast nüchterne Tatsachen. Du wirst weiter suchen. Von Finden sagten sie nichts.

 

Der nächste Morgen war schweigsam. Über Nacht waren die Anderen zurück gekehrt, hatten mit verklärten Blicken ins Nichts gestarrt und noch ewig Worten gelauscht, die außer ihnen keiner gehört hatte.

Sirenen.

Seltsame Wesen. Unbegreifbar. Übernatürlich.

Wohin gehst du? Woher kommst du?

Du bist gekommen. Du wirst gehen.

Mir wurde kalt.

„Ich frage mich, wie sie wohl früher ausgesehen haben...“, murmelte der Dryad. Es war das erste Mal, dass jemand etwas sagte, seitdem Yesper wieder abgelegt hatte.

Lynnea drehte Gedanken verloren eine der Muscheln in der Hand, die in ihrem Haar gesteckt hatten und antwortete: „Wunderschön...“

„Zauberhaft“, kam es von Bär, der sich abwesend über den Oberarm strich, wo noch ein wenig Bärenfell zurück geblieben war.

„Unbeschreiblich“. Joee hatte aufgehört zu Stottern, zumindest jetzt. In seinen Augen lag eine Ruhe, die ich bei ihm noch nie erlebt hatte.

„Gefährlich“, kam es aus meinem Mund, ohne dass ich darüber nachdachte. „Gefährlich und tödlich“

„Ihr habt alle Recht“, antwortete Yesper. „Bevor sie begonnen haben, die Plage auszurotten, konnte man kaum übersetzen, ohne sich in ihrer Schönheit zu verfangen wie eine Fliege im Netz. Die Mistviecher haben gute Jungen gefressen... aber seit ihre Artgenossen auf den Fischmärkten verkauft wurden, halten sie sich zum Glück zurück!“

Meine Kehle war wie zugeschnürt, als ich Yesper zuhörte. Ob man über die Jäger wohl genau so sprach? Die Bedeutung dieser Frage wurde immer größer und staute sich in mir an, sodass ich Mühe hatte, dem alten Fährmann weiter zuzuhören.

„Es waren verdammt harte Jahre. Die Biester hatten nicht vor, den Schiffsverkehr in Ruhe zu lassen und haben unzählige gute Leben beendet, mit ihrer verdammten Schönheit!“

Entschlossen stand ich auf und entfernte mich von den Anderen. Ich konnte das nicht länger hören. Vielleicht war auch gar nicht der Gedanke an ihre Ausrottung das Problem, sondern dass ich nicht bei ihnen gewesen war. Ich wollte nicht hören, wie wunderschön sie waren, ich hatte mich anders entschieden.

Heimatlos.

Das Wort schmerzte mehr, als es hätte tun sollen.

Mir wurde schlecht, als ich auf auf das vorbei schießende Wasser sah. Wann würden wir endlich wieder an Land gehen? Ich wollte fort von all dem Nass und den Gedanken an Fischschuppen. Festen Boden spüren. Freie Luft atmen.

„Geht's?“

Bär trat neben mich und musterte mich besorgt. Er sah besser aus, seine Züge waren entspannter als noch vor ein paar Stunden und seine Bewegungen kontrollierter, als er die Hand auf meine Schulter legte.

Ich nickte. „Wann sind wir da?“

„Nicht mehr lange. Heute Abend“

Heute Abend schon? Vor Schreck zuckte ich zusammen. Kaum noch ein halber Tag und dann...

„Du weißt, was das bedeutet?“. Bär sah mich aufmerksam an und ich nickte erneut.

„Heute Abend sind wir am Ziel. Dann wird sich alles entscheiden...“

Auch Bär stimmte in meine langsame Kopfbewegung ein und richtete seinen Blick wieder aufs Ufer.

„Wir sollten den Schlaf nachholen, der gestern Nacht verloren gegangen ist...“, murmelte er. „Damit wir so schnell wie möglich zurück können“

Was würde passieren, wenn der Kristall nicht da war? Was? Würden sie schreien? Weinen? Mich verfluchen? Oder mich ansehen, mit diesem Blick, der nichts und alles zugleich sagte, der mir Übelkeit in den Hals pflanzte und mir den Boden fort riss? Und was war, wenn wir zurück kämen? Zurück in den Wald. Ohne den Ring. Die Spur endete bei Mya und ihrem Sohn, ohne einen kleinen Hinweis auf das bedeutende Schmuckstück.

Langsam aber sicher nahm in mir der Gedanken Gestalt an, dass alles sinnlos gewesen war. Lyen war umsonst gestorben. Nora hatte umsonst ihre Magie eingesetzt. Zena hatte sich geirrt.

Ich wollte nicht schon wieder weinen. Aber jetzt gerade wurde das Gefühl der Hilflosigkeit so übermächtig, dass ich Mühe hatte, es zu unterdrücken Bär zuzulächeln.

„Ja...“, antwortete ich gepresst. „Ist wohl am Besten“

Aber natürlich tat ich den ganzen Tag kein Auge zu.

 

 

Es wurde Abend. Und ich verrückt.

Inzwischen war auch den Anderen meine Unruhe aufgefallen, ihre Augen folgten mir bei jeder Runde, die ich über das Deck tigerte. Keiner sagte etwas, doch ich las nicht selten das Misstrauen aus ihren Blicken. Sie hatten Grund genug dafür, mir zu misstrauen, auch wenn ihnen das nicht bewusst war. Die Selbstvorwürfe richteten mich zu Grunde.

Nur noch ein paar Stunden und dann würde sich herausstellen, ob alles umsonst gewesen war oder nicht. In meinem Kopf kreisten die Gedanken, Bilderströme folgten aufeinander, wechselten mit Empfindungen und Gefühlen, bis ich dachte, ich würde jeden Moment ohnmächtig werden.

Zenas Blut auf meinen Fingerspitzen, Noras Lippen auf meinen.

Lyens Gesicht in meinen Händen, Bärs Hand auf meiner Schulter.

Der Geschmack von Blut auf meiner Zunge, der saure Trank, der mir das Leben sicherte.

Hin und Her. Hin. Her. Hin.

Irgendwann wankte ich tatsächlich zur Reling und übergab mich in den Fluss. Keiner beachtete mich. Bär schlief. Es war mir lieber. Ich wollte ihn nicht schon wieder anlügen, ihn, der immer zu mir gehalten hatte.

Wohin gehst du?

Woher kommst du?

Die Fragen gingen mir nicht mehr aus dem Kopf und zu allem Überfluss machten sie mich auch noch fertig. Mein Schädel dröhnte. Der winzige Schluck Medizin, den ich möglichst sparsam nahm, half kein bisschen. Ich wünschte mir nur noch, dass die Zeit schneller vergehen oder ganz anhalten würde.

Und dann war es so weit.

Das Schiff legte an. Yesper wollte seine Bezahlung. Bär und Lynnea begannen, mit ihm zu streiten. Am Horizont versank die Sonne wie ein riesiger Feuerball. Ich nahm alles nur seltsam verschleiert war, ich fokussierte mich einzig und allein auf einen Gedanken: Der Kristall.

Mein Herz raste, mein Magen kribbelte.

Ich musste hier runter.

Mit einem Sprung setzte ich über die Reling ans Gras bewachsene Ufer, während die Anderen noch mit Yesper diskutierten. Ich roch das Gras und sah die Bäume, die etwas weiter entfernt waren und fühlte mich fast ein wenig Zuhause. Aber Zuhause war es kälter, regnerischer... erneut wünschte ich mir kalte Tropfen im Nacken, die mich zur Besinnung brachten.

Ohne, dass ich es bemerkt hatte, war mir der Dryad gefolgt.

„Hörst du die Wasserfälle?“, fragte er nachdenklich. Seine mit Schatten unterlegten Augen waren abwesend in die Ferne gerichtet.

Überrascht lauschte ich und tatsächlich: Das Rauschen, dass ich irrtümlicherweise für ein Hirngespinst gehalten hatte, stammte eindeutig von Wasser. Massen von Wasser. Doch über das Brüllen des unsichtbaren Wasserfalls hörte ich noch etwas. Stimmen.

Woher kommst du? Wohin gehst du?

„Die Meerjungfrauen“, stellte der Dryad fest, noch bevor ich es aussprechen konnte. „Sie sind wieder da...“

Meine Augen suchten nach ihren alten Gestalten, doch ich fand nichts außer dem See und den Wiesen, die sich in die Ferne erstreckten. Wo waren sie? Auch den Wasserfall hatte ich bisher noch nicht entdeckt.

„Da hinten“, meinte der Dryad und zeigte nach Westen. Und tatsächlich: In der Ferne erkannte ich Berge. Um genau zu sein einen Berg, der wie abgeschnitten schien. Über den Rand seiner steilen Klippe ergoss sich ein reißender Fluss, der in einen Teich lief, der zwei Mündungen hatte. Der Fluss, auf dem wir gefahren waren, lief mit den Wassermassen zusammen, sodass die Beiden gemeinsam weiter flossen, zu einem unbestimmten Ort.

Wie von selbst machte ich ein paar Schritte auf den Teich zu, ohne zu wissen, was ich dort wollte. Der Dryad tat es mir gleich. Im Halbdunkel war es schwer zu erkennen, doch ich meinte, leuchtende Fischschuppen auf den Felsen zu sehen.

Die furiosen Reiter, die wilden

treffen auf die kalten Mädchen, die stillen.

Der Wasserfall und die Meerjungfrauen. Es war so einfach.

An diesem Ort, unter wachsamem Blick der hellen Mutter,

Es war zwei Wochen her, dass ich bei Neumond den Mondmädchen gefolgt war. Nun stand der Vollmond gut sichtbar am Himmel und ließ den Wasserfall glitzern und funkeln wie tausende Diamanten.

werden die Geister für den sichtbar,

der sich den Herrscher allen Lebens zu eigen gemacht hat.

Ein letztes Rätsel. Der Herrscher allen Lebens zu eigen machen. Das klang nicht, als hätten wir es bereits getan. Meine Gedanken schweiften zu Mya und Linus ab. Ihre Geschichte wollte mich einfach nicht loslassen, ich fand die Verbindung einfach nicht... wieso hatte ich von ihnen geträumt? Was hatten sie mit Janys zu tun?!

Ich war so in Gedanken versunken, dass ich nach Luft schnappte, als sich eine Hand auf meine Schulter legte. Es war Bär.

„Da hinten ist unser Ziel...“, murmelte er. „Hast du geschlafen?“

Ich nickte schnell und hatte ihn damit schon wieder angelogen.

„Plötzlich macht das Gedicht Sinn...“, flüsterte Lynnea andächtig.

Und dann zogen wir los. Plötzlich war alles nebensächlich. Yesper. Das Boot. Die Gedanken an Nora. Und all das andere Zeug, dass mir bis eben noch durch den Kopf gegangen war. Das konnte kein Zufall gewesen sein. Es musste den Kristall geben. Das waren zu viele Zufälle, damit das hier ein abgekartetes Spiel war. Der Wasserfall war zu schön. Die Nacht zu ruhig.

Desto näher wir kamen, desto lauter wurde das Rauschen und trotzdem stachen die Gesänge der Meerjungfrauen klar daraus hervor.

Woher kommst du?

Wohin gehst du?

Die Zeit erschien mir lang und klebrig, es dauerte Ewigkeiten, bis wir ankamen, aber schlussendlich taten wir es doch.

Der See lag still da und die Meerjungfrauen beachteten uns gar nicht, wie letzte Nacht. Sie sahen stumm ins Wasser und sangen zugleich die Worte, die meine Ohren noch immer betörten. Inzwischen war es dunkel geworden und die Idylle wurde überschattet von einer Unruhe, die sich in mir breit machte. Ich sah nichts und hörte nur das Rauschen. Wie blind und gefesselt. Wenn jemand kommen würde, hätte ich keine Chance. Kalte Wassertröpfchen rieselten mir ins Gesicht.

„Es ist zu dunkel, um heute noch zu suchen“, stellte Bär bedauernd fest. „Wir werden uns bis morgen gedulden müssen“

Der Satz traf mich wie ein Schlag in die Magengrube. Noch eine Nacht zittern? Wie sollte das möglich sein?!

„Du hast Recht“, stimmte Lynnea zu. „Bei Tageslicht werden wir mehr ausrichten können“

„I...ist wahrscheinlich d...das Beste...“, stammelte Joee nickend.

Ich hätte weinen können. So kurz vorm Ziel, die Antwort direkt vor der Nase und was taten sie? Sie legten sich schlafen. Etwas abseits vom Seeufer, wo es nicht ganz so laut war, schlugen sie ihr Lager auf und ließen mich zurück, am schwarzen Wasser. Bär fragte einmal nach mir, doch ich sagte, dass ich zu viel geschlafen hatte, um müde zu sein. Damit gab er sich zufrieden und schon bald hörte ich sein Schnarchen über den ganzen See hallen.

Frustriert ließ ich mich am Ufer des Sees sinken, starrte auf die glatte Wasseroberfläche und lauschte den leisen Liedern der Meerjungfrauen. In dieser Nacht schwamm keiner zu ihnen, doch die Erkenntnis, die ich durch ihre Stimmen gewonnen hatte, schmerzte noch immer. Heimatlos.

Ich wollte die Wahrheit wissen, jetzt. Es war eine Qual, hier untätig zu sitzen, kaum ein paar Meter von meinem Schicksal entfernt, ohne etwas tun zu können. Es musste den Kristall geben. Alles Andere wäre undenkbar.

Das Rauschen des Wasserfalls wurde langsam zu einem Hintergrundgeräusch und ich begann wieder andere Dinge wahrzunehmen. Eine Stimme. Ein leises Lachen. Lynnea? Nein, sie lag bei den Anderen, dicht an der Felswand und rührte sich nicht. Die Meerjungfrauen? Nein, sie sahen so teilnahmslos drein wie eh und je. Wer dann?

Vorsichtig stand ich auf und ließ meinen Blick über den See schweifen.

Und dann sah ich sie.

Ihr Kleid war beträufelt von den winzigen, funkelnden Tropfen, ihr Haar wehte seicht im Wind. Ihr Blick lag auf den Meerjungfrauen und ihr Lächeln war das Schönste, das ich jemals gesehen hatte. Sie stand am anderen Ufer.

„Nora...“

Mein Blick fuhr zum Mond. Doch er war voll und rund, schickte sein Licht auf ihr Haupt und spielte mit ihren dunklen Haaren, das viel echter und realer wirkte, als das eines Mondmädchens. Sie war schöner. Vollendeter. Wärmer. Nicht kalt und atemlos. Warm und wunderschön.

„Nora“. Ich sprach ihren Namen aus, noch einmal, um ihn nicht zu verlieren. Es musste ein Traum sein. Aber ein Guter.

Sie drehte sich um sah sich um, bis ihr Blick an mir hängen blieb. Ein paar Sekunden sagte sie nichts, dann lachte sie.

„Rain!“

Ich hörte ihre Stimme über den Wasserfall hinweg, noch klarer als die der Meerjungfrauen. Das Wasser war eiskalt, doch es hinderte mich nicht daran, hineinzuwaten und zu schwimmen, bis ich mich am anderen Ufer wieder an Land zog. Sie stand schon da, hielt mir ihre Hand entgegen und half mir auf die Füße. Ich spürte ihre Finger in meinen, warm und weich. Tausendmal schöner als die Mondmädchen. Ohne groß darüber nachzudenken drückte ich sie an mich, hielt sie fest und wollte sie nie wieder loslassen.

Nora war überrascht, das spürte ich, doch dann erwiderte sie die Umarmung und strich mir leicht über den Rücken. Es prickelte wahnsinnig. Dieser Traum war wohl der Beste, den ich jemals gehabt hatte.

„Was machst du hier?“, fragte ich in ihr Haar hinein, ohne mich von ihr zu lösen. Ich wollte sie riechen. Spüren. Hören. So lange, bis die Erinnerungen an das Mondmädchen verschwunden waren und nie wieder kommen würden. Dieser Moment war so gut. So perfekt. So vollkommen perfekt.

„Wir sind euch gefolgt...“, antwortete sie leise. „Fenja und ich... Sag, wo ist Lyen? Ich muss dringend mit ihm sprechen““

Als wäre etwas geplatzt, zuckte ich zusammen. Ließ sie los. Aus der Traum. Vorbei die Wärme. Sie hatte seinen Namen ausgesprochen. Und sie hatte dabei so unwissend geguckt, so freundlich und aufmerksam... er war tot. Nur wegen mir.

Mir sackten die Beine weg.

„Rain!“

Sie versuchte, mich aufzufangen, ging neben mir zu Boden. Mein Blick hing steif auf dem Wasser. Da war er wieder, der Moment, den ich für immer hatte vergessen wollen. Lyens Gesicht zwischen meinen Fingern. All das Blut. Und der Schmerz.

„Rain, was ist passiert? Rede mit mir...“

Ihre Hände legten sich um meine. Und ich presste sie wieder an mich, in dem verzweifelten Versuch, mich irgendwo festzuhalten, um nicht wieder die Kontrolle zu verlieren. Lyen war tot.

„Ssssht, ist ja gut...“, flüsterte Nora und strich leicht über meinen Oberarm. „Aber erzähl mir doch, was ist passiert?“

„Er ist tot...“, brachte ich hervor. Meine Stimme versagt fast, als ich fortfuhr: „Er ist tot, nur wegen mir“

Sie fragte nicht weiter. Blieb neben mir sitzen. Hielt mich fest. Und das erste Mal seitdem Lyen in meinem Arm gestorben war, ließ ich den Schmerz zu. Heiß ergoss er sich über mir, riss mich mit und schleuderte mich hin und her. Er war tot. Aber ich war nicht alleine. Nora war da.

Irgendwann wurde es still. Auch in mir drinnen. Der tosende Sturm war ausgepustet.

„Wo sind die Anderen?“, fragte Nora behutsam.

„Am anderen Ufer... sie schlafen“, antwortete ich. Meine Stimme klang seltsam rau.

„Bringst du mich rüber?“, bat sie mich. „Ich denke, Fenja kommt auch eine Nacht alleine klar“

Ich nickte und erhob mich.

„Wir müssen schwimmen...“

„Nicht nötig. Wir haben hier ein kleines Boot liegen, das sollte genügen“

Wir schwiegen während der ganzen Fahrt. Ich war zu aufgewühlt und Nora scheinbar zu betroffen durch die Nachricht über Lyens Tod. Ich sah ihr all die Fragen an, doch sie bohrte nicht weiter, wofür ich ihr unendlich dankbar war. Ich wollte nie wieder weinen. Nie wieder.

Bär erwartete uns bereits am Ufer.

„Ich wusste doch, dass ich Stimmen gehört habe...“, murmelte er und nahm Nora in Empfang. „Was machst du hier? Dein Vater wird uns alle umbringen!“. Man sah ihm an, dass er eher erleichtert als wütend war.

„Ich musste euch einfach nachlaufen. Außerdem meinte Fenja, sie wüsste, wohin ihr wollt und deswegen...“

„Fenja hast du auch noch mitgebracht?!“, stöhnte Bär. „Im Namen aller Götter, hoffen wir, dass die Sache mit dem Kristall reibungslos verläuft. Ich glaube kaum, dass Endrian uns sonst noch verschonen wird...“

Nora senkte die Stimme und ging ein paar Schritte zur Seite. Sie flüsterte eindringliche Worte und ich sah zu meinem Erstaunen, wie Bär bleich wurde. Sein Blick fuhr zu mir, nur für den Bruchteil einer Sekunde, aber ich wusste instinktiv, dass es um mich ging, oder um eine Sache, die ich nicht wissen sollte.

„Was ist los?“, fragte ich möglichst unverhohlen, doch Bär winkte ab.

„N...nichts. Alles gut, Rain“. Er war ein verdammt schlechter Lügner.

Nora war da schon besser, ihr aufmunterndes Lächeln hätte ich ihr viel eher abgekauft, als Bärs Besänftigungen. Widerwillig gab ich mich zufrieden, aber die Zweifel blieben. Was sollte ich nicht wissen?

„Wie sieht der Plan aus? Wir gehen in die Grotte, holen den Kristall und nehmen den schnellsten Weg zurück nach Hause?“, fragte Nora nun, um das Thema zu wechseln und Bär nickte. „So hatten wir es geplant. Rains Medizin geht bald aus und der Dryad bereitet mir auch Sorgen...“

„Was steht ihr dann noch hier herum?!“. Nora klang eine Spur zu besorgt. „Wieso seid ihr noch nicht in den Grotten?“

„Es ist zu dunkel...“, stammelte Bär.

„Papperlapapp, zu Dunkel“, äffte Nora ihn nach. „Bei Tag sieht man da unten auch nicht mehr als jetzt“

„Aber die Anderen schlafen...“

„...nicht mehr“, beendete ein sehr genervt aussehender Dryad hinter Bär seinen Satz. „Bei dem Lärm konnte man ja kein Auge zu bekommen... ach sieh mal an, das Harfenmädchen ist auch wieder dabei!“

Joee und Lynnea standen ebenfalls hinter uns. Lynnea stürzte auf Nora zu und umarmte sie innig.

„Oh verdammt bin ich froh, dass du da bist...“, murmelte sie und Nora strich ihr sanft über den Rücken.

„Das mit Lyen tut mir so unendlich Leid für dich...“

Lynnea schwieg, ließ Nora aber nicht los. Mir wurde schon wieder schwindelig, aber der Gedanke an die unumgängliche Wahrheit war erträglicher geworden.

„Was soll das heißen? Ihr wollt also doch schon jetzt, bei Dunkelheit hinunter in die Grotten steigen?“, fragte Bär Stirn runzelnd. „Können wir denn nicht noch den einen Tag warten?“

Ihm antworteten fünf Leute, die entschieden den Kopf schüttelten. Jeder von uns schien seine eigenen Gründe zu haben, möglichst schnell nach unten gelangen zu wollen.

„Was ist mit Fenja?“, fragte Nora und warf einen bedeutenden Blick zu Bär, der mir nicht entging.

Bär seufzte. „Wir sollten sie nicht alleine lassen... aber mit nach unten?“

Sein Blick wanderte zu mir, was mich vollends verwirrte. Wieso sollte ich das Problem sein, wenn Fenja mit nach unten kam? Wir hatten doch nicht mehr Probleme miteinander, als die Anderen mit ihr, oder?

„Ich werde zu ihr zurück gehen. Wir warten dann am Eingang der Grotte auf euch, wenn das in Ordnung ist“

Bär nickte erleichtert. „Das wäre wunderbar. Habt ihr den Eingang zur Grotte schon gefunden?“

„Wir vermuten ihn hinter dem Wasserfall... wahrscheinlich führt von eurer Seite ein schmaler Grat zwischen Felswand und Wasser in die Höhle. Seid bloß vorsichtig! Wartet, ich habe noch ein paar Fackeln im Boot... Rain, hilfst du mir, sie zu tragen?“

Ich zuckte mit den Schultern, nickte und folgte ihr. Als sie mir die Fackeln überreichte, streiften sich unsere Finger und sie sah mich an.

„Pass auf dich auf, in Ordnung? Ich würd's nicht aushalten, wenn du da nicht lebendig rauskommst...“

Kurz herrschte Stille, in der mein Herzschlag bedrohlich in die Höhe schoss.

„...und bei den Anderen natürlich auch nicht“

Ich schluckte. Das war jetzt hart. Oder? Moment mal, was kümmerte mich das eigentlich? Ich runzelte die Stirn und nickte. Ihr Finger lagen immer noch auf meinen. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um mir einen Kuss auf die Wange zu hauchen.

„Beeilt euch“

Dann glitt das Boot wieder ins Wasser und sie verschwand in der Dunkelheit, in Richtung des Sirenengesanges. Ich stand ein paar Minuten zu lange da und starrte ihr nach, bis ich mich umdrehte und den Anderen folgte, die bereits das Ufer an der Felswand nach dem Pfad absuchten. Ihr Kuss brannte noch immer auf meiner Wange.

 

Der Pfad, der hinter den Wasserfall führte, war nicht schwer zu finden. Kaum mehr als ein schmaler Grat, der sich nass und rutschig an der Wand entlang wandte und stetig von feinen Wassertröpfchen benetzt wurde. Es war Wahnsinn, ihn zu begehen, aber mir war klar, dass wir keine andere Wahl hatten. Die Fackeln behielt ich vorerst sicher in meiner Tasche, damit sie nicht nass wurden.

„Seid ihr euch sicher, dass wir nicht bis morgen warten sollten?“, fragte Bär zweifelnd, als er probeweise seinen Fuß auf den schmalen Sims stellte. „Bei dieser Finsternis wird es schwer, nicht abzurutschen...“

Der Dryad schob ihn zur Seite.

„Ich klettere vor und mache da hinten irgendwo ein Seil fest“, meinte er bestimmt.

„Wieso ausgerechnet du?“. Bär runzelte die Stirn.

„Schau mich an!“, brummte der Dryad genervt. „Ich bin sowohl der Kleinste als auch der Behändigste. Lass mich vorgehen, was soll denn schon passieren?“

Bär schien nicht überzeugt, aber er überreichte dem Dryaden dennoch das Seil, welches dieser entgegen nahm und sich um die Hüften band. Mir fiel auf, wie dünn er geworden war, sein Körper sah seltsam ausgezerrt aus. Es war offensichtlich, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Er nickte Bär und uns ein letztes Mal zu, dann sprang er auf den winzigen Vorsprung und kam schwankend zum stehen. Schritt für Schritt tastete er sich vor, den Körper flach an die nasse Wand gepresst. Schon bald war er verschwunden in dem Nebel aus glitzernden Wassertröpfchen.

Ich hielt den Atem an, doch nichts geschah. Es wurde still und alle lauschten angespannt, wobei die Zeit sich quälend langsam dahin zog. War er abgestürzt? Nein, dann hätte Bär das am Seil bemerkt.

Und dann: Ein Schrei. Ich sog scharf die Luft ein. Was war passiert?

„Ähm... Dryad? B...Baumgeist?“. Bär hatte nach seinem Namen gesucht, den keiner von uns wusste, wenn er denn existierte. „Ist alles in Ordnung?“

Stille.

„Dryad?“

Kalte, unbarmherzige Stille.

„Alles in Ordnung... bin abgerutscht!“

Ich atmete auf. Glück gehabt.

„Ich bin da! Hier ist der Eingang zu einer Grotte... wartet, ich mache das Seil fest“

Mithilfe des Stricks konnten wir alle mehr oder weniger schnell folgen, sodass auch ich bald neben meinen Freunden stand und das bestaunte, was sich vor uns auftat: Ein wahrer Untersee-Palast. Das Wasser, dass sich hinter uns brüllend in den See ergoss, mündete hier in einen kleinen, stillen Fluss, der zu einem großen, dunklen Teich führte, dessen Schatten tiefer lagen, als mein Auge reichen konnte. Unzählige Wassertropfen, die an den Wänden apperlten, funkelten wie Diamanten, in allen Farben des Regenbogens und ein frischer, reiner Geruch hing in der Luft. Ich atmete tief durch und lächelte. Der Kristall musste hier irgendwo sein. Eine andere Möglichkeit gab es gar nicht.

„Wir sollten uns aufteilen“, meinte Bär. „Die eine Gruppe geht links, die andere rechts“

Erst jetzt fiel mir auf, dass zwei Wege um den See führten, zu einem Ende, dass ich nicht erkennen konnte. Zwei Fackeln entflammten. Bär und Lynnea nahmen jeweils eine. Plötzlich wurde mir bewusst, dass nun wohl ich der zweite Anführer war, zumindest, wenn Joees Augen wässrig blau waren. Bär lächelte aufmunternd.

„Geht ihr links. Wir treffen uns am Ende“

Der Dryad und Lynnea gingen mit mir, Joee mit Bär. Irgendwie hatte ich ein ungutes Gefühl bei der Sache, aber da waren die Beiden schon nach rechts verschwunden und Lynnea im Begriff, den linken Weg einzuschlagen.

„Irgendetwas haben wir vergessen...“, murmelte ich nachdenklich, folgte dann aber doch den Beiden. Die Begier, nun endlich die Wahrheit zu erfahren, überwog.

Unsere Schritte hallten abertausende Male von den ausgehöhlten Wänden wieder und wurden gleich darauf vom Wasser verschluckt, das stumm und schwarz zu unserer Rechten lag. Ich konnte kaum glauben, dass dieses unheimliche Dunkel das selbe Wasser war, wie das von dem leuchtenden Wasserfall, dessen Rauschen wir nun kaum noch hören konnten. Hin und wieder fiel ein Tropfen von der Decke in den Teich und zog weite Kreise über das ganze Wasser, bis sich die Welle in der Finsternis verlor. Keiner sagte ein Wort. Plötzlich war diese Höhle eher bedrohlich, als wunderschön. Ich wollte am liebsten gleich wieder hinaus.

Im leichten Schein der Flamme sah ich, wie Lynnea inne hielt und sich umsah.

„Alles in Ordnung?“, fragte ich besorgt, während ich versuchte, den Dryad in der Dunkelheit hinter mir auszumachen.

„Ich dachte, ich hätte etwas gehört...“, antwortete Lynnea Stirn runzelnd und starrte angestrengt in die Dunkelheit. „Da, schon wieder... dieses Glucksen. Als wäre etwas im Wasser“

Mein Blick fiel auf den dunklen Spiegel vor uns. Tatsächlich wurden immer mehr Wellen aus der Dunkelheit gesendet.

„Die sind zu groß für Wassertropfen...“, stellte ich leise fest. Endlich kam der Dryad aus der Dunkelheit. Er sah wieder schlechter aus, das Klettern an der Felswand hatte ihm einiges abverlangt.

„Was ist? Wollt ihr hier Wurzeln schlagen? Da würde ich euch einen anderen Untergrund als Stein empfehlen...“

„Sssht!“, fuhr ich ihn an, doch seine Stimme wurde bereits von den Wänden zurück gehalten. Die Wellen verloren sich am Ufer und es wurden keine neuen mehr ausgesandt. Verdammt.

„Was auch immer das ist, es liegt auf der Lauer“, murmelte Lynnea so leise wie möglich. „Wir sollten machen, dass wir hier weg kommen“

Ich nickte und folgte ihr, der Dryad tat es mir gleich, nachdem er einen kritischen Blick auf den See geworfen hatte.

Ab jetzt war die Luft zum Zerreißen gespannt. Immer wieder fuhr mein Blick zum Wasser, doch ich sah nichts Verdächtiges oder Seltsames. Trotzdem wurde ich das Gefühl nicht los, verfolgt zu werden und wollte einfach nur noch die beengenden Gedanken loswerden, die mich zwischen Wand und See befielen. Wenn uns jemand überraschen würde, hätten wir nur eine Fluchtmöglichkeit. Und wenn es mehrere waren, dann... mir wurde schlecht. Wir waren gefangen. Ein gefundenes Fressen für Leute, die unser Vorhaben aufhalten wollten, sprich: den König selbst. Wenn er dieses Unternehmen tatsächlich intigriert hatte, dann wäre das hier der perfekte Ort für eine Falle.

„Stopp“. Lynnea war so ruckartig stehen geblieben, dass ich beinahe in sie hinein gelaufen wäre.

„Was ist?“, fragte ich, bedacht darauf, möglichst keinen Laut von mir zu geben. Der Dryad hatte ebenfalls die Luft angehalten.

„Dort drüben...“. Ihr bebender Finger zeigte geradeaus vor uns.

Mir wurde eiskalt, als ich sah, was sie meinte. Eine Silhouette zeichnete sich in der Dunkelheit ab, eine Silhouette mit einer Kapuze. Sie rührte sich nicht und stand so still, dass ich sie eher für einen ungünstigen Schatten gehalten hätte, wenn Lynneas Hand nicht immer noch zitternd in der Luft hängen würde. Bestimmt drückte ich ihren Arm nach unten und bedeutete, ihr still zu sein. Dann richtete ich meinen Blick auf die Gestalt im Dunkeln.

Ein paar Sekunden geschah nichts, sodass ich beinahe dachte, wir hätten uns ihre Anwesenheit nur eingebildet, doch dann bewegte sie sich. Mit langsamen, majestätischen Schritten ging sie in unsere Richtung. Unwillkürlich rückte ich ein paar Schritte zurück. Mein Herz pochte wie wild. Gleich, gleich würde sie in den Lichtschein rücken... doch noch bevor ich sie erkennen konnte, war sie verschwunden. Einfach wie vom Erdboden verschluckt. Der Dryad hinter mir schnappte nach Luft. Ich fuhr herum.

Da war sie wieder, die Silhouette. Und sie kam erneut auf uns zu. Diesmal hob sie ihre Hände. Gänsehaut kroch mir über den Rücken, aber erneut verschwand sie einfach so ohne Vorwarnung.

Da waren sie wieder, die Wasserwellen. Diesmal größer. Näher. Gewaltiger. Angstvoll hob Lynnea die Fackel an. Ihr Lichtschein kroch quälend langsam über das Wasser. Die Wellen wurden kleiner. Und kleiner. Und kleiner.

„Du musst sie werfen...“, hauchte der Dryad. Ich bemerkte gar nicht, wie eng er sich an mich gedrängt hatte und ich bemerkte auch nicht, wie eng ich mich an Lynnea gedrängt hatte. „Sonst sehen wir nichts“

Lynneas Blick fuhr zu mir. Sie war kreidebleich und sah aus, als würde sie jeden Moment schreien, vor Angst. Ich nickte langsam. Wir mussten wissen, was da hinter uns her war, und wenn es uns das Licht raubte. Ich hatte noch genug Fackeln im Rucksack. In unserer Panik kamen wir gar nicht darauf, zunächst eine neue anzustecken, bevor wir unsere jetzige opferten. Unsere Herzen schlugen dafür viel zu schnell.

Ein leises Platschen. Unser Verfolger bewegte sich. Lynnea holte aus. Stockte. Das Platschen wurde lauter. Und sie warf.

Der Schein der Fackel rotierte über dem See, ergoss sein Licht über das finstere Wasser. Dunkelheit. Schwarz. Finsternis. Und dann, für den Bruchteil einer Sekunde, leuchtete sie in ein mir wohlbekanntes Gesicht. Ein Grinsen, ein gehässiges, düsteres Grinsen. Rote und schwarze Male im Gesicht.

Mir entfuhr nun doch ein Schrei. Die Fackel ging zischend im See unter. Einen kurzen Moment war es totenstill.

Und dann gab es einen Knall. Die Wucht riss mich von den Füßen, schleuderte mich gegen die Felswand. Ein schrilles Fiepen in meinem Ohr. Lynnea schrie.

Nein, das konnte nicht sein.

Stechender Schmerz, überall. Schritte, sie näherten sich. Es war so dunkel... das Schrillen wurde lauter. Staub wirbelte durch die Luft.

Es war einfach unmöglich.

Er konnte nicht hier sein.

Er kam aus einem Traum...

Doch seine Schritte hatten mich nun fast erreicht, er stand kurz neben mir.

Mein Alptraum war lebendig geworden.

Antropos. 

Wille

22. Kapitel Wille

 

Ich wüsste gerne, was nach dem Tod passiert“. Meine Stimme klang jung und fein, frisch und ungebraucht. „Zena, was ist, wenn wir sterben?“

Zena, die bis eben noch gelächelt hatte, sah plötzlich unglaublich ernst aus. Wieso? Ich konnte es nicht verstehen, mein Verstand war zu kindlich und naiv, um das zu begreifen.

Ich weiß es nicht, Rain. Das weiß niemand“

Wieso denn nicht?“. Konnte es tatsächlich etwas geben, das Zena nicht wusste? Es erschien mir so unmöglich, in dem Moment, dass ich entschlossen den Kopf schüttelte.

Weil noch nie jemand gestorben und zurück gekehrt ist. Zumindest nicht so, dass er den Anderen erzählen konnte, was passiert ist“

Ich dachte kurz über ihre Antwort nach. Es war eine Gute gewesen, aber auch das begriff ich damals noch nicht.

Weißt du was, Zena?“

Was denn, Rain?“

Wenn ich mal groß bin, dann werde ich das machen. Ich werde sterben und dann weiterleben, damit ich euch erzählen kann, wie es war“

 

„Wo ist er?!“

Ich wurde hart gegen eine Wand gestoßen. Erschrocken riss ich die Augen auf, rang nach Luft, suchte nach Halt -meine Beine baumelten frei in der Luft. Es schien, als würde mich etwas Unsichtbares in der Luft halten und gegen die Wand pressen. Ich ächzte, als der Druck sich verdoppelte.

„Wo. Ist. Er?“

Er war es. Ganz ohne Zweifel. Die tiefe Stimme. Das Gesicht. Rot und Schwarz. Die Kutte. Ich hatte ihn bereits einmal gesehen, durch die Augen von Janys, doch jetzt erschien er mir noch viel grausamer. Antropos. Er war ein Dämon. Er musste einer sein. Eine andere Erklärung gab es einfach nicht.

„Rede!“

Mein Schrei wurde von dem dunklen Wasser verschluckt. Er wollte eine Antwort natürlich.

„Was?!“, fragte ich verzweifelt. Wovon sprach er?

„Das weißt du ganz genau, elender Bastard!“

Ich hätte nicht gedacht, dass mein Körper noch mehr Druck standhalten würde, doch ich erkannte meinen Irrtum, als ich noch härter gegen die Wand gepresst wurde. Ich meinte fast, meine Knochen knacken zu hören. Was suchte Antropos? Den Kristall? Natürlich. Was sonst?

„Wir haben ihn noch nicht... ich weiß nicht, wo er ist... ich weiß nicht einmal, ob er existiert“, stammelte ich verzweifelt. Irgendwo unter mir regte sich etwas. Schlagartig verschwand der Druck und ich schlug hart auf dem Boden auf. Lynnea nahm meinen Platz ein, doch sie brachte nicht einen vernünftigen Satz hervor, so panisch stotterte sie. Wo war der Dryad?

Verzweifelt sah ich mich um und entdeckte seine leblose Gestalt unter ein paar Felsbrocken, die Antropos aus der Wand geschlagen hatte. Er blutete aus dem Ohr. Hoffentlich nur ein Kratzer... Kraftlos zog ich mich zu ihm.

„Hey, Dryad... Dryad!“

Mit fahrigen Bewegungen schlug ich ihm auf die Wange. Er murmelte etwas und drehte den Kopf. Er lebte, wenn auch nicht mehr besonders sichtlich. Er rief den Namen seiner Tanne. Immer und immer wieder. Und blutete noch immer aus dem Ohr.

„Oh bitte nicht...“, stammelte ich und versuchte unbeholfen, ihn von den Felsbrocken zu befreien. „Halt durch... bitte, halt durch...“

Lynnea schrie und sackte an der Wand zusammen. Ich hörte Schritte, konnte mich aber nicht schnell genug umdrehen, so sehr schmerzte mein Rücken von dem Aufprall. Ein stechender Schmerz in meiner Nase. Antropos trat nicht nur einmal zu. Was wollte er von uns?! Verzweifelt versuchte ich, seinen Tritten auszuweichen, doch er war schnell und stark und ich viel zu konfus, um auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Noch ein Tritt. Und noch einer.

„Wieso habt ihr ihn nicht?!“, brüllte er und verpasste mir einen weiteren Tritt in die Magengrube. Ich krümmte mich zusammen und rang nach Luft, als ich hart auf dem Boden aufschlug.

Der Dryad hörte auf, seine Tanne zu rufen. Verdammt... Noch bevor ich mich zu ihm drehen konnte, hatte Antropos mich am Kragen gepackt und diesmal persönlich gegen die Wand gedrängt.

„Hör mir gut zu, mickriger Bastard, ich werde ihn bekommen. So oder so. Also sag mir jetzt sofort: Wo ist der Ring?!“

Der Ring? Nicht der Kristall? Der Ring? Mir blieb die Luft weg. Darum ging es ihm also... er wollte den Siegelring wiederhaben!

Meine Gedankengänge wurden davon unterbrochen, dass Antropos mich durchschüttelte.

„Jetzt rede! Wo ist er?!“

Meine Gedanken rasten. Was hätte Lyen an meiner Stelle getan? Ablenken. Zeit schinden.

„Ich... ich könnte es dir ja sagen, aber...“, stotterte ich.

„Aber was? ABER WAS?!“. Antropos stand kurz vor der Tobsucht, so viel war mir klar.

„Aber... wir haben ihn schon weg gebracht. In Sicherheit. Er ist nicht hier“

„Lüg nicht!!“ Er holte aus und verpasste mir einen Fausthieb, der mir fast das Bewusstsein raubte. Als mein Sichtfeld sich einer eingerenkt hatte, folgte gleich der nächste, sodass ich fast zu Boden gegangen wäre. Stechender Schmerz schoss durch meine Schläfen und mir schossen Tränen in die Augen, so beißend war er.

„Ich habe gesehen, dass ihr ihn dabei habt! Also sag, wo ist er?!“

Ich war nicht mehr zum Lügen fähig, so sehr schwankte ich.

„Ich... ich weiß es nicht...“, stieß ich hervor. „Ich hatte Träume... von Janys, von dir...“

Der Dämon hielt inne und näherte sich meinem Gesicht, so dass ich seinen heißen Atem auf meinem Gesicht spürte.

„Sprich weiter“, befahl er kalt.

„Aber der Ring ist nicht mehr in seinem Grab...“, fuhr ich zitternd fort. „Und dann habe ich von Mya und Linus geträumt... aber ich weiß nicht, was sie damit zutun haben...“

„Linus...“, wiederholte Antropos und ließ mich los. Ich ging widerstandslos zu Boden. „Linus... natürlich. Er ist bei Linus!“

Als hätte der Dämon etwas gehört, hob er den Kopf. „Und er ist hier! Hier unten!“ Plötzlich wirkte er aufgeregt, fast freudig. „Linus... wieso war mir das nicht klar?! Danke, Bastard. Du warst mir eine große Hilfe“

Er grinste böse, aber das Funkeln in seinen Augen blieb. Es war fast schon ein Lächeln, ein ernstgemeintes, aufrichtiges Lächeln. Übelkeit schwoll in meinem Hals an, als ich sein Gesicht sah, das in der nächsten Sekunde verschwunden war.

„Lynnea... Dryad...“, stieß ich hervor ich und setzte mich auf. Noch immer schwankte alles und ich sah die Welt doppelt, trotzdem erkannte ich Lynnea, die an der Wand lehnte.

„D... das war ein Dämon...“, stotterte sie mit Schmerz verzerrtem Gesicht und hielt sich die Schulter. „Ein richtiger Dämon... ich dachte immer, das wären nur Geschichten...“

„Ja.. ich weiß“, nickte ich schnell. „Er will irgendwem an den Kragen... irgendwem hier unten! Es muss jemand von uns sein... komm...“

Ich hielt ihr die Hand hin und war erleichtert, als sie sie ergriff. Plötzlich war die Barriere zwischen uns wieder gebrochen, zumindest für kurze Zeit. Der Dryad schrie leise.

„Wir bekommen ihn da nicht raus“, stellte Lynnea verzweifelt fest, nachdem sie an einem der Felsen gezogen hatte. Ich taumelte gegen eine Wand, weil mir schwindelig wurde. Von diesen Schlägen hätte Falke sich eine Scheibe abschneiden können...

„Wir müssen ihm hinterher...“, murmelte ich verwirrt. „Wir holen Hilfe, bei den Anderen, dann kommen wir zurück“

Sorgenvoll musterte ich die Blutpfütze neben dem Ohr des Dryaden. Kein Kratzer. Es war zu viel davon.

Lynnea nickte und streckte erneut die Hand nach mir aus.

„Komm. Wir müssen uns beeilen...“

 

 

Dunkelheit. Überall nur Dunkelheit. Wohin? Woher? Ich wusste es nicht. Wusste nicht einmal wirklich, wo wir waren. Alles war schwarz und finster. Bis ich einen Schrei hörte, der mich bis ins Mark erschütterte.

„Nora!“, rief ich erschrocken. „Das war Nora!“

Ich würd's nicht verkraften, wenn du da nicht lebendig raus kommst.

Der Kuss auf meiner Wange. Plötzlich spürte ich ihn wieder.

Ich rannte. Stolperte. Verlor Lynneas Hand. Und rannte weiter. Nora durfte nichts passieren. Nicht ihr.

„Rain!“. Lynnea rief verzweifelt meinen Namen, immer und immer wieder, doch ihre Stimme verschmolz mit der des Mondmädchens, das mir meinen Namen ins Ohr flüsterte, beharrlich, ewig.

Rain... Rain... Rain...

Mir wurde schlecht und ich fiel schon wieder auf den kalten Steinboden, doch ich konnte nicht aufhören, an ihren Schrei zu denken.

„Nora...“, rief ich in die Dunkelheit.

Rain...

„Nora!“

Rain...

Es machte mich wahnsinnig.

Und dann endlich Licht. Licht in der Ferne, der Schein von Fackeln. Ich dachte nicht mehr an Vorsicht. Ich rannte einfach.

„Lass ihn in Ruhe, lass ihn...“

Das war Noras Stimme. Eindeutig. Aber das Licht war so weit weg und mir so unglaublich schwindelig...

Ein Schrei. Diesmal gehörte er nicht zu Nora. Es war der von Bär.

„Wo ist Linus? Wo ist er?!“

Antropos war bei ihnen. Aber Nora lebte noch. Erleichterung durchströmte meine Glieder, als ich endlich bei dem Licht ankam. Doch im nächsten Moment stockte ich. Antropos hatte einen Hort der Zerstörung erschaffen. Bär hing leblos an der Wand, gefesselt von unsichtbarem Druck, der von Antropos' Hand ausging. Zwischen all dem Schutt und Staub fiel es mir schwer, Nora zu finden, doch schlussendlich entdeckte ich sie doch. Mit großen, verzweifelten Augen starrte sie den Dämon an, in ihren Armen Joee, der sich an sie presste, wie ein kleines Kind. Da war kein weiß. Nur blau. Wässriges, Tränen erfülltes blau.

„Wir kennen keinen Linus...“, schluchzte Nora. „Bitte, lass Bär in Frieden... er weiß doch auch nicht mehr als ich...“

Ich konnte nicht länger mit ansehen, wie Antropos den armen Bär quälte. Mit einem Satz sprang ich zu ihm, nahm Schwung und warf mich gegen ihn. Damit hatte der Dämon nicht gerechnet. Gemeinsam gingen wir zu Boden, rollten über den Boden und schlugen hart gegen die Wand, während Bär zu Boden fiel.

Doch nun hatte ich Antropos' Zorn geweckt. Er holte aus und schlug zu. In letzter Sekunde rollte ich mich zur Seite. Der Stein unter mir zersplitterte, wo eben noch mein Kopf gelegen hatte. Verdammt.

Ich rammte Antropos mein Knie in den Unterleib und wälzte mich unter ihm weg, doch er war schnell und packte meinen Arm, bevor ich außer Reichweite war. Heißer, glühender Schmerz brannte sich in meine Haut und der Geruch nach Rauch zog in meine Nase. Schreiend trat ich nach ihm, wälzte mich hin und her und schaffte es endlich, ihn fort zuschlagen. Mein Hemd war verkohlt, meine Haut darunter knallrot.

Bär stürzte sich auf Antropos, versuchte, ihn von mir fort zu bringen, doch Antropos tat nur einen kleinen Fingerwink, der Bär quer über den Boden schleuderte.

Er würde sie alle töten, wenn sie ihm in die Quere kämen. Das war jetzt auch Bär klar, er versuchte nicht nochmal, Antropos anzugreifen und hielt sich stattdessen stöhnend die Nase, aus der nun Blut in Strömen lief.

Antropos drehte sich nun wieder zu mir. Erschrocken sprang ich auf, meine Hand noch immer in meinen Oberarm gekrallt. Ich musste doch irgendetwas tun... instinktiv griff ich nach meinem Bogen. Aber noch bevor ich ihn berührte, stürzte Antropos sich wieder auf mich und begrub mich unter seinem Gewicht. Er schien das Interesse an Zaubertricks verloren zu haben, nun war er auf direkte Rache aus.

„Du dummer Bastard! Verabschiede dich von deiner mickrigen Existenz!“

Er hob den Arm, mit ausgestreckten Fingern und lächelte finster. Aber er kam nicht mehr dazu, mich umzubringen.

Denn ich kam ihm zuvor. Mit einem Schrei, der sich gewaschen hatte. Meine Lunge explodierte. Mein Herz wurde durchbohrt von tausend Nadelspitzen. Mir wurde heiß kalt, beides zugleich und in extremster Weise. Zittern. Schüttelfrost. Ich schlug um mich.

Nicht jetzt... bitte nicht jetzt...

Verzweifelt rang ich nach Luft, erstickte, ertrank in Luft und atmete weiter, ohne es wahrzunehmen. Nora schrie erneut, ich sah aus den Augenwinkeln, wie sie sich die Hand vor den Mund schlug, aber ich konnte nichts tun, außer zuzusehen, wie Antropos Finger genüsslich zu dem Beutel Medizin an meinem Gürtel wanderten.

„Suchst du das hier, Bastard?“. Jedes einzelne Wort triefte wie Honig von seiner Zunge und genau so genießerisch sah auch sein Gesicht aus, als er den Beutel langsam entkorkte.

„Tu das nicht!“, schluchzte Nora und versuchte, zu uns zu kommen, doch Bär hielt sie zurück. Ich war ihm dankbar dafür, auch wenn ich mir im Moment nichts sehnlicher wünschte, als die rettende Flüssigkeit in meinem Mund.

Langsam entglitt mir mein Körper, wie beim letzten Mal, Krämpfe schüttelten meinen Körper, ich hustete, wollte nichts außer einem: Luft.

Antropos lächelte noch gehässiger.

„Na dann wollen wir mal sehen, wie schmackhaft die Fische deine Rettung finden“

Und er warf den Beutel. Quer über den See, hinein in die Dunkelheit.

Nora schrie wieder und wollte sich freikämpfen, diesmal konnte Bär sie nicht halten. Antropos reagierte blitzschnell und streckte die Hand aus. Ein heller Blitz durchzuckte das Halbdunkel und Nora wurde zurück geschleudert, bis sie gegen einen der Felsbrocken schlug und reglos am Boden liegen blieb.

Diesmal war ich derjenige, der schrie. Antropos schüttelte den Kopf.

„Nichtsnutzer, kleiner Bastard. Du hättest dein Herz nicht verschenken sollen, wo dir nur noch so wenig davon bleibt“

Ich hätte ihn verprügeln können, töten, ihm meine Faust ins Gesicht rammen, aber ich konnte nichts davon tun. Es verlange mit schon genug ab, liegen zu bleiben, und nicht mehr so viel zu zucken. Wie lange hatte ich noch? Minuten? Stunden? Zu wenig, das war klar. Röchelnd tastete ich nach meinem Bogen, aber ich bekam ihn nicht mal aus der Halterung. Antropos stand auf und wandte sich von mir ab.

„Linus, ich weiß, dass du hier bist. Versteck dich nicht länger. Es hat keinen Sinn mehr. Du kommst hier sowieso nicht mehr raus“

Bär stürzte zu mir.

„Rain... Rain, halt durch. Wir schaffen das, bestimmt“

Ich brachte kein Wort heraus, mein Blick lag allein auf Antropos, der sich jetzt in eine ganz bestimmte Richtung gedreht hatte.

„Linus, ich hab dich...“

Er lächelte seelenruhig. „Na los. Komm aus dem Schatten, damit deine Freunde dich bestaunen können“

Es war nicht Linus, der aus dem Schatten trat.

Es war Fenja.

Und hinter ihr stand Falke.

Sein Messer lag an ihrem Hals und seine Augen blitzten gefährlich. Mir traten fast die Augen aus dem Kopf. Falke! Dass er sich noch hierher traute! Die Verzweiflung und Hilflosigkeit, die ich in Bezug auf Nora verspürte, verwandelte sich in Hass, unbändigen, unkontrollierbaren Hass und er fokussierte sich auf nur eine einzige Person: Falke. Wegen ihm war Lyen gestorben. Wegen ihm war alles, aber auch wirklich alles schief gelaufen. Ich wollte aufstehen, mich auf ihn stürzen, doch mir sackten die Beine weg. Bär hielt mich fest.

„Lass es, Rain... bleib sitzen“

Aber ich wollte nicht sitzen! Ich wollte aufstehen, mich für Lyen rächen, Antropos der Flasche hinterher in den See werfen und Nora im Arm halten... und am liebsten alles gleichzeitig. Aber stattdessen saß ich hier, kämpfte um jeden Atemzug und war unfähig, mich zu bewegen. Es war vorbei. Alles.

Antropos merkte von meinem Gefühlsorkan nichts, genau so wenig wie Falke. Er schüttelte tadelnd den Kopf.

„Tststs, Linus... was soll das denn werden?“

„Ich bring sie um! Ich schwöre, ich mache das!“, stieß Falke zwischen den Zähnen hervor. Er klang angestrengt, fast schon verängstigt.

Fenja versuchte, sich loszureißen, doch er hatte sie fest im Griff. Aber Linus konnte ich immer noch nicht sehen... es fiel so schwer, einen vernünftigen Gedanken zu fassen, bei der Hitze in meinem Kopf...

„Na dann bring sie eben um! Warum sollte mich das kümmern?“

Falke wurde blass. Und in diesem Moment begriff ich endlich: Er war Linus! Er war der kleine, schwarzhaarige Junge, der von seiner Mutter aus dem Fenster geworfen worden war, er war der Rabenjunge...

Flieg, kleiner Vogel...

Es war so logisch, so einfach...

„Na los! Worauf wartest du noch?!“

Antropos sah Falke, nein Linus, herausfordernd an. „Bring sie um!“. Falke erzitterte, die Klinge an Fenjas Hals mit ihm. Ich hielt den Atem an. Würde er wirklich...? Auch Bär verkrampfte sich. Kurze Zeit vergaß ich sogar den Schmerz in meiner Lunge. Sollte das das Ende der Prinzessin sein?

Nein, sollte es nicht. Zumindest noch nicht. Falke ließ das Messer fallen und stieß Fenja fort. Sie stolperte und landete neben Joee, der immer noch zitternd und panisch da saß, ohne sich zu rühren.

Antropos lachte leise.

„Ich wusste, dass du dazu nicht fähig bist... ein Meisterdieb, ein Todeskünstler, aber unschuldige Mädchen abstechen... dafür bist du einfach nicht gestrickt“

Der Hass, der aus Falkes Blick sprach, war nicht in Worte zu fassen.

„Was willst du, Antropos?“

„Das weißt du genau“. Er lächelte herausfordernd.

„Ich würde nicht fragen, wenn ich es nicht täte“

Er hätte Antropos genau so gerne bluten gesehen, wie ich. Das war offensichtlich. „Du hast ihn dabei, Linus. Ich weiß es“

Falke schloss kurz die Augen. Durchatmen. Er tat es genau so wie ich, wenn ich meine Wut bändigen wollte. Der Schmerz in meiner Brust war inzwischen aber so sehr angewachsen, dass ich nicht mal einen normalen Atemzug zustande brachte, geschweige denn einen tiefen. Ich hätte weinen können.

„Ich weiß nicht, wovon du redest, Antropos!“

„Vielleicht von dem hier?“

Wir alle fuhren herum. Hinter Antropos und Falke stand Nora. Über ihre Stirn zog sich eine lange Schramme und sie stand nur sehr wackelig auf den Beinen, aber sie stand. Vor Erleichterung wäre ich fast gestorben.

Auch die Anderen schienen die Luft anzuhalten. Allerdings nicht wegen Nora, sondern wegen dem Ding, das sie in der Hand hielt. Ein kleiner, glänzender Ring mit einem Siegel darauf. Der Siegelring.

Antropos fuhr herum. „Wo hast du ihn her?!“

„Aus seiner Tasche“, erwiderte Nora. „Er hatte sie von Anfang an dabei“

„Ein paar Erbstücke!“, schrie Falke. Sein Gesicht war Schweiß bedeckt. „Mehr nicht!“

„Zufällig auch ein alter Ring, der in einem Kuscheltier aus dem Königshaus versteckt war?“, fragte Fenja, die plötzlich wieder aufgestanden war. Sie sah finster aus, fast schon unheimlich.

„Was tut das zur Sache?!“, fragte Falke bissig.

„Mehr als du denkst. Dummer Junge! Dieses Weib besitzt viermal so viel Verstand wie du!“, zischte Antropos verächtlich. „Deine Mutter hat ihn für mich gestohlen! Aber sie haben sie gefunden, bevor sie mir das Artefakt übergeben konnte. Sie haben das Haus niedergebrannt, aber den Ring nie gefunden! Du hattest ihn die ganze Zeit dabei, ohne es zu bemerken!“

Falke verlor den Halt und taumelte. „Das ist der... Siegelring?“

Antropos klatschte zynisch. „Gratulation! Du hast es verstanden! Es ist der Siegelring. Und genau deshalb wird mir diese junge Lady ihn jetzt auch geben“

„Gib mir einen Grund“, zischte Nora. „Ich könnte ihn genau so in den See werfen! Und dieses Gewässer ist tief! Du würdest ihn niemals wiederfinden!“

Antropos hielt kurz inne. „Du weißt nicht, mit welch einem gewaltigen Feuer du spielst, Kind“

„Weiß sie nicht?!“

Fenjas Augen blitzten wild im Licht, als sie Antropos anschrie.

„Aber ich weiß es! Ich weiß genau, was Ihr vorhabt! Ihr wollt noch ein Volk verbannen! Wer soll es denn diesmal sein, nach den Jägern, hm? Die Gestaltwandler? Na los, sagt schon! Wer steht auf eurer Liste?“

Antropos schüttelte spöttisch den Kopf. „Wie dumm ihr kleinen Menschen doch seid...“

„Dumm bin ich vielleicht“, gab Nora zurück, „Aber keine schlechte Werferin! Erzählt uns, was es mit dieser Geschichte auf sich hat“

Fenja ging wieder dazwischen: „Wieso habt ihr die Jäger verbannt? Wieso wollt ihr um jeden Preis die Völker dieser Welt voneinander isolieren? Wieso?!“

„Es wird Krieg geben“, zischte Antropos. „Es wird den größten Krieg geben, den diese Welt jemals erblickt hat. Und nicht nur das: Es wird auch ihr Letzter sein“

Plötzlich war es still in der Grotte. Das Feuer in meinem Rachen raubte mir fast den Verstand, doch auch ich war gefesselt von Antropos' Prophezeiung. Sie klang nicht bösartig oder gestellt. Sie klang echt und bedrohlich. Ich schluckte.

„Ihr werdet euch gegenseitig auslöschen, langsam aber sicher. Wir sind nicht bereit, eine ganze Welt für euren dummen Egoismus zu opfern!“. Die letzten Worte brüllte er in die Grotte hinaus. Seine Worte wurden vielfach zurück geworfen, als er zu mir herum fuhr.

„Du! Bastard! Ihr hättet begonnen, mit dem Aufstand. Und du, Bärensohn! Dein Volk wird die Revolution weiter tragen! Ihr werdet euch auflehnen gegen die Vorherrschaft der Menschen und ihr werdet dabei alles Leben zerstören, das vor eurem Streit gedieh. Ihr werdet nicht an eure Welt denken, nur an euren Hass und die Zerstörung. Ihr werdet vergessen, wer all diese Wunder einst geschaffen hat und ihr werdet vergessen, dass ihr eine Verantwortung habt!“

Antropos' Stimme klang seltsam belegt.

„Ihr werdet unser Wunder zerstören, unser wunderbares, vollkommenes, kleines Wunder... Ihr werdet es einfach kaputt machen... und dann werdet ihr sterben. Und alle Anderen mit euch. Das können wir doch nicht zulassen...“

Schweigen breitete sich aus.

„Wieso die Menschen?“, fragte Nora nach einer Weile. „Wieso lasst ihr ausgerechnet ihnen die Vorherrschaft?“

„Sie waren die Ersten, die diese Erde betraten und sie werden die Letzten sein. Egal, was kommt und geht. Aber diese Welt ist noch nicht bereit, unterzugehen. Wir müssen die Menschen vor ihrer eigenen Torheit beschützen. Und wir können keine Rücksicht nehmen, auf euch. Ihr seid nur Einzelne, kleine, unbedeutende Nichtssagende, im Gegensatz zu dem Schicksal unserer ganzen Welt“

Ich musste husten. Es schüttelte mich so sehr und schrecklich, dass alle Blicke auf mir lagen. Aus meinem Mundwinkel lief etwas Rotes, als ich röchelte: „Ich bin nicht alleine. Mein ganzes Volk leidet, Tag für Tag... für etwas, was wir niemals begonnen haben“

„Aber ihr hättet“. Antropos' Blick verhärtete sich wieder. „Der Rat der Fünf musste das verhindern“

„Was tut ihr, wenn ich euch den Ring gebe?“, fragte Nora. Fenja schrie auf.

„Nora! Das kannst du nicht machen! Verstehst du denn nicht? Er will sie alle versklaven! Die Gestaltwandler! Denk an die Jäger! Willst du all das zulassen?!“

Antropos schnippte mit dem Finger und Fenja wurde zur Seite geschleudert, so weit und so hoch, dass ich blass wurde. Sie stand nicht mehr auf, nachdem sie auf dem Boden aufgeschlagen war.

Nora sah ihr hinterher, verstört und ungläubig, dann sah sie zu mir. Ich hustete erneut. Woher kam bloß all das Blut?

„Was begehrst du? Geld? Macht? Du bist ein Mensch, ich könnte dir alles geben“. Antropos lächelte und legte die Hände aneinander.

Ich starrte Nora entgeistert an. Das konnte sie nicht tun...

„Ich will sein Leben“. Sie deutete auf mich.

Mir versagte die Stimme. Nein... nein, das konnte sie nicht...

„Nora...“, hauchte ich stimmlos. „Nein...“

Eine Träne rollte über ihre Wange. „Gib ihm das Leben zurück“

Antropos sah mich an und ich meinte, den Spott aus seinem Blick lesen zu können.

„Ich kann ihn zurück in den Wald bringen. Dorthin, wo der Fluch seine Wirkung verliert“

Nora nickte. „Tu das. Und ich werde dir den Ring geben“

„Nein!“

Plötzlich hatte ich meine Stimme wiedergefunden. Irgendwie schaffte ich es auf die Füße. „Nora, nicht...“

Bär eilte an meine Seite.

„Nora, ich will auch nicht, dass Rain stirbt, aber es gibt bestimmt eine andere Lösung...“

„Ach ja?! Dann sag sie mir!“, schluchzte Nora. „Es gibt keine! Er wird sterben, wenn ich nichts unternehme!“

„Nora!“, rief nun sogar Falke. „Dieser verdammte Bastard ist doch nicht einmal einen Kupferling wert... du kannst nicht die komplette Welt gegen ihn eintauschen!“

Doch wir waren alle machtlos. Nora stand da, in der Hand den Ring, Antropos fixierte mich mit seinem seltsamen Blick. Bär hatte keine Waffen mehr, Falke genau so wenig und ich konnte kaum gerade stehen. Wir waren gescheitert.

„Nora...“, ich schüttelte den Kopf. „Nora, tu das nicht...“

Plötzlich erklang ein Schrei. Jemand stürzte aus dem Schatten. Warf sich auf Antropos. Stach zu. Immer und immer wieder.

Es war Lynnea, eine wie eine Löwin kämpfende Lynnea. Ich wusste sofort, wie das enden würde. Ich behielt Recht. Ihr Messer versank in der Brust des Dämons, verließ sie wieder unbeschadet und tauchte erneut ein. Sie schrie verzweifelt.

„Du kannst mich nicht töten! Ich bin diese Welt, verstehst du nicht? Du musst diese Welt vernichten, um mich und meine Geschwister auszulöschen!“, schrie der Dämon. Dann stand er auf. Lynnea hockte vor ihm, keuchend und weinend. Er hob die Arme.

Wir rannten los, alle gleichzeitig. Lynnea retten. Sie durfte nicht auch noch sterben, nicht schon wieder wegen mir.

Ich sprintete über den kalten Boden, neben mir Bär und Falke.

Aber wir waren zu langsam. Alle. Außer einer.

Es gab einen Knall. Lynnea wurde zurück geworfen, von der Druckwelle und überschlug sich ein paar Mal, doch sie hatte es nicht getroffen.

Bär schrie auf, als er erkannte, was geschehen war.

Der leblose Körper vor uns hatte den Mund weit aufgerissen, genau wie die Augen und er sah so entschlossen aus, wie noch nie. Da war kein weiß in seinen Augen. Aber er hatte dennoch ein Ziel gehabt. Und er hatte es erreicht: Er hatte Lynnea gerettet. Joee. Der stotternde Heiler Joee.

Bär fiel auf die Knie, doch er konnte nicht näher, weil Antropos nun die Hände ausstreckte und sich drohend um sich selbst drehte. Aus Joees Körper schien ein weißer Nebelschwaden zu steigen, ein Nebelschwaden in Menschengestalt. Er lachte leise. Und verschwand. Nun war auch das weiß verschwunden.

Ich starrte wie paralysiert auf die Leiche des jungen Heilers. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals. An ihn hatte keiner gedacht, aber ausgerechnet er starb den Heldentod.

Dann erfasste mich die nächste Welle Schmerz und ich ging zu Boden. Woher kam bloß all das Blut?

„Bring ihn nach Hause“, flüsterte Nora. Sie hielt sich die Hand vor den Mund, um nicht loszuschluchzen und starrte genau so entgeistert auf Joee, wie ich.

Ich konnte nur kraftlos den Kopf schütteln, so sehr zitterte ich. Das durfte sie nicht machen. Das durfte sie einfach nicht machen.

Antropos nickte langsam.

„Ich werde auch die Anderen töten, wenn du dein Versprechen brichst, denk daran. Ich werde sie töten, ausnahmslos alle. Und dich zum Schluss. Und dann werde ich mir den Ring nehmen, genüsslich und freudig und ich werde deine Familie auslöschen, bis auf den letzten Zweig. Überleg dir gut, was du machst, wenn du es machst“

Ich bebte und der Schmerz, der sich durch meinen gesamten Körper fraß, raubte mir jegliche Selbstbeherrschung, aber ich konnte dennoch immer nur eins denken: Tu das nicht... Bitte, Nora, tu das nicht...

„Bring ihn nach Hause...“. Ich hörte Noras Stimme kaum, so Tränen durchsetzt war sie. „Sofort“

Antropos hob seine Hände. Verzweifelt wandte ich meinen Kopf hin und her, unfähig, etwas Anderes zu tun. Bär starrte einfach nur Joee an, abwesend und nachdenklich, Nora weinte. Fenja regte sich noch immer nicht und Lynnea war ohnmächtig. Was war mit Falke? Er starrte mich an, wütend. Der Vorwurf stach klar aus seinem Blick hervor. Aber ich gab ihm die Schuld für all das. Es wäre niemals so weit gekommen, mit Lyen. Er hatte die Schuld. Nicht ich. Nur er.

Antropos sprach Worte, die ich nicht verstand. Nora schluchzte noch lauter und neben mir auf den Boden tropften Bärs Tränen. Wir hatten versagt. Alle zusammen. Versagt.

Aus der Luft ensprang ein gleißender Kreis.

„Nein...“, murmelte ich tonlos. „Neineineinein... das darf nicht wahr sein... nein...“

Nora sah weg, als ich den Boden unter mir verlor und mich ihm langsam näherte. Ich sah den Wald. Hörte den Regen. Roch den Schlamm.

Nein... bitte Nora, tu das nicht.

„Pass auf dich auf, Rain...“, hörte ich sie, doch ich konnte nichts sagen. Ich konnte sie nicht einmal ansehen. Das durfte sie doch nicht machen... doch sie tat es.

Bitte, Nora...

Ich öffnete die Augen. Sah vor mir das Portal, das immer kleiner wurde. Rappelte mich auf. Der Schmerz war verschwunden. Dann rannte ich. Ich sah Nora. Sie holte aus und warf den Ring -in den See. Ich hörte Antropos schreien und stürzte voran. Ich musste zurück. Ich musste sie retten, ich musste Nora retten... Ich sah, wie Antropos die Hände hob und Nora gleichzeitig ihre Fäuste ballte.

Das durfte doch nicht wahr sein... aber der Raum arbeitete gegen mich. Egal, wie schnell ich rannte, das Portal entfernte sich immer weiter von mir.

Nora...

Aus Antropos Händen schossen Blitze. Nora schien zu explodieren, in Farben und Feuer. Nora, der Phönix traf auf Antropos, den Dämon. Gleißendes Licht. Nora schrie. Antropos schrie. Ich schrie.

Und dann war alles dunkel.

 

Ich wachte auf.

Tausende Regentropfen und jeder einzelne von ihnen schien mich zu erschlagen.

Der Geschmack von Schlamm auf meiner Zunge.

Der Geruch nach Erde und Tieren in meiner Nase.

Ich zog die Schultern nicht mehr an, erwartete keine Nässe in meinem Nacken und sie traf mich doch sofort.

Ich stand nicht auf, um mein Messer zu ziehen und mich zu wappnen, denn ich wusste, dass ich für die Wahrheit, die sich mir offenbaren würde, niemals gewappnet sein könnte.

Ich setzte nicht die undurchdringliche Maske auf, die mich vor allen Emotionen schützte, ich weinte bitterlich in den Schlamm.

Sie waren alle fort.

Und ich wieder im Wald.

 

The End

(To be continued)

Impressum

Texte: Alle Rechte liegen bei mir, XNebelparderX
Bildmaterialien: HotMetalGirl ♥ (Danke dafür!)
Tag der Veröffentlichung: 24.12.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme dieses Buch der Nacht und dem Regen. Ein großes Dankeschön an jeden, der sich hier durch gekämpft hat. Ohne Nina und Paulina wäre ich niemals so weit gekommen. Danke! ~~~~~~~~ Nebel

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